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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2404: Die SPD und die Ökonomen


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 7/8 · Juli/August 2019
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Die SPD und die Ökonomen
Hoffnung auf Marx, Kompromiss mit Keynes, Anbiederung an Hayek

Von Ingo Schmidt


"Das Geld erklärt dem ganzen Menschengeschlecht den Krieg"
(Pierre de Boisguillebert, 1704)  

Die SPD bei der Europawahl: Das schlechte Ergebnis der Bundestagswahl nochmal unterboten und dann in eine Führungskrise geschlittert. Auf der iberischen Halbinsel und in den Niederlanden hingegen sind die Sozialdemokraten stärkste Partei geworden. Das gilt auch für mehr oder minder zeitgleichen Wahlen zu nationalen Parlamenten in Spanien, Dänemark und Finnland. Damit bestätigt sich ein Muster, das sich spätestens seit der Großen Rezession herausgebildet hat: Sozialdemokraten können Wahlen gewinnen, wenn sie als Oppositionsparteien antreten. Aber sie enttäuschen ihre Wähler als Regierungsparteien.

Das Problem aller Sozialdemokraten besteht darin, dass sie für eine Sozialstaatspolitik gewählt werden, die sie im Überschwung des New-Economy-Booms für überholt und nach dessen Ende als undurchführbar erklärt haben. Auf der Linken wird oft argumentiert, dieses Problem sei durch Rückbesinnung auf den sozialdemokratischen Markenkern leicht zu beheben. Aber so einfach ist es nicht. Sozialdemokraten sind Ende der 90er Jahre nicht aus Versehen oder als Resultat vorübergehender Verblendung auf den Dritten Weg abgebogen, sondern aus Verzweiflung. Das historische Kapital, dass sie sich seit dem späten 19. Jahrhundert erworben und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Sozialstaat investiert hatten, war gegen Ende des Jahrhunderts aufgebraucht. Aus dieser Geschichte lässt sich für einen Neubeginn linker Formationen lernen, wiederholen lässt sich die Geschichte nicht.


1869: Marxismus und Klassenformation

Die 1869 in Eisenach gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei war zunächst nur eine unter vielen sozialistischen Gruppen, die zu jener Zeit in Westeuropa gegründet wurden und oft ebenso schnell wieder zerfielen, wie sie entstanden waren. Der Marxismus, den sich die Eisenacher auf die Fahnen schrieben und der damals nur in Bruchstücken existierte, erwies sich in den folgenden Jahren allerdings als Ferment der Klassenbildung. In einem immer dichter werdenden Netzwerk von Zeitungen, lokalen Partei- und Gewerkschaftsgruppen, Arbeitervereinen und Kneipen wurde der Marxismus zu einer Gedankenwelt und Sprache, in der Arbeiter ihre alltäglichen Erfahrungen, Hoffnungen und Lebensplanungen austauschen konnten. Auf Grundlage des so entstandenen Klassenbewusstseins konnten Strategie und Taktik diskutiert werden. Das Bewusstsein, einer ausgebeuteten und unterdrückten, aber stetig wachsenden Klasse anzugehören, half über die Mühen des Alltags hinweg und schuf Zuversicht auf eine bessere Welt. Auch wenn nur eine Minderheit dieser Klasse politisch aktiv war, ihre Sprache wurde auch von denen verstanden, die marxistische Ideen nicht teilten oder mit anderen, insbesondere religiösen, Ideen vermischten.

Die proletarische Öffentlichkeit, die für die Entstehung und Reproduktion proletarischen Klassenbewusstseins so wichtig war, wurde durch den Faschismus zerstört. Reste davon gingen, ebenso wie Partei und Gewerkschaften, in der Nachkriegszeit im Sozialstaat auf. Unter dessen institutioneller Hülle und den dramatischen Wandlungen von Wirtschaftsstruktur, Arbeitsorganisation und Lebensweise zum Trotz reproduzierten sich proletarische Denkmuster aber auch weiterhin. Sie gaben Betriebsräten, Gewerkschaftern und unzähligen Arbeitervertretern in lokalen Gremien Orientierung.

Das änderte sich erst mit dem Zechen-, Hütten- und Werftensterben in den 1970er Jahren und der seither einsetzenden Verlagerung ganzer Industrien ins Ausland und der Zergliederung anderer Industrien in regionale Produktionsnetzwerke. Die Industriearbeiterschaft, die seit der Entwicklung der SPD zu einer Massenpartei deren Kerntruppen gestellt hatte, ist seither zu einer Minderheit geworden. Ihre Gewerkschaften sind nicht einmal in der Lage, alle in einer Industrie Beschäftigten zu organisieren. Von einer Vorbildfunktion für Beschäftigte in anderen Sektoren kann erst recht keine Rede mehr sein. Selbst wenn sich die SPD wieder auf ihren Markenkern besinnen sollte - die Stammwählerschaft, die sich in Hochzeiten des Sozialstaates mit diesem identifiziert hat, gibt es nicht mehr.

Was die Klassenformation angeht, sind die Sozialdemokraten unserer Tage in der gleichen Situation wie die Eisenacher Liebknecht und Bebel. Die Arbeiter mögen eine Klasse gegenüber dem Kapital sein, sind es aber gewiss nicht für sich selbst.


1919: KPD, Sowjetunion und Imperialismus

Die Vereinigung der Arbeiter aller Länder zu fördern, war das erklärte Ziel der Sozialdemokratie im 19. Jahrhundert. Da Industriearbeit aber weitgehend in Westeuropa konzentriert war, fanden sich dort auch die Schwerpunkte sozialdemokratischer Organisation. Es dauerte nicht lange, bis in diesen die Idee aufkam, die Sache der Arbeiter durch Beteiligung an kolonialer Eroberung und Ausbeutung zu befördern. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs folgten viele Arbeiter der nationalen, statt der roten Fahne. Nationalismus war in der Sozialdemokratie stets verdammt, aber als Massenideologie fahrlässig unterschätzt worden.

Die Schrecken des Krieges beendeten den nationalistischen Rausch und führten schließlich zu Revolutionen in Russland, Österreich-Ungarn und Deutschland und zur Entstehung der kommunistischen Bewegung. Bei den Wahlen zur deutschen Nationalversammlung nur wenige Tage nach der Gründung der KPD und den Morden an Liebknecht, Luxemburg und ungezählten namenlosen Aufständischen wurde die SPD mit 38 Prozent die mit Abstand stärkste Partei. Hoffnungen auf einen von Arbeiterbewegung, Parlament und Unternehmern organisierten Kapitalismus hatten unter den Bedingungen wiederholter Wirtschaftskrisen und immer noch drohender revolutionärer Aufstände keine Chance. Das änderte sich nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die machtpolitische Herausforderung durch den Sowjetkommunismus ließ es den kapitalistischen Eliten ratsam erscheinen, auf sozialdemokratische Forderungen einzugehen. Russische Panzer stärkten die Verhandlungsmacht von Sozialdemokratie und Gewerkschaften und waren zugleich eine willkommene Gelegenheit, sich als demokratische Alternative zu den Politbürodiktaturen im Osten zu präsentieren. Auf diese Weise wurde im Westen ein demokratischer Kapitalismus möglich, dessen Wachstum durch steigende Reallöhne und Massenkonsum im Inneren aber auch durch neokoloniale Ausbeutung des Südens getragen wurde. Damit wurden sozialdemokratische Träume eines organisierten Kapitalismus scheinbar Wirklichkeit.

Nachdem die Kalter-Krieg-Ordnung etabliert war, entwickelte sich eine andere Sozialdemokratie, die auf Entspannungspolitik gegenüber dem Osten umschwenkte, im Inneren mehr Demokratie wagen wollte und eine gerechtere internationale Wirtschaftsordnung anstrebte. Diese Linkswende scheiterte - nicht zuletzt am Widerstand der sozialdemokratischen Rechten und Jahre bevor die Sowjetunion zusammenbrach und das weltweite Gleichgewicht der sozialen Kräfte sich deutlich zugunsten des Kapitals verschob.


1969: Keynesianismus zwischen Sozialismus und
Neoliberalismus

Nach dem Zweiten Weltkrieg hielt die SPD ideologisch am Marxismus fest, hatte aber kein den Verhältnissen des Kalten Krieges entsprechendes Programm. Gleichzeitig übernahmen die Konservativen unter dem Slogan der sozialen Marktwirtschaft einen Teil des sozialdemokratischen Programms. Ein gegenüber der Zeit vor den Weltkriegen erheblich angewachsener Staatssektor, progressive Einkommensteuertarife, dynamische Rentenanpassung und produktivitätsorientierte Lohnpolitik schufen schon in den 50er Jahren einen institutionellen Keynesianismus, der die Konjunktur auch ohne geld- oder fiskalpolitische Eingriffe stabilisierte.

Um aus ihrer Isolation auszubrechen, in der sie sich zwischen einem militanten Antikommunismus und einem mechanistischen Marxismus bewegte, griff die SPD nach dem Godesberger Parteitag den Keynesianismus als Ansatzpunkt für gesellschaftliche Gestaltung auf. Damit traf sie den Nerv ihrer Stammwähler, konnte aber auch viele Beschäftigte des öffentlichen Dienstes und Studierende für sich gewinnen. 1969 bekam die SPD zum ersten Mal über 40 Prozent der Stimmen bei einer Bundestagswahl und konnte mit Brandt erstmals den Bundeskanzler stellen.

Doch erwies sich sehr schnell, dass sich hinter dem keynesianischen Label fundamentale Klassengegensätze verbargen. Linkskeynesianer strebten den kontinuierlichen Ausbau des Sozialstaats an - ausdrücklich zulasten von Privatwirtschaft und Profit. Rechtskeynesianer waren lediglich an konjunkturpolitischer Feinsteuerung interessiert, die schwere Wirtschaftskrisen und davon ausgehende politische Instabilität vermeiden sollte. Ölpreisschocks und eine sich immer schneller drehende Preis-Lohn-Spirale ließen sich mit den keynesianischen Instrumenten nicht eindämmen. Nun gab es die Wahl zwischen Preiskontrollen und Investitionslenkung als Schritten in Richtung Sozialismus oder Inflationsbekämpfung, Haushaltssanierung und Kostensenkungen zur Wiederherstellung unternehmerischer Investitionsneigung. Unter Schmidt konnte die SPD-Rechte die zweite Option durchsetzen. Die Weichen in Richtung Agenda 2010 wurden bereits in den späten 70er Jahren gestellt. Als die Partei nach 16 Jahren Kohl wieder an die Regierung kam und der Dritte Weg zwischen Keynes und Hayek sich angesichts des Scheiterns der New Economy als Sackgasse erwies, entschied sich Schröder für Hayek. Dabei hätte die Sozialdemokratie damals - sie stellte in 11 von 15 Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft den Regierungschef - die Möglichkeit gehabt, eine verbindliche Sozialcharta als Ergänzung zum Vertrag von Maastricht durchzusetzen. Der Linkskeynesianer Lafontaine sah keine Chance mehr. Inzwischen hatte aber auch die Globalisierung der Wertschöpfungsketten ihm den Boden entzogen. Ein Wirtschaft und Gesellschaft umbauender Linkskeynesianismus funktioniert heute nicht, weil die soziale Kraft fehlt, die Verlagerungsdrohungen neutralisieren könnte, z.B. durch Kapitalverkehrskontrollen, vor allem aber durch eine länderübergreifende kämpferische Gewerkschaftspolitik.

Wer Hayek will, kann auch andere Parteien wählen. Wer SPD wählt, will mehr soziale Sicherheit. Diejenigen, die diese Sicherheit wollen, geben in der SPD aber schon längst nicht mehr den Ton an. Nach der Auflösung der einstmals sie tragenden Arbeiterklasse ist die SPD zu einer Organisation auf der Suche nach einem Milieu und einem Verwendungszweck geworden. Schwer vorstellbar, dass ihr gegenwärtiges Personal sich zu einer Klassenpolitik aufraffen kann, die der Partei wieder einen sozialen Unterbau verschaffen könnte.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 7/8, 34. Jg., Juli/August 2019, S. 12
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
SoZ-Verlag, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juli 2019

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