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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1318: Wanderarbeiter in China zwischen Revolte und Krise


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 9 - September 2009
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Große Unruhe bringt große Lösung
Wanderarbeiter in China zwischen Revolte und Krise

Von Ralf Ruckus


Die Krise trifft auch das "Fließband der Welt", darunter vor allem die 200 Millionen Wanderarbeiter. Anfang 2009 wurden auf einen Schlag 20 Millionen arbeitslos.


Anfang 2009 gingen Millionen chinesischer Wanderarbeiter nach Fabrikschließungen und Entlassungen aus den Städten zurück aufs Land. Eine temporäre Rückwanderung ist an sich nicht neu. Zwischen ihren Jobs in der Stadt besuchen die Wanderarbeiter ihre Familie, erholen sich kurzzeitig im Dorf, manche erledigen auch Landarbeit. Andere haben nicht mehr gelernt, Äcker zu bestellen und Vieh zu hüten. Sie wollen in der Stadt leben, permanent niederlassen dürfen sie sich aber dort nicht. Das verhindert das Registrierungsgesetz (hukou), das die chinesische Bevölkerung seit den 50er Jahren in Stadt- und Landbewohner spaltet.

Die Geschichte der aktuellen Migration in China ist gerade mal 30 Jahre alt. Bis Ende der 70er Jahre verhinderte eine strikte staatliche Kontrolle die Landflucht. Der Urbanisierungsgrad blieb mit unter 20% konstant niedrig (heute fast 50%). Die Massen auf dem Land mussten Überschüsse für den sozialistischen Industrialisierungsprozess schaffen, und nur eine Minderheit der städtischen Arbeiter kam in den Genuss der "Eisernen Reisschüssel", der vom Staat garantierten sozialen Versorgung von der Wiege bis zur Bahre. Auf dem Land hatten die Menschen Anspruch auf ein Stück Acker bzw. wurden Mitglied einer Volkskommune, mit minimaler sozialer Absicherung. Die Bedingungen auf dem Land waren (und blieben) wesentlich schlechter als in den Städten.

Mit dem Umbau der sozialistischen Planwirtschaft ab Ende der 70er Jahre wurden die Volkskommunen aufgelöst und Landnutzungsrechte an bäuerliche Familien vergeben. Die landwirtschaftliche Produktivität stieg an, mit ihr die ländliche Überbevölkerung. Die ersten jungen Landbewohner zogen in die Städte und neuen Industriezentren. Das Regime vergab vorübergehende Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen an Landbewohner, die einen Arbeitsvertrag in der Stadt nachweisen konnten. Bis heute ähnelt die Situation der Wanderarbeiter in den Städten der außereuropäischer Migranten in der EU, mit allen Problemen: Ausschluss von vielen öffentlichen Dienstleistungen, Kontrolle durch Polizei und Behörden, Illegalisierung und mögliche Abschiebung.

Die Niederschlagung der Tiananmen-Bewegung 1989 ebnete den Weg für weitere Reformen, Industrialisierung und Massenwanderung in den 90er Jahren. Ab 1992 öffnete die KPCh das Land für ausländische Investitionen und begann den entscheidenden Angriff auf Kombinate und die "Eiserne Reisschüssel" Ihre Interessen trafen sich mit denen des internationalen Kapitals: Nachdem die Profite in den Industriemetropolen durch die Arbeiterkämpfe der 60er und 70er Jahre unter Druck geraten waren, wich das Kapital in periphere Regionen aus (Brasilien, Südkorea...). In den 80er Jahren gab es dort große Arbeiterunruhen, sodass eine erneute Verlagerung der Produktion, ein "räumlicher Fix" (David Harvey), notwendig wurde: Jetzt wollte das Kapital die "billige" Arbeitskraft Chinas ausbeuten.


"Fließband der Welt"

Mithilfe ausländischer Investitionen und des staatlich gelenkten Ausbaus der Exportindustrien wurde China in den kommenden Jahren zum "Fließband der Welt" und entwickelte sich bis heute zur weltweit drittgrößten Volkswirtschaft, zum Global Player mit zunehmender ökonomischer, politischer und auch militärischer Macht.

Für die Industrialisierung wurden massenhaft neue Arbeitskräfte gebraucht. Die KPCh organisierte den Nachschub, indem sie die Migration ankurbelte. Der Einsatz von Wanderarbeitern hat sowohl für das ausländisches Kapital als auch für das chinesische Regime den Vorteil, dass sie diesen nicht dieselben Bedingungen bieten muss wie städtischen Arbeitern. Wanderarbeiter arbeiten, wohnen und essen in den Fabriken und Wohnheimen und bekommen einen Lohn, der zum Leben in der Stadt nicht reichen würde. Gleichzeitig können Wanderarbeiter als Drohung und Druckmittel gegen die im Sozialismus "privilegierten" städtischen Arbeiter eingesetzt werden. Ab 1997 wurden vor allem kleine und mittlere Kombinate demontiert oder geschlossen, über 50 Millionen städtischer Arbeiter entlassen.

Die Zahl der Wanderarbeiter stieg bis heute auf geschätzte 200 Millionen, etwa je zur Hälfte Männer und Frauen. Zum Teil sind sie ständig in der Stadt oder unterwegs, mit seltenen Besuchen "zu Hause" (Fabrikarbeiter). Es gibt aber auch saisonale Wanderung mit zwischenzeitlicher Landarbeit (Bauarbeiter). In der Regel sind Wanderarbeiter junge Leute aus den ländlichen Regionen des chinesischen Hinterlands, die mit 16 oder 17 Jahren in nahe Kleinstädte oder in die Exportzonen und Großstädte der Ostküste ziehen.

Dort machen sie alle schlecht entlohnte, dreckige, langweilige und gefährliche Arbeit: in Fabriken, auf dem Bau, als Sexarbeiterinnen und Hausangestellte, in Hotels, Restaurants, Wachdiensten, als Kleinhändler. Ihre Arbeitsbedingungen sind geprägt von einer Mischung aus sozialistischem Disziplinierungsregime und tayloristischen Produktionsmethoden ("Fabrikdespotismus"), niedrigen Löhnen, Lohnrückständen, langen Arbeitstagen, Stress und Übermüdung, Unfällen und giftigen Arbeitsumgebungen, schlechten Wohnheimbedingungen und schlechter Verpflegung. Dabei gibt es große Unterschiede, zwischen Sweatshops und hochmodernen Fabriken, sklavereiähnlichen Verhältnissen und relativ hohen Löhnen für Arbeiter mit besonderen Fähigkeiten.

Die erste Generation der Wanderarbeiter, die in den 80er oder 90er Jahren in die Städte kam, musste sich in den Städten und Industriezonen erst zurechtfinden. An den ersten beiden Kampfzyklen der Reformära war sie kaum beteiligt: weder an den Streiks und Mobilisierungen in den Städten in den 80er Jahren mit der Zuspitzung 1989; noch an den Bewegungen gegen Entlassungen und die Umstrukturierung der Kombinate in den Rostgürteln Ende der 90er Jahre.

Die zweite Generation der Wanderarbeiter begann, sich zu wehren. Auslöser der Konflikte kann alles sein, was den Arbeitern stinkt: die Ohrfeige des Vorarbeiters, Ungeziefer im Kantinenessen, Stromausfall im Wohnheim, das Ausbleiben der anstehenden Lohnzahlung. Oft sind es gar nicht die beschissenen Bedingungen an sich, sondern eine Verletzung der Würde der Arbeiter, die das Fass zum überlaufen bringen.

Ab 2003 stieg die Zahl der Kämpfe, vor allem dort, wo viele Arbeiter zusammen schuften und ihre Durchsetzungsmacht größer ist: in der Fabrik, auf dem Bau. Sowohl formal legale Konflikte nahmen zu (Vorsprachen bei der staatlichen Arbeitsbehörde, Petitionen, Gerichtsverfahren), als auch "illegale" Kampfformen: Sabotage, Bummelstreiks, Arbeitsniederlegungen, Kundgebungen, Demonstrationen, Blockaden.

Oft beginnen die Kämpfe mit Aktionen im Betrieb, mit konkreten Forderungen nach Verbesserungen. Wenn das nicht erfolgreich ist, gehen die Arbeiter zur Arbeitsbehörde und verlangen, dass sie in ihrem Sinne eingreift. Da die Arbeitsbehörde Teil des lokalen Staates ist und damit den Kapitalisten nahe steht, bringt das meist nichts ein. Das gilt auch für die lokale Gerichtsbarkeit, an die sich manche Arbeiter danach wenden. Viele Konflikte enden hier, weil den Arbeitern die finanziellen Mittel und der lange Atem fehlen, die sie bräuchten. Aber etliche Auseinandersetzungen eskalieren auch, führen zu Streiks, in manchen Fällen zu Randale und Polizeieinsätzen.


"Große Unruhe bringt große Lösung..."

In den Konflikten bilden sich auf betrieblicher und lokaler Ebene Aktivisten heraus. Sie lernen aus der Dynamik der Kämpfe, der Konfrontation mit Managern und Staatsvertretern. "Große Unruhe bringt große Lösung, kleine Unruhe bringt kleine Lösung", sagen sie: Wer sich durchsetzen will, muss soviel Unruhe stiften, dass der Staat einspringt und eine Lösung herbeiführt. Sie wissen, was sie wagen können und was nicht, welche Kampfform zu einer gewollten Eskalation führt und welche zu einer entschlossenen Repression seitens des Staates.

Die offene politische Organisierung ist weiter blockiert, und die meisten Streiks finden nur in einem Betrieb statt. In manchen Fällen überwinden die Arbeiter aber den "zellularen Aktivismus" (Ching Kwan Lee). Es kommt zu Kämpfen, bei denen Leute von Konflikten in anderen Städten hören und dann selbst loslegen ("copycats", wie bei den Taxifahrern 2008), oder zu Dominostreiks in mehreren Fabriken eines Industriegebiets. Aber das sind bisher Ausnahmen.

Mit den Kämpfen zwischen 2005 und 2008 konnten die Wanderarbeiter, begünstigt durch eine Arbeitskräfteknappheit, etwa 30% höhere Löhne durchsetzen. Das Regime weiß, dass bloße Repression keine willige Arbeitskraft erhalten kann. Seit den Erfahrungen mit den Bewegungen der städtischen Arbeiter nach 1997 hat es seine Rhetorik verändert und spricht von "Harmonischer Gesellschaft" Es versucht, den sozialen Sprengstoff zu entschärfen, um seine Macht zu erhalten, mit Zugeständnissen und Versprechungen, dem Einsatz staatstreuer Gewerkschaften, Schlichtungs- und Petitionsverfahren.

Mit der Krise, den Fabrikschließungen und Entlassungen, haben sich die Vorzeichen verändert. In den Exportzonen sind die Jobaushänge abgelöst worden von Miet- und Kaufanzeigen für Fabrikflächen und Wohnheime. Die Zahl der arbeitslosen Wanderarbeiter soll heute zwischen 20 und 40 Millionen liegen. Dazu kommt wachsende Unterbeschäftigung, Tagelöhnerarbeit, Kleinstselbstständigkeit. Die Löhne sind um 20% gefallen. Viele Firmen, die gar nicht von der Krise betroffen sind, drücken ebenfalls Löhne und Bedingungen, und die Nichteinhaltung der Arbeitsgesetze nimmt zu.

Die Frage der Rückwanderung ist weiter offen. Eine Umkehrung der Urbanisierungstendenz ist unwahrscheinlich, zu groß ist der Unterschied zwischen dem Lebensniveau auf dem Land und in der Stadt. Zwar sind viele Wanderarbeiter Anfang 2009 (wie jedes Jahr vor dem chinesischen Neujahrsfest) in die Dörfer zurückgekehrt, aber dort finden sie auch keine Arbeit, haben keine Perspektive. Auf dem Land gibt es viele Probleme: Die Auspressung durch die lokale Parteimafia, Landvertreibung und Armut führen zu Kämpfen und Aufständen. Viele Arbeiter sind schon wieder auf Wanderschaft.

2008 und Anfang 2009 hat die Zahl der Petitionen, Gerichtsverfahren, Streiks und Demonstrationen weiter zugenommen. Noch mehr als bisher geht es um Lohnrückstände, um Abfindungen nach Entlassungen. Der Staat reagiert weiter mit Versprechungen, Drohungen und Repression. Wie lange das eine Welle "großer Unruhe" verhindern wird, ist offen.


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 9, 24.Jg., September 2009, Seite 18
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. September 2009