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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1521: Portugal - "Hier ist unser Tahrir-Platz"


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4 - April 2011
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Portugal
"Hier ist unser Tahrir-Platz"
300.000 demonstrieren gegen Sparpolitik und Prekarität


"Com a precariedade não ha liberdade! - Mit Prekarität keine Freiheit!" war eine häufig skandierte Losung, als am Sonnabend, den 12. März, in mehreren Städten Portugals insgesamt 300.000 überwiegend, aber keineswegs nur junge Menschen gegen die Sparpolitik der von der sozialdemokratischen PS geführten Regierung, prekäre Arbeitsbedingungen und die hohe Erwerbslosigkeit (10%) demonstrierten. Allein in der Hauptstadt Lissabon gingen 200.000, in Porto 80.000 Menschen auf die Straße. Demonstrationen und Kundgebungen gab es in weiteren neun Städten.

Initiatoren dieser Protestaktionen waren vier junge Leute - selbst in prekären Verhältnissen -, die nach arabischem Vorbild über Facebook im Internet den Aufruf zur Demonstration der "Geração à rasca". (etwa: "die Generation, die nicht zurechtkommt" oder "im Schlamassel steckt") verbreiteten. Das Echo auf den Aufruf steigerte sich lawinenartig, auch dank der Unterstützung zweier populärer Musikgruppen, von denen eine auf dem Eurovisionsschlagerwettbewerb aufgetreten war. Am Vorabend der Demonstrationen hatten sich auf der entsprechenden Facebook-Seite bereits 60.000 Personen eingetragen.

Von dem überwältigendem Echo waren selbst die Organisatoren überrascht. Die Demonstration in Lissabon war nach Auffassung portugiesischer Medien die größte seit der Demonstration vom 1. Mai 1974, die eine Woche nach dem Beginn der "Nelkenrevolution" stattgefunden hatte.

"Hier ist unser Tahrir-Platz!" stand auf Portugiesisch und in arabischer Übersetzung auf einem Demonstrationsschild. Der Bezug auf die Protestbewegung in den arabischen Ländern war nicht zu übersehen, das "arabische Virus" hat Portugal offensichtlich befallen.

Die Straßen waren voll von Menschen, die zum ersten Mal in ihrem Leben demonstriert haben, von Menschen, die nicht gewählt haben - bei den letzten Präsidentschaftswahlen betrug die Wahlbeteiligung nur 47%. Neben den vielen jungen Leuten gab es ganze Familien und auch alte Menschen, sie trugen Transparente mit Losungen wie "Die Prekarität kennt kein Alter".

Die Mehrheit der jungen Portugiesen muss im Monat mit durchschnittlich 500 Euro auskommen, die über "grüne Scheine" ausgegeben werden. Nach Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) arbeitet rund ein Viertel aller Beschäftigten in Portugal selbstständig, in absoluten Zahlen entspricht dies etwa 1,3 Millionen Personen. Zählt man diejenigen hinzu, die von Leiharbeitsfirmen vermittelt werden oder nur über zeitlich befristete Arbeitsverträge verfügen, erhöht sich die Quote auf über ein Drittel aller Beschäftigten. In keinem anderen EU-Staat gibt es im Verhältnis zur Bevölkerungszahl einen derart großen Sektor prekärer Arbeit.

Eine portugiesische Besonderheit ist dabei das System der sog. Recibos Verdes, der grünen Quittungen. Ursprünglich dafür gedacht, einfache Dienstleistungen etwa von Handwerkern zu quittieren, haben sich die grünen Scheine zu einem wesentlichen Bestandteil der Sozialversicherung entwickelt. Auf dem kleinen Formular werden die Lohnzahlungen sowie die Beiträge für Steuern und die Sozialversicherung festgehalten. Die Vorteile für die Unternehmer liegen auf der Hand: Abgaben muss nur der Beschäftigte entrichten, bezahlt wird nur die tatsächlich geleistete Arbeitszeit. Kranken-, Weihnachts- oder Urlaubsgeld gibt es für die Prekären nicht. Zudem können sie von ihrem Chef jederzeit gekündigt werden, auch von einer Stunde zur anderen.

Heute stellen Privatunternehmen und der öffentliche Dienst ihr Personal zumeist zu den Bedingungen der "grünen Scheine" ein, ohne regulären Arbeitsvertrag. Damit findet sich urplötzlich eine ganze junge Generation in prekären Verhältnissen, ohne sozialen Schutz wieder.

Dieses Phänomen trifft aber auch immer häufiger ihre Eltern und Großeltern, denn für die Unternehmer sind Einstellungen zu diesen Bedingungen viel kostengünstiger und die Rentner müssen ihre knappen Pensionen durch Jobs auf "grünen Scheinen" aufstocken.

Die Bewegung ist somit keineswegs auf die junge Generation beschränkt; es gibt eine starke generationenübergreifende Solidarität in diesem Kampf. Zunächst wird, wie auch in anderen Ländern, die junge Generation prekarisiert, um die gesamte Bevölkerung nach unten zu ziehen.


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4, 26.Jg., April 2011, S. 11
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. April 2011