Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1859: Der Erdgaskrieg - eine Dreiecksbeziehung


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 8/9 - September 2014
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Der Erdgaskrieg - eine Dreiecksbeziehung
Im Gasstreit bündeln sich die Konflikte zwischen Russland, der Ukraine und der EU

Von Angela Klein



Der neue, sog. "kalte Krieg" mit Russland wird nicht nur auf dem Feld der Sanktionen ausgefochten. Um freiere Hand für einen Konfrontationskurs zu haben, sucht die EU nach Alternativen zum russischen Erdgas.


Bis zur "Orange Revolution" 2004, die die Neuwahl des Staatspräsidenten erzwang und den als prowestlich eingestuften Viktor Juschtschenko ins Amt hob, zahlte die Ukraine für russisches Erdgas einen Fixpreis von 50 Dollar je 1000 Kubikmeter und erhielt für den Erdgastransit 1,09 Dollar je 1000 Kubikmeter und 100 Kilometer.

Nach dem Machtwechsel in Kiew hob der russische Erdgaslieferant Gazprom den Preis zweimal an, zuletzt im November 2005 auf 230 Dollar; die Entschädigung für den Transit wurde auf 1,74 Dollar angehoben. Die Geschäftsleitung von Gazprom begründete das mit der Anpassung an die Weltmarktpreise. Zu sowjetischen Zeiten war Gazprom eine Behörde des Ministeriums für Erdöl- und Gaswirtschaft der UdSSR gewesen, im Zuge der Perestroika wurde sie im Jahr 1989 in einen Staatskonzern umgewandelt und entdeckte in den 90er Jahren den Kapitalismus.


Der erste Gasstreit (2005/2006)

Was dann folgte und als russisch-ukrainischer Gaskrieg bekannt wurde, war ein Konflikt zwischen einem Teil der russischen und einem Teil der ukrainischen kapitalistisch gewendeten Nomenklatura um den Anteil an der Gasrente. Unmittelbar nach dem Fall der Mauer war die Industrieproduktion in allen Teilen der ehemaligen UdSSR auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig und infolgedessen auch keine Quelle, die eine starke Kapitalakkumulation erwarten ließ, im Gegenteil, die sowjetischen Industriegiganten mussten erst mit enormen, vorfinanzierten Investitionen modernisiert werden.

Für die künftigen Oligarchen, die sich sowohl in Russland als auch in der Ukraine hauptsächlich aus den Reihen führender Komsomolzen rekrutierten, war die verarbeitende Industrie daher zunächst von geringem Interesse; die Aneignung von Teilen des Energiesektors erschien weitaus lukrativer.

Viele der heutigen ukrainischen Oligarchen haben sich zunächst vorwiegend mit dem Transit von russischem Erdgas eine goldene Nase verdient. Hier fand die "ursprüngliche Akkumulation" auf Kosten der Staatskasse statt, die ihnen im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts erlaubte, die dann zur Privatisierung anstehenden Industriekonglomerate aufzukaufen. Bis 2004 hatte sich auf diese Weise das Oligarchensystem herausgebildet, dessen Eigentümlichkeit ist, dass es den ukrainischen Staat beherrscht und das volkswirtschaftliche Vermögen in (untereinander umstrittenen) Einflusszonen aufgeteilt hat.

Die Zahlungsunfähigkeit der ukrainischen Erdgasgesellschaft Naftogaz ist seit der Angleichung des russischen Erdgaspreises an das Weltmarktniveau notorisch und im Endeffekt ein Ergebnis der Schwäche des ukrainischen Staates gegenüber den Oligarchen, die den Rohstoffreichtum des Landes mit staatlicher Unterstützung schamlos plündern. Um das Geschäft mit der EU nicht zu verlieren - etwa die Hälfte der russischen Gasexporte an die EU führen durch die Ukraine, die Einnahmen daraus bilden einen bedeutenden Teil der Einnahmen von Gazprom -, wurden deshalb immer Dienstleistungen der Ukraine "gegengerechnet", vor allem die Stationierungskosten für die russische Schwarzmeerflotte auf der Krim. Der Vertrag hierüber stammt aus dem Jahr 1997 und sollte im Jahr 2017 auslaufen.

Am 4. Januar 2006 wurde ein Kompromiss im Gasstreit unterzeichnet, der fünf Jahre lang Gültigkeit haben sollte. Gazprom wurde die gewünschte Preiserhöhung auf 230 Dollar gewährt, lieferte dafür aber zu zwei Dritteln Gas aus turkmenischen Feldern, an denen die Ukraine einen Anteil hatte, den sie Gazprom nun verkaufen musste. (Das turkmenische Gas ist erheblich billiger.) So stieg der Gaspreis für die Ukraine de facto nur auf 95 Dollar. Auch die Transitgebühren wurden angehoben.


Der zweite Gasstreit (2008/2009)

Dennoch akkumulierte die Ukraine bis Oktober 2007 Schulden in Höhe von rund 1,3 Mrd.Dollar. Über deren Bezahlung bzw. Nichtbezahlung entbrannte Streit, in dessen Gefolge Gazprom die Gaslieferungen an die Ukraine mehrfach drosselte und die ukrainische Regierung sich dafür an Erdgaslieferungen schadlos hielt, die für die EU bestimmt waren.

Der Streit hatte auch einen innenpolitische Komponente. Die im fraglichen Zeitraum (2007-2010) amtierende Minsterpräsidentin Julia Timoschenko, die ihr Vermögen mit Gaslieferungen aus Russland gemacht hat, versuchte nämlich, den Streit zu nutzen, um ihren ärgsten Rivalen, den Zwischenhändler Dmitro Firtasch von RosUkrEnergo AG, auszuschalten. Firtasch verkaufte einen Teil des aus Russland importierten Gases auf dem Weltmarkt zu höheren Preisen weiter und machte damit richtig Kohle - sowohl Juschtschenko als auch sein Nachfolger Janukowitsch sollen Nutznießer dieses Geschäfts gewesen sein. Timoschenko versuchte in Verhandlungen mit dem russischen Ministerpräsidenten Wladimir Putin, RosUkrEnergo aus dem Gashandel zwischen beiden Staaten auszuschalten, um nur noch direkte Geschäftsbeziehungen zwischen dem staatlichen ukrainischen Erdgasunternehmen Naftogaz und Gazprom zu haben.

Anfang Januar 2009 stellte Gazprom die Lieferungen in die Ukraine ein und reklamierte einen deutlich höheren Gaspreis sowie ausstehende Zahlung in Höhe von 2,4 Mrd. Dollar, von denen die ukrainische Regierung 1,3 Mrd. anerkannte. Mehrere ost- und südosteuropäische Länder sowie die Türkei meldeten Rückgänge, am empfindlichsten traf es Nicht-EU-Länder wie Serbien und Bosnien-Herzegowina. Russland nahm mit der EU direkte Kontakte auf, um eine Lösung zu erreichen, die eine Wiederaufnahme der Gaslieferungen in die EU erlaubten.

Der Streit wurde noch im Januar 2009 mit einem Zehnjahresvertrag zwischen Gazprom und Naftogaz besiegelt, danach erklärte sich die Ukraine bereit, ab 2010 den vollen europäischen Preis (etwa 360 Euro) zu zahlen und Zwischenhändler auszuschalten. 2010 wurde dieser Preis allerdings erneut zugunsten der Ukraine um 30% herabgesetzt und mit Kosten für die Stationierung der Schwarzmeerflotte verrechnet; der Stationierungsvertrag wurde bis zum Jahr 2042 verlängert.


Umgehung der Ukraine...

Der russisch-ukrainische Gasstreit hatte drei Folgen:

- Die erste war, dass Russland die Entwicklung von Pipelines, die die Ukraine umgehen sollten, erheblich beschleunigte. Im Oktober 2005 unterzeichneten Gazprom, E.on und BASF den Vertrag zum Bau von North Stream (Pipeline durch die Ostsee von Wyborg nach Lubmin bei Greifswald) im Beisein von Schröder und Putin. Anteilseigner sind zudem Wintershall, die niederländisch Gasunie und die französische GDF Suez. Dadurch verringerte sich der Anteil des russischen Erdgases an die EU, das durch die Ukraine geleitet wird, von 80% auf 50%. (Bereits Ende der 90er Jahre hatte Russland mit der Türkei einen Vertrag zum Bau von Blue Stream, der Pipeline durchs Schwarze Meer von Beregovaya nach Durunsu, geschlossen.)

- Im Februar 2009, direkt im Anschluss an den zweiten russisch-ukrainischen "Gaskrieg", unterzeichneten Gazprom, Eni (Italien), EdF (Frankreich) und die BASF-Tochter Wintershall einen Vertrag zum Bau von South Stream. Die Pipeline führt von der russischen Schwarzmeerküste ins bulgarische Varna und verzweigt sich von dort aus: der südliche Zweig sucht Anschluss an die Transadriatische Pipeline (TAP), die von der Türkei über Griechenland und Albanien durch die Adria nach Süditalien (Apulien) führt; der nördliche Zweig führt durch Serbien und Ungarn nach Österreich. Die Energiegesellschaften der Durchgangsländer sind für den ihr Land betreffenden Teil am Projekt beteiligt, teilen sich ihren Anteil aber immer zur Hälfte mit Gazprom (das gilt auch für OMV).

- Die zweite Folge war, dass die österreichische Mineralölgesellschaft OMV sich nach Alternativen zur Belieferung mit russischem Erdgas umsah und 2002 den Bau der Pipeline Nabucco initiierten; sie sollte von der türkisch-bulgarischen Grenze durch Rumänien und Ungarn an das österreichische Verteilzentrum in Baumgarten an der March führen. Die EU wäre dann mit kaspischen (möglicherweise auch mit turkmenischen, ägyptischen und irakischen) Erdgasvorkommen verbunden gewesen. Das Betreiberkonsortium Shah Deniz, benannt nach dem größten Gasfeld in Aserbaidschan und je zu einem Viertel in der Hand von BP und der norwegischen Statoil, teilte Ende Juni 2013 jedoch mit, es werde Nabucco nicht beliefern, stattdessen das Konkurrenzprojekt TAP.

- Die dritte Folge war, dass nun Energiekonzerne aus der EU ein eigenes Interesse daran entwickelten, ins Gasgeschäft mit der Ukraine einzusteigen. Im November 2012 gab RWE bekannt, es werde Erdgas an die Ukraine liefern, billiger als Gazprom; 2013 flossen bereits 2,1 Mrd. Kubikmeter. Dafür wurden Gasleitungen nach Polen, Ungarn und die Slowakei mit "Reverse-Flow"-Vorrichtungen ausgestattet, die erlauben, Gas auch in die entgegengesetzte Strömungsrichtung zu schicken. Mit solchen Vorrichtungen soll das europäische Gasnetz nun generell ausgestattet werden; außerdem sollen Verbindungsstücke zwischen den Erdgasleitungen gebaut werden, um das Gas insgesamt flexibler verteilen zu können (das Vorhaben gehört zu den zwölf Prioritäten im Energieinfrastrukturpaket der EU 2013). RWE hatte sich zuvor am Nabucco-Projekt beteiligt, war dann aber ausgestiegen.

Wenn es ein westliches Interesse an einer (Teil-)Übernahme des ukrainischen Gasnetzes gegeben hat, wurde davon angesichts des maroden Zustands des Netzes bald Abstand genommen. Der Vorschlag, ein deutsch-russisch-ukrainisches Erdgaskonsoritum mit der Modernisierung des ukrainischen Röhrensystems zu beauftragen, an dem die deutsche Ferrostaal Interesse gezeigt hatte, wurde jedenfalls Ende 2013 fallen gelassen. Im Dezember 2013 gab der damalige ukrainische Regierungschef Nikolaj Asarow bekannt, die Europäische Union werde die Modernisierung der ukrainischen Gaspipelines nicht mitfinanzieren.


...oder Umgehung Russlands?

Nach der Besetzung der Krim im März 2014 kündigte Russland das Stationierungsabkommen (da es die Krim jetzt als Teil Russlands betrachtet) und in dessen Folge auch den damit verbundenen Preisrabatt. Im April forderte Gazprom pro 1000 Kubikmeter Gas nun 485 Dollar, zudem die Begleichung offener Rechnungen für Gaslieferungen in Höhe von 4,5 Mrd. Dollar. Die für die Ukraine bestimmten Gaslieferungen wurden eingestellt, die für die EU bestimmten fortgesetzt. Die neue Regierung in Kiew setzt nun darauf, verstärkt ihre Vorkommen an Schiefergas auszubeuten (die drittgrößten in Europa). Einen ersten Gemeinschaftsvertrag über eine 50-Jahre-Produktion hatte schon die Vorläuferregierung im Januar 2013 mit Royal Dutch Shell unterzeichnet.

Die Besetzung der Krim hat eine neue Lage geschaffen. Die EU hat sich im Fahrwasser der USA auf einen Konfrontationskurs mit Russland eingelassen, der nicht nur eine zunehmend umfänglichere Sanktionsliste umfasst, sondern erkennbar auch darauf abzielt, sich sukzessive der Zusammenarbeit mit Russland auf dem Gebiet der Energieversorgung zu entledigen.

So hat die EU von ihren Mitgliedstaaten verlangt, das South-Stream-Projekt zu beendigen. Dies ist jedoch zwischen den Mitgliedstaaten umstritten. Während Bulgarien und Serbien sich davon einschüchtern ließen und erklärt haben, die Arbeiten zunächst auf Eis legen zu wollen, hält die österreichische Mineralölgesellschaft OMV am Projekt fest: "Europa würde sich ins eigene Knie schießen, wenn es den Bau verhindert", erklärte OMV-Chef Gerhard Roiss Anfang August. Die italienische Regierung hat sich ebenfalls für den Weiterbau ausgesprochen und will den EU-Vorsitz, den es im zweiten Halbjahr 2014 führt, dazu nutzen, "das Vertrauen zwischen der EU und Russland" wiederherzustellen.

Nach dem Abschuss des malaysischen Linienflugzeugs hat die EU die Sanktionen gegen Russland weiter ausgeweitet. Das Erdgasgeschäft wurde davon ausgenommen.

*

Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 8/9, 29. Jg., Sept. 2014, Seite 14
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
SoZ-Verlag, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln
Telefon: 0221/923 11 96, Telefax: 0221/923 11 97
E-Mail: redaktion@soz-verlag.de
Internet: www.sozonline.de
 
Die Soz erscheint monatlich und kostet 3,50 Euro.
SoZ-Probeabo: 3 Ausgaben für 10 Euro
Normalabo: 58 Euro
Sozialabo: 28 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. September 2014