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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2444: Vorrevolutionäre Situation 1923 - Verpasste Chance zur Machteroberung in Deutschland?


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 11 · November 2019
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Vorrevolutionäre Situation 1923
Verpasste Chance zur Machteroberung in Deutschland?

von Manuel Kellner


Nach fünf Jahren latentem und immer wieder ausbrechendem Bürgerkrieg verschärften sich im Jahr 1923 die sozialen und politischen Widersprüche extrem. Die Verelendung großer Teile der Bevölkerung spitzte sich spektakulär zu. Einzig die großen Kapitaleigentümer und Großgrundbesitzer blieben davon verschont.


Spekulation, Korruption und Kriminalität florierten, soziale Sicherheiten und moralische Werte gingen verloren, die bürgerlich-demokratische Ideologie verlor ihre Glaubwürdigkeit. Besonders spektakulär wirkte sich die Hyperinflation aus. Seit 1921 war die Mark immer weiter entwertet worden mit dem Kalkül, die deutschen Schulden zu senken, die Exporte zu begünstigen und die Produktion anzukurbeln.

Ab November 1921 setzen die Industriemagnaten alles daran, die Schulden auf Null zu bringen, den Staat in die Knie zu zwingen, die Widerstandskraft der Arbeiterklasse zu zermürben und sich selbst in Dollar und Gold immer ungestümer zu bereichern. Ab Januar 1923 beginnt die Inflation zu galoppieren. Auf dem Höhepunkt dieses Prozesses müssen private Unternehmen Geldscheine drucken lassen, die zuletzt nominell 50 oder 100 Millionen Mark "wert" waren.

Ein Ei kostet am 3. Februar 1923 300 Mark, am 8. August 30000 Mark. Die Preise für Lebensmittel werden von Tag zu Tag und schließlich von Stunde zu Stunde erhöht. Schließlich gibt es in den Läden nichts mehr zu kaufen. Aus der städtischen Bevölkerung werden Angriffe auf Bauernhöfe organisiert, um Lebensmittel zu requirieren. Die Selbstmordrate steigt in schwindelnde Höhen.


Hyperinflation und Radikalisierung

Alle, die keine großen Immobilien, Produktionsmittel, wertvollen Gegenstände haben, stürzen ins Elend. Die Arbeiterschaft trifft es anfangs wegen der regulierten Lohnhöhe und der ständigen Anpassung an die Preisentwicklung noch in leicht gedämpfter Weise. Das Kleinbürgertum aber, einschließlich der kleinen Immobilienbesitzer, Rentiers, Pensionäre und Angestellten mit fixen Einkommen, ist vollkommen ruiniert. Dazu gehören auch die bezahlten Hauptamtlichen der Gewerkschaften, die in kürzester Zeit zu Obdachlosen werden. Der Lebensstandard der "Arbeiteraristokratie" gleicht sich dem der Masse nach unten an.

Zeitungen und Zeitschriften der Arbeiterbewegung verschwinden. Sozialdemokratisch geprägte gewerkschaftliche Arbeit und Tarifverträge verlieren jeden Inhalt. Die Apparate der Arbeiterorganisationen zerfallen im Takt des Verfalls der staatlichen Institutionen. Sogar Polizei und Armee sind betroffen. Die Sozialdemokratie wankt und sucht nach neuen Möglichkeiten, sich für den Kampf gegen den "Bolschewismus" der Reaktion zu verkaufen.

Neue linkssozialistische Oppositionen beginnen sich in der SPD zu bilden, so anhand der Frage der Aktionseinheit mit der KPD. Vor allem in Sachsen und Thüringen gibt es erste Anzeichen eines Bruchs der sozialdemokratisch geprägten Massen mit der SPD-Führung. Die Zahl der "wilden" Streiks steigt. Auf Druck von unten muss die Gewerkschaftsführung Abstimmungen unter Mitgliedern und Nichtmitgliedern durchführen, die große Mehrheiten für den Generalstreik ergeben.

Bürgerliche Parteien und SPD wollen keine Wahlen riskieren. Wo doch welche stattfinden, wie in Mecklenburg-Strelitz im Juli 1923, verlieren bürgerliche Parteien und SPD dort viele Stimmanteile, während die KPD in diesem für sie sehr ungünstigen ländlichen Bezirk auf Anhieb ein Fünftel der Stimmen erhält. Die Mitgliederzahlen der KPD schnellen reichsweit hoch. Die neuen kommunistischen Betriebszellen gewinnen rasch viel Einfluss. Parallel wird die Betriebsrätebewegung immer stärker.

Zeitgleich erfahren die nationalistischen und extrem rechten Kräfte, einschließlich der von Hitler geführten NSDAP, Auftrieb - gestützt auch auf die erfolglose offizielle Politik gegen die französisch-alliierte Besetzung des Ruhrgebiets. Erst nach dem Scheitern des "deutschen Oktober" 1923 läuft der Hitler-Ludendorff-Putsch am 8./9.November, der seinerseits niedergeschlagen wird.

Die offizielle Politik heftet sich an die Brust, die extrem linke wie die extrem rechte Gefahr zu unterdrücken, doch faktisch richtet sich das in allererster Linie gegen die Bestrebungen der Arbeiterschaft, die Macht des Kapitals zu brechen. Seit Mitte 1923 gibt es in Deutschland eine vorrevolutionäre Situation.


Abgeblasener Aufstand

In Abstimmung mit "Moskau" beginnt die KPD, den Aufstand vorzubereiten. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Tolerierung der linkssozialdemokratischen Regierungen in Sachsen und Thüringen. Der schließliche Eintritt der KPD in diese Regierungen sollte der technischen Vorbereitung des Aufstands dienen. Entsprechend wichtig war der KPD daher die Übereinkunft, die Arbeiterschaft zu bewaffnen. Doch dies geschah faktisch nur in lächerlich geringem Umfang.

Letztlich sollte - nach dem Plan des KPD-Vorsitzenden Heinrich Brandler - eine Betriebsrätekonferenz in Chemnitz am 21. Oktober und deren Aufruf zum Generalstreik zur Verteidigung des proletarischen Sachsen gegen konterrevolutionäre Anschläge der Reichswehr das Signal zum Aufstand geben. Mangels Zustimmung der dort vertretenen linkssozialdemokratischen Elemente kam dies jedoch nicht zustande und die KPD-Zentrale blies den Aufstand ab - wobei die Nachricht davon in Hamburg bekanntlich nicht rechtzeitig ankam.

Karl Radek vom Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale äußerte spontan, Heinrich Brandler habe keine andere Wahl gehabt. Danach gab es aber die Schuldzuweisungen, und in Moskau mischten sich die sachlichen Motive ziemlich unappetitlich mit dem beginnenden persönlichen Machtkampf um die Nachfolge Lenins.

Die Entscheidungen der KPD-Führung im Oktober können im Rückblick schwerlich "verurteilt" werden. Trotzki und andere waren allerdings der Meinung, dass Brandler und seine Mitstreiter in den Monaten zuvor den Aufstand sehr viel besser hätten vorbereiten können.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 11, 34. Jg., November 2019, S. 21
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. November 2019

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