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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1794: 3 Jahre Arabische Revolution - Rolle Nordafrikas für die EU-Migrationspolitik


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 1 - Januar 2014
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

3 Jahre Arabische Revolution[*]
Die Rolle Nordafrikas für die Migrationspolitik der EU
Am Beispiel Tunesien, Marokko und Libyen

Von Bernard Schmid



Nordafrika ist aus Sicht der EU nicht nur wegen seiner strategischen Lage und der Ölvorkommen in Libyen und Algerien interessant, sondern auch als Ausreise- und Durchgangsregion für Menschen in Flucht und Migration. Seit Jahren sind deshalb vor allem die europäischen Mittelmeeranrainerstaaten darum bemüht, ihre Kontrolle auf Nordafrikas Küsten und ihr Hinterland auszudehnen und das Grenzregime der EU dadurch "auszulagern".


Libyen spielt dabei eine Schlüsselrolle. Schon unter dem Staats- und "Revolutions"führer Muammar al-Gaddafi schloss Libyen mehrere internationale Abkommen mit EU-Staaten, insbesondere mit Italien, deren Gegenstand vor allem die "Rücknahme" aus Europa zurückgeschickter, dort unerwünschter Migranten war. Dabei ging es um Menschen aus dem Afrika südlich der Sahara, die entweder zunächst Arbeit in Libyen suchten und dann von dort nach Europa weiterreisen wollten oder aber Libyen als Durchreiseland nutzten. Internationale Menschenrechtsorganisationen haben mindestens zwanzig Camps in Libyen ausgemacht, in denen "zurückgenommene" Migranten in Wüsten- oder Halbwüstenzonen eingepfercht wurden. Das libysche Regime ließ die Betroffenen in solchen Lagern zum Teil über Jahre hinaus vor sich hinvegetieren oder schob sie rücksichtslos in ihre Herkunftsländer ab. Auch in Kriegsgebiete wie Somalia oder Eritrea. Libyen hatte und hat die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet.

Die EU versucht, auch andere Staaten der Region in ihre Migrations-, Sortier- und Abwehrpolitik einzubinden. Dafür schließt sie sogenannte "Partnerschaften für Mobilität" ab. Solche bilateralen Vereinbarungen enthalten das Versprechen einer erleichterten Visavergabe für bestimmte soziale Gruppen im "Partner"land, etwa Studierende oder Berufstätige, die besondere Qualifikationen haben. Im Gegenzug muss das betreffende Land die verstärkte Überwachung seiner Grenzen garantieren und die bereitwillige "Rücknahme" illegal ausgereister, in Europa unerwünschter Migranten versprechen. Dabei kann es sich um eigene Staatsbürger, aber auch um Angehörige anderer Länder handeln.


Partnerschaft für Mobilität

Mit Tunesien schien ein solches Abkommen kurz vor der "Unterschriftsreife" zu stehen. Die Unterzeichnung war für den 5. Dezember 2013 vorgesehen, sie wurde jedoch ausgesetzt und "auf unbestimmte Zeit verschoben". Es war nämlich nicht nur im Europaparlament Protest dagegen laut geworden, auch europäische und tunesische Organisationen hatten Widerstand angemeldet: so der tunesische Gewerkschaftsdachverband UGTT, die Internationale Menschenrechtsvereinigung FIDH und die tunesische Liga für Menschenrechte (LTDH). Zusammen mit anderen Nichtregierungsorganisationen forderten sie die Einführung von Schutzbestimmungen für Asylsuchende und politische Flüchtlinge. In Tunesien gibt es solche Schutzgesetze bislang nicht.

Fünf nordafrikanische Staaten haben die "Partnerschaft für Mobilität" bislang unterzeichnet. Zu den "Musterstaaten" zählt Marokko. Im September 2013 wurde dort mit Unterstützung der EU eine neue, offiziell großzügigere Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik gestartet. Diese hat tatsächlich insofern positive Aspekte, als sie die Anerkennung von Rechten und (unter bestimmten Bedingungen) das Ausstellen von Aufenthaltstiteln für Migranten in Marokko vorsieht. Die Kehrseite davon ist jedoch, dass "das Migrantenproblem" nun definitiv in Marokko gelöst werden soll, und ihre Weiterreise nach Europa umso klarer versperrt bleibt. Letztere ist aber das Ziel vieler Migrantinnen und Migranten aus dem subsaharischen Afrika.

Der "neuen Einwanderungspolitik" vorausgegangen war eine Mobilisierung der Migranten und der Vereinigungen der marokkanischen Zivilgesellschaft gegen den zunehmenden Rassismus. Am 14. August des Jahres war nämlich ein junger Senegalese, der 31jährige Ismaila Faye, an einem Busbahnhof in Rabat erstochen worden. Ein Buspassagier hatte nicht gewollt, dass Faye neben einer marokkanischen Frau sitzt, die Plätze waren jedoch nummeriert, sein Sitzplatz somit festgelegt. Ismailia Faye hatte in einer marokkanischen Bäckerei gearbeitet und war als Koranschüler zu einer Pilgerreise nach Fez unterwegs. Das Verbrechen führte zu massiven Protesten.

Rassistische Gewalt ist ein zunehmendes Problem, auch unter den Sicherheitskräften. Am 4. Dezember 2013 starb ein 20jähriger Kameruner, Cédric, bei einer Polizeikontrolle in der nordmarokkanischen Stadt Tanger. Die Beamten hatten eine "Routinekontrolle" in Wohnungen von Migranten durchgeführt, von denen sie vermuteten, sie beabsichtigten eine "illegale" Überfahrt in Richtung Europa.

Rassistische Ressentiments und Gewalt sind deshalb in den letzten Monaten verstärkt Gegenstand öffentlicher Kritik in Tunesien. Menschen mit schwarzer Hautfarbe, die bis zu 15% der tunesischen Bevölkerung ausmachen soll, schließen sich inzwischen in eigenen Vereinigungen zusammen.

Seit dem Schiffsunglück vor den Küsten von Lampedusa fühlt die EU sich bemüßigt, offiziell zu reagieren. Um Abhilfe zu schaffen, will sie ein neues Kontrollinstrument einsetzen: das am 2. Dezember in Betrieb genommene Überwachungssystem Eurosur. Technisch laufen die Vorbereitungen dafür seit fünf Jahren, doch die notwendige Rechtsgrundlage wurde erst nachträglich geschaffen.


Eurosur

Eurosur fasst vor allem bereits existierende Sensorensysteme in Kontrollzentren zusammen - es gibt rund zwanzig nationale Kontrollzentren sowie ein gemeinsames Zentrum, das bei der EU-Grenzschutzagentur Frontex in Warschau angesiedelt ist. Mit Hilfe verstärkter Luft-, See- und Radarüberwachung sollen übersetzende Wasserfahrzeuge auf dem Atlantik oder im Mittelmeer leichter ausfindig gemacht werden können.

Offiziell geht es darum, Schiffbrüchigen in Seenot leichter zu Hilfe zu kommen. In Wirklichkeit geht es eher darum, die Migrationswilligen in nordafrikanischen Staaten von vornherein an der Ab- oder Ausreise zu hindern. Asylsuchende sollen erst gar nicht nach Europa gelangen können.

In vorderster Front mit dabei ist wiederum Libyen, auf dessen Boden bereits zwei Kontrollzentren, in Tripolis und Benghazi, eingerichtet wurden. Libyen ist ein besonders heikles Terrain, denn die neue Staatsmacht ist schwach, und vielerorts geben bewaffnete Milizen den Ton an, übernehmen Polizeifunktionen und andere hoheitliche Aufgaben. Menschenrechtsorganisationen befürchten daher, dass die geplante verstärkte Hilfe der EU bei der Ausbildung von Grenzpersonal faktisch auch den Angehörigen solcher Milizen zugute kommen könnte, die sich noch weniger als die Sicherheitsorgane eines Zentralstaats um Menschenrechte scheren.


Milizenterror in Libyen

Am 14. Oktober 2013 veröffentlichte die tunesische Internetzeitung Webdo.tn einen Bericht, demzufolge libysche Milizen aus dem Raum Tripolis verstärkt dazu übergegangen seien, Flüchtlingsboote mit scharfen Waffen zu beschießen - "um für Piraterieaktivitäten zu trainieren". Dank ihrer PS-starken Schnellboote setzen diese libyschen Milizen des öfteren auch in tunesische Hoheitsgewässer über. Am 10. Oktober sollen bei einem solchen Beschuss 36 Menschen auf der Überfahrt nach Lampedusa gestorben sein. Überwiegend syrische Flüchtlinge. Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien fahren in den letzten Monaten von Ägypten und von Libyen aus in wachsender Zahl über das Mittelmeer.

Libyen ist aus Sicht der EU ein Sorgenkind, weil keine "zuverlässige" Zentralmacht derzeit ein dauerhaftes Gewaltmonopol auszuüben vermag. Nichtsdestotrotz wird das Land intensiv in die Regionalpolitik eingebunden; unter anderem wegen seiner bedeutenden Erdölvorkommen wird man es nicht einfach - wie jahrelang Somalia - dem "Schicksal" von Staatszerfall und Milizenterror überlassen.

Vor Ort gestaltet sich die Situation schwierig, weil viele bewaffnete Rebellengruppen ihre Waffen behalten haben. Mitunter wurden sie formal in die neue libysche Armee eingegliedert, jedoch unter Beibehaltung ihrer eigenen Kommandostrukturen. Dass sie während des Bürgerkriegs so hohe Bedeutung gewannen, hängt auch mit der Schwäche der zivilen Massenbewegung und vor allem mit dem weitgehenden Fehlen organisierter kollektiver Akteure (Gewerkschaften, Oppositionsbewegungen usw.) zusammen.

Libyen ist ein Land mit nur 5 Millionen Staatsangehörigen, in dem jahrzehntelang ein Millionenheer von Arbeitsmigranten die unbeliebte körperliche Arbeit verrichtete, das politisch unterdrückt wurde, materiell aber einen für regionale Verhältnisse relativ hohen Lebensstandard genießen konnte. Eine organisierte libysche Arbeiterbewegung konnte sich deswegen kaum herausbilden, dafür fehlten die objektiven Bedingungen. Die alten Stammesstrukturen haben sich zwar überlebt, weil die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung längst in Städten und nicht mehr in Beduinenzelten lebt, sie wurden aber vom Gaddafi-Regime am Leben gehalten, weil dieses sich örtlich auf sie stützte.

Inzwischen mehren sich Demonstrationen gegen das Treiben der Milizen. So Mitte November 2013, als eine Miliz aus der libyschen Küstenstadt Misrata bei Zusammenstößen mit einer Demonstration in Tripolis ein Blutbad angerichtet und viele getötet hatte. In den darauffolgenden Tagen verkündete die Zentralregierung den Beschluss, die Milizen aus der Hauptstadt zu verbannen, am 22. November rückte die Armee dort ein. Drei Tage später setzten in der ostlibyschen Metropole Benghazi heftige Kämpfe zwischen der Armee und der salafistischen, radikal-islamistischen Gruppe Ansar al-Sharia (Anhänger der Scharia) ein. Diese musste Verluste hinnehmen, wurde aber offensichtlich nicht besiegt, denn am 15. Dezember wurde aus Benghazi vermeldet, Ansar al-Sharia halte dort ein internationales Treffen mit algerischen, tunesischen und ägyptischen Islamisten ab. Der wachsende soziale Unmut schlug sich unter anderem in einem Streik der Müllabfuhr nieder.

Weite Teile der Bevölkerung haben inzwischen das Treiben der Milizen derart satt, dass sie das Auftauchen einer "klassischen" Armee oder Polizei nur begrüßen.


[*] Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Die ersten beiden der vier aufeinanderfolgenden Artikel von Bernard Schmid zu diesem Thema finden Sie im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → Infopool → Medien → Alternativ-Presse
SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1792: Die demokratischen Freiheiten
SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1793: Die Islamisten und der Westen

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 1, 29. Jg., Januar 2014, S. 15
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Januar 2014