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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2101: Libanon - Wer Geld hat, darf einreisen


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 1 · Januar 2017
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Wer Geld hat, darf einreisen
Über die libanesische Flüchtlingspolitik

SoZ-Gespräch mit Elissa Shamma


Der Sommer 2015, der Sommer der großen Fluchtbewegung, kam für die europäischen Regierungen alles andere als überraschend. Er war nämlich eine Folge dessen, dass die libanesische Regierung für Syrer, die vor dem Assad-Regime flohen, die Grenzen dichtmachte. Libanon war die erste Station der Flüchtlinge gewesen. Die sog. inernationale Gemeinschaft trifft eine große Mitverantwortung für die Lage, in die die Flüchtlinge dadurch gebracht wurden - und für die politischen Konsequenzen, die sich daraus vor allem in der EU daraus ergaben. Es ist ein frühes Beispiel der Folgen, die ein restriktives und unmenschliches Grenzregime hat. Darüber wird aber in der hiesigen Presse geschwiegen.

Die SoZ sprach mit Elissa Shamma über die Situation der Flüchtlinge im Libanon. Sie lebt im Libanon und arbeitet für eine Nichtregierungsorganisation, bei der es um das gute Zusammenleben zwischen syrischen Flüchtlingen und Libanesen geht. Darüber hinaus ist sie im Socialist Forum aktiv, einer revolutionär-marxistischen Organisation im Libanon.


Wie kam es eigentlich zur Massenflucht aus Syrien?

Von Anfang an sind die revolutionären Prozesse und Revolten im arabischsprachigen Raum auf Syrien übergesprungen. Mehr als 4,8 Millionen Menschen sind seit dem Beginn des sog. arabischen Frühlings aus Syrien in angrenzende Länder wie denLibanon, Jordanien, den Irak und die Türkei geflohen, mehr als 13 Millionen haben sich innerhalb von Syrien auf die Flucht begeben.

Im März 2011 begann der erste Volksaufstand gegen das syrische Regime in Daraa, einer Großstadt im Südwesten Syriens. Dies führte zu Rebellionen in verschiedenen syrischen Städten wie Homs, Daraya, Qamishli. Man ging auf die Straße für Freiheit, soziale Gerechtigkeit, Würde und bessere ökonomische Bedingungen. Das syrische Regime, eine Diktatur der arabischen Baath-Partei, die seit dem Staatsstreich von 1963 an der Macht ist, reagierte auf die Proteste mit der Unterdrückung friedlicher Demonstrationen. Syrische Städte wurden belagert, zivile Wohngegenden bombardiert, auch Märkte und lebenswichtige Einrichtungen wie medizinische Zentren und Schulen. Menschen sind verschwunden, es gab Folterungen, Massentötungen und willkürliche Verhaftungen.


Ab wann sind Menschen aus Syrien geflohen?

Syrer begannen bereits 2011, aus ihren Städten und Dörfern in sicherere Orte innerhalb und außerhalb des Landes zu fliehen. Viele von ihnen gelangten in den Libanon, ein Staat, der auf eine lange Geschichte von Misshandlung und Ausbeutung migrantischer Arbeiter zurückblickt - das gilt für Migranten im allgemeinen, aber ganz besonders für Syrer. Bis Ende 2014 weigerte sich die libanesische Regierung überhaupt, die Anwesenheit syrischer Flüchtlinge auf libanesischem Territorium anzuerkennen und auf deren Bedürfnisse zu reagieren.

Mit dem Segen der Vereinten Nationen und getreu dem Motto der sog. internationalen Gemeinschaft, es gelte, ein Ausbreiten der Krise zu verhindern, wurde die libanesische Regierung dann im Januar 2015 aktiv und schloss die Grenzen für Syrer, die vor der Gewalt flohen. Außerdem zwang sie den Flüchtenden neue, restriktive und teure Aufenthaltsregularien auf. So bekamen und bekommen Flüchtlinge aus Syrien nur dann ein Visum «für einen sicheren Weg aus dem bewaffneten Konflikt und der Verfolgung», wenn sie wirtschaftliche Verbindungen in den Libanon oder viel Geld nachweisen können. Diese Art von Regulierung der Flüchtlingsströme hat dazu beigetragen, dass sich ein brutales Sponsorensystem entwickelt hat: Ein Visum wird nur dann erteilt, wenn der oder die Flüchtende Verbindungen zu einem vermögenden libanesischen Bürger nachweisen kann; dem Flüchtenden selbst werden fundamentale Rechte verweigert.


Kannst du etwas mehr zur Situation der Flüchtlinge sagen?

Bis heute leben mehr als 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge und Zehntausende palästinensische Flüchtlinge aus Syrien im Libanon - unter unmenschlichen Bedingungen. Hier findet ein vom Staat billigend in Kauf genommener Zusammenbruch auf dem Rücken der Flüchtlinge statt - und die internationale Gemeinschaft und die Behörden der UN helfen dabei. Die Flüchtlinge leben in informellen Siedlungen, meist auf dem Land, wo sie unter sklavenähnlichen Bedingungen arbeiten. Dort findet man schlimme Formen von Kinderarbeit, Menschenhandel und Zwangsarbeit im Tausch für ein paar Meter Land, wo sie ihr Zelt aufschlagen können. Andere Flüchtlinge mieten Garagen und nicht fertig gestellte Gebäude und werden damit zum Opfer von Vermietern, die ihre Situation aufs Äußerste ausnutzen und die Miete in die Höhe treiben.

Viele Flüchtlinge leben in Sammelunterkünften, nur eine Minderheit davon wird von internationalen oder lokalen Organisationen betrieben. Auch hier wird ihnen eine Grundversorgung an Wasser, Strom, sanitären Anlagen und Witterungsschutz verweigert.

Die ökonomischen Bedingungen der syrischen Flüchtlinge haben sich enorm verschlechtert. 70% der Syrer im Libanon leben unter der Armutsgrenze mit weniger als 4 US-Dollar am Tag und bewegen sich in einem Teufelskreis aus Schulden.


Inwiefern sind sie Rassismus ausgesetzt?

Trotz der schlimmen Bedingungen, unter denen sie leben, betreiben die staatlich geführten Massenmedien eine systematische Propaganda gegen syrische Flüchtlinge und heizen den Rassismus an. Das Ergebnis davon sind extreme Ausbeutung, Misshandlungen, Belästigungen, Fremdenfeindlichkeit und gewalttätige Angriffe. Die Angriffe auf Flüchtlinge, sei es durch Libanesen, die den herrschenden Milizen angehören, oder durch systematische Überwachung, sind extrem gewalttätig; zudem finden nachts Razzien, Räumungen und selbst Abschiebungen nach Syrien statt, bei denen Flüchtlingen dem syrischen Regime übergeben werden.

Es zeigt sich auch deutlich eine Klassenspaltung: Syrische Arbeiterinnen und Arbeiter genießen nur fahrlässigen Schutz und werden oft durch illegitime Ausgangssperren eingeengt, während die reichsten unter den Syrern sich im Libanon frei zwischen Fünf-Sterne-Hotels oder in der Wärme und Sicherheit einer eigenen Wohnung in Beirut bewegen können. Die illegitimen Ausgangssperren für syrische Arbeiter werden von Kommunen unter dem Deckmantel der «nationalen Sicherheit» verhängt.

Dazu kommen die Hasspredigten von politisch agierenden nationalen Medien oder von Staatsvertretern. Täglich wird die libanesische Bevölkerung mit manipulierten Eilmeldungen über Flüchtlinge bombardiert, die inhaftiert wurden, etwa wegen des Verdachts auf Besitz einer Waffe oder wegen Kontakten zu terroristischen Netzwerken. Damit soll ihre angeblich notwendige Bewachung zum «Schutz der libanesischen Bevölkerung» und für den «Kampf gegen den Terrorismus» gerechtfertigt werden.

2016 gab es eine erneute Wendung. Michael Aoun wurde zum Präsidenten des Libanon gewählt. Er ist ein ehemaliger General und Führer des Free Patriotic Movement (FPM), einer Bewegung, die derzeit mit der Hizbollah verbündet ist. Er lebte 15 Jahre lang in Frankreich im Exil, er hatte von der französischen Regierung Asyl erhalten, nachdem Kräfte des syrischen Regimes ihn 1990 im Präsidentenpalast im Libanon angegriffen hatten. Er hat eine «neue Ära» der sogenannten nationalen Einheit verkündet, d.h. es wird noch mehr Ultranationalismus geben und noch mehr Leute aus der Armee werden an Einfluss gewinnen.

Die traditionelle und die stalinistische Linke, in der arabischen wie auch in der westlichen Welt, hat dabei geholfen, Assads Botschaften zu verbreiten, durch die mutige syrische Nachbarschaften dämonisiert wurden, wenn sie sich gegen sein brutales und illegitimes Regime stellten. So wurden die Flüchtlinge im Libanon allein gelassen. Sie wurden zu einer einfachen Zielscheibe, die der extremen Rechten und dem Staat als Sündenbock diente.


Wie beurteilst du die Rolle der internationalen Organisationen?

Die internationalen Organisationen haben den Raum für Diskriminierung und Missbrauch sogar noch weiter geöffnet, weil sie Hilfe und eine minimale Unterstützung bei grundlegenden Bedürfnissen verweigert haben, natürlich spielt auch Korruption eine Rolle. Die internationalen Nichtregierungsorganisationen und die internationale Gemeinschaft tragen eine Mitschuld an dem, was die Flüchtlinge nun ertragen müssen, weil sie wegschauen oder auch, indem sie Papiere verweigern oder die Sicherheitsmaßnahmen, die Flüchtlingen auferlegt werden, legitimieren. Sie sind Komplizen. So gibt es zwischen der libanesischen Regierung und der EU eine unausgesprochene Übereinkunft: Die Regierung kann die Flüchtlinge misshandeln und ausbeuten, wie sie will, solange sie von der Festung Europas ferngehalten werden.

Angesichts dieser Brutalität bleibt internationale Solidarität mit den Menschen Syriens eine dringende tägliche Notwendigkeit und Pflicht für die Linke. Wo immer wir sind, müssen wir uns gegen Unterdrückung, Razzien und die Misshandlung von Flüchtlingen durch Behörden zusammenschließen und organisieren und die Diskriminierung in all ihren Schattierungen angreifen.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 1, 32. Jg., Januar 2017, S. 5
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
SoZ-Verlag, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Januar 2017

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