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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1394: Kampf gegen "Ballastexistenzen"


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4 - April 2010
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Arbeitsdienst
Kampf gegen "Ballastexistenzen"
Ein Vergleich mit dem Ende der Weimarer Republik

Von Anne Seeck


Lange herrschte Krisenstimmung in Deutschland. Nur wir Hartz-IV-Bezieher merkten wenig davon in unserem Leben, was konnten wir schon verlieren? Allerdings fürchteten viele die Zeit nach der Bundestagswahl.


In der aktuellen Debatte um den Sozialstaat hat nun wohl Guido Westerwelle (FDP) die Rolle des Extremisten der Mitte übernommen. Politiker der SPD warfen ihm vor, er würde "im rechten Sumpf waten". Während Westerwelle den Niedriglohnsektor auf dem 1. Arbeitsmarkt bevorzugt, natürlich nicht für sich selbst, schwebt Hannelore Kraft, der Vorsitzenden der SPD-Landtagsfraktion in NRW, ein "gemeinnütziger Arbeitsmarkt" (mit Zwang) vor, denn viele Langzeitarbeitslose würden keinen regulären Job mehr finden.

In NRW steht eine wichtige Wahl bevor. Und vom Gedanken der "Vollbeschäftigung" sind Politiker bis heute beseelt. Was sie "Anreize" nennen, entpuppt sich dann als Arbeitszwang, Lohnsubvention (Zuverdienst/Kombilohn) und vor allem als Leistungskürzung, z. B. durch Sanktionen.

Neu ist, dass es ein Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 9. Februar 2010 zu den Hartz-IV-Regelsätzen gibt. Die Bundesverfassungsrichter monierten nicht, dass die Regelsätze zu niedrig sind, sie mahnten den Gesetzgeber nur, ein anderes Berechnungsverfahren zu beschließen. Politiker wie Westerwelle witterten Morgenluft, man könne die Regelsätze ja auch senken, Gutscheine austeilen oder insgesamt das Sozialsystem demontieren. Das Urteil schafft Handlungsbedarf für die Politik.


Lehrstück Weimar

Ein Lehrstück, wie der kümmerliche Anfang eines Sozialstaats, erkämpft durch die Arbeiterbewegung, zerschlagen wurde, bietet die Situation am Ende der Weimarer Republik.

Auch damals herrschte nach dem Börsencrash am 24. Oktober 1929 eine Krise. Schon im Winter 1929/30 gab es mehr als 3 Millionen Arbeitslose, der Höhepunkt der Arbeitslosigkeit wurde im Januar 1932 mit 6 Millionen Arbeitslosen erreicht. Auch damals ging es um eine rigide Sparpolitik und "Sachzwänge". Auch damals bot der "Sozialstaat" in einer Zeit, in der er am meisten gebraucht wurde, am wenigsten Unterstützung.

1927 war das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) eingeführt worden. In der Debatte um den Gesetzentwurf am 7./8. Februar 1927 kritisierte der sozialpolitische Sprecher der KPD, Siegfried Rädel(1), diesen Entwurf als einen der "reaktionärsten der Nachkriegszeit", denn das Gesetz bedeute "Leistungsabbau für alle Erwerbslosen bis zur Lohnklasse V".

Die Sätze für diese Erwerbslosengruppe lagen nun "unter den Unterstützungsniveaus der Wohlfahrtspflege" und "der alten Erwerbslosenfürsorge". Häufig wurde von ihnen verlangt, sich täglich zu melden, sodass Hunderte und Tausende vor und in den Arbeitsämtern standen. Die Massenabfertigung trug zur aufgeheizten Stimmung unter den Arbeitslosen bei. Auch die sozialpolitische Stimmung wurde immer gereizter, es gab "Missbrauchsdebatten". Die Arbeitslosenversicherung und das Wohlfahrtssystem würden "vielfach zu einer Prämie für die Trägen, Arbeitsscheuen und Gewissenlosen".

Daraufhin legten die Arbeitgeberverbände "Reformvorschläge"(!) vor und forderten u. a. die Verschärfung der Zumutbarkeitsregelung.


Der Streit um die Arbeitslosenversicherung

Ende September 1929 kam es in der Regierungskoalition zwischen der DVP (Nationalliberale) und der SPD zu Auseinandersetzungen um die Arbeitslosenversicherung, sie führte schließlich zum Bruch der Koalition. Dieser Bruch war von Reichspräsident Hindenburg und Wirtschaftskreisen vorbereitet worden, die Wirtschaft hatte intensiv die Forderung der Nationalliberalen nach Leistungskürzungen unterstützt, denn das Kapital sollte keinesfalls belastet werden.

Drei Tage nach dem Koalitionsbruch wurde Heinrich Brüning(2) Reichskanzler. Als der Reichstag im Juli 1930 eine Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung bei gleichzeitiger Kürzung der Leistungen ablehnte, drückte Brüning die gesamte Gesetzesvorlage in Form zweier Notverordnungen des Reichspräsidenten durch. Als das Parlament das ablehnte, löste der Reichspräsident den Reichstag einfach auf und verkündete Neuwahlen.

In seinen Memoiren schrieb Brüning, er habe eine "Rückentwicklung der Struktur des Staats 'im Sinne der Bismarckschen Verfassung'" durchsetzen wollen. Von 1930 bis 1932 wurden die Zahlungen an Arbeitslose mit Hilfe von sechs Notverordnungen gekürzt - mit dem Ergebnis, dass bei der nationalsozialistischen Machtergreifung nur noch 11% der Arbeitslosen überhaupt "Stütze" erhielten, die zudem seit Bestehen der Arbeitslosenversicherung um 46% gekürzt worden war. Diese Versicherungsleistung wurde lediglich sechs Wochen lang gezahlt.

Die SPD tolerierte die Regierung Brüning. Schließlich wurden auch Brüning und die SPD nicht mehr gebraucht. Brüning schrieb 1937 an Churchill, der wirkliche Aufstieg Hitlers habe erst 1929 begonnen, als die Großindustrie die anderen "patriotischen" Organisationen nicht mehr finanzierte, weil sie "in ihren sozialen Gedanken zu fortschrittlich (waren). Sie waren froh, dass Hitler die Arbeiter radikal entrechten wollte". Göring sagte Brüning unter vier Augen, Hitler und seine Freunde hätten gegen Brünings Wirtschafts- und Außenpolitik gar nichts einzuwenden.


Wohlfahrt und Arbeitsdienst

Die Regierung Papen schaffte, bis auf einen symbolischen Rest, die Arbeitslosenversicherung mit zwei Notverordnungen vom 16. und 17. Juni 1932 faktisch ab. Papen war für die meisten Wirtschaftsführer der "Kanzler nach ihrem Herzen", weil er sich zur "Leistungsfähigkeit der Privatwirtschaft" bekannte. Er vertrat eine offensive Arbeitsbeschaffungspolitik, die sich erst 1933 auswirkte.

Für Wohlfahrtserwerbslose (die an die Wohlfahrt, heute: Sozialhilfe, verwiesen waren) in den Kommunen gab es in der Weimarer Republik Fürsorgearbeiten, Pflichtarbeiten und Arbeitshäuser. Auch auf Reichsebene (AVAVG) gab es Pflichtarbeiten sowie zwei weitere Formen der Arbeitspflicht, nämlich Notstandsarbeiten und den "Freiwilligen Arbeitsdienst" (FAD).

Mit der Zunahme vor allem der Jugendarbeitslosigkeit hatte Ende 1929 eine neue Arbeitsdienstdiskussion begonnen. Die Zumutbarkeit von Arbeit wurde verschärft. So hieß es in der Notverordnung vom 5. Juni 1931: "'Unterwertige', der Vorbildung und früheren Tätigkeiten nicht entsprechende, Arbeit kann von vornherein nicht mehr abgelehnt werden." Gleichzeitig strich Brüning mit dieser Notverordnung die Arbeitslosenunterstützung für Jugendliche unter 21 Jahren komplett.

1931 wurde der "Freiwillige Arbeitsdienst" (FAD) gegründet. Er erreichte mit 285.494 Beschäftigten im November 1932 seinen Höhepunkt. Er nahm viele Strukturen der Zeit nach 1933 vorweg, so die Lagerexistenz, den militärischen Drill und den ausgeübten Zwang trotz "Freiwilligkeit". Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sollten jetzt die Wirtschaft ankurbeln.


Unterwertig, minderwertig

Nach Hitlers Machtantritt begann die Arbeitsschlacht. 1935 wurde die Arbeitsdienstpflicht gesetzlich eingeführt und der FAD in "Reichsarbeitsdienst" umbenannt. Der Arbeitsdienst sollte jetzt "ein Ehrendienst der wertvollsten jungen Volksgenossen" sein und nicht ein "Prüfstein für den Arbeitswillen arbeitsscheuer Elemente". 1936 hatte die Volksgemeinschaft ihre "Vollbeschäftigung". Spätestens ab 1938 wurden polizeiliche Verfolgung, Inhaftierung und KZ-Haft zu einem Bestandteil der Arbeitsamtpraxis (z. B. die Aktion Arbeitsscheu Reich).

Nachdem die "Minderwertigen" weggesperrt ("Vernichtung durch Arbeit"), die Autobahnen gebaut waren, die Rüstungsindustrie auf Hochtouren lief und jeder einen Volksempfänger hatte, ging es volksgemeinschaftlich in den Krieg.

Die Grundlagen für diesen Umgang mit "Asozialen" und anderen "Minderwertigen" wurden schon vor und in der Weimarer Republik gelegt. Ende des 19. Jahrhunderts war die Rassenhygiene entstanden. Herbert Spencer (1820 bis 1903) hatte die Armengesetzgebung aus sozialdarwinistischer Sicht bereits als "schädliche Einmischung in das Prinzip der natürlichen Auslese" begriffen. Sie begünstige die Vermehrung der Leichtsinnigen und Unfähigen und behindere die der Vorausschauenden und Tüchtigen.

Auch in der Arbeiterbewegung gab es die Tendenz, dass sich die "Tüchtigen" vom "minderwertigen" Lumpenproletariat abgrenzten. 1923 wurde der erste Lehrstuhl für Rassenhygiene an der Universität München eingerichtet.

Von der Weimarer Eugenik war es kein weiter Schritt zur Euthanasie und zur Vernichtung durch Arbeit.

Über 200.000 "Ballast-Existenzen" (behinderte Kinder, Psychiatriepatienten, Alte, Arme, "Asoziale") wurden dann im Nationalsozialismus ermordet.


Biologisierung des Sozialen

Aus einem autoritären ("Sozial"-)Staat am Ende der Weimarer Republik entwickelte sich also eine Diktatur. Die Diskurse ähneln sich.

Auch wenn die jetzige Situation mit den damals herrschenden Umständen nicht vergleichbar ist, muss man doch eine bedenkliche Tendenz der Biologisierung des Sozialen beobachten. Die Spaltung in dieser Gesellschaft verläuft entlang den "höherwertigen Leistungsträgern" und den "minderwertigen Sozialschmarotzern". Von Bevölkerungswissenschaftlern wurden sogar Durchschnittsbürger als "ineffizient" eingestuft.

Im Clement-Papier Vorrang für die Anständigen war sogar wieder von "Parasiten" die Rede. Auch die Unterschichtsdebatte um die "Kultur der Armut" führt in diese Richtung. Die "Kostenfaktoren" seien an ihrer Armut selbst Schuld. Ihnen mangele es an Bildung, Gesundheits-, Verantwortungs-, Aufstiegsbewusstsein usw. Manchmal gewinnt man den Eindruck, als seien wir - die Hartz-IV-Bezieher - in dieser Gesellschaft die neuen Ballastexistenzen.

Landen wir alle in einem großen Arbeitshaus, im Niedriglohnsektor oder im Arbeitsdienst? Sind die Unternehmer oder die Beschäftigungsindustrie die Profiteure?

Oder landen wir in einem Almosen- und Suppenküchenstaat? Die Vertafelung der Gesellschaft schreitet voran, die Schlangen vor den Lebensmittelausgaben werden immer länger. Profiteuren der Armutsindustrie geht es prächtig, so hat sich der Chef der Treberhilfe in Berlin ein monatliches Gehalt von 30.000 Euro im Monat gezahlt, auf Kosten der schlecht bezahlten Mitarbeiter.

Soziale Unruhen der Marginalisierten und Prekären sind mehr als notwendig. Dazu brauchen wir dringend die Solidarität von jenen, die "noch dazugehören".


Anne Seeck ist Erwerbslosenaktivistin in Berlin.


Anmerkungen:

(1) Siegfried Rädel wurde nach einer Odyssee durch Europa und die Sowjetunion 1942 von der Vichy-Regierung an die Gestapo ausgeliefert. Am 10. Mai 1943 wurde er in Berlin-Plötzensee wegen "Hochverrats" geköpft. Eine in der DDR nach ihm benannte Schule, eine Fabrik und eine Straße im Raum Pirna, in dem er in der Weimarer Republik politisch gearbeitet hatte, wurden nach der "Vereinigung" 1990 umbenannt.

(2) Heinrich Brüning: Eisernes Kreuz I und II. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde er Geschäftsführer des christlich-nationalen DGB, seit 1924 saß er im Reichstag, 1929 wurde er Chef der Zentrumsfraktion. Im Sommer 1934 verließ er Deutschland, im Exil enthielt er sich jeder öffentlichen Distanzierung vom Faschismus. In seiner Heimatstadt Münster, deren Ehrenbürger Brüning ist, wurde unweit des Rathauses eine Straße nach ihm benannt.


Zum Thema gibt es einen interessanten Dokumentarfilm:
"Arbeitsscheu - abnormal - asozial".
Zur Geschichte der Berliner Arbeitshäuser
von Andrea Behrendt.
Erhältlich über die Seite www.globale-medienwerkstatt.de


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4, 25. Jg., April 2010, Seite 18
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. April 2010