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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1524: "Der Betrieb von AKWs in Deutschland ist rechtswidrig"


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4 - April 2011
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

"Der Betrieb von AKWs in Deutschland ist rechtswidrig"
Selbst die neuesten Atomkraftwerke sind schon veraltet, erklärt Henrik Paulitz (IPPNW)


Die ach so sicheren deutschen Atomkraftwerke sollen jetzt einer erneuten Sicherheitsprüfung unterzogen werden. Offenkundig hat man es mit den Standards doch nicht so genau genommen, jedenfalls hat das Bundesumweltministerium jetzt eine Liste mit Sicherheitsanforderungen erstellt, die der Prüfung zugrunde gelegt werden sollen. Über die Nichtkontrollierbarkeit der Atomenergie und die Möglichkeiten des Ausstiegs sprach die SoZ mit Henrik Paulitz, Atomexperte von "IPPNW, Ärzte gegen den Atomkrieg".


SOZ: Die AKW-Betreiber sagen jetzt, eine Katastrophe wie In Japan ist bei uns nicht möglich, weil es hier weder Erdbeben noch Tsunamis gibt.

HENRIK PAULITZ: Das ist völlig unsinnig, es gibt in Deutschland eine erhebliche Erdbebengefährdung mehrerer Atomkraftwerke, insbesondere an den Standorten Biblis, Philippsburg und Neckarwestheim, aber auch anderen. Es kommt dabei gar nicht auf die absolute Erdbebenstärke an, und niemand bestreitet, dass Erdbebenstärken wie in Japan hier nicht zu erwarten sind. Es kommt auf die Relation an zwischen den am Standort möglichen Erdbebenstärken und der Erdbebenauslegung der betreffenden Anlage. In Biblis ist es eindeutig so, dass dort laut offiziellem Behördengutachten Erdbeben möglich sind, gegen die das Atomkraftwerk nicht ausgelegt ist.

SOZ: Sind denn außer Erdbeben andere Ereignisse denkbar, die eine solche Katastrophe verursachen können?

HENRIK PAULITZ: Es gibt eine ganze Reihe von Auslösern, die ein solches Unfallgeschehen in Gang setzen können. Dazu zählen beispielsweise Lecks an Schweißnähten des Kühlkreislaufs oder Lecks in den sog. Dampferzeugern, wo (in Druckwasserreaktoren, DRW) Dampf für den Sekundärkreislauf erzeugt wird. Eine. erhebliche Gefahr stellt auch der Notstromfall dar, also wenn es z. B. zur Abkoppelung des Kraftwerks vom Stromnetz kommt, wie 2004 in Biblis, und die Übernahme der Stromversorgung der Sicherheitssysteme durch den kraftwerkseigenen Generator misslingt, was relativ häufig der Fall ist. Dann hängt die Stromversorgung nur noch an den Notstromdieseln, die eben bei Testläufen immer wieder versagen und wenn beispielsweise die Wartungsteams bei mehreren Komponenten den gleichen Wartungsfehler machen, dann kann es zum gleichzeitigen Ausfall eben der Stromversorgung kommen. In vielen deutschen Atomkraftwerken besteht das Problem, dass sie über keine dampfbetriebene Kühlpumpe verfügen, so dass man sich nicht, wie in Japan, noch mehrere Stunden mithilfe der Batterien über die Runden retten kann.

SOZ: Wodurch kam denn die Stromunterbrechung in Biblis 2004 zustande?

HENRIK PAULITZ: Durch ein Unwetter.

SOZ: Ach, und was war das für ein Unwetter?

HENRIK PAULITZ: Es ist nicht 100 %ig geklärt, ob die Ursache ein Blitzschlag oder der Sturm war, jedenfalls kam es zu einem Kurzschluss bzw. zu Überspannungen in der Hochspannungsleitung und zur Abkopplung des AKWs vom Stromnetz.

SOZ: Also etwas, was immer wieder passieren kann.

HENRIK PAULITZ: Genau. Blitze und Unwetter stellen bemerkenswerterweise für Atomkraftwerke eine erhebliche Gefahr dar.

SOZ: Die Regierung würde sich jetzt damit rausreden, dass ja nur die älteren Reaktoren gefährdet seien, während die neuen Linien gegen den Ausfall von Kühlwasser gesichert seien.

HENRIK PAULITZ: Inzwischen kann sich niemand mehr herausreden, die Sachlage ist eindeutig. Es gibt für alle deutschen Anlagentypen Vor- und Nachteile. Alle deutschen Reaktortypen weisen ganz erhebliche Sicherheitsdefizite auf, insbesondere auch die neuesten deutschen Atomkraftwerke, die sog. Konvoi-Anlagen, etwa Neckarwestheim 2. Da gibt es Sicherheitsdefizite bei der Beherrschung kleiner Lecks oder auch im Notstromfall. Es wurde festgestellt, dass die sog. Notfallmaßnahmen, die im Notfall eben gerade noch die Kernschmelze verhindern bzw. ihre Auswirkungen begrenzen sollen, in den Konvoi-Anlagen bei bestimmten Unfällen, wie kleinen Lecks etwa, nicht funktionieren.

Hinzu kommen erhebliche Defizite im Bereich der Beherrschung der Kernschmelze - weil das Containment zu klein ist, die Festigkeitswerte der Containment-Materialien gering sind und dergleichen. Wasserstoffexplosionen oder auch Dampfexplosionen können zum Aufplatzen des Containments und somit zur massiven Freisetzung von Radioaktivität führen.

Überdies zeichnen sich die sog. neuesten deutschen Atomkraftwerke dadurch aus, dass sie nur einen betrieblichen Kühlkreislauf für die Brennelementebecken haben.

SOZ: Also all das, was in Japan passiert ist, könnte bei uns auch passieren - auch bei den neueren Kraftwerken, allein durch Unwettereinflüsse.

HENRIK PAULITZ: Ja, vom Prinzip her kann das Gleiche passieren, weil es immer um die Kühlung geht, oder auch um die Notstromversorgung, und deren Ausfall kann viele Ursachen haben. Es gibt ein breites Spektrum an möglichen Unfallabläufen. Natürlich kommt es nicht jeden Tag zu einem Atomunfall, man muss nicht den Teufel an die Wand malen, das erfordert eine Verkettung ungünstiger Umstände. Man muss aber auch nüchtern feststellen, dass es in den vergangenen Jahren weltweit wiederholt in Atomkraftwerken Situationen gegeben hat, die nah an einem Unfall dran waren - so ist z. B. vor Jahren in den USA der Reaktordruckbehälter nahezu vollständig durchgerostet, man hat es quasi noch im letzten Moment bemerkt.

SOZ: Ein Vertreter der Gesellschaft für Reaktorsicherheit hat sich darüber beschwert, dass die Sicherheitsanforderungen an die Atomenergie in Deutschland mehrfach heruntergestuft wurden: sowohl durch den Atomausstiegsbeschluss von Rot-Grün, und noch einmal durch den Ausstieg aus dem Ausstieg der Regierung Merkel da noch mal Konzessionen gemacht habe an die Betreiber, z. B.. dass sie sich zehn Jahre Zeit nehmen können für Nachrüstung und solche Sachen. Wissen Sie da mehr darüber?

HENRIK PAULITZ: Rot-Grün hat den Atomkraftwerksbetreibern zugesichert, die Sicherheitsanforderungen nicht wesentlich zu verschärfen. Im Rahmen des kerntechnischen Regelwerks wurden sie dann doch ein bisschen hochgesetzt, allerdings wurde das neue Regelwerk später nicht in Kraft gesetzt. Des Weiteren hat die Regierung damals auf Nachrüstungsmaßnahmen, die eigentlich dringend erforderlich waren, verzichtet. Sie hat argumentiert, die alten Anlagen laufen eh nur noch ein paar Jahre, es sei deshalb tolerierbar, dass sie trotz gravierender Sicherheitsdefizite weiter betrieben werden.

Was die Beschlüsse der neuen Bundesregierung anbelangt, so gibt es eine Diskussion um den neu eingeführten Paragraphen 7d im Atomgesetz. Offiziell enthält dieser eine neue Pflicht der Betreiber zur Nachrüstung, doch der Sicherheitsmaßstab orientiert sich nicht an dem verfassungsrechtlich gebotenen und vorgeschriebenen Stand von Wissenschaft und Technik, sondern an etwas verworren formulierten niedrigeren Kriterien. Das sind alles Versuche, der Atomindustrie entgegen zu kommen.

Jetzt, nach dem Atomunfall in Japan, hat das Bundesumweltministerium auf der Fachebene einen sehr scharfen Anforderungskatalog an die deutschen Atomkraftwerke vorgelegt. Würde dieser Kriterienkatalog tatsächlich in Kraft gesetzt, würde dies das Aus für alle deutschen Atomkraftwerke bedeuten. Das, was die Fachebene dort formuliert hat, entspricht nach heutigen Maßstäben grundsätzlich den notwendigen Mindestanforderungen an Atomkraftwerke. Jetzt setzt das übliche Spiel ein: die Atomindustrie versucht, diese Kriterienliste zu zerschlagen, um ihre Profite nicht zu schmälern.

SOZ: Wer setzt letzten Endes die Kriterien für die Sicherheit fest?

HENRIK PAULITZ: Die Sicherheitsanforderungen für Atomkraftwerke ergeben sich aus mehreren abgestuften Regelwerken bzw. rechtlichen Vorgaben. Da ist die Rechtsprechung durch das Verfassungsgericht und das Bundesverwaltungsgericht; dann das Atomgesetz - die wesentliche gesetzgeberische Grundlage; und dann gibt es darunter ein Regelwerk aus verschiedenen Detailvorschriften, das von der Bundesatomaufsicht beschlossen wird und von den Bundesländern im Auftrag des Bundes durchgesetzt werden muss.

Laut Atomgesetz und Verfassungsgericht lautet der zentrale Sicherheitsmaßstab, dass die Anlagen dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik genügen müssen. Die Atombehörden räumen jedoch selber ein, dass die Atomkraftwerke diesem Maßstab schon längst nicht mehr entsprechen. Das bedeutet nichts anderes, als dass die Atomkraftwerke nach geltendem Atomgesetz stillgelegt werden müssen, weil sie den Sicherheitsanforderungen nicht mehr genügen. Nach Paragraph 17 Atomgesetz müssen die Betriebsgenehmigungen eigentlich widerrufen werden.

SOZ: D.h. sie sind ungesetzlich im Moment.

HENRIK PAULITZ: Der Betrieb von Atomkraftwerken in Deutschland, man kann es nicht anders sagen, ist rechtswidrig und auch verfassungswidrig.

SOZ: Gilt das für alle Typen von Atomkraftwerken?

HENRIK PAULITZ: Das gilt für alle Typen von Atomkraftwerken. Es gibt ein etwas älteres Strategiepapier der Bundesatomaufsicht, verfasst von leitenden Juristen des Ministeriums, in dem es klar heißt, dass auch die zuletzt in Deutschland errichteten Konvoi-Anlagen nicht mehr dem Stand der Technik genügen.

SOZ: Die EU, auch die Grünen fordern jetzt einen Stresstest für Atomanlagen, was soll man sich darunter vorstellen?

HENRIK PAULITZ: Hier stellt sich die Frage: Handelt es sich hier jetzt um Bluff, oder werden die Anlagen tatsächlich genauer in Augenschein genommen? Auf europäischer Ebene soll es eine Abstimmung der Kriterien mit allen Ländern geben. Dieser sog. Stresstest der EU dürfte mit großer Wahrscheinlichkeit eine ausgesprochen oberflächliche Prüfung werden. Für die Sicherheitsüberprüfungen in Deutschland hat, die Fachebene der Bundesatomaufsicht eine erstaunlich gute Kriterienliste vorgelegt, die nun aber natürlich heftig von der Atomindustrie und ihren Gefolgsleuten in Politik und Atombehörden unter Beschuss kommt. Wenn man es mit der nuklearen Sicherheit ernst meint, dann muss man auf der Grundlage der von den Fachbeamten vorgelegten Kriterienliste des Bundesumweltministeriums die Anlagen auf den Prüfstand zu stellen. Es gibt eine erhebliche Zahl an Sicherheitsdefiziten, die den einschlägigen Fachkreisen natürlich bekannt sind. Doch sie müssen bewertet werden, und dabei können sich die Betreiber durchsetzen oder jene, die sich an den gerichtlich festgelegten Maßstäben orientieren.

SOZ: Ist die Liste des Bundesumweltministeriums tauglich für einen Stresstest?

HENRIK PAULITZ: Diese Liste wäre nach meinem Dafürhalten absolut geeignet, beispielsweise auch auf einer europäischen Ebene in einer vernünftigen Weise die Anlagen auf den Prüfstand zu stellen. Der eine oder andere Punkt wäre noch zu ergänzen oder zu präzisieren, beispielsweise was die Kernschmelzfestigkeit von Atomkraftwerken angeht.

SOZ: Bislang wird ja Restrisiko immer so interpretiert: Der Rest, das ist das, was wir uns nicht vorstellen können. Ist das eigentlich zulässig, mit einem solchen Begriff an eine so gefährliche Technologie heranzugehen?

HENRIK PAULITZ: Es gibt ein populäres Verständnis von Restrisiko und ein juristisches. Das populäre sagt, Restrisiko ist das unwahrscheinliche Eintreten von prinzipiell vielleicht auch bekannten Unfallszenarien. Die juristische Bedeutung des Restrisikobegriffs steht dem diametral entgegen und ist meines Erachtens sehr viel bedeutsamer. Das Bundesverfassungsgericht sagt nämlich: Beim Restrisiko geht es um Ungewissheiten jenseits des menschlichen Erkenntnisvermögens, also um potenziell vorhandene, jedoch unbekannte Unfallszenarien. Nur diese Ungewissheiten sind laut Verfassungsgericht von der Gesellschaft als sozial adäquate Last zu akzeptieren. Im Umkehrschluss heißt das aber: Ein Unfallszenario, das als möglich erkannt wurde, muss definitiv ausgeschlossen werden können. Alle Risikostudien für deutsche Atomkraftwerke beschreiben aber mögliche Unfallszenarien, und nicht ein Restrisiko, das man sich nicht vorstellen kann und das deshalb zu akzeptieren ist. Was bei uns als Restrisiko bezeichnet wird, ist eine Situation, die verfassungsrechtlich nicht zulässig ist.

SOZ: Könnten wir denn sofort aus der Atomenergie aussteigen?

HENRIK PAULITZ: Wir können tatsächlich und sofort auf Atomstrom verzichten. Wir haben enorme Überkapazitäten: Der maximale Strombedarf Deutschlands in Höhe von rund 80 Gigawatt lässt sich auch ohne Atomkraftwerke durch die sonstigen Stromerzeugungsanlagen vollständig decken.


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4, 26.Jg., April 2011, S. 5
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. April 2011