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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2072: Zuzug begrenzen? - Linke Debatte über Flüchtlingspolitik


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 9 September 2016
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Linke Debatte über Flüchtlingspolitik
Zuzug begrenzen?

Von Manuel Kellner


Mit ihrer Kritik an Angela Merkels Flüchtlingspolitik ("Wir schaffen das") als "leichtfertig" nach einem der Anschläge in diesem Sommer hat Sahra Wagenknecht eine heftige Debatte über linke Flüchtlingspolitik in der Partei Die LINKE losgetreten. Wagenknecht wurde vorgeworfen, rechte Positionen zu bedienen. Sowohl radikal linke wie auch dem Reformerflügel angehörende, führende Mitglieder der Partei beharrten ihr gegenüber auf der Position der "offenen Grenzen" und der Weigerung, sich auf irgendwelche Zuzugsbeschränkungen einzulassen.

Neu ist diese Debatte gleichwohl nicht, das zeigt ein doppelter Rückblick auf frühere Äußerungen ihres Lebensgefährten Oskar Lafontaine. Bereits in der Zeit der Gründung der WASG (Wahlalternative für Arbeit und Soziale Gerechtigkeit) im Jahr 2005 hatte Lafontaine auf einer Kundgebung in Chemnitz gesagt: "Der Staat ist verpflichtet, seine Bürger und Bürgerinnen zu schützen, er ist verpflichtet, zu verhindern, dass Familienväter und Frauen arbeitslos werden, weil Fremdarbeiter zu niedrigen Löhnen ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen." Nicht nur wegen der Verwendung des Begriffs "Fremdarbeiter", sondern auch wegen der Entgegensetzung der Interessen von Migranten und deutschen Lohnabhängigen wurde Lafontaine damals scharf kritisiert.

Am 9. November 2015 forderte Oskar Lafontaine im saarländischen Landtag feste Flüchtlingskontingente für Europa:

"Es ist menschlicher, die Zahl der Flüchtlinge, denen man in Deutschland Schutz gewährt, durch feste Kontingente in Europa zu begrenzen und dafür den hier Aufgenommen zu ermöglichen, ihre Ehepartner und Kinder nachzuholen. Ein stetig ansteigender Zuzug dagegen hätte zwangsläufig zur Folge, dass der Nachzug von Familienmitgliedern begrenzt werden müsste ... Eine entsprechende klare Aussage der Bundeskanzlerin Angela Merkel fehlt bisher. Nach Auffassung führender Politiker in Europa ist sie daher mittlerweile mit verantwortlich für die stetig ansteigenden Flüchtlingszahlen und das Erstarken rechter Parteien in Europa. Auf europäischer Ebene sollten faire Vereinbarungen getroffen werden. Um denen, die nicht aufgenommen werden können, ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, sind die Flüchtlingslager in der Krisenregion finanziell so auszustatten, dass die Menschen nicht hungern und im Winter nicht frieren müssen und dass ihre Kinder eine Schule besuchen können. Die Gleichgültigkeit der Regierungen der reichen Länder, auch der deutschen, gegenüber der Not in den Flüchtlingslagern hat dazu geführt, dass immer mehr Menschen aufgebrochen sind, um sich in Europa, vor allem in Deutschland, eine neue Existenz aufzubauen."

Bei anderer Gelegenheit hob Lafontaine die Schlüsselrolle des "sozialen Friedens" für die Aufnahmebereitschaft der deutschen Bevölkerung hervor:

"Die Kosten dürfen nicht diejenigen tragen, die ohnehin schon benachteiligt sind, nämlich die Geringverdiener, Arbeitslosen, Rentner und Familien. Es darf nicht sein, dass an Schulen, im sozialen Bereich, bei der öffentlichen Daseinsvorsorge und der Polizei gekürzt und gestrichen wird, während sich Merkel, Gabriel und Co. weigern, Millionäre angemessen an der Finanzierung zu beteiligen. Der Tisch für die Flüchtlinge muss von den Reichen gedeckt werden."

Im ersten Zitat von Lafontaine ging es um Arbeitsimmigration, nicht um Flüchtlinge. Die Tatsache der Konkurrenz unter den Beschäftigten und des Einsatzes von Immigranten zum Lohndumping ist unbestreitbar. Verantwortlich dafür sind diejenigen Unternehmen (z.B. im Baugewerbe), die Migranten dafür missbrauchen. Zweifellos gehört die Einführung des Mindestlohns (seine wirkliche Durchsetzung und seine Anhebung) zu den linken Antworten auf die Problematik.

Hinzu kommt aber, dass "Fremdarbeiter" nur unter einer Bedingung nicht "fremd" bleiben: wenn es nämlich gelingt, die eingewanderten und die eingeborenen abhängig Beschäftigten im gemeinsamen Interesse zu gemeinsamen Aktionen zu führen. Die "Verpflichtung des Staates", seine "Bürger" vor der Lohnkonkurrenz durch eingewanderte Beschäftigte zu schützen, ist eher dazu angetan, die Spaltung der Lohnabhängigen zu begünstigen, als dieser Spaltung entgegenzuwirken.

Auch die Äußerungen zur Flüchtlingspolitik der Bundesregierung sehe ich kritisch. Natürlich artikuliert Lafontaine in diesem Zusammenhang sehr berechtigte linke Forderungen, die auf eine Umverteilung von oben nach unten hinauslaufen, sowie auf eine menschenwürdige Behandlung der Flüchtlinge in den Flüchtlingslagern in Jordanien, im Libanon usw. Er kritisiert auch völlig zurecht die Rolle der Rüstungsexporte, den vernichtenden Einfluss des westlichen Wirtschaftsimperialismus in den arm und abhängig gehaltenen Ländern sowie die westlichen Militärinterventionen, die für das Versinken ganzer Regionen in Krieg, Bürgerkrieg und Elend verantwortlich sind.

In bezug auf die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel hebt er jedoch einen Aspekt hervor, der aus linker Sicht sehr viel eher positiv gesehen werden sollte: Merkels "Wir schaffen das" war keineswegs unverantwortlich, sondern ein Aufgreifen der sich von unten her entwickelnden "Willkommenskultur", der massenhaften Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen und ihnen zu helfen. Manche Linke tun das mit dem Argument ab, das seien alles nur "Bürgerkinder", während eben die deutschen Armen und Benachteiligten die Konkurrenz um Wohnraum und soziale Transferleistungen zu fürchten haben. Und deren Ängste müsse die Linke aufgreifen, um in Dialog mit dieser Schicht zu bleiben.

Mit offenen Grenzen und Willkommenskultur hat die wirkliche Flüchtlingspolitik von Angela Merkel jedoch gar nichts zu tun. Spätestens seit dem Deal mit der Türkei ist klar, dass sie die Politik der "Festung Europa" mitträgt. Das gilt es in erster Linie aus linker Sicht zu kritisieren.

Aber müssen wir nicht die Interessen der armen und benachteiligten Deutschen vertreten? Sind sie nicht die Alleingelassenen, die wirklichen Opfer? Müssen wir nicht in deren Interesse für eine Zuzugsbegrenzung sein?

Ich glaube, dass Linke, die für Zuzugsbegrenzungen eintreten, ihren Vorschlag nicht wirklich bis zu Ende denken. Jede Begrenzung von Einwanderung hat nur Sinn, wenn sie praktisch durchgesetzt wird. Flüchtlinge müssen dann noch massiver zurückgeschickt werden. Ihre Abweisung an den Grenzen kann nur gewaltsam durchgesetzt werden - die entsprechenden Äußerungen von rechten Politikern sind zwar empörend, aber nicht so leicht von der Hand zu weisen. Zumindest erwarte ich, dass Linke, die Zuzugsbegrenzungen fordern, auch darlegen, wie sie das praktisch durchgesetzt sehen wollen.

Strategisch wird nur die Zusammenführung der massenhaften Flüchtlingshilfebewegung mit einer Bewegung der sowohl eingewanderten wie alteingesessenen abhängig Beschäftigten und Benachteiligten den gordischen Knoten durchschlagen können. Solange diese Art solidarischer Bewegung für eine massive Umverteilung von oben nach unten - auch über die Grenzen der Staaten hinweg - so schwach ist wie bislang, kann das Dilemma nicht gelöst werden. Alle für sich genommen richtigen Teilantworten (auch die Losung der "offenen Grenzen") greifen dann nicht wirklich.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 9, 31. Jg., September 2016, S. 4
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. September 2016

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