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ROTFUCHS/215: Tribüne für Kommunisten und Sozialisten Nr. 263 - Dezember 2019


ROTFUCHS

Tribüne für Kommunisten und Sozialisten in Deutschland

22. Jahrgang, Nr. 263 - Dezember 2019


Aus dem Inhalt
  • Antikommunismus als Staatsdoktrin
  • Sevim Dagdelen: Jenseits des Friedens
  • Ein fast vergessenes israelisches Verbrechen
  • Nachlese zu den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen
  • Thüringer Wahlabend
  • Kapitalismus zerstört und tötet
  • Karl Marx und die Philosophie
  • Das Gift des Hasses
  • Der faschistische Anschlag von Halle
  • Europaparlament entlastet Nazideutschland
  • Die drei Freunde - ein Weihnachtsmärchen
  • "Ein reines Geistwesen"
  • Rudi Kurz: Habemus papam
  • K. Deschner: Alternative für Weihnachten
  • Wilhelm Pieck und die Aktionseinheit
  • Niklas Frank über die Rhetorik der AfD
  • Das Spremberger Kinderheim und der Partisan
  • Die DDR stand an der Seite Afghanistans
  • "Erinnerungsbibliothek DDR" aufgelöst
  • Samir Amin: Eurozentrismus
  • "RotFuchs"-Veranstaltungen im Dezember
  • Leserbriefe

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Krieg oder nicht Krieg?

Geschichte wiederholt sich nicht, Klasseninteressen aber bleiben konstant. Das gilt auch für den deutschen Imperialismus. Vor allem mit Hilfe der USA wurde er nach 1945 in der BRD wieder auf die Beine gestellt. Denn die von den Westmächten z. B. im Münchner Abkommen von 1938 gestützte Mission Adolf Hitlers, die Sowjetunion sowie Ost- und Südosteuropa zu kolonisieren, war nicht erfüllt. Vielmehr stand die Rote Armee an der Elbe und machte den Weg frei für den ersten deutschen Friedensstaat. Die Westalliierten und ihr Bundeskanzler Konrad Adenauer erhoben zur außenpolitischen Doktrin: Erst wenn die UdSSR auf die Grenzen von 1939 zurückgeht, kann uns ganz Deutschland gehören.

Die Konterrevolution in der DDR und die Zugeständnisse Michail Gorbatschows an den Westen erfüllten 1990 diese Vorbedingungen. Seitdem hat sich aber das Verhältnis von deutschem und US-Imperialismus geändert: Elemente der Konkurrenz treten deutlich neben die der Kooperation. Die überwiegt in den gemeinsamen Kriegen wie im Nahen Osten beim Versuch, Syrien zu zerstückeln, oder bei den Sanktionen, um Venezuelas sozialistische Regierung zu erwürgen, oder denen gegen Rußland, Kuba und andere unbotmäßige Länder. Die Konkurrenz begann mit dem deutschen Vorpreschen bei der Anerkennung der Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens 1991. Heute möchten die USA erneut einen "begrenzten" Atomkrieg gegen Rußland führen können, was selbst der deutschen Großmannssucht nicht paßt. Deutschland wäre Schlachtfeld. Da hätten einige doch lieber eine eigene deutsche Atombombe. Trumps nationalsoziales Programm zur Belebung der US-Industrie schafft zusätzliche Probleme.

Auch in der Bundesrepublik hat sich eine nationalsoziale Fraktion, die früher zu CDU und CSU gehörte, in der AfD selbständig gemacht. Ihre Propagandalüge, die Bundesrepublik zahle für alles Elend der Welt und erleide durch Einwanderung den "Volkstod", mobilisiert bundesweit bis zu 25 Prozent der Wähler. Nazis verstecken sich längst nicht mehr nur in der Anonymität des Internet, sondern zeigen sich demonstrativ im Alltag wie in Parlamenten.

Die deutsche Großbourgeoisie hat vorläufig ein taktisches Verhältnis zu ihnen. Sie schwankt zwischen transatlantischem Treuebekenntnis und Unterordnung unter Washingtons Wünsche einschließlich Kriegsvorbereitung gegen Rußland und der Gier nach Profit auf dem russischen Markt.

Ein Beispiel für erstere Haltung: Die FAZ veröffentlichte am 1. November einen Artikel unter der Überschrift "Zur Abwehr bereit". In der Unterzeile heißt es: "Das amerikanische Heer verlegt im nächsten Frühjahr Tausende Soldaten zum Manöver nach Europa. Rußland soll wissen: Wir wollen und wir können noch." Der Text liest sich nicht nur wie seinerzeit "Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt", es ist auch so gemeint. Kostprobe: "Jeder Angreifer, gemeint sind hier natürlich russische Verbände, soll wissen, daß man es beim Angriff auf einzelne Truppenteile des Bündnisses alsbald mit der ganzen Wucht der NATO zu tun bekommt." Die Wucht sieht beim geplanten Manöver an der russischen Grenze so aus: "Rund 33.000 Panzer, gepanzerte Fahrzeuge, Lastwagen, Jeeps und Material-Container, von denen zwei Drittel ebenfalls über den Atlantik verschifft werden." So liest sich Größenwahnsinn.

Faschisten, die noch nicht an der Macht sind, müssen ihre Abhängigkeit von der Bourgeoisie verdecken. Ein erprobtes Mittel ist die Spaltung der Arbeiterbewegung und aller Friedenskräfte durch Rassenwahn und Nationalismus. Die Großbourgeoisie ist es gewohnt, die eigenen Interessen dagegen vergleichsweise klar zu formulieren, läßt aber Rassisten und Hetzer gern gewähren. Die kämpfen nicht um höhere Löhne und um die Macht.

Geschichte wiederholt sich nicht, aber die Stoßrichtung nach Osten, die Jagd unter Migranten und Linken auf der Suche nach Sündenböcken für Mißstände sind gleichgeblieben. Die Strategen gehen längst anderen Fragen nach: Krieg oder nicht Krieg?

Arnold Schölzel

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Antikommunismus als Staatsdoktrin

Wer die letzten dreißig Jahre genau verfolgte, konnte feststellen: Die mit über vier Milliarden Euro (manche sprechen sogar von sechs Milliarden) an Steuergeldern gefütterten Akteure der "DDR-Aufarbeitungsindustrie" konzentrierten sich überwiegend auf die 80er Jahre. Doch wer die Geschichte beider deutscher Staaten verstehen will, muß sich mit den Anfängen (auch mit denen im Westen!) befassen. Auf keinen Fall darf die Zeit nach der Befreiung bis zum November 1989 außer acht gelassen werden. Die menschenverachtende Politik aller westdeutschen und Westberliner Regierungen und der Westalliierten gegen die Entwicklung in der sowjetisch besetzten Zone und der DDR muß mit aufgearbeitet werden.

Was sich nach der Befreiung in den Westsektoren Berlins zugetragen hat, schildert der Zeitzeuge Arthur D. Kahn, der an verantwortlicher Stelle in der US-Militärregierung in Deutschland arbeitete, in seinem Buch "Offiziere, Kardinäle und Konzerne. Ein Amerikaner über Deutschland", erschienen im Verlag der Nation, Berlin 1963.

Am 3. April 1946 gab Oberstleutnant Swoboda, der Vorsitzende des Militärgerichts, zwei Kommunisten und Antinazis, von denen der eine zehn Jahre in Nazigefängnissen und Konzentrationslagern zugebracht hatte, eine Lektion in Demokratie. Swoboda war der Mann, der die Hauptverantwortung dafür trug, daß vor anderthalb Jahren in Aachen, der ersten deutschen Stadt, die wir eroberten, Nazis und Nazianhänger in administrative Posten eingesetzt wurden. Streng dienstlich erklärte er: "Nach geheimer Beratung verurteilt das Gericht Sie, Gerhard Jurr, und Sie, Wilhelm Kammermeier, zu fünf Jahren Gefängnis."

Der Staatsanwalt hatte erklärt, das Urteil betreffe "nicht so sehr den zur Verhandlung stehenden Fall; es gehe vielmehr darum, für die deutsche Öffentlichkeit ein Exempel zu statuieren". Faktisch war es eine Hexenverfolgung, ähnlich wie die Prozesse gegen Sacco und Vanzetti und andere Justizverbrechen. Es gab kaum eine juristische Begründung für den Fall. Hauptmann Kent, ein Offizier der Militärregierung in dem Berliner Stadtteil Schöneberg, hatte die beiden Kommunisten verhaftet, weil sie Flugblätter verteilt hatten, durch die angeblich ein Druck auf Regierungsstellen ausgeübt wurde und die eine Einmischung in die Funktionen der Militärregierung darstellten. Es war jedoch lediglich ein Exemplar des Flugblattes "verteilt" worden; der Text enthielt auch keinerlei "Einmischung" in die Angelegenheiten der Militärregierung.

Fünf Jahre Kerker zur "Statuierung eines Exempels" sind eine lange Zeit für einen Mann, der gerade zehn Jahre in Nazi-Zuchthäusern gesessen hat (das Gericht weigerte sich, die antifaschistische Aktivität der beiden Angeklagten zu berücksichtigen). Man kann das schreiende Unrecht in diesem Fall erst voll ermessen, wenn man bedenkt, daß die "christlichen" und "konservativen" Politiker, die Rebellion predigen, die Entnazifizierung sowie die Lebensmittelversorgung sabotieren und zum Krieg gegen die Sowjetunion aufrufen, unbestraft bleiben und in der amerikanischen Zone sogar mit höchsten Posten belohnt werden.

Zwar entspricht unser Antagonismus den Kommunisten gegenüber unserer allgemeinen Besatzungspolitik; dennoch ist es erstaunlich, wie die antikommunistische Hysterie ohne offizielle Direktive fast jeden in der Militärregierung erfaßte. Natürlich gab es Ausnahmen, besonders 1945, als man häufig von Offizieren der Militärregierung hören konnte: "Die Kommunisten arbeiten wirklich angestrengt. Wenn man ihnen einen Auftrag gibt, kann man sicher sein, daß er ausgeführt wird." Ich erinnere mich, daß ein Offizier der Militärregierung in Stuttgart erklärte, er würde, wenn er Deutscher wäre, bestimmt die Kommunistische Partei wählen, denn nur sie habe ein klares und bestimmtes Programm. Ich glaube, kein Offizier der Militärregierung, selbst nicht solche, die Angst vor der "roten Gefahr" haben, wird bestreiten wollen, daß die Politik der Kommunisten in der amerikanischen Zone mit dem Potsdamer Abkommen im Einklang steht und daß sie von Anfang an ihre völlige Bereitschaft bekundeten, mit der Militärregierung bei der Verwirklichung unserer ursprünglichen Ziele zusammenzuarbeiten. (...)

Diese Versuche, bei der Durchführung der Potsdamer Direktiven mitzuwirken, sind der Hauptgrund für die gegenwärtige hysterische Hetzjagd auf Kommunisten in der amerikanischen Zone. Wie mir ein leitender Funktionär der deutschen Kommunistischen Partei Ende 1946 schrieb, wurde die Hetze gegen die Kommunisten - anderthalb Jahre nach dem VE-Tag [Victory in Europe Day / Tag des Sieges über den Hitlerfaschismus] - bösartiger und intensiver als je durchgeführt. Alle, die eine durchgreifende, längst überfällige Bodenreform fürchten und begründete Angst vor der Bestrafung und Enteignung der faschistischen Kriegstreiber haben, und alle, die Reparationszahlungen an die Opfer des deutschen Aggressionskrieges wie auch jede soziale Veränderung zur Schaffung einer festen demokratischen Basis verhindern möchten - sie alle wenden sich wütend gegen die "Bolschewiken". (...)

Die Militärregierung führte - verbündet mit den reaktionären Politikern, den senilen, machthungrigen rechten sozialdemokratischen Führern, der Kirche sowie den Industriellen und Junkern - den Kampf gegen die Kommunisten, besonders seit der Ankündigung der ersten Wahlen und nachdem eine gegen das Potsdamer Abkommen gerichtete Politik eingeschlagen wurde. In einigen Gemeinden zögerten Offiziere der Militärregierung die Zulassung der Kommunistischen Partei unter den verschiedensten Vorwänden hinaus, was die bereits übergroßen Schwierigkeiten der Kommunisten bei den feindselig eingestellten Menschen auf dem Lande noch vergrößerte. Da wir es unterlassen hatten, Kommunisten an wichtigen Stellen zu plazieren, hatten sie kaum Gelegenheit gehabt, die nazifizierte Bevölkerung richtig aufzuklären. In Bayern zum Beispiel gehörte nicht ein einziger Kommunist den Redaktionskollegien der etwa dreißig lizenzierten Zeitungen an. Wir schreckten die Kommunisten derart ab, daß viele Bedenken hatten, ihre Zugehörigkeit zur Partei bekanntzugeben. (...)

Die deutschen Kommunisten dienen der Sache des Weltfriedens, indem sie eine durchgreifende Demokratisierung ihres Landes fordern und versuchen, die Freundschaft zwischen allen Besatzungsmächten zu fördern. Im Gegensatz zu anderen politischen Gruppen verzichten sie darauf, Unstimmigkeiten zwischen den vier Mächten auszunützen, um für sich politische Vorteile herauszuholen. Während die Führer der Sozialdemokratischen Partei sich dem antisowjetischen Kreuzzug anschlossen und jegliche Verantwortung für das Aufkommen des Nazismus ablehnen, und während die Nationalisten Krieg predigen und an die "nationale Ehre" appellieren, um Stimmen zu fangen, argumentieren die Kommunisten ständig, daß die Deutschen sich das Recht verdienen müssen, als gleichberechtigte Partner mit den Vereinten Nationen zu verhandeln.

So erklärte der jetzige Vorsitzende der Kommunistischen Partei in der amerikanischen Zone, Albert Buchmann, im August 1945 in einer öffentlichen Versammlung: "Eines müssen wir erkennen: daß die ausländischen Nationen nicht mit sich handeln lassen werden. Selbst wenn ein oder zwei Prozent des deutschen Volkes wirklich Widerstand gegen den destruktiven Geist der Nazis gezeigt haben, so kann das unser Volk als Ganzes nicht entschuldigen. Wir müssen den anderen Nationen zeigen, daß wir bereit sind, Reparationen zu zahlen. Es muß von uns aus als ein Willensakt dargelegt werden. Wir müssen in dieser Aktion erkennen, daß wir die Verbrechen der Nazis kaum wiedergutmachen können, und erklären, daß wir dazu bereit sind. Je eher wir zu der Überzeugung gelangen, daß wir aus eigenem freiem Willen wiedergutmachen müssen, desto eher werden die ausländischen Nationen Vertrauen zu uns gewinnen und anerkennen, daß wir reif geworden sind."

Johann Weber
Niederbayern

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Zur aktuellen Ausrichtung der deutschen Außenpolitik

Jenseits des Friedens

Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik - so das Selbstverständnis von Union und SPD, das auch im Koalitionsvertrag für die 19. Wahlperiode des Bundestages niedergeschrieben ist. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft allerdings eine große Lücke, die sich dazu noch Jahr für Jahr vergrößert.

Seit dem 3. Oktober 1990 haben sich die Paradigmen der deutschen Außenpolitik zunächst unmerklich, doch dann immer schneller verschoben. Heute haben wir es in drei großen Bereichen mit einer durchgängigen Orientierung auf die Beteiligung an Kriegen und das Schüren von Konflikten zu tun. Das Friedensgebot des Grundgesetzes droht völlig ad acta gelegt zu werden.

Die Akteure, die sich der deutschen Außenpolitik zur Durchsetzung von Interessen bedienen, haben sich einen Werkzeugkasten gewaltsamer Mittel zugelegt, mit dem Ziel, Rohstoffe, Absatzmärkte und geopolitische Einflußzonen zu sichern. Imperiale Zwecke werden mit gewaltsamen Mitteln verknüpft. Auslandseinsätze und Kriegsbeteiligungen der Bundeswehr, Wirtschaftskriege und Rüstungsexporte zur geopolitischen Einflußnahme gehören inzwischen zu den alltäglichen Machtmitteln.

Zur Zeit sind über 3200 deutsche Soldaten im Auslandseinsatz: Die drei größten Missionen sind die Kriegsbeteiligungen in Afghanistan (1164 Soldaten), in Mali (893 Soldaten) und in Syrien/Irak (445 Soldaten). Unter Vorspiegelung der Terrorismusbekämpfung werden Bundeswehrsoldaten im Rahmen internationaler Allianzen eingesetzt, während gleichzeitig islamistische Terroristen, die in Syrien schlimmste Kriegsverbrechen wie etwa jetzt im Nordosten Syriens an Kurden und Christen begehen, als moderate Rebellengruppen verharmlost werden und Infrastrukturprojekte wie der Straßenbau jahrelang im von der Al-Kaida kontrollierten Teil Syriens in der Provinz Idlib vom deutsch-emiratischen Aufbaufonds auch mit deutschen Steuergeldern finanziert wurden. Die Entsendung deutscher Soldaten dient allein der militärischen Machtprojektion in der internationalen Politik wie der Unterstützung der Regime-Change-Kriege der USA und anderer NATO-Verbündeter. Dabei sticht die enge Gefolgschaft zur noch abenteuerlichsten Wendung der US-Außenpolitik ins Auge. So flankieren die deutschen Militärentsendungen in der Regel US-Interessen oder unterstützen den NATO-Partner Frankreich bei dessen postkolonialer Einflußzonenpolitik in Afrika.

Auch Wirtschaftskriege gehören mittlerweile zum unverzichtbaren Teil des Instrumentenkastens der Gewalt. Über die EU werden unter Verletzung der Prinzipien der UN-Charta eigene gewaltsame ökonomische Instrumente eingesetzt, um andere Länder zu einer bestimmten Politik zu zwingen. Auch hierbei folgt die deutsche Außenpolitik treu den USA. US-Präsident Donald Trump hat die Wirtschaftskriege seines Vorgängers Barack Obama noch einmal verschärft. Aktuell beteiligt sich Deutschland an vorderster Front an dem Versuch, die Wirtschaft Rußlands in die Knie zu zwingen - oder wie im Fall von Venezuela oder Syrien einen Regime Change durch Ächtung der legitimen Regierung und Anerkennung einer illegitimen Pseudo-Regierung bei gleichzeitiger völliger Verarmung von großen Teilen der Bevölkerung mittels Wirtschaftssanktionen zu befördern. Im Falle Rußlands ist die Inkaufnahme einer Selbstschädigung besonders signifikant. Während für die USA der Handel mit Rußland eine untergeordnete Bedeutung hat, liegt der Schaden für Deutschland seit der Verhängung der Sanktionen 2014 im dreistelligen Milliardenbereich. Auch im Fall des Irans ist die Bundesregierung nicht willens, die US-Sanktionen, welche sich auch gegen Dritte richten, die Wirtschaftskontakte mit dem Iran unterhalten, zu umgehen. Durch Untätigkeit wurde die Bundesregierung so zum Komplizen der Kündigung des Atomabkommens durch die USA und ist indirekt an einem Wirtschaftskrieg gegen den Iran beteiligt, der seinesgleichen sucht. Ausgemachtes Ziel ist es, jegliche Außenhandelstätigkeit inklusive aller Ölexporte zum Erliegen zu bringen. Die UN haben mittlerweile sogar die Stelle eines Sonderberichterstatters "zu den negativen Auswirkungen einseitiger Zwangsmaßnahmen" geschaffen, der über die Leiden der Bevölkerung der betroffenen Länder berichten soll.

Dieser UN-Sonderberichterstatter, Idriss Jazairy, hat mehrfach die US-Wirtschaftskriege wie gegen Venezuela und Syrien als gravierende Verletzung der Menschenrechte angeprangert. In Deutschland wird über diese brutale Form der Gewalt in der internationalen Politik - bis auf wenige Ausnahmen - in den Medien praktisch nicht berichtet. Die gängige Rechtfertigung der Maßnahmen, die Hunderttausende Menschen das Leben kosten, ist, daß man damit unliebsame Diktatoren stürzen könnte. Während auch schlimmste Kriegsverbrechen des NATO-Partners und EU-Beitrittskandidaten Türkei in Syrien oder des engen Verbündeten der islamistischen Kopf-ab-Diktatur Saudi-Arabiens im Jemen keine Sanktionen nach sich ziehen, bleiben Wirtschaftssanktionen einzig den unliebsamen Regimen vorbehalten. Die behauptete Orientierung an Menschenrechten als Richtschnur deutscher Außenpolitik bleibt so unglaubwürdig und erweist sich als Nebelkerze.

Deutsche Rüstungsexporte werden oft lediglich unter dem Aspekt der blutigen Profite von Rüstungskonzernen wie Rheinmetall kritisiert. Das ist zwar richtig, und die Bundesregierung setzt sich engagiert für die Profite deutscher Rüstungsfirmen ein und versucht, wie jüngst mit den Folge-Abkommen zum Aachener Vertrag die ohnehin bereits löchrigen Rüstungsexportrichtlinien für Gemeinschaftsprojekte praktisch ganz auszuhebeln; ein Aspekt, der aber bei der Kritik an Rüstungsexporten oft zu kurz kommt, ist, daß Waffenexporte mittlerweile als ganz normales Mittel deutscher Außenpolitik eingesetzt werden, insbesondere um Länder wie die Türkei besonders eng an sich zu binden, sie in der NATO zu halten und durch den exzessiven Export von Waffensystemen Konkurrenten wie Rußland geopolitisch gar nicht erst zum Zug kommen zu lassen. Insgesamt steuern die Genehmigungen für die Ausfuhr von Kriegsgerät 2019 einen neuen Rekord an. In diesem Jahr konnte Deutschland nach den USA, die mit weitem Abstand den ersten Platz behaupten, nach Rußland und knapp hinter Frankreich erneut den vierten Platz in der Weltrangliste der Rüstungsexporteure erreichen, mit einer enormen Steigerung von 13 Prozent. Angesichts dieser Zahlen wird deutlich, daß alles Gerede von einer angeblich restriktiven deutschen Rüstungsexportpolitik lediglich der Schlummertrunk für die deutsche Öffentlichkeit sein soll. Fakt ist: Die expansive Rüstungsexportpolitik ist auch Teil einer neuen aggressiven deutschen Außenpolitik.

Wie perfide die Bundesregierung dabei vorgeht, läßt sich gut an den Beispielen Türkei und Saudi-Arabien ablesen. Gegenüber der Türkei wurde anders als öffentlich verlautbart lediglich ein Genehmigungsstopp für Waffen, die unmittelbar in Syrien eingesetzt werden können - im Rahmen der türkischen Invasion mit ihren Massakern und Kriegsverbrechen -, erlassen. Damit aber kann weiter hemmungslos ausgeliefert werden, nicht nur "im maritimen Bereich", wie es schönfärberisch heißt. Als würde Erdogan in Deutschland gebaute U-Boote nicht für seine neo-osmanische Politik einsetzen können. Auch Bauteile für türkische Mittelstreckenraketen können weiter geliefert werden.

Dazu kommen die Umgehungen über die ins Ausland verlagerte Produktion von Rheinmetall. Im Fall Saudi-Arabien hat man sich zwar angesichts der humanitären Katastrophe zu einem Waffenembargo durchgerungen, allerdings bleiben auch hier die Umgehungsmöglichkeiten über Auslandsfilialen deutscher Rüstungskonzerne, über vergebene Lizenzen zur Produktion deutscher Waffen im Ausland oder über den Trick der Gemeinschaftsprojekte mit Frankreich und England wie Tornados oder Eurofighter, die den Rüstungsexportstopp schlicht aushebeln. Unterm Strich kann an den "Stabilitätsanker" (de Maizière) und sein verbrecherisches Regime munter weiter geliefert werden.

Deutsche Außenpolitik hat in den letzten Jahren nicht nur das Selbstbild einer friedlichen Außenpolitik gepflegt, sondern auch die Einbindung in die "Wertegemeinschaft" NATO für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit immer wieder beschworen. Mit dem jüngsten Einmarsch der Türkei wird allerdings deutlich, daß Erdogan und seine islamistische Soldateska mit furchtbarsten Kriegsverbrechen nicht gerade als Stoßtrupp für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte bezeichnet werden können. Und die Bundesregierung, welche die Türkei in der NATO halten will, auch wenn die Kurden darüber zugrunde gehen, besiegelt damit, wenn auch unfreiwillig, das Ende des Selbstbilds der NATO als Wertegemeinschaft in Aktion. Die NATO ist somit auch moralisch ans Ende gekommen. Der Leitpartner Deutschlands in der NATO indes, die USA, haben den Raub des syrischen Öls offen zur Invasionslegitimation erhoben. Ein Völkerrechtsbruch jagt den nächsten. Die deutsche Außenpolitik steht damit an der Seite von Mördern, Kriegsverbrechern und Rechtsbrechern. Es ist höchste Zeit für eine friedliche Wende!

Sevim Dagdelen. MdB (Partei Die Linke)

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Ans Messer geliefert

Denke ich an den völkerrechtswidrigen Überfall des Diktators am Bosporus gegen die Kurden, kommen mir die schrecklichen Bilder des Völkermordes an den Armeniern in den Sinn, welche die Türkei zwischen 1915 und 1918 verübt hat.

Von den Hauptverantwortlichen Innenminister Talaat Pascha und Kriegsminister Enver Pascha zentral und systematisch vorbereitet, wurde am 24. April 1915 die gesamte armenische Oberschicht aus Politikern, Künstlern, Journalisten und Unternehmern in Konstantinopel zusammengetrieben und anschließend ermordet. In den folgenden Monaten brachten türkische Polizisten, Gendarmen und Soldaten alle Armenier im Osmanischen Reich in Sammellager und schickten sie danach auf Todesmärsche in die syrische Wüste. Auf diesen Todesmärschen verdursteten und verhungerten 1,5 Millionen der zwei Millionen türkischen Armenier. Grundlage für den Genozid war ein Dekret von Talaat Pascha. Als Angehöriger der 1909 an die Macht gekommenen sogenannten Jungtürken träumte er von einem türkischen Großreich, dem "Turan", der Vereinigung aller türkischstämmigen Völker, in dem die Armenier keinen Platz mehr haben sollten. Der Erlaß forderte, die Armenier aus der Türkei vollständig zu vertreiben, sie auszurotten. Sie wurden zum "inneren Feind" erklärt. So wie jetzt die Kurden, nur heißen sie heute Terroristen! Das Ziel ist das gleiche.

Das Deutsche Kaiserreich, dessen Verbündeter die Türkei war, ließ durch Reichskanzler von Bethmann Hollweg erklären: Unser einziges Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht!"

Das Kaiserreich hatte ja auch gerade den Völkermord an den Herero und Nama verübt. Da will man ja einem "guten Freund" nicht in den Arm fallen! Und die restliche Welt, auch von Königen und Fürsten regiert, von Niccolo Machiavelli in seinem Hauptwerk "Der Fürst" als "abartiges Gesindel" bezeichnet, hatte genug damit zu tun, den 1. Weltkrieg zu führen - also kein Platz für Menschlichkeit.

So hat man die Armenier den türkischen Mörderbanden ans Messer geliefert.

Und heute? Die Türkei führt erneut einen Vernichtungs- und Vertreibungsfeldzug, diesmal gegen die Menschen in Rojava. Nun kann man sich natürlich fragen, warum Trump seine Besatzungstruppen in Nord-Syrien angewiesen hat, sich in Sicherheit zu bringen, denn die Absurdität dieser Handlung ist nicht zu übersehen. Waren es doch die Kämpfer der YPG im Kampf gegen den IS, welche die Befreiung der Jesiden erreichten und die Mordbrenner aus dem gesamten Norden vertrieben, und nicht die Soldaten der USA, die sich so gerne als ruhmreiche unerschrockene Kämpfer darstellen. Das Versprechen, das befreite Gebiet, dessen Verwaltung die Kurden übernommen hatten, zu schützen, war nur eine leere Worthülse.

Die Flucht der US-Armee schuf einen "Freiraum", der nun von der türkischen Armee genutzt werden soll. Und auch vom zahnlosen Papiertiger EU wurden die Kurden verraten, denn der Erpresser Erdogan droht mit einer "Invasion" von Millionen von Flüchtlingen. Die Sprach- und Machtlosigkeit Deutschlands und der EU ist geradezu eine Steilvorlage für Erdogan, nach der ausgehandelten Waffenruhe weiterzumachen.

Und so sterben wieder Menschen in Nordsyrien, die erkennen müssen, daß Versprechen und Zusagen, vor allem wenn sie aus den USA oder aus Europa kommen, kein Vertrauen verdienen. Nichts entlarvt das Geschwätz von der Überlegenheit der westlichen Demokratien klarer als der schändliche Verrat an den Kurden. Wieder einmal zeigt sich: Was zählt, sind die eigenen wirtschaftlichen Interessen an der Vermehrung des Profits und sonst nichts.

Unsere Solidarität gilt den Menschen in Rojava und ihrem Überlebenskampf, damit sie nicht die "Armenier" des 21. Jahrhunderts werden.

Joachim Augustin


Türkei überfällt Syrien!

"Der Angriff der Türkei auf das Territorium Syriens zeigt mehrere Dinge: Erstens ging es den USA, Führungsland der NATO, mit denen dieser Angriff abgesprochen ist, nie um den Kampf gegen den Islamischen Staat oder für die Kurden - es ging immer um die Zerstörung der territorialen Integrität Syriens. Zweitens geht es dem NATO-Land Türkei nicht um seine Sicherheit, sondern um einen Angriff gegen Syrien und die dort lebenden Kurden. Drittens: Die Herrschenden in der Türkei, die USA, die NATO spielen mit dem Feuer und brechen das Völkerrecht. Wir fordern die Bundesregierung auf, dies unmißverständlich zu verurteilen und sofort alle deutschen Truppen aus der Region inklusive der Türkei zurückzuziehen."

Patrik Köbele, Vorsitzenderder DKP (9. Oktober 2019)

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Krieg der Türkei in Nordsyrien

Am 9. Oktober begann die Türkei ihren Krieg gegen die kurdischen Selbstverwaltungsgebiete im Norden Syriens mit Schlägen aus der Luft und mit dem Einmarsch türkischer und verbündeter arabischer "Freiwilligenverbände" in syrisches Territorium. Der Angriff, der schon zu Beginn auch eine hohe Zahl ziviler Opfer forderte und weitere Tausende Menschen zur Flucht aus ihrer Heimat veranlaßte, kam dabei weder überraschend noch unvermittelt. Bereits seit Wochen tönte der türkische Staatspräsident Erdogan, die Vorbereitungen zum Feldzug liefen, und er stünde unmittelbar bevor. Dann wurde der beginnende Abzug der US-Streitkräfte, die dort von den Kurden auch als Schutztruppen gegen die drohende türkische Offensive gesehen wurden, genutzt, um loszuschlagen. Bei "Spiegel-online" konnte man am 10. Oktober lesen: "Jetzt ist Krieg ..."; der Begriff Krieg wird allerdings in den nächsten Tagen aus der Berichterstattung verschwinden zugunsten der euphemistischen Begriffe "Militäroffensive", "Feldzug" und ähnlichem. Denn natürlich führen NATO-Staaten keine Kriege, sie führen "Ordnungsoperationen" durch. Diese hier trägt den besonders demagogischen Namen: "Operation Friedensquelle".

Die westeuropäischen NATO-Staaten üben sich in Betroffenheit, schließlich zündelt da einer der ihren. NATO-Generalsekretär Stoltenberg ruft die Türkei zur Zurückhaltung auf, und ein paar westeuropäische Regierungen verhängen einen Stopp zukünftiger Waffenlieferungen - natürlich müssen bestehende Verträge noch erfüllt werden ... Kommentatoren schwadronieren über die Hilflosigkeit des Westens gegenüber Erdogan, nachdem die USA als Ordnungsmacht ja nun ausgefallen seien, die Türkei, die so lange Hort der Stabilität in der Region gewesen sei, nun "schwierig" werde, die EU leider noch keine EU-Armee besitze, um für die USA einzuspringen, und das alles nun diktatorischen Herrschern wie Assad und Putin Tür und Tor öffne ...

Was für ein hanebüchener Schwachsinn, der zudem auf mangelnde Geschichtskenntnisse bei den Empfängern solcher Botschaften setzt! Aber der Reihe nach: Beginnen wir mit ein paar Hintergründen zum Konflikt zwischen der Türkei und den Kurden. Die einschneidendste historische Zäsur der letzten 100 Jahre war das Ende des Ersten Weltkrieges und die damit einhergehende Auflösung des Osmanischen Reiches, das als Verbündeter Deutschlands zu den Verlierern gehörte.

Nicht nur in Europa, vor allem im Nahen Osten wurden völlig neue Grenzen gezogen, neue Staaten entstanden, und die Beute wurde zwischen Großbritannien und Frankreich aufgeteilt. Den Entente-Mächten gelang es im Ersten Weltkrieg, die wichtigsten Anführer arabischer Clans auf ihre Seite zu bringen, um sie im Kampf gegen die Osmanen zu unterstützen. Die meisten werden zumindest vom Hörensagen die Geschichte des britischen Majors Lawrence kennen, der später als Lawrence von Arabien bekannt wurde und dem große Verdienste bei den Bemühungen, die arabischen Kräfte auf die Entente-Seite zu ziehen, zugeschrieben werden. Versprochen wurde dafür nach dem Sieg über die Achsenmächte, ein Königreich Großsyrien zu schaffen und den Haschemiten-Prinzen Faisal als König einzusetzen (die Haschemiten bilden heute sowohl die Herrscherhäuser in Jordanien als auch in Saudi-Arabien). Aber wie das so ist, wenn man sich auf die Versprechen westlicher imperialer Staaten verläßt - es kam anders, und zwar weil sich Briten und Franzosen schon lange über die Aufteilung des Gebietes geeinigt hatten. Die neuen Staaten Syrien und Libanon fielen unter französischen Einfluß, und die Briten sicherten sich den Zugriff auf den Irak und den Iran. Die Kurden als ethnische Gruppe von Stammesbünden siedelten nun plötzlich in drei neuen Nationalstaaten: Türkei, Irak und Syrien. Aber auch über die drei Staaten hinaus gab es kurdische Siedlungsgebiete, z. B. im aserbaidschanischen Gebiet Nagorny Karabach.

Im Vertrag von Sèvres von 1920 (Sèvres ist ein Pariser Vorort), in dem in vertraglicher Form ein Teil der "Kriegsbeute" - u. a. das Osmanische Reich, aber auch die Auflösung und staatliche Neuorganisation des Habsburger Reiches - geregelt und die Einflußsphären festgelegt wurden, versprachen die Siegermächte des Ersten Weltkrieges den Kurden Autonomie. Allerdings wurde das Recht nie durchgesetzt und später durch die Vereinbarungen mit Mustafa Kemal (bekannt als Atatürk, welches aber kein Name, sondern nur ein Titel, "Vater aller Türken", ist) revidiert, der einen neuen türkischen Nationalstaat auf den Ruinen des Osmanischen Reiches errichtet hatte. Nun versprach Mustafa Kemal den Kurden, die auf dem Gebiet der türkischen Republik siedelten, mit ihnen gemeinsam einen neuen türkischen Staat aufzubauen. So freundlich war er mit anderen Ethnien nicht, wovon Armenier und andere ein Lied singen können.

Allerdings kam es schon in den 20er und 30er Jahren zu bewaffneten Konflikten mit den Kurden in der Türkei, die von der türkischen Armee blutig beendet wurden. Schließlich wurde 1945 das Tragen kurdischer Nationalkleidung sowie der Gebrauch der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit verboten. 1967 wurden diese Verbote noch einmal verschärft. Schließlich wurde 1978 die PKK gegründet, die sich als konsequente Verfechterin kurdischer Interessen erweisen sollte. In den 80er Jahren ging dann der türkische Staat mit aller politischen, ökonomischen und militärischen Gewalt gegen die Kurden in der Türkei vor, es begann ein regelrechter Bürgerkrieg. Kurden machen heute übrigens mit fast 25 Prozent der Gesamtbevölkerung die größte ethnische Minderheit in der Türkei aus. Im Irak, dem zweiten großen Siedlungsgebiet von Kurden, entstand 1970 unter Saddam Hussein quasi eine autonome kurdische Verwaltungseinheit, die auch nach der Invasion der USA im Irak weiter bestehen blieb, ja ihre Autonomie noch ausbaute. Die Beziehungen zwischen dem irakischen Kurdengebiet und den Kurden auf türkischem Gebiet sind nicht problemlos, zumal letztere eher sozialistisch-demokratisch orientiert sind, während die irakischen Kurden eher stammesgebunden-bürgerlich sind. Das hielt allerdings die die türkische Armee nicht davon ab, das irakische Kurdengebiet mehrfach zu bombardieren, vorgeblich, "um den Nachschub der Terroristen zu stören". Die auf syrischem Gebiet lebenden Kurden leben nur bedingt in zusammenhängenden Gebieten, weil die Grenzziehung nach dem Ersten Weltkrieg die kurdischen Siedlungsgebiete völlig außer acht gelassen hatte. Die Kurden nennen ihr Gebiet Rojava. Das Verhältnis zum syrischen Staat und seinen Machthabern war durchaus ambivalent. Mehr oder weniger wurden ihnen eigene Rechte zugestanden, allerdings kaum in Form von einklagbaren Gesetzen. Gerade die Liberalisierungen unter Baschar al-Assad kamen ihnen zugute. Allerdings waren kurdische Aktivisten auch unter denen, die um 2010 herum mehr demokratische Rechte in Syrien einforderten und dadurch Probleme mit dem syrischen Staat bekamen.

Als viel größere Gefahr für die Existenz Rojavas sollten sich die islamistischen Krieger des Daesch (Daesch ist eine Abkürzung von "Islamischer Staat im Irak und der Levante" ("Al-Daula al-Islamija fil-Irak wal-Scham") erweisen, die einen sogenannten islamischen Gottesstaat in großen Teilen des Iraks und Syriens errichten wollten. Von den Westmächten am Beginn durchaus geduldet und hier und da heimlich unterstützt, fanden sie mit den Sponsoren aus Saudi-Arabien solvente Geldgeber, die es ihnen ermöglichten, schnell große militärische Erfolge zu erzielen. So nahmen sie Teile des Iraks und große Teile Syriens ein. Dabei massakrierten sie gnadenlos in den von ihnen besetzten Gebieten alle, die nicht ihrem mittelalterlichen Weltbild folgen wollten. Besonders betroffen waren die Gebiete Rojavas. Doch die Kurden wußten sich zu wehren und stellten eigene Truppen zusammen, die erfolgreich gegen die Islamisten kämpften.

Nun folgt wieder so eine typische imperialistische Volte. Die Westmächte verkündeten, im Zeichen von Frieden und Demokratie gegen den Daesch kämpfen zu wollen. Zum einen war ihnen die Truppe aus dem Ruder gelaufen, und zum anderen konnte man dabei die Verhältnisse im Nahen Osten neu regeln und insbesondere Assad, den syrischen Präsidenten, gleich mit entsorgen, der noch bis 2010 ein "guter" Verbündeter war. Als einheimische Verbündete suchte man sich unter anderem die kurdischen Selbstverteidigungskräfte Rojavas heraus. Die USA, die BRD, Frankreich und andere NATO-Staaten schickten Waffen und Berater zu den Kurden - vor allem in der Hoffnung, dort einen Verbündeten gegen Assad aufzubauen. Doch wie ein Buschbrand ist auch so ein Weltenbrand schwer zu kontrollieren, und es lief nicht alles nach Plan. Der Daesch wurde zwar militärisch geschlagen, aber Syrien ist nicht zusammengebrochen, auch weil es russische Unterstützung bekam.

Die Türkei stand nun vor dem Problem, daß unmittelbar an seiner Grenze ein recht fortschrittliches kurdisches Gebiet existierte, das über eigene funktionierende Strukturen verfügt und zudem auch militärisch ziemlich gut organisiert ist. Die Furcht, daß die Kurden aus Rojava den Kurden auf türkischem Gebiet ein gutes Beispiel sein könnten und sie auch politisch, organisatorisch und anderweitig unterstützen könnten, um ihre berechtigten Forderungen durchzusetzen, war groß. Gleichzeitig wollte Erdogan, in guter großosmanischer Manier, Einfluß gewinnen auf das Geschehen im Nahen Osten und sich als mächtiger Kriegsherr gerieren. Schließlich verfügt er in der NATO über die zweitgrößten konventionellen Streitkräfte. Zudem unterstützte er seit langem antisyrische Kräfte, die nun die Speerspitze im Kampf gegen die Kurden bilden.

Der Westen steht wieder einmal vor dem Scherbenhaufen seiner Politik. Welchen seiner potentiellen Verbündeten, die sich alle als kaum steuerbar erwiesen haben, sollte er opfern? Dank eines selbsternannten "brillanten Denkers und Strategen" aus Washington fiel die Entscheidung. Opfer ist nicht nur die kurdische Bevölkerung, die wieder Tod und Vertreibung erleiden müssen. Opfer sind auch die internationalen Beziehungen, Verträge, Gesetze, das Völkerrecht, welches immer mehr zu einem wertlosen Stück Papier verkommt, solange wie selbstherrliche Diktatoren wie Erdogan und "geniale Politiker" aus Washington mit ihren Verbündeten aus Berlin, Paris, Rom und London im Schlepptau die Welt nach ihrem Bilde zu formen versuchen. Und wir alle sind dank unserer demokratisch gewählten Regierungen dabei. Gute Nacht! Nun gibt es zum türkischen Krieg in Syrien noch zwei Epiloge:

1. Epilog. Rußland versucht bei der Lösung der Friedensfrage in Nordsyrien die Quadratur des Kreises. Es unterstützt Syriens Staatschef Assad und seine Armee bei der Bekämpfung des Daesch (IS), was zur fast völligen Befreiung Syriens von den "Islamischen Gotteskriegern" geführt hat. Rußland bemüht sich aber auch um gute Beziehungen zu seinem Nachbarn, der Türkei. Dabei geht man großzügig darüber hinweg, daß die Türken eine russische Su-24 abgeschossen haben, wobei ein Pilot zu Tode kam. Ja, man liefert sogar dem NATO-Staat Türkei sein Superluftabwehrsystem S-400 und stellt weitere Waffendeals in Aussicht. Gleichzeitig hielt man sich zurück gegenüber allen Aktivitäten der Türkei, die gemeinsam mit den USA, aber auch mit ihren zwielichtigen arabischen Verbündeten im syrischen Kurdengebiet veranstaltet wurden. Allerdings machte man auch schnell deutlich, daß die türkische Invasion nicht im Interesse Rußlands und seines Verbündeten Assad wäre. So trafen sich Putin und Erdogan in Sotschi und legten am 22. Oktober eine Vereinbarung zur Beendigung der Kämpfe vor, in welcher der Status quo festgeschrieben wird, daß die kurdischen militärischen Kräfte aus dem Raum, den die Türken besetzt haben, abziehen und daß die Grenze durch russisch-türkische Patrouillen gesichert werden solle. Später soll die Grenzsicherung an die regulären syrischen Streitkräfte und die mit ihnen verbündeten Russen übergeben werden. Dem haben die Kurden zugestimmt und ziehen ab. So kann Erdogan einen Sieg verkünden, die Assad-Armee erhält (formal) die Kontrolle über die Grenze zur Türkei, die arabischen Hilfstruppen der Türken werden (auch formal) unter Kontrolle gehalten, und Rußland hat die Quadratur des Kreises geschafft und seine Position als friedensstiftend gefestigt. Verlierer sind vor allem die Kurden Rojavas, die wohl auf die falschen Verbündeten vertraut hatten.

2. Epilog. Was auch immer Annegret Kramp-Karrenbauer, CDU-Vorsitzende und aktuell Herrin übers deutsche Militär, gerade gelesen, gedacht oder gehört hatte - vielleicht hat der Film "Mord im Orientexpreß" sie an das alte Bagdad-Bahn-Projekt, welches der deutsche Kaiser mit den "Großosmanen" verwirklichen wollte, erinnert ­... Jedenfalls orakelte sie fast gleichzeitig zum russisch-türkischen Vorschlag von einer international kontrollierten Sicherheitszone, in der nun, nach dem Rückzug der US-Amerikaner, die Europäer die Leitung übernehmen müßten, natürlich unter bewährter deutscher Führung. Auch wenn dieser absurde Vorschlag sofort von allen Seiten kritisiert wurde, von den eigenen Parteigranden, von den NATO-Verbündeten, vom eigenen Außenminister und erst recht vom französischen Präsidenten, der ja gerade erst mit seinen EU-Herrschaftsplänen gegen die Deutschen gescheitert war, sollte man diesen Vorschlag nicht unterbewerten. Sicher wußte "AKK", daß die Sache nicht machbar ist. Aber eine solche Idee, daß es ein europäisches militärisches Engagement in der Welt unter deutscher Führung geben könne, ist dann beim nächsten Mal nicht mehr so neu und ruft auch nicht mehr soviel Widerstand hervor. Für mich ist es ein weiterer kleiner Schritt zu einer europäisch-imperialen Militärmacht, zu deren Führung die Deutschen bereitstehen. Die EU-Armee, nicht mehr kontrolliert von nationalen Parlamenten, läßt grüßen. Da erscheint auch eine EU-Führung von Frau von der Leyen in einem anderen Licht.

Zum Thema "Die Militarisierung der EU. Der (un)aufhaltsame Weg Europas zur militärischen Großmacht" empfehle ich das gleichlautende Buch von Claudia Haydt und Jürgen Wagner, erschienen 2018 in der edition berolina (256 S., 14,99 €). Auch hier gilt: Wehret den Anfängen!

Uli Jeschke

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Sabra und Schatila - ein fast vergessenes israelisches Verbrechen

Als Folge des Überfalls Israels 1967 auf seine arabischen Nachbarn waren ca. 850.000 Palästinenser aus Israel und den besetzten Gebieten (Ost-Jerusalem, Gaza, Westjordanland) vertrieben worden, aufgenommen in riesigen Flüchtlingslagern im kleinen Nachbarland Libanon, politisch und militärisch vertreten durch die Freiheitskämpfer der PLO unter Yassir Arafat.

Ursprünglich war gemäß der Balfour-Deklaration eine Heimat für Juden und Araber in Palästina, die dort seit 2000 Jahren lebten, angedacht. Doch die Juden wollten von Anfang an ganz Palästina für sich allein. Dieser Anspruch geht zurück auf das Jahr 1897, als auf dem 1. Zionistischen Weltkongreß in Basel der Begründer des politischen Zionismus, der Schriftsteller Theodor Herzl einen Staat Israel einschließlich der Gebiete von Samaria und Galiläa (Westjordanland) vorgab. Die Teilung Palästinas auf Grund der Vorgaben der UNO (Peel-Kommission) brachte ebenfalls keinen Frieden.

Bis heute verhindert Israel friedenspolitische Schritte zur Lösung des Konflikts. Erinnern wir uns der Bilder der lachenden Soldateska, die vor kurzem die Häuser in Ostjerusalem gesprengt und die Bewohner deportiert hat. Oder denken wir an das Ghetto von Gaza, wo Israel bestimmt, wann es Strom und Lebensmittel gibt. Und wenn die geschundenen Menschen aufbegehren und ihre aus Pappe, Ammoniumnitrat und Klebestreifen gebastelten "Raketen" auf die Atommacht Israel schießen, dann trifft sie die Rache der geballten Militärmacht. Zurückgebombt in die Steinzeit leben die meisten zwischen Ratten, Ruinen, Blindgängern und Fäkalien. Ziel ist die Annexion der seit 70 Jahren besetzten Gebiete. Die Zwei-Staaten-Lösung ist ein blutiges Märchen, vom Westen in die Welt gesetzt, um sich den Fakten der praktizierten Vertreibung und der Annexion nicht stellen zu müssen.

Als Blaupause gilt die Vertreibung und der Völkermord an den amerikanischen indigenen Völkern. Treibende Kraft beim Landraub und Ermordung der Indianer waren die Siedler in den entstehenden USA. Das Sagen haben auch in Israel die Siedler, Rassisten wie gemalt!

Das Massaker von Sabra und Schatila ist nicht direkt von Israelis ausgeführt worden, doch es wurde von ihnen geplant, geduldet, beaufsichtigt und damit möglich gemacht.

Israel hatte 1978 die PLO im Südlibanon angegriffen, um die Palästinenser weiter Richtung Beirut zu vertreiben. Denn die PLO führte ihren Kampf zur Befreiung Palästinas von dort weiter. Die Operation "LITANI" diente Israel dazu, im Südlibanon eine "Sicherheitszone" zu etablieren, die sie von einer ihr bezahlten Miliz, der "Südlibanesischen Armee" bewachen ließ.

Der sich 1982 anschließende, durch Israel angezettelte Krieg sollte die PLO ein für alle Mal vernichten. Allein in Beirut, das Tag und Nacht von israelischen Kampffliegern bombardiert wurde, waren 11.000 tote Zivilisten zu beklagen. Der Bombenterror war so verheerend, daß sich sieben Piloten der israelischen Luftwaffe weigerten, weiter Bomben und Napalm auf Frauen und Kinder zu werfen.

Am Abend des 15. September 1982 umstellte die israelische Armee die beiden Flüchtlingslager Sabra und Schatila, in denen sich ca. 80.000 Frauen, Kinder und alte Menschen aus Palästina zusammendrängten, in der Hoffnung, dort vor der israelischen Bande von Mordbrennern sicher zu sein.

Einen Tag vorher, am 14. September 1982, war der Führer der christlichen Forces Libanaises und neue Präsident des Libanon, Baschir Gemayel, und viele seiner Leibwächter, durch eine Bombe ermordet worden. Was für eine günstige Gelegenheit, an den Flüchtlingen ein Exempel zu statuieren!

Auf Befehl von Kriegsminister Sharon und Generalstabschef Rafael Eitan wurden die beiden Lager von Panzern umstellt und alle Ausgänge gesperrt. Es durfte niemand raus oder rein. Unter dem Vorwand, Waffen und Kämpfer der PLO, die man ohne Beweise für den Mord verantwortlich machte, in den Lagern zu suchen, schickte die israelische Armee den Phalangisten-Führer Elie Hobeika mit 150 von Israel mit Munition und Waffen versorgten Milizionären in die Lager. Unter den Augen der israelischen Armee, die von umliegenden Gebäuden zuschaute, begann eine Orgie der Gewalt, der 3300 Frauen, Kinder und alte Menschen zum Opfer fielen. Folterungen und Vergewaltigungen ließen die Henkersknechte der Israelis ebenso kalt wie das Leid der Kinder.

In der Nacht erhellten die Israelis mit Leuchtkugeln das Schlachtfest, damit die Mörderbande ein gutes Schußfeld hatte und sich niemand verstecken konnte. Am 18. September drangen gegen den Befehl der israelischen Armee Sanitäter derselben Armee ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben in die Lager ein, um den Säuglingen und Kleinkindern der ermordeten Frauen zu helfen. Erst da wurde das beispiellose Morden beendet.

Der amerikanische Auslandskorrespondent von "Newsweek", James Princle, dem es gelungen war, heimlich in die Lager einzudringen, konnte berichten, daß mit von den Israelis zur Verfügung gestellten Bulldozern die Toten in hastig ausgehobene Massengräber geschoben wurden, damit man die genaue Zahl und Zusammensetzung der Altersgruppen vertuschen konnte, offiziell natürlich, um Seuchen vorzubeugen. Vergessen wir nicht: Netanjahu hatte nach diesem Vernichtungsfeldzug keine Skrupel, seine Soldaten als "die Armee mit der höchsten Moral" auf der Welt zu bezeichnen.

Das Massaker von Sabra und Schatila wurde am 16. Dezember 1982 als Genozid gewertet. Und heute beginnt die menschenverachtende israelische Regierung, das letzte Kapitel der Vertreibung auszuführen, die Annexion des Jordantales als Wahlgeschenk an die Rechte und die Siedler.

Doch Unrecht wird immer nur Unrecht nach sich ziehen. Und Frieden braucht einen Willen. Das ist die Mahnung der Ermordeten von Sabra und Schatila.

Joachim Augustin

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Über J. Todenhöfers Buch "Die große Heuchelei"

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Nachlese zu den Landtagswahlen in Brandenburg

Nun sind die Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen schon ein paar Wochen vorbei, die neuen Landesregierungen haben sich konstituiert, das Erschrecken über die AfD-Ergebnisse hat sich gelegt - ist nun wieder alles normal?

Zuerst sollte man sich noch einmal die konkreten Ergebnisse ins Gedächtnis rufen. Die SPD verlor zwar kräftig (-5,7 Prozent) wurde jedoch mit 26,2 Prozent der Zweitstimmen stärkste Partei. Dahinter kamen die AfD mit 23,5 Prozent (+11,3), die CDU mit 15,6 Prozent (-7,4), die Grünen mit 10,8 Prozent (+4,6), Die Linke mit 10,7 Prozent (-7,9) sowie die sogenannten Freien Wähler mit 5,0 Prozent (+2,3) auf die Plätze. Noch deutlicher wird die Tendenz, wenn wir uns die Erststimmenergebnisse anschauen. Von den 44 Wahlkreisen gingen jeweils einer an die Grünen und die Freien Wähler, und in zwei Wahlkreisen gewann die CDU-Kandidaten. In 24 Wahlkreisen gewann der SPD-Kandidat und in 16 ein AfD-Bewerber. Vergleichen wir das mit den Kommunalwahlen vom Mai 2019, stellen wir fest, daß die SPD und die CDU, aber auch die AfD, schwächer waren, während sich hier noch 14,5 Prozent für die Kandidaten der Linken entschieden haben. Natürlich sind Kommunalwahlen und Landtagswahlen nur bedingt zu vergleichen, weil bei ersteren die Kandidaten als Personen eine noch größere Rolle spielen und eine Menge Wählergemeinschaften dazukommen, die politisch eher bürgerlich oder rechts zu verorten sind. Trotzdem kann man wohl feststellen, daß es in Brandenburg zu einer Zuspitzung zwischen dem sozialdemokratischen / Linken-Wählervotum und den bürgerlich-rechten Wählern gekommen ist. Daß dabei bei Letzterem eindeutig die AfD die Nase vorn hatte, beweisen auch die Erststimmen, und daß die Gewinner im linken Lager eindeutig die "originalen" Sozialdemokraten waren, sollte vor allem der Linken zu denken geben.

Wenn man mal über die reinen Zahlen zu den Wahlen hinausgeht, wird deutlich, daß trotz großen Geraunes über die Wahlerfolge der AfD in der bürgerlichen Presse nun zur Tagesordnung übergegangen wird. Und dieser Übergang zum "Normalen" verweist auf eine gefährliche Entwicklung nach den Wahlen. Die AfD-Kandidaten erhalten zwar im Landtag hier und da Widerstand, wenn sie allzu offen rassistische, nationalistische und präfaschistische Positionen vertreten. Doch insgesamt verflacht die Auseinandersetzung und wird von außen auch nicht wahrgenommen.

Noch schwieriger ist das in den Kommunalparlamenten. Anders als bei früheren Vertretern rechtsextremer Parteien werden die AfD-Politiker relativ geräuschlos in den Politikbetrieb einbezogen. So finden Auseinandersetzungen nur noch zu "Sachfragen" statt, und in Eberswalde bekommt der AfD-Vertreter sogar den Vorsitz im Ausschuß "Stadtentwicklung, Wohnen, Umwelt", ein nicht unwichtiger Ausschuß, was die soziale Entwicklung angeht. Noch schwieriger ist das in den kleineren Kommunen. Hier firmieren die Rechtsaußen oft in Wählervereinigungen, und man weiß bei der Wahl nicht, was und wen man bekommt.

Die Strategie der Neonazis in den Dörfern und Gemeinden ist es, sich freundlich anzubiedern, mitzumachen in Vereinen, nett und adrett zu sein, "deutsche Tugenden" vorzuleben und schleichend zu unterwandern. Sportvereine sind dabei besonders beliebt. Hinzu kommen in dörflichen Gegenden "Traditionsvereine" oder "Kulturvereine", die einen besonderen Wert auf "nationale Kultur" und "nationale Traditionen" legen und dann erst peu à peu mit ihrem nationalistischen, rassistischen und menschenverachtenden Gedankengut rüberkommen. Alte Feindbilder wirken dabei immer noch, wie das faschistische Attentat am 9. Oktober auf eine Hallenser Synagoge beweist, und die neuen dazu, denn der Täter wandte sich als nächstes gegen einen türkischen Imbiß. Der Haß gegen alles Fremde speist sich auch aus einem Gefühl der scheinbaren Überlegenheit, des Besserseins aufgrund von Kultur und Rasse. Was für eine dumpfe Weltsicht offenbart sich dort! Aber der Gedanke der Überlegenheit über Fremde, die hier nicht hingehören, uns alles wegnehmen, was nur uns zusteht, und die bleiben sollen, wo sie sind, bzw. vor denen man Deutschland schützen muß - sind das wirklich nur Minderheitsgedanken?

Der Kampf gegen die neuen Faschisten darf sich nicht nur auf Wahlkampfzeiten erstrecken, sondern muß immer und überall geführt werden. Und das Totschlagsargument, daß man doch den Wählerwillen der AfD-Wähler respektieren müsse, ist spätestens seit 1932 perdu, da kamen die 13,7 Millionen Stimmen für die NSDAP auch nicht nur von Nazis - aber die, welche sie gewählt haben, waren auch die, welche dem 1933 erfolgten faschistischen Putsch einen anscheinend demokratischen Rahmen gegeben hatten.

"Wehret den Anfängen!" ist eine politische Tageslosung von großer Aktualität! Organisiert Euch, kämpft gegen Dummheit und Haß! Nur dumpfes Grollen zu Hause und die Faust in der Tasche ballen wird nicht ausreichen, uns vor Schlimmerem zu bewahren.

Uli Jeschke
Chorin

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Thüringer Wahlabend

Rot-Rot-Grün sei abgewählt, verkündete am 27. Oktober der CDU-Frontmann Mohring unter dem Jubel seiner Zuhörer. Wäre er als desaströser Wahlverlierer halbwegs ehrlich gewesen, hätte er sagen müssen, daß die bisherige Regierung "dank" der AfD nicht mehr die absolute Mehrheit erreicht hat. Dazu war er nicht in der Lage, genausowenig wie sein "Sitznachbar", der FDP-Chef Lindner. Statt dessen bejammerten sie das Wegbrechen der bürgerlichen Mitte. Die Einsicht, daß deren politische Akteure selbst einen erheblichen Beitrag dazu geliefert und den eigenen rechten Rand so lange und reichhaltig gefüttert haben, bis dieser flügge geworden ist, verschließt sich ihrer klassenbornierten Grundhaltung. Auf die Frage eines Journalisten, ob denn nicht Die Linke in eben dieser Mitte angekommen sei, verweigerte man einfach die Antwort. Statt dessen suchte man im verbalen Stechschritt Zuflucht bei der "untoten" DDR, um dem nun unweigerlich auf FDP und CDU zukommenden Druck, sich doch gegenüber der Linken gesprächsund kompromißbereit zu zeigen, standzuhalten. Das Wort "Unrechtsstaat" wurde sowohl am Wahlabend als auch am Tag danach in Statements, Interviews und Kommentaren mehrfach als Waffe eingesetzt. Es drängte sich das Gefühl auf, als "gäbe es nichts Wichtigeres, als eine neue Unrechtsstaats-Debatte" einzuleiten und die Linke als "größtes Problem im Land" anzuprangern - und "nicht den erstarkenden Rechtsextremismus", empörte sich Sabine Rennefanz am 29. Oktober in der "Berliner Zeitung". Und als könne man sich auf diese Weise den Leibhaftigen (Die Linke) vom Leibe halten. Das allein beweist mehr als manche wortreiche Analyse die Nähe des konservativen Blocks zur AfD. Genau deshalb halten wir es für angebracht, den Begriff des Unrechtsstaats noch einmal unter die Lupe zu nehmen, weil er in den nun folgenden Wochen hoch- und runterdekliniert werden wird.

"Unrechtsstaat" - Kampfbegriff und Diffamierungsformel

Unter dieser Überschrift hat der Jenaer Historiker Ludwig Elm schon vor einigen Jahren einen Beitrag geschrieben, in dem er den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestags sowie den ehemaligen Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde zu Wort kommen läßt: Am Maßstab einer wissenschaftlich fundierten und verantwortungsbewußten Erörterung sind, so Elm, die von parteipolitischem Eigennutz geleiteten Anhänger vom "Unrechtsstaat" DDR längst bloßgestellt. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestags hatte sich im April 2008 auf Anfrage von MdB Gesine Lötzsch (Die Linke) klar positioniert: "Eine wissenschaftlich haltbare Definition des Begriffs 'Unrechtsstaat' gibt es weder in der Rechtswissenschaft noch in den Sozial- und Geisteswissenschaften." Zumeist gehe es darum, den als Unrechtsstaat Gebrandmarkten vom Rechtsstaat abzugrenzen und "moralisch zu diskreditieren". Obendrein: Die "Wortverbindung 'Rechtsstaat'" gäbe es nur im deutschen Sprachraum. Eine "allgemeingültige Definition des Begriffs des Rechtsstaats" sei noch nicht verfügbar. Soweit der wissenschaftliche Dienst ... "Die allzu pauschale Verurteilung der DDR als Unrechtsstaat" so der ehemalige Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde (SPD), trage dazu bei, daß "die Gräben zwischen Ost und West" noch immer nicht geschlossen sind. "Sie will umfassend delegitimieren und desavouieren. Sie läßt der Normalität, die es vielfach gab, keinen Eigenstand. Sie ist eine Verzerrung der Wirklichkeit in politischer Absicht." Der "ideologische Schlagabtausch des kalten Krieges" werde damit fortgeführt: "Die globale Kennzeichnung der DDR als Unrechtsstaat ist nicht nur falsch, sie kränkt auch die Bürger und Bürgerinnen der ehemaligen DDR."

Die willkürliche Anwendung von "Unrechtsstaat" verdeutlicht, so Elm, seinen Charakter als Kampfbegriff, welcher der Gleichsetzung mit dem Nazifaschismus und der Rechtfertigung von Abwehrmaßnahmen dient.

Es ist unsere Aufgabe, im Umgang mit Gesellschaft und Geschichte der DDR das dumpf antikommunistische Meinungsklima zu durchbrechen, das weiterhin Verzerrungen oder Fälschungen hervorbringt und verbreitet. Es muß der Linken gelingen, eine Aufarbeitung der DDR-Geschichte offensiv, also von links, durchzusetzen, d. h. aus den Quellen an Erkenntnissen für alternative Gesellschaftsmodelle zu schöpfen, die den Weg für eine sozialistische Orientierung öffnen.

Hans Schoenefeldt

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21. Treffen der Kommunistischen und Arbeiterparteien
Für Frieden und Sozialismus

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Wir nehmen nur die mit, die wir mitnehmen wollen

Mitnehmen - das Zauberwort aller hiesigen politischen Akteure in Regierungsverantwortung. Es ist eine Art Leitmotiv in Interviews, Talkshows oder Regierungserklärungen. "Wir dürfen unsere Bürgerinnen und Bürger nicht überfordern. Wir stehen in der Verantwortung für den Erhalt der sozialen Balance bzw. des sozialen Friedens ..." Das Wort Mitnehmen steht an zentraler Stelle all jener, die das jüngst beschlossene Klimapaket rechtfertigen. Das von der GroKo beschlossene Klimapaket wird mit dem Argument geadelt, daß die Politik "bei einem derart tiefgreifenden Wandel alle Bürger mitnehmen" müsse (Bundeskanzlerin Merkel in New York). Ihr Pudel Peter Altmeier folgt ihr und verspricht als Hobbykoch, seine Gäste weniger mit Rindfleisch, statt dessen mit Hühner/Hähnchenfleisch zu bedienen.

Szenenwechsel:

Der Jurist und Völkerrechtler Professor Norman Paech hat in einem Beitrag erzählt, wie Artikel 87a, Abs. 2 des Grundgesetzes geschreddert wurde. Nach diesem Artikel dürften Streitkräfte nur im Verteidigungs- und Spannungsfall sowie bei Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen eingesetzt werden. Bis 1990 wurde ein Kampfeinsatz im Ausland von jeder Bundesregierung abgelehnt. Dann kam aber mit Hilfe des von der Bundesregierung unter Druck gesetzten Bundesverfassungsgerichts der Stein ins Rollen Es fand eine Formulierung, derzufolge die Tür für Kampfeinsätze "out of area" ohne Verfassungsänderung gestattet wurde. Um der Gewaltenteilung ein demokratisches Mäntelchen umzuhängen, wurde der im Grundgesetz nicht erwähnte Begriff des "Parlamentsvorbehalts" generiert. Norman Paech schreibt dazu: "Fünf Jahre später ging auch dieser Satz im Bombardement der NATO über Jugoslawien unter. Weder hatte Jugoslawien einen Staat angegriffen, noch hatte der UN-Sicherheitsrat ein Mandat zu den Angriffen der NATO erteilt." Zuvor wurde der nach der von Rot-Grün gewonnenen Bundestagswahl nach dem Posten des Außenministers lechzende Joschka Fischer nach Washington zitiert, wo er mit "klarer Kante" konfrontiert wurde. Er könne sich seine angestrebte Karriere abschminken, wenn er den geplanten Überfall auf Jugoslawien nicht mitzutragen bereit sei. So entstand seine Auschwitz-Phrase. Den Farbbeutel, der ihn auf einem Parteitag seiner Partei erwischt hat, wird er vermutlich als Trophäe ins NATO-Hauptquartier getragen haben.

Wurde damals die Frage gestellt, ob man es der Bevölkerung zumuten könne, sich an diesem Staatsverbrechen zu beteiligen, ob sie bereit sei zu glauben, daß Deutschland überall dort verteidigt würde, wohin die Bundeswehr geschickt wird, und willens sei, sich dorthin mitnehmen zu lassen?

Mehr Macht - mehr Verantwortung

Das ist das neue Leitmotiv einer Regierung, die, ohne Rücksicht auf die Stimmungen der Menschen, denen sie zu dienen vorgibt, ihren Weg zu neuen Kriegseinsätzen finden will. Entsprechend wird die Rhetorik neu justiert, um höhere Rüstungsausgaben und eine stärkere Beteiligung an Auslandseinsätzen zu rechtfertigen. Diese beiden Herausforderungen werden nur von den Waffenschmieden angenommen und jenen, welche die Ansicht des Ex-Pfarrers und Ex-Bundespräsidenten Joachim Gauck teilen, daß es süß und ehrenvoll sei, fürs Vaterland zu sterben ("Dulce et decorum est pro patria mori", schrieb einst der römische Dichter Horaz). Die Bürger haben nämlich in ihrer übergroßen Mehrheit zu diesen Haltungen eine ganz andere Einstellung. Deshalb kommt das Personalpronomen ich zum Einsatz. Vor einigen Wochen ließ sich die neue Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer in New Yorck für ihre Worte feiern: "Ich hab' noch einmal sehr deutlich gemacht, daß es mein politisches Ziel ist", die Erhöhung der Rüstungsausgaben mit Blick auf das Zweiprozentziel zu richten, um die Fähigkeit und die Bereitschaft zu erwerben, "in Missionen mitzugehen". Mitgehen? Allein?

Als Alternative zum Personalpronomen wird auch gern das Wort "Deutschland" eingesetzt, ganz aktuell, wenn es um die Beteiligung an einer Mission in der Straße von Hormus geht: "Ich habe sehr deutlich gemacht, daß Deutschland bereit ist, sich zu engagieren." Hat die Dame gefragt, wie die Stimmung in der Bevölkerung zur zunehmend aggressiven Außenpolitik der Bundesregierung ist? Sie hat gute Gründe, sich diese Frage zu verkneifen. Die einzigen, die sie und ihre momentan noch vorgesetzte Kanzlerin mitnehmen können, sind die profitorientierten Konzerne. Die tun das sogar freiwillig.

Im Kinderbuch des Norwegers Thorbjörn Egner "Die Räuber von Kardemomme" singen die drei Räuber nach jedem gelungenen Raubzug für den Erhalt ihrer Grundsicherung:

Wir nehmen nur mit,
was man mitnehmen kann,
wir sind Kasper, Jesper und Jonathan.

Die heutigen politischen Akteure in Regierungsverantwortung haben einen neuen Vers gefunden:

Wir nehmen nur mit,
und das tun wir auch gerne,
die Waffenschmieden
und die Autokonzerne.

Die ganze regierungsoffizielle Argumentation ist so verlogen und morsch wie das komplette politische System.

H. Sch.

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Kapitalismus zerstört und tötet

Selbst der Papst kommt um die Feststellung nicht herum: "Kapitalismus braucht Krieg." Und die Bundesregierung handelt in diesem Sinne. Die "Verteidigungs"ausgaben sollen 2020 auf über 47 Mrd. Euro erhöht werden - ein Geschäft, das für die Rüstungskonzerne sprudelnde Gewinne verspricht. Der Rüstungsgigant Rheinmetall beispielsweise steigerte seinen Umsatz im ersten Halbjahr 2019 auf 2,8 Mrd. Euro und den Nettogewinn um rund 20 % auf 110 Mio. Euro. Die Börse bedankte sich für diese Zahlen mit einem Anstieg der Aktie des Konzerns um über 6,7 %. So wird mit der Produktion von Waffen und deren Export in alle Welt zum Zwecke der Kriegsführung Profit gemacht.

Selbst in Deutschland gültige gesetzliche Regelungen über ein Verbot von Waffenlieferungen in Krisengebiete werden durch Unternehmen mit der Schaffung von Tochterfirmen in anderen Ländern umgangen. Eines der jüngsten Beispiele dafür, wie Kapitalismus zerstört und tötet, ist die Offensive türkischer Truppen gegen die Kurden in Nordsyrien. Auch hier dient die Phrase vom "Kampf gegen den Terror" wieder als Vorwand. Mit dem Einmarsch soll offensichtlich das seit langem bestehende Ziel der Abspaltung Nordsyriens erreicht werden. Die türkisch-deutsche "Waffenbrüderschaft" begann bereits mit dem 1. Weltkrieg und setzt sich bis heute fort. Seit Jahren beliefert Deutschland die Türkei mit Rüstungsgütern, allein in den ersten 4 Monaten für über 184 Mio. Euro. Im Jahr 2005 kaufte die Türkei 354 deutsche Kampfpanzer vom Typ Leopard 2, der zu den modernsten der Welt zählt. Und keiner soll glauben, daß diese Waffen nicht zum Einsatz kämen. Sie wurden auch an die Kurden im Irak geliefert und werden von ihnen, wie diverse Veröffentlichungen vermuten lassen, in Nordsyrien eingesetzt. Deutsche Waffen bringen den Tod - für beide Seiten. Kriegsgerät wird an jeden geliefert, der zahlen kann. Damit bleiben deutsche Waffenfirmen deutschen militaristischen Traditionen treu. Erinnert sei hier nur an den Rüstungskonzern Krupp, der schon vor dem 1. Weltkrieg Waffen in alle Welt verkaufte, die dann gegen die eigene kaiserliche Armee gerichtet wurden. Überliefert ist die Tatsache, daß bei der Seeschlacht am Skagerrak deutsche und britische Schiffe Granaten mit Krupp-Zündern einsetzten - im Namen Gottes und des Profits.

Nachfragenswert ist auch, in welchem Umfang Hochschulen und andere Bildungseinrichtungen für den Krieg forschen. Das wird von der Bundesregierung - selbst nach Anfrage - verschwiegen. Gesetzliche Regelungen, die derartige Forschungen untersagen, sind kein Hindernis, munter weiterzumachen. Auch die USA förderten die militärische Forschung an deutschen Hochschulen mit Millionen von Dollar. Hochrüstung und die Einkreisung Rußlands und Chinas stehen ganz oben auf der Agenda deutschen Vormachtstrebens, wie damals, als der deutsche Kaiser den Satz vom "Platz an der Sonne" prägte. Durch die NATO wird im kommenden Jahr das Manöver "Defender 2020" - das größte seiner Art seit 25 Jahren - mit Stoßrichtung gegen Rußland vorbereitet. Aufmarschgebiet wird Deutschland sein. Rußland wird reagieren: Die Eskalation ist schon jetzt vorprogrammiert. Die Kosten für das Manöver belaufen sich voraussichtlich auf über 340 Mio. Dollar, Umweltschäden, allein durch den CO2-Ausstoß, nicht inbegriffen. All das dient der Vorbereitung auf einen modernen Krieg mit neuesten Massenvernichtungswaffen. Die zerstörerischen Ausgaben fressen die natürlichen und gesellschaftlichen Ressourcen der Länder auf, die nicht nur im Kampf gegen die Erderwärmung, sondern auch bei der Bekämpfung von Armut, Kriminalität und Rauschgiftkonsum erforderlich wären.

Das politische Kalkül der Herrschenden setzt darauf, den geistigen Dämmerzustand deutscher Bürger aufrechtzuerhalten, damit Protest und Widerstand gegen Hoch- und Kriegsrüstung kleingehalten werden. Doch es gilt zu begreifen: Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Rettung unseres Planeten. Es geht um den Kampf zur Rettung des Menschengeschlechts und der Menschlichkeit.

Dietmar Hänel
Flöha

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Warum der Kapitalismus sich nicht reformieren läßt

Mit ihrem "globalen Klimastreik" vom 20. September erreichte die "Fridays for Future"-Kampagne gegen den CO2-Ausstoß bzw. die Erderwärmung einen vorläufigen Höhepunkt. Erstmals kritisierte Greta Thunberg das "Märchen vom ewigen Wachstum" vor der UN-Versammlung. Während der öffentliche Druck wächst, bieten Politiker und Konzerne ein Bild der Konfusion, bemüht um Trittbrettfahrerei, Scheinlösungen und Umarmungstaktik. Dabei geriet in linken Medien die ursprünglich fordistische Ideologie des "sanften, regulierbaren, sozial-marktwirtschaftlichen Kapitalismus" in den Fokus.

Während Jean Ziegler in seinem neuesten Buch den Kapitalismus als "nicht reformierbar" bezeichnet, geistert diese gefährliche Verharmlosungstheorie noch immer in den Köpfen vieler Linker, auch beim Führungspersonal der PDL, als Patentlösung herum.

Inbegriffe Erhardscher "sozialer Marktwirtschaft" wurden das "Häuschen im Grünen" und das Privatauto, von dem es (2016) schon 45 Millionen in der BRD gab: Öffentliche Verkehrsmittel wurden eingestellt oder reduziert, Nahversorgungsgeschäfte geschlossen, Großmärkte entstanden (gemäß den Konzentrationstendenzen marktwirtschaftlicher Konkurrenz) an Knotenpunkten autogerechter Siedlungen. Ballungsräume und vergreisende abgeschnittene ländliche Gebiete waren die Folgen. Lohnabhängige wurden autoabhängige fleißige Sparer, Kreditnehmer, Versicherungs- und Werkstattkunden. Der Ölmarkt boomte mit dem "Blut der kapitalistischen Wirtschaft". So hatte Henri Ford 1908 mit seiner Geschäftsidee der "Tin Lizzy"-Autos vom Fließband den "American Dream" unter doppelter Ausbeutung der leicht erhöhten Kaufkraft der Produktionsarbeiter selbst geschaffen. Die deutschen Faschisten hatten diese Idee - weil sie für die "Volksgemeinschafts"-Ideologie nützlich schien - 1937 mit dem "Volkswagen" aus Wolfsburg aufgegriffen. Für die Containment-Politik der USA nach 1947 wurde dieses Konsum-Modell zum wichtigsten Integrationsfaktor in Westeuropa und ein scharfes propagandistisches Schwert gegen die ÖPNV-Orientierung der sozialistischen Länder. Als Konjunkturmotor, auch für den Export, förderte die BRD mit ihrer Verkehrspolitik ein rapides Wachstum des Autoverkehrs mit allen seinen Folgen.

Durch technologisch-wissenschaftliche Neuerungen treibt der Kapitalismus einen Fortschritt voran, der ihn zunehmend überfordert und infrage stellt. Quelle der sich katastrophal verschärfenden, immer häufiger kaum noch kontrollierbaren Widersprüche, Klassenkämpfe, weltweiter imperialistischer Konflikte und Umweltzerstörung ist die Umsetzung dieses Umbruchs durch die zwangsläufige brutale Verwertung innovativer Produktivkräfte nach den anachronistischen Wirtschaftsprinzipien des Kapitalismus. Der Grundwiderspruch der privaten Aneignung der Produktivkräfte und Ressourcen, des Mehrwerts, zur gesellschaftlichen Produktion der Werte ist als die Ursache der brisanten ökologischen Probleme deutlich erkennbar, manifestiert sich sogar in allen Spielarten einer "öko-kapitalistischen" Umweltpolitik.

Obwohl die cyber-technologischen und weitere Innovationen ein Potential neuer Möglichkeiten bieten - international solidarisch abgestimmt, vernetzt und planvoll -, die bedrohlichen Menschheitsprobleme zu lösen, setzt sich der ruinöse Umgang mit den lohnabhängigen Menschen und unser aller Lebensgrundlagen fort.

Karl Marx weist darauf hin, daß "... die sämtlichen Wissenschaften in den Dienst des Kapitals gefangengenommen sind ... Die Erfindung wird dann ein Geschäft und die Anwendung der Wissenschaft auf die unmittelbare Produktion selbst ein für sie bestimmender und sie sollizitierender [antreibender] Gesichtspunkt." (Grundrisse der politischen Ökonomie; MEW 23/600). Der Wissenschaftler verwandelt sich zu einem seinem eigenen Produkt entfremdeten "Humankapital". Sogar Erkenntnisse von Universitäten unterliegen diesem Verwertungszusammenhang: Produziert und angewendet wird nur noch, was Profit bringt oder Konkurrenten aussticht: keine Antibiotika-Forschung, keine Umwelttechnik, die nicht gleich was abwirft, aber nicht marktreifer gefährlicher Technologie-Schrott, giftige Pharmazeutika, Abgas-Mogel-Elektronik, umsatz- und wachstumsförderliche Wegwerfprodukte, z. B. von kurz bemessener kalkulierter Haltbarkeit und mit hohem Plastik-Anteil, ständiger Modellwechsel und mit werbe-psychologischer Finesse inszenierte Mode-Konsumkampagnen, Waffentechnologie, immer neue Warenfetische, frei von Gebrauchswert, zur marktgerechten fremdbestimmt-uniformen "individuellen Lifestyle-Selbstoptimierung" der entfremdeten Konsumenten, unsinnige umweltschädliche globale Warentransporte und vernichtende Kriege zur Ausbeutung von Billiglohnländern, ihrer Bodenschätze und Landwirtschaft. Die Profite werden privatisiert, die Schadens-Lasten und jede Präventionsforschung sozialisiert - durch Steuergeld-Subventionen und Verbraucherpreise.

Eine "Umgewöhnung" jahrzehntelang mit allen Mitteln auf ständig steigenden Energieund Güterkonsum getrimmter Menschen, von denen viele ihr Selbstwertgefühl nach Kaufkraft definieren, andere auf gerade noch erschwingliche Grundversorgung angewiesen sind, schafft gefährliche Unruhe. Zumal sich Teile der Jugend von diesem Modell abgewandt zu haben scheinen.

Das sind einige Gründe mehr, der Pflege illusionärer "sozial-marktwirtschaftlicher" Vorstellungen unter Linken eine Absage zu erteilen, weil solche Ideen verhindern, daß grundlegende Erkenntnisse über die Ursachen der System- und Umweltkrise errungen werden.

Jobst Heinrich Müller

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Karl Marx und die Philosophie

Die früheste Quelle, die man zur vorliegenden Thematik prüfen kann, ist Karl Marx' Abituraufsatz im Fach Deutsch "Betrachtung eines Jünglings bei der Wahl eines Berufes", Trier 1835. Darin vertrat er folgende deistische Position: "Dem Tiere hat die Natur selber den Wirkungskreis bestimmt, in welchem es sich bewegen soll, und ruhig vollendet es denselben, ohne über ihn hinauszustreben, ohne auch nur einen anderen zu ahnen. Auch dem Menschen gab die Gottheit ein allgemeines Ziel, die Menschheit und sich zu veredlen, aber sie überließ es ihm selber, die Mittel aufzusuchen, durch welche er es erringen kann; sie überließ es ihm, den Standpunkt in der Gesellschaft zu wählen, der ihm am angemessensten ist, von welchem aus er sich und die Gesellschaft am besten erheben kann. [...]

Aber wir können nicht immer den Stand ergreifen, zu dem wir uns berufen glauben; unsere Verhältnisse in der Gesellschaft haben einigermaßen schon begonnen, ehe wir sie zu bestimmen imstande sind. [...]

Die Geschichte nennt diejenigen als die größten Männer, die, indem sie für das Allgemeine wirkten, sich selbst veredelten [...].

Wenn wir den Stand gewählt, in dem wir am meisten für die Menschheit wirken können, dann können uns Lasten nicht niederbeugen, weil sie nur Opfer für alle sind, dann genießen wir keine arme, eingeschränkte, egoistische Freude, sondern unser Glück gehört Millionen, unsere Taten leben still, aber ewig wirkend fort, und unsere Asche wird benetzt von der glühenden Träne edler Menschen."(1)

Im Brief an seinen Vater, der in Trier Rechtsanwalt war, schrieb der Student der Rechtswissenschaft Marx am 10. November 1837 aus Berlin: "Der Begriff ist ja das Vermittelnde zwischen Form und Inhalt. In einer philosophischen Entwicklung des Rechts muß also eins in dem andern hervorspringen; ja die Form darf nur der Fortgang des Inhaltes sein. [...] Am Schlusse des materiellen Privatrechtes sah ich die Falschheit des Ganzen, das im Grundschema an das Kantische grenzt [siehe die von Immanuel Kant in der Schrift "Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre" vorgenommene Klassifizierung der Verträge], in der Ausführung gänzlich davon abweicht, und wiederum war es mir klar geworden, ohne Philosophie sei nicht durchzudringen. So durfte ich mit gutem Gewissen mich abermals in ihre Arme werfen [...]"(2)

Marx schrieb im März 1841 in der Vorrede zu seiner Doktordissertation: "Die Philosophie, solange noch ein Blutstropfen in ihrem weltbezwingenden, absolut freien Herzen pulsiert, wird stets den Gegnern mit Epikur zurufen: 'Gottlos aber ist nicht der, welcher mit den Göttern der Menge aufräumt, sondern der, welcher die Vorstellungen der Menge den Göttern andichtet.'

Die Philosophie verheimlicht es nicht. Das Bekenntnis des Prometheus: 'Mit einem Wort, ganz haß' ich all und jeden Gott' ist ihr eigenes Bekenntnis, ihr eigener Spruch gegen alle himmlischen und irdischen Götter, die das menschliche Selbstbewußtsein nicht als die oberste Gottheit anerkennen. [...] Prometheus ist der vornehmste Heilige und Märtyrer im philosophischen Kalender."(3)

Nach der griechischen Sage stahl Prometheus dem Göttervater Zeus aus dem Olymp Feuer - das Mittel der Erleuchtung, ohne das man in der Dunkelheit nichts erkennen kann - und brachte es den Menschen. Dafür bestrafte Zeus den Prometheus damit, daß er ihn an einen Felsen im Kaukasus schmieden ließ und die Raben ihm immer wieder seine nachwachsende Leber aushackten. Das heißt, nach der Sage war es das größte Verbrechen, daß nicht nur die Götter am Olymp, sondern auch die Menschen über Feuer, d. h. Erleuchtung, Aufhellung, Aufklärung, Erkenntnis bzw. Einsicht verfügten! Erkenntnis, gewonnen aus Erfahrung, wird somit - im Unterschied zu anderen Lebewesen - eine spezifische Eigenschaft der Menschen.

Goethe - er starb, als Marx 14 Jahre jung war - hatte die Aufklärung der Menschen, d. h. das Erarbeiten und Vermitteln von Kenntnissen, als wesentlich für die Entwicklung des Menschengeschlechtes angesehen. Er schrieb in seinem Gedicht "Prometheus":

Bedecke deinen Himmel, Zeus, mit Wolkendunst!
Und übe dem Knaben gleich, der Disteln köpft,
an Eichen dich und Bergeshöh'n!
Mußt mir meine Erde doch lassen stehn.
Und meine Hütte, die du nicht gebaut,
und meinen Herd, um dessen Glut du mich beneidest.
Ich kenne nichts Ärmeres unter der Sonne als euch Götter.
Ihr nähret kümmerlich von Opfersteuern und Gebetshauch
eure Majestät und darbtet, wären nicht Kinder und Bettler hoffnungsvolle Thoren. [...]

(Hervorhebungen: E. K.)

Marx hat diesen zuletzt angesprochenen Gedanken Ende 1843 für die mit Arnold Ruge vorbereitete neue Zeitschrift "Deutsch-Französische Jahrbücher" aufgegriffen und folgendermaßen in seinem Einleitungsartikel "Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" so weiterentwickelt: "Der Mensch, der in der phantastischen Wirklichkeit des Himmels, wo er einen Übermenschen suchte, nur den Widerschein seiner selbst gefunden hat, wird nicht mehr geneigt sein, nur den Schein seiner selbst, nur den Unmenschen zu finden, wo er seine wahre Wirklichkeit sucht und suchen muß.

Das Fundament der irreligiösen [also der atheistischen, von der irdischen Realität ausgehenden, 1841 zu Leipzig in Ludwig Feuerbachs Werk "Das Wesen des Christentums" dargelegten] Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst [wie ein Kind] entweder noch nicht erworben oder [wie ein Bettler oder Senior] schon wieder verloren hat."

Hier fügte Marx sein Menschenbild an: "Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät [also Gemeinschaft, Gesellschaft]. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt [eine Art Weltanschauung], ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form [möglicherweise Marx' Anspielung auf Hegels 1812 und 1817 veröffentlichte Werke "Wissenschaft der Logik" und "Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften"], ihr spiritualistischer Point-d'honneur [Ehrenpunkt], ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist. [...] Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.

Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist. [...] Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik. [...]

Resümieren wir das Resultat: Die einzig praktisch mögliche Befreiung Deutschlands ist die Befreiung auf dem Standpunkt der Theorie, welche den Menschen für das höchste Wesen des Menschen erklärt. [...] Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie."(4)

"Aufhebung des Proletariats" bedeutete für Marx die Überwindung der ökonomischen Ausbeutung und der rechtlichen Erniedrigung werktätiger Massen. "Verwirklichung der Philosophie" bedeutete für Marx die kritische und schöpferische praktische Nutzung allgemeinster Erkenntnisse über die Entwicklung der Natur, der menschlichen Gesellschaft und der Wissenschaften und Künste zur Neugestaltung der Werke tätigenden menschlichen Individuen und Gemeinschaften.

Nachdem Ludwig Feuerbach die christliche Religion als eine der beiden "Säulen", auf denen die Macht im feudalen Preußen vor 1848 ruhte (der König von Preußen übte zugleich die Oberaufsicht über die evangelischen Kirchen aus), vor allem mit seinem Werk "Das Wesen des Christentums" (1841) kritisiert hatte, setzte sich Marx das Ziel, die andere "Säule", die Politik in Preußen, zu kritisieren, weil er darin bis 1843 die letzte Grundlage der gesamten Gesellschaft sah. Diese Kritik wollte er unter der Form einer Kritik der Rechtsphilosophie Hegels darlegen, in der das Staatsrecht abgehandelt worden war.(5) Das war sein erster Plan für die Kritik an der damals bestehenden Gesellschaft. Marx machte also die Einleitung der Artikelserie "Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" für den Druck fertig.(6)

Nicht zuletzt durch den Artikel "Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie"(7) den Engels aus Manchester an Marx als Mitherausgeber der "Deutsch-Französischen Jahrbücher" nach Paris gesandt hatte, erkannte Marx etwa im Frühjahr des Jahres 1844, daß nicht die Politik, sondern die Ökonomie die wichtigste Grundlage der Gesellschaft ist. So entwickelte er seinen zweiten Plan der Kritik an der damals bestehenden Gesellschaft. Er wollte ein Werk "Kritik der Politik und Nationalökonomie" schreiben, worüber er am 1. Februar 1845 einen Vertrag mit einem Verleger abschloß.(8) Marx begann in diesem Sinne etwa ab April 1844 in Paris an seinem ökonomischen Manuskript zu arbeiten.(9)

Diesem Plan folgte dann der dritte, und zwar mit dem bekannten Titel "Zur Kritik der politischen Ökonomie" (bestehend aus sechs Büchern), den Marx am 1. Februar 1859 in einem Brief an Joseph Weydemeyer(10) und kurz danach der Öffentlichkeit mitteilte(11) und den er schließlich als Untertitel seines Hauptwerkes "Das Kapital" nahm.(12)

In einschlägigen Bücherkatalogen findet man: "Marx (Carl) Zur Kritik der politischen Oekonomie. Hft. 1 pp. VIII.170 Berlin, 1859, 8°".

In dieser Annonce wurde der Publikationsbeginn eines wissenschaftlichen Systems mitgeteilt, welches die Wissenschaft Politische Ökonomie umwälzen sollte und mit den Worten begann: "Ich betrachte das System der bürgerlichen Ökonomie in dieser Reihenfolge: Kapital, Grundeigentum, Lohnarbeit; Staat, auswärtiger Handel, Weltmarkt."(13)

Auf diese Veröffentlichung hatte Marx - mit Unterbrechungen - seit Mitte 1844 hingearbeitet; mit ihr begann bis zu seinem Tode ein Forschungs- und Darstellungsprozeß, welchen er allerdings nicht selbst in die gedachte vollendete Form bringen konnte.

Der dargelegte Plan mit seinen sechs Büchern umfaßte die Basis der bürgerlichen Gesellschaftsordnung, die zu schaffen die weltgeschichtliche Aufgabe der Bürger- oder Kapitalistenklasse ist.

Diese Entwicklung ist - obwohl sich die handelnden Personen dessen nicht bewußt waren - mit der Reformation, der frühen bürgerlichen Revolution im 15./16. Jahrhundert ausgelöst worden, die in den Niederlanden, in England, in den USA, in Frankreich und schließlich in Deutschland, Österreich-Ungarn, China [Nov. 1911], Rußland [29. Februar 1917], Deutschland und Österreich-Ungarn [1918] bis ins 20. Jh. hinein ihre Fortsetzungen fand.

Schon bei der Gründung der Internationalen Arbeiterassoziation 1864 gab Marx hinsichtlich der Arbeiterklasse zu bedenken: "Ein Element des Erfolges besitzt sie, die Zahl. Aber Zahlen fallen nur in die Waagschale, wenn Kombination sie vereint und Kenntnis sie leitet."(14)

Im gleichen Sinn veröffentlichte er drei Jahre später im ersten Band des "Kapitals" als Bedingungen "die Empörung [!] der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten [!], vereinten [!] und organisierten [!] Arbeiterklasse. Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist."(15) Marx hat also durchaus auf Bedingungen verwiesen, nicht einer Art Automatismus des Geschichtsprozesses das Wort geredet.

Marx schrieb über die geschichtliche Berechtigung und Rolle der Bürgerklasse: "Das Kreditwesen beschleunigt daher die materielle Entwicklung der Produktivkräfte und die Herstellung des Weltmarkts, die als materielle Grundlagen der neuen Produktionsform bis auf einen gewissen Höhegrad herzustellen, die historische Aufgabe der kapitalistischen Produktionsweise ist."(16)

Weitere vier Jahre später erkannte er aus der Herrschaft der Pariser Kommune, dem weltgeschichtlich ersten Versuch der Schaffung eines neuen Gesellschaftstyps, daß die Arbeiterklasse "lange Kämpfe, eine ganze Reihe geschichtlicher Prozesse durchzumachen hat, durch welche die Menschen wie die Umstände gänzlich umgewandelt werden. Sie hat keine Ideale zu verwirklichen, sie hat nur die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schoß der [...] Bourgeoisgesellschaft entwickelt haben."(17)

Die Problematik des Übergangs zu einem neuen Zivilisationstyp beschäftigte Marx seitdem, wie das auch aus seinen kritischen Randglossen zum Entwurf des Gothaer Parteiprogramms ersichtlich ist: "Womit wir es hier zu tun haben, ist eine kommunistische Gesellschaft, nicht wie sie sich auf ihrer eignen Grundlage entwickelt hat, sondern umgekehrt, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht, also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt [...] Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode [!], deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats."(18)

Das Bewußtwerden und Bewußtmachen dieser weltgeschichtlich grundlegenden Umwälzung hat - wie in diesem kurzen Überblick gezeigt wurde - 1843/44 mit den neuartigen philosophischen Erkenntnissen von Marx und Engels begonnen.

Eike Kopf
Erfurt


Anmerkungen

(1) Karl Marx/Friedrich Engels: Werke (nachfolgend: MEW), Bd. 40, S. 591f., 594

(2) MEW, Bd. 40, S. 6f. - Hervorhebungen: E. K.

(3) MEW, Bd. 40, S. 262f. - Hervorhebungen: E. K.

(4) MEW, Bd. 1, S. 378f. und 391 - Hervorhebungen: Marx; die Einfügungen in eckigen Klammern: E. K.

(5) Siehe Marx' Manuskript zur Kritik des Hegelschen Staatsrechts (§§ 261-313). In: MEW, Bd. 1, S. 203-333

(6) Siehe MEW, Bd. 1, S. 378-391

(7) Siehe MEW, Bd. 1, S. 499-524

(8) Siehe MEW, Bd. 27, S. 618, Anm. 6, u. S. 672, Anm. 365

(9) Siehe Ökonomisch-philosophische Manuskripte. In: MEW, Bd. 40 (= Ergänzungsband Schriften bis 1844, Teil I), S. 465-588

(10) Siehe MEW, Bd. 29, S. 570 u. 572 f.

(11) Siehe Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort. In: MEW, Bd. 13, S. 7

(12) Siehe Marx an L. Kugelmann, 28.12.1862. In: MEW, Bd. 30, S. 639; MEW, Bd. 23, S. 13

(13) K. Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie. Vorwort. In: MEW, Bd. 13, S. 7

(14) MEW, Bd. 16, S. 12

(15) MEW, Bd. 23, S. 790f.

(16) K. Marx: Das Kapital. Bd. 3. In: MEW, Bd. 25, S. 457

(17) MEW, Bd. 17, S. 343

(18) MEW, Bd. 19, S. 20, 28; Hervorhebungen: E. K.

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Das Gift des Hasses

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Aus dem Programm der Partei Die Linke

Offene Grenzen für Menschen in Not!

Deutschland ist ein Einwanderungsland. Die Linke lehnt eine Migrations- und Integrationspolitik ab, die soziale und politische Rechte danach vergibt, ob Menschen für das Kapital als "nützlich" oder "unnütz" gelten. Wir wollen die soziale und politische Teilhabe für alle in Deutschland lebenden Menschen erreichen. Der Familiennachzug muß sowohl Kindern als auch gleich- und andersgeschlechtlichen Lebenspartnerinnen und -partnern sowie Familienangehörigen zweiten Grades möglich sein. Die Förderung der sprachlichen Entwicklung und die Förderung des Bildungserfolges sind wichtig, aber nicht ausreichend für die Integration. Wir wollen die strukturellen Diskriminierungen beim Zugang zu Bildung, zum Ausbildungs- und Arbeitsmarkt und zu sozialen Dienstleistungen beseitigen. Allen in Deutschland lebenden Menschen ist unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus eine Gesundheitsversorgung zu garantieren. Schutzsuchende dürfen nicht abgewiesen werden. Wir fordern offene Grenzen für alle Menschen.

Die Linke setzt sich für ein respektvolles gesellschaftliches Miteinander in Anerkennung der Verschiedenheit aller Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft ein. Das erfordert vor allem demokratische Mitbestimmung von Migrantinnen und Migranten in allen gesellschaftlichen Entscheidungen. Die Linke setzt sich für das aktive und passive Wahlrecht für all jene ein, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben, sowie für gleiche Rechte beim Zugang zum Arbeitsmarkt. Alle Kinder, die hier geboren werden und deren Eltern in Deutschland leben, sollen die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten. Die Einbürgerung muß wieder erleichtert werden. Doppelte Staatsbürgerschaften sollen grundsätzlich möglich sein. Die Linke ist für die Anerkennung von zertifizierten, im Ausland erworbenen Qualifikationen für alle Migrantengruppen.

Menschen, die vor Menschenrechtsverletzungen, Kriegen und politischer Verfolgung geflohen sind, dürfen nicht abgewiesen oder abgeschoben werden. Wir fordern die Wiederherstellung des Grundrechts auf Asyl und kämpfen gegen die Illegalisierung von Flüchtlingen, gegen Abschiebungen, gegen jede Form von Sondergesetzen wie die Residenzpflicht sowie gegen Sammellager. Die Abschottungspolitik der EU ist unmenschlich - wir wollen keine Festung Europa. Die Linke richtet ihre Flüchtlingspolitik nach Humanität und Menschenrechten, so daß der Schutz von Menschen in Not im Vordergrund steht und nicht ordnungspolitische oder ökonomische Überlegungen. Deshalb setzt sich Die Linke für die Abschaffung der Grenzschutzagentur Frontex ein, die das wichtigste Abschottungsinstrument der EU darstellt.

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Der faschistische Anschlag von Halle

Der Anschlag von Halle mit zwei Todesopfern hat die Debatte um Rassismus und Antisemitismus in Deutschland neu entfacht. Statt wohlfeiler Sonntagsreden geht ein Zusammenschluß migrantischer, antirassistischer und antifaschistischer Kräfte nun einen Schritt weiter. Vom 1. bis 3. November 2019 tagt in Chemnitz und Zwickau ein zivilgesellschaftliches Tribunal. An den drei Tagen werden die Opfer von Rassismus und Antisemitismus beklagt, Täter an- und die "Gesellschaft der vielen" eingeklagt.

Einst hatte der NSU aus den sächsischen Städten Chemnitz und Zwickau heraus seine rassistischen Morde und Anschläge verübt. Das Umfeld des Nazinetzwerks ist noch immer aktiv. Die milden Urteile im NSU-Prozeß haben die Neonaziszene ermuntert, ihr mörderisches Treiben fortzusetzen. Dies zeigen die Hetzjagden auf Migrantinnen und Migranten in Chemnitz im letzten Jahr, die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke und der Anschlag von Halle. Auch der Aufschwung der AfD - als parlamentarischer Arm der Neonazis - belegt, daß autoritäre, antidemokratische und faschistische Tendenzen in Teilen der Gesellschaft zunehmen.

Jeden Tag stellen sich migrantische, antifaschistische und antirassistische Menschen dem Rechtsruck entgegen - auch in Sachsen. Auf dem Tribunal werden Betroffene und Angehörige von Opfern die Geschichten rassistischer Gewalt von den 70er Jahren bis heute erzählen und sichtbar machen. Der Widerstand von Migranten und solidarischen Menschen soll hörbar werden. Am Tribunal beteiligen sich unter vielen anderen Ali Tulasoglu, dessen Restaurant im Oktober 2018 in Chemnitz von Nazis niedergebrannt wurde, der Arabische Verein für Kultur und Integration, der diesen Sommer trotz starker Anfeindungen am Karl-Marx-Kopf in Chemnitz das Zuckerfest feierte, die "Initiative für die Aufklärung des Mordes an Burak Bektas" und Mitat Özdemir von der Initiative "Herkesin Meydani - Platz für alle" aus der Kölner Keupstraße, in welcher der NSU 2004 einen Bombenanschlag verübte, sowie das Netzwerk "We'll come united", das im Sommer eine Tour durch Lager und abgeschiedene Unterkünfte von Geflüchteten in Sachsen unternommen hat. (...)

Initiative "NSU-Komplex auflösen"
www.nsu-tribunal.de/anklage

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Europaparlament entlastet Nazideutschland

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Die drei Freunde

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
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GEDANKEN ZUR ZEIT

Wie man einen Autor besser verstehen kann, als er sich selbst versteht

"Ein reines Geistwesen"

Pater Anselm Grün, promovierter Theologe (Doktorarbeit über Karl Rahner) und - nach eigener Angabe - Autor von eher 250 als 200 Büchern, darunter Werke über Engel ("Engel der Barmherzigkeit", "Engel der Sanftmut", "Engel der Geduld" usw.) hat in einem Fernseh-Interview auf die Frage seines Gesprächspartners: "Was ist Gott?" geantwortet: "Gott ist ein reines Geistwesen."

Bravo, Pater! Das ist doch einmal eine bemerkenswert positive theologische Aussage, ohne Wenn und Aber, ohne Mystifizierung oder Hintertürchen, klar und deutlich, wie es bester scholastischer Tradition entspricht und auch und gerade dem Atheisten mit zwingender Logik einleuchtet!

Besondere Beachtung gebührt dabei dem Attribut "rein" (lat. purus), mit dem der Begriff der Gottheit von allem Unreinen gereinigt und substantiell gesondert wird. Rein - wir nehmen den Autor beim Wort - heißt pur, unvermischt, frei von jedweder Zutat, ohne alles, was den Begriff des reinen Subjektes, hier des Geistwesens, in irgendeiner Weise einschränken, trüben, ja gar beflecken könnte.

Was, fragen wir da, könnte dieses Befleckende, Unreine, Schmutzige sein? - Nun, von anderen uns bekannten geistigen oder geistbegabten Wesen, nämlich von Menschen, wissen wir, daß sie mit Körpern behaftet sind. Alles Körperliche aber, die Materie schlechthin, gilt von alters her als Widerpart des Geistes, wiewohl nach neuerer Ontologie der Körper der Träger des Geistes ist, das Fundament, auf dem dieser "aufruht", die Conditio sine qua non, ohne die es den Geist als Funktion höchstentwickelter Biomasse gar nicht geben kann.

Nicht so indes das "reine Geistwesen", der Geist Gottes, der nach Anselm Grün frei über den Wassern schwebt, ledig allen materiellen Ballastes und damit, weil körperlos, auch ohne alle Personalität. Ein apersonaler Geist also, was - wie wir sogleich sehen werden - so manches bislang unlösbar scheinende theologische Rätsel nunmehr obsolet erscheinen läßt.

Ein Wesen ohne Körper ist nämlich nicht nur geschlechtslos (womit aller patriarchalen und aller feministischen Theologie in gleicher Weise eine Abfuhr erteilt ist), ein Wesen ohne Körper hat natürlich auch keinen Kopf, kein Gehirn, weder Stammhirn noch Rinde, kein Limbisches System und keinen Cortex, kann also, hirnlos, wie es nun einmal ist, weder denken noch fühlen, weder wahrnehmen noch empfinden und somit auch keine moralischen oder intellektuellen Akte vollziehen. Damit entfallen alle jene personalen Attribute, die die klassische Theologie der Gottheit von alters her zuzuschreiben pflegt: Allgüte, All-Liebe und Allbarmherzigkeit (Denn wo und wie, an welchem Sitz eines Gemüts sollten Gefühle der Empathie erzeugt und wahrgenommen werden, wenn kein neuronales Substrat existiert?), oder Wissen, gar Allwissenheit oder Allweisheit (Wo, in welchem Organ, auf welcher Festplatte sollten Informationen gespeichert werden?), ferner Allmacht (Entfällt mangels Masse und Energie!), Gerechtigkeit (Ohne Wertbewußtsein und Rechtsgefühl nicht denkbar!) und schließlich auch Wille, Planung und Intention als Aktionsund Ausdrucksweisen jeglicher Personalität. Kurz: das "reine Geistwesen" Anselm Grüns ist Omelett ohne Ei - ein unfreiwilliger logischer Witz.

Damit, mit seiner Definition Gottes als eines "reinen Geistwesens" - wir verneigen uns mit Bewunderung - ist Anselm Grün in der Nachfolge des großen Karl Rahner eine denkerische Glanzleistung gelungen, indem er, wenn nicht expressis verbis und vermutlich ohne bewußte Absicht, so doch logisch zwingend den Schluß auf die reale Nicht-Existenz Gottes nahelegt. - Chapeau! Denn solch logisch zwingende Schlußfolgerung aus dem Munde eines katholischen Dogmatikers zu hören, so viel sprachimplizite Rationalität ... und daß ausgerechnet einmal die Theologie als Magd der Philosophie dienen könnte, derlei hätte gerade der skeptisch voreingenommene Atheist bislang kaum für möglich gehalten!

Und in noch einem anderen Sinne ist Anselm Grün zuzustimmen: Wenn Gott als reines, also körper- und hirnloses Geistwesen unmöglich ist, so kann er natürlich nicht faktisch, sondern nur fiktional in den Köpfen der Menschen existieren. Dort ist sein Platz, als Gedankending oder Hirngespinst, dort mag er - launisch, wie er ist, bald Nutzen stiften, bald Schaden anrichten, Völkermorde gebieten oder Werke der Barmherzigkeit, je nachdem, was der Priesterschaft gerade genehm ist, und dort mag er weiterhin sein Dasein fristen von Gnaden derer, die ihn denkend erschaffen oder auch wieder vergessen.

Was aber Anselm Grün, den Meisterschüler Karl Rahners, betrifft, so schlage ich vor, ihm in Anerkennung seiner radikal revolutionären Dogmatik als einem Aufklärer des 21. Jahrhunderts die Ehrenmitgliedschaft im IBKA (Internationaler Bund der Konfessionslosen und Atheisten e. V.) anzutragen. Sollte er bescheiden ablehnen oder sich ob der Auslegung seines oben zitierten Lehrsatzes verwundert zeigen, so bedeute man ihm, daß das menschliche Denken mitunter auch ungewollt zu durchaus richtigen Ergebnissen gelangen kann!

Theodor Weißenborn

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Habemus papam

Wer schreibt, will etwas loswerden, und wer das auch noch vorliest oder veröffentlicht, hat das Bedürfnis, anderen etwas mitzuteilen, sie unter Umständen auch zu belästigen mit seinem Ich, seinem Ego. Das ist auch so mit Film, Fernsehen und Theater. Es sind Multiplikatoren.

Was man selbst ist, will, erlebt hat, an Erfahrungen gesammelt hat, soll vervielfacht werden. Andere sollen es auch erfahren. Ob sie wollen oder nicht. Der Großvater erzählt es seinen Enkeln. Die winken ab und gähnen. Oder hören zu und werden klüger. Manchmal. Am ehesten landet der Erzähler noch bei denen, die ähnliches erfahren haben und mit Interesse zuhören, die angefüllt sind mit den gleichen Geschichten und Erlebnissen, die interessiert sind, wie andere damit fertig geworden sind, wie sie alles verarbeitet haben.

Zum Beispiel dieses vergangene Jahrhundert. Blut, Tränen, Morden, Ängste, Hunger, Krieg, Gefangenschaft, Verwundungen, Angriffe auf Leib und Leben, Hab und Gut, Körper und Seele. Für den Heutigen nicht vorstellbar, nicht nachvollziehbar. Man möchte nicht hören, sträubt sich, will wegschalten, wenn Bilder kommen aus Slums, verwahrlosten Vorstädten. Verhungernde Kinder mit riesengroßen verschreckten Augen. Auf die Kamera gerichtet, auf uns. Gesichter, in denen keine Hoffnung ist. Nur der Schrecken des täglichen Lebens und Resignation. Noch Resignation. Die irgendwann umschlagen wird in ein großes allgemeines Sich-Wehren. Davon will man nichts wissen, Noch nicht.

Heut' ist heut'. Mit dem Morgen werden wir schon fertig werden! Meint man. Hofft man. Das werden wir uns schon vom Hals halten. Mit Terrorbekämpfung, Bundeswehr und, wenn's denn sein muß, mit amerikanischen Bomben.

Und mit Gottes Hilfe. Unser Gott ist stärker als der Gott, zu dem die anderen beten. Das war schon immer das Rezept. Die eigenen Waffen segnen lassen. Jeder ließ die eigenen Waffen segnen von seinem eigenen Gott.

Wenn wir schon nicht wissen, ob wir einen Gott haben, so wissen wir doch präzise, daß wir seinen Stellvertreter haben. Habemus papam. (Wir haben einen Papst.)

Ich denke an meine Kindheit und frühe Jugend. Wir hatten Pius XI. Sein Bild stand bei meiner Großmutter auf dem Nachttisch. Im Goldrahmen. Ich betrachtete ihn so oft, daß ich seinen Gesichtsausdruck immer noch abrufbereit in meiner Erinnerung habe. Ein freundlich lächelnder, gepflegter alter Herr mit der bedeutungsvollen Tiara auf dem Kopf. Er sah so rein, sauber und fein aus und war als Mensch so weit entfernt von unserer eigenen Realität, daß er uns schon überirdisch, jenseitig und gar heilig vorkam.

Er wurde ein Jahr nach meiner Geburt inthronisiert, vielleicht sagt man auch inauguriert, und starb 1939 in den politischen Vorkriegswirren. Er hatte sich - ebenso wie sein Nachfolger - deutlich mehr gegen die Linken als gegen die unter seiner Ägide an die Macht gekommenen italienischen und deutschen Faschisten gewandt.

Es war die Zeit, in der ich den Papst sehr verehrte.

Da mein Vater aus den Schlachten vor Verdun als Atheist nach Hause kam und sich zu seinem überzeugten Freidenkertum bekannte, willigten die Großeltern nur in eine Ehe ein, wenn die Kinder katholisch erzogen wurden. Mein Vater war pfiffig genug, dem zuzustimmen, da er der Überzeugung war, daß das spätere Leben in der Arbeiter- und Industriestadt Ludwigshafen schon von selbst für eine vernünftige und realistische Regulierung sorgen würde.

Pfiffig war auch ich, als ich auszurechnen in der Lage war, daß die Liebe bei meinen Eltern schon vor der Hochzeit mit der bekannten und vielbesungenen Himmelsmacht zugeschlagen hatte. Und so geschah das Wunder, daß mein Geburtstag nur 5 Monate nach dem Hochzeitstag meiner Eltern lag. Auf meine neugierige Nachfrage meinte meine Oma, ich hätte mich eben beeilt, es kaum erwarten können, auf Gottes wunderbare Erde zu kommen.

Auf dieser wunderbaren Erde wurde erst einmal gehungert. Nachkrieg, Inflation, Weltwirtschaftskrise und Arbeitslosenzeit sorgten dafür, daß uns die Früchte nicht in den Mund wuchsen.

Die strenge katholische Erziehung hat mein Kindsein nicht unwesentlich beeinflußt. Die exakte Einhaltung der heiligen Sakramente, wie Beichte mit Gewissenserforschung, Reue und Buße, hl. Kommunion, Firmung, meine zeitweise begeisterte Tätigkeit als Ministrant, meine Mitwirkung im Kirchenchor und im Schulorchester ließen mir wenig Zeit, meinen sportlichen Neigungen nachzugehen.

Diese Zeit war aber auch verbunden mit einem permanent schlechten Gewissen. Beichte, der Zwang zur Reinheit der Seele, stetige Überprüfung auch des kleinsten Sündenfalls, dazu die Widersprüchlichkeit zwischen Religion und nationalistischen und faschistischen Komponenten in Erziehung, Schulunterricht, Kunst und Literatur, all das waren Einflüsse, die sich unheilvoll vermischten mit falsch verstandenen philosophischen Ideen von Platon und Sokrates bis zu Nietzsche und den Neukantianern. Es war ein sperriges Gepäck, mit dem wir ins Leben gingen. Eine irritierende Mischung von dogmatischem Katholizismus und Herrenmenschen-Faschismus.

So innerlich zerrissen bot sich den Nazis ein leicht zu beackerndes Feld für ihre Weltherrschaftspläne, die wir in unserer Verblendung für Weltverbesserungspläne hielten.

Mein Vater war ein strenger Mensch, im Gegensatz zu meiner immer heiteren, immer zum Lachen und Singen bereiten jungen Mutter. Ihre schwere Krankheit und ihr relativ früher Tod machten meinen Vater noch verhaltener und verschlossener. Die beiden Weltkriege, eine politisch-weltanschauliche Unentschlossenheit führten ihn zwar nicht in die Arme der Nazis, ließen ihn aber auch nicht zum aktiven Gegner werden. Er gehörte zu den 98 % der deutschen Bevölkerung, die in dem Strom mitschwamm, der ins Verderben führte.

Habemus papam.

In dem päpstlichen Segen "urbi et orbi" kommt dem Wort Frieden eine bedeutende Stellung zu. Die katholische Religion wurde in den zweitausend Jahren mehr und mehr weltumspannend, ihre Lehre in gleichlautend fast allen Sprachen verkündet. Hinter den gewichtigen Worten Frieden, Barmherzigkeit, Demut und Nächstenliebe steht eine gewaltige Organisation mit großem ökonomischem und politischem Einfluß.

Es ist mit wissenschaftlicher Gründlichkeit nachgewiesen, daß trotz des zweitausendjährigen weltweiten Wirkens noch kein wesentlicher Krieg, noch keine einzige Massenschlächterei verhindert wurde. Im Gegenteil! Es wurde in vielen Fällen mitgezündelt. Aus welchen Gründen auch immer.

Der Ruf, nein, der Aufschrei: Die Waffen nieder! kam 1889 von einer Frau: Bertha von Suttner, einer Einzelkämpferin ohne weltweiten Einfluß.

Die Kirche nahm diesen Ruf nicht auf, vervielfachte ihn nicht, wie sie es hätte tun können. Der Schrei ging unter im Waffengeklirr. Der I. Weltkrieg stand vor der Tür. Die Waffen gingen nicht nieder, sondern sie wurden gesegnet. Von allen Seiten. Habemus papam.

Ich bin nicht gegen Religion. Sie legt dem Menschen Fesseln an, macht ihn besser. Stellt ihn vor Hürden und zeigt ihm Grenzen. Zwingt ihn zum Gutsein. Oder erinnert ihn wenigstens daran. Manchmal!

Ich habe oft und oft erlebt, wie Religion zur letzten Hilfe wurde. Im Krieg schrien oder stöhnten die zu Tode Verwundeten zur Mutter oder zu Gott. Da sollte Gott helfen, wo es meistens zu spät war. Aber er half wenigstens am Ende. Es heißt ja nicht umsonst im Gebet: "... und in der Stunde unseres Todes, Amen."

Man ist dabei, die "neuen Länder" zu rekatholizieren. Sie zurückzuholen in den Schoß der alleinseligmachenden römischen Mutter Kirche. Ich glaube nicht, daß die Beute sehr groß sein wird.

Es ist auch nicht lange her, da hörte ich aus der Riege der Pfarrerstochter Angela Merkel, von der Madonna de la sedia ihrer Regierung mit dem festgetackerten ewigen Lächeln, der Uschi von der Leyen: "... ich habe die Gewißheit, Gott hält mich sicher in seinen Händen. Mir kann nichts geschehen!"

Ich habe noch den jungen Teenager Ursula in Erinnerung in dem wohlbehüteten Schoß der Ministerpräsidentenfamilie ihres Vaters. Schon damals lächelte sie in der Gewißheit, daß ihr nichts geschehen konnte.

Wie glaubwürdig wirkt diese Aussage gegenüber den Millionen Kindern und Erwachsenen, denen täglich, stündlich etwas geschieht? Hunger, Kälte, Obdachlosigkeit, Kriege, Mord und dazu Bomben auf den Kopf, geworfen von Menschen, die sich sicher in Gottes Hand befinden.

Wie glaubwürdig ist also das, was sie sagte, wie selbstgerecht und - halten zu Gnaden! - wie arrogant.

Ich bin kein Theologe. Aber mich treiben diese Fragen um. Unzählige andere auch. Und wir haben das Recht zu fragen. Überlassen wir Gott einen Teil der Verantwortung, die wir selbst zu tragen haben, indem wir seinen Namen - wie man jetzt verlangt - in die europäische Verfassung schreiben? Im Vertrauen, daß er es schon richten wird? In der Hoffnung, daß er uns schon helfen wird? Uns, die wir schon so viel besitzen, von dem andere nur träumen können?

An welcher Stelle steht Europa bei Gott? An zweiter, nach Amerika? Vielleicht auch erst zwischen Afrika und Asien? Wem hilft Gott zuerst? Den Scheichs in den Wüsten Arabiens oder unseren Managern in ihren klimatisierten Bürofestungen, gepolstert mit Geld und abgesichert mit Panzerglas? Als wir 1939 auszogen, im Namen unseres Vaterlandes der Welt an die Kehle zu springen, stand auf unserem Koppelschloß GOTT MIT UNS.

Wir haben damals eine Blutspur durch die halbe Welt gezogen, die bis heute nicht getilgt ist.

Mit wessen Hilfe geschah das? Und gegen welche anderen Götter?

Fragen über Fragen.

Aber ich habe Hoffnung.

Habemus papam.

Der Deutsche, Benedikt der XVI., rief damals bei einem Polenbesuch in Auschwitz: Warum schläfst du, Herr? Wach auf! Vergiß Dein Geschöpf Mensch nicht! Wörtlich sagte er das.

Das gibt mir Hoffnung.

Es geht mir nicht darum, gegen irgendeine Religion zu polemisieren oder zu Felde zu ziehen. Wichtig ist, alle Aspekte der katholischen Kirche, alle reformatorischen Ziele von Luther bis heute zu vernetzen, mit allen sozialen und humanistischen Bewegungen zu bündeln und ein solches Übergewicht zu schaffen, daß endlich die Welt in einen Zustand der Gerechtigkeit versetzt wird, der wenigstens in Ansätzen dem gleicht, was am Anfang des alten Testaments als Hoffnung steht: DAS PARADIES.

Rudi Kurz

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Alternative für Weihnachten

Das christliche Weihnachtsmärchen ist uns allen so vertraut, daß viele meinen, es stünde in jedem Evangelium. Doch nur Lukas erzählt es, und er spann es fast gänzlich aus jüdischen und heidnischen Legenden heraus. Und da auch Markus, Matthäus, Johannes bloß fabelten, kommt selbst Albert Schweitzer zu dem Schluß: "Es gibt nichts Negativeres als das Ergebnis der Leben-Jesu-Forschung. Der Jesus von Nazareth, der als Messias auftrat, das Gottesreich verkündete und starb, um seinem Werk die Weihe zu geben, hat nie existiert."

So ersetze man denn Weihnachtsmetten, Festpredigten und weiß Gott welche schimärischen Glückseligkeiten durch ein wenig Besinnung auf die Geschichte.

Ich rate, den Christbaum wieder im Wald, die Kerzen im Kaufhaus zu lassen und lieber sich selbst ein Licht aufzustecken. Schon bei geringer Erleuchtung nämlich erhellt: so nichtig wie all das weihnachtliche Glänzen und Lügen ringsum ist wenig, und wichtiger als die Not des Nächsten fast nichts. Besser ist es, einen Hungernden zu nähren, als sich selber zu überfressen und der Industrie das Geld in den Rachen zu schmeißen.

Statt jährlich dem Weihnachtsmann aus Rom zu lauschen, sollte man einmal das Kapital der Kirche kennenlernen, ihren noch immer ungeheuren Landbesitz und die Gehälter der Prälaten. Mancher würde mehr staunen als über alle Weihnachtsmirakel bei Lukas und begriffe vielleicht, warum schon bei der Geburt des Herrn Ochs und Esel zugegen waren. "Das Volk", sagt Arno Holz, "hat lange graue Ohren, und seine Treiber nennen sich Rabbiner, Pfarrer und Pastoren." Kurz, statt "Am Weihnachtsbaum die Lichter brennen" zu singen, könnte man sich erinnern, wo's denn sonst noch brennt auf der Welt; könnte man das widerliche Spielchen fortan umgekehrt spielen: alle Tage quasi Weihnachten, und nur an Weihnachten Alltag. Ich schlage vor: am mysterienreichen Geburtstag des Herrn - von der ältesten Kirche, die es doch am besten wissen mußte, am 19. April, 20. Mai und 17. November vermutet - ab sofort das berühmte Thema "Und Friede den Menschen auf Erden, die guten Willens sind" fahren, sämtliche Kinderchöre, Domglocken, Dompfaffen schweigen zu lassen. Jede aufkommende Sentimentalität ist verpönt, streng bestraft wird, wer einen Christbaum hat, "Ihr Kinderlein kommet" intoniert, ein frohes Fest wünscht, von Frieden salbadert oder sonst ein frommes Wort verliert.

Statt dessen werde es obligatorisch, just an diesem Tag all das verstärkt, konzentriert, nun eben mit dem ganzen christlichen elan vital und d'amour zu betreiben, was sich sonst gleichmäßig über das Jahr verteilt: die Verbreitung von Unkonzilianz, Geifer, Gift, Gewalt, die kaum getarnte Barbarei, Kampf aller gegen alle. Man intrigiere und betrüge jetzt auf Teufel komm raus an Weihnachten, man verleumde, hetze und mache den andern kaputt. Aut Caesar aut nihil, aut vincere aut mori. (Entweder alles oder nichts, entweder siegen oder sterben.) Wer das ganze Jahr über umbringt, begehe nun bloß noch an Weihnachten seine Raub-, Lust- oder Justizmorde. Und auch alle Kriege finden künftig nur am "dies ater" (schwarzen Tag) statt.

Dafür herrsche an den übrigen 364 Tagen aber absolute Waffenruhe, schönster Friede, benehme sich jeder so, wie man glauben könnte, daß wir uns benähmen, gälte auch nur im geringsten, was an Weihnachten hier aus dem Blätterwald schallt, aus der Glotze, den Kirchen. "Und Friede den Menschen auf Erden ..." - während die Menschheit in jeder Minute des Jahres fast eine Million Mark für Rüstung hinwirft und alle paar Sekunden ein Kind verhungert. "Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft ..." Wahrhaftig, so ist es.

Karlheinz Deschner
(1975; RF-Archiv)

Buch-Tips zum Thema:

• Karlheinz Deschner: Abermals krähte der Hahn. Eine kritische Kirchengeschichte. Eine Demaskierung des Christentums von den Evangelisten bis zu den Faschisten (div. Aufl.; EA 1962)

• Karlheinz Deschner: Ein Jahrhundert Heilsgeschichte. Die Politik der Päpste im Zeitalter der Weltkriege (div. Aufl.; EA 1982/83)

• Karlheinz Deschner: Kirche und Faschismus. Jugenddienst-Verlag, Wuppertal 1968

• Kaspar Mayr: Der andere Weg - Dokumente und Materialien zur europäischchristlichen Friedenspolitik. Verlag Glock und Lutz, Nürnberg 1957

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WISSENSCHAFTLICHE WELTANSCHAUUNG
Wilhelm Piecks Beitrag im Kampf um die Aktionseinheit
Beitrag des Deutschlandsenders vom 20. November 1975

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Der Sohn eines NS-Verbrechers über die Rhetorik der AfD
Da spricht ja mein Vater!

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Das Spremberger Kinderheim und der Partisan

Neulich hatte ich eine kleine CD zum Jubiläum eines Waisenkinderheimes in Spremberg in den Händen. Auf ihr besangen dessen Bewohner einen "Schmenki", das Heimgespenst.

Es ging um den guten Geist des Hauses, der immer schon da war und es heute noch ist, in einem Leben, das auch für Kinder fröhlich und spannend sein kann. Das Heim trug den Namen "Fritz Schmenkel" - ein Deserteur aus der Wehrmacht, einer der prominentesten Überläufer zur Sowjetarmee, ein Partisanenaufklärer.

Da der vom Ministerrat an zivile und militärische Einrichtungen verliehene Name nach 1989 systematisch getilgt wurde (Straßen in drei Städten tragen aber noch den Namen Fritz Schmenkel), war diese CD und das Lied der Kinder ein außergewöhnliches Erlebnis für mich.

Fritz Schmenkel gelang 1941 nach Verbüßung einer Haftstrafe im Wehrmachtsgefängnis Torgau (wegen wiederholten unerlaubten Entfernens von der Truppe) und unter dem Vorwand des Meldens zum Fronteinsatz das Überschreiten der "feindlichen Linie" in Belorußland. Als die Partisanen sich von seiner Aufrichtigkeit überzeugt hatten und seine Bereitschaft und außergewöhnlichen Fähigkeiten für den Aufklärungsdienst entdeckten, ließen sie ihn dafür weiter ausbilden.

Vom 20. Januar 1943 bis 6. Februar 1943 war Fritz Schmenkel für seine Partisaneneinheit als Aufklärer im Handlungsraum der Vernichtungsoperation "Sternlauf" im Smolensker Raum eingesetzt. Ein Jahr nach dieser Operation geriet er im Dezember 1943 bei einem Aufklärungsauftrag in die Hände der deutschen Feldgendarmerie und wurde am 22. Februar 1944 nach Verurteilung durch das Kriegsgericht Minsk hingerichtet.

Während heute im "geeinten" Deutschland ehemalige Mitglieder des NKFD immer noch für eine angeblich halbherzige Entnazifizierung in der DDR (mit Beispielen von "strammen" Nazis bis in obere Machtbereiche) mißbraucht werden, war es der DDR Verpflichtung, Fritz Schmenkels zu gedenken. Bei uns kam jetzt nach mehr als 30 Jahren eine der Fritz-Schmenkel-Büsten aus Karl-Marx-Stadt ans Tageslicht. Zwei weitere Plastiken, einst mit Standort in einer Wach- und Sicherungseinheit, müssen als zerstört bzw. außer Landes gebracht gelten.

Für die aufgefundene Büste wird ein neuer Standort gesucht. Die Aufstellung wird natürlich auch Geld kosten (Sanierung der Büste, Sockel, Fundament). Der Schöpfer der Max-Hoelz-Büste in Falkenstein, Dipl.-Bildhauer Frank Diettrich, steht uns beratend zur Seite.

Die Broschüre der VVN-BdA "Gegen das Vergessen" wird dann über einen dokumentierten Erinnerungsort mehr verfügen. Bei den geplanten Rundgängen zwischen den einzelnen Erinnerungsorten, z. B. im Stadtteil Kassberg, unter dem Titel "Was uns Straßen erzählen", wird nicht nur vom Leben und Tod Fritz Schmenkels, sondern auch davon berichtet werden, daß ihm und anderen Opfern von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der DDR Gerechtigkeit widerfuhr.

1977 wurde der 62jährige Willi Friedrich Karl Brand vom Stadtgericht Berlin als Angehöriger der Wehrmacht und der Feldgendarmerie, u. a. auch wegen seiner Teilnahme an der großangelegten Vernichtungsaktion gegen Partisanen an der Operation "Sternlauf" im Raum Smolensk, bei der er Gendarmen und "Bandenbekämpfer" befehligte, verurteilt. Ihm wurden weitere Verbrechen wie eine Beteiligung an der Lebendverbrennung von Frauen und Kindern zur Last gelegt. In den Vernehmungen bekundete Brand unumwunden seinen Haß gegen den "Bolschewismus" und gegen Partisanen, weshalb er auch Frauen und Kinder erschoß. Das Urteil wurde mit einem Urteil des Obersten Gerichts der DDR rechtskräftig.

Peter Blechschmidt
Chemnitz


Gerne erinnern wir mit diesem Beitrag erneut an Fritz Schmenkel. Siehe hierzu u. a. auch den Beitrag "Fritz Schmenkel ist unvergessen" im RF 219 (Seite 10), die Bücher von Wolfgang Neuhaus (Kampf gegen Sternlauf, 1969) und Theodor Gladkow (In den Wäldern von Smolensk, 1983) sowie die Filme von Rainer Hausdorf (Fritz Schmenkel, 1969) und Janos Veiczi (Ich will euch sehen, 1978).

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Fontanes Werke leben fort

Am 30. Dezember 2019 wäre Heinrich Theodor Fontane, der als literarischer Spiegel Preußens und als bedeutendster deutscher Vertreter des Realismus gilt, 200 Jahre alt geworden.

Theodor Fontane (30.12.1819 bis 20.9.1898) ist als Romanschriftsteller ein Vertreter des kritischen Realismus im 19. Jahrhundert. Er war zunächst als Apotheker, nach 1850 als Schriftsteller und Journalist tätig, u. a. als Auslandskorrespondent in London. Berühmt wurde Fontane zunächst durch seine Balladen ("Archibald Douglas", "John Maynard" u. a.), doch zeigte sich, daß Fontane noch lange in konservativer Einstellung zur preußischen Geschichte gefangen war. Erst als Sechzigjähriger begann seine entscheidende Schaffensperiode. In den letzten 20 Jahren seines Lebens schrieb er etwa 20 Romane und Erzählungen - Meisterwerke der deutschen Literatur. Realistisch stellt er die reaktionären Verhältnisse im damaligen Deutschland dar.

In seinem bedeutendsten Roman "Effi Briest" zeigt er, wie das Glück einer Familie der herzlosen Tradition und unmenschlichen Moral des preußischen Adels geopfert wird. Fontane weiß von der moralischen Überlegenheit einfacher Menschen, wenn er auch nicht erkennt, daß sie die Kraft haben, sich und damit die Gesellschaft zu befreien.

Seither ist viel über den "märkischen Wanderer", den "charmanten Plauderer", den scharfen Beobachter und "Meister der Milieudarstellung" gesagt und geschrieben worden. Und auch noch gut zweihundert Jahre nach seiner Geburt verdient Fontane, in Erinnerung gerufen zu werden.

Theodor Fontanes vollendet geübte Kunst des "heiteren Darüberstehens" ist viel beachtet und zitiert worden. Selbst sein scheinbarer gesellschaftlicher wie politischer Wankelmut wandelt sich unter diesem Gesichtspunkt zur Tugend. Nicht selten scheint er seiner Zeit voraus zu sein.

Theodor Fontane, von dem behauptet wurde, daß die Arbeiterklasse außerhalb seines Blickfeldes lag, nimmt zunächst den Brandenburger ordentlich Maß: "Die Märker haben viele Tugenden, wenn auch nicht so viele, wie sie sich einbilden ..." Schon hier führt Fontane einen Schlag gegen die tugendsamen märkischen Frömmler, die pastoralen Politiker, die sich tatsächlich einen Haufen Tugenden einbilden, aber beileibe nicht haben. Die Märker sind "ohne rechte Begeisterungsfähigkeit und vor allem ohne rechte Liebenswürdigkeit. Im übrigen sind sie neidisch, schabernackisch und engherzig ..."

Nur wenn es "was Großes gibt (wie im Wahljahr vielleicht), dann brodelt's hier nicht bloß und sprudelt und strudelt, dann steigt statt des Wasserstrahls ein roter Hahn auf und kräht laut in die Lande hinein!"

Vollkommen eindeutig und von widerstreitenden Gefühlen weitgehend verschont war seine Position zur Bourgeoisie. Er haßte sie und bekämpfte sie mit seinen Mitteln.

"Ich hasse das Bourgeoishafte mit einer Leidenschaft, als ob ich ein eingeschworener Sozialdemokrat wäre." Anläßlich des Geburtstages seiner Schwester Jenny und den dort vorgefundenen Gratulanten äußert sich Fontane wie folgt: "Ich kann den Bourgeoiston nicht ertragen und in derselben Weise, wie ich in früheren Jahrzehnten eine tiefe Abneigung gegen Professorenweisheit, Professorendünkel und Professorenliberalismus hatte, in derselben Weise dreht sich mir jetzt angesichts des wohlhabend gewordenen Speckhökertums das Herz um."

Fontane würde jedoch verkannt, betrachtete man ihn nur als den späten Schreiber, der die Wirren seines vergangenen Lebens einsichtig kunstvoll verarbeitet. Diese Einsichten errang er im Kampf mit dem Leben, in dem er auch einige Male unterlag.

Er mußte mitten im Gewühl gestanden haben, bevor er darüber schreiben konnte. Fontane war ein Mensch seiner Zeit und zugleich ihr distanzierter weitsichtiger Repräsentant.

In Brandenburg wird der 200. Geburtstag Theodor Fontanes gefeiert. Unter dem Titel "fontane.200" gibt es ein vielfältiges Veranstaltungsprogramm. Bad Freienwalde stellt das Fontanehaus im Ortsteil Schiffmühle in den Fokus des Jubiläumsjahres. Es ist einer der wenigen erhaltenen authentischen Orte der Fontanes. Dort lebte sein Vater Louis Henri mit seiner Haushälterin. "Hätte Theodors Vater nicht in Schiffmühle gelebt, Fontane wäre wohl nicht nach Freienwalde gereist." Und er hätte wohl auch nicht schreiben können: "Und so wandere ich und schaue in die Gärten und sehe auf den Leinen neben den großen weißen Laken, auch lustig winkende Socken in immer wieder langen Reihen im frischen Wind wehen. Und das Gemüt wird mir recht heiter bei diesem Bilde, und der Weg durch die Wälder und Fluren geht mir noch einmal so gut von den Füßen."

Heinz Pocher
Strausberg

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Die Einheit - eine Abrechnung

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Gau(c)klereien zum 70. Jahrestag der BRD-Gründung

Vor kurzem beging die BRD den 70. Jahrestag ihrer Staatsgründung. Aufmerksame Zeitgenossen werden sich nun fragen: Hoppla, war da was? Na, zumindest nicht viel, außer ein paar politische Sonntagsreden im Mai. Zum 50. und 60. Staatsjubiläum zelebrierte man ungefähr das gleiche Szenario. Vielleicht sind deshalb vielen Menschen in der annektierten DDR noch immer die Bilder der Festlichkeiten zu deren 40. Geburtstag gut im Kopf verankert - und ein Bericht aus der ARD-Tagesschau, in dem damals diese Festivitäten als "aufwendig" bezeichnet worden waren. Aus dem Munde des Klassenfeindes klang das schon fast wie ein Lob oder auch wie das Eingeständnis, daß man derartige Aktionen wohl niemals hätte auf die Beine stellen können. Die seit der "Wiedervereinigung" vergangenen 30 Jahre haben das inzwischen mehr als eindeutig bewiesen.

Wann immer aber die politische Stimmung in der BRD ganz tief im Keller ist, wird Bundespräsident a. D. Joachim Gauck aus der Versenkung geholt, um der Bevölkerung das kapitalistische Paradies schönzureden. So hat sich der ehemalige Pastor für das ZDF auf die Suche nach der Einheit begeben. In seinen einleitenden Worten faselt Gauck von "glücklichen Zeiten" mit fast herrschender Vollbeschäftigung. Den Leuten gehe es folglich gut. Wie oft wollen uns die politisch (Ex-) Verantwortlichen diese Platitüden eigentlich noch um die Ohren hauen? Ein Blick auf die zentralen Straßen und Plätze Berlins allein genügt, um klar zu erkennen, daß das eben nicht so ist.

Gauck aber hat andere Sorgen. So kann es der einstige Kirchenmann noch immer nicht verstehen, welche "Wut" und welcher "Haß" den höchsten BRD-Repräsentanten bei den Einheits-Feierlichkeiten im Oktober 2016 in Dresden entgegengeschlagen war - ihn eingeschlossen. Schließlich handele es sich doch um Akteure, die aus dem Volk kommen und von diesem demokratisch gewählt worden sind.

Sich selbst kann Gauck damit allerdings nicht gemeint haben. Zur Erinnerung: Sein Vorgänger Christian Wulff war einst medial aus dem Amt gemobbt worden. Dann erpreßte die FDP im politischen Hinterzimmer CDU-Kanzlerin Merkel mit der Androhung eines Koalitionsbruchs zur Absegnung von Gaucks Kandidatur für das höchste Staatsamt. Letztlich wurde er von der Bundesversammlung gewählt, die derartig zusammengesetzt ist, daß hier nichts gegen den Baum gehen kann. Wo bitte war bei diesem Vorgang die Masse des Volkes involviert?

So eine Suche nach der Einheit kann natürlich nicht vonstatten gehen, ohne daß die gute alte "Stasi"-Keule wieder aus dem Sack geholt wird. Gauck trifft sich hierzu eigens mit Marianne Birthler in der einstigen MfS-Zentrale an der Berliner Normannenstraße. Beide fabulieren dort in ihren Erinnerungen mit Halbwahrheiten vom "Kommunismus" oder der "Diktatur einer Partei" in bezug auf die DDR. Immerhin läßt sich Birthler noch zu einer Äußerung hinreißen, die tiefe Einblicke in ihre politischen Absichten vom Herbst 1989 gewährt. Sie wollte schon immer "Bürgerin eines freien Landes sein und in einem Rechtsstaat leben". Das sei erreicht worden. Somit ist klar, daß es dieser Dame zu keiner Zeit um einen reformierten Sozialismus in der DDR ging, sondern immer um die Abschaffung des ersten Arbeiter-und-Bauern-Staates auf deutschem Boden. Später wird noch Lothar de Maizière als letzter DDR-Ministerpräsident von Gauck vorgeladen, um mit ihm einmal mehr über seine eventuellen MfS-Verstrickungen zu diskutieren. Einigen können sich die Herren erneut nicht. Aber der einstige Bundespräsident scheint sich noch immer in seiner alten Rolle als Inquisitor zu gefallen.

Fast schon bewundernswert sind Gaucks einfache Lösungen für den Weg ins BRD-Glück. Denn die Demokratie böte doch die Möglichkeit, zahlreiche Unternehmen oder Parteien zu gründen, läßt er verlauten. Sollte wohl im Klartext heißen: Fortan gibt es in diesem Land 60 Millionen Unternehmer und 20 Millionen Landtags- oder Bundestagsabgeordnete und damit keine Probleme mehr. Und was ihn immer noch umzutreiben scheint: sein immerwährender Kampf gegen den Sozialismus zu seinen Rostocker Zeiten, denn er ist nach wie vor Thema auf der Suche nach der Einheit.

Am Ende watet Gauck samt Lebensgefährtin Daniela Schadt den Ostseestrand von Mecklenburg-Vorpommern entlang. Die große Welle der Erkenntnis kommt auch hier nicht. Der Alt-Bundespräsident lobt zwar noch den Aufbau Ost mit den sanierten Innenstädten, Marktplätzen und Autobahnen. Aber kein Wort zu dem gnadenlosen Raubzug in der Wirtschaft, der Vernichtung von Kultur, Sport oder auch Nahverkehrsstrukturen.

Fazit: Einheit gesucht und nicht gefunden!

Rico Jalowietzki

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Willenserklärung des Ostdeutschen Kuratoriums von Verbänden zum 70. Jahrestag der Gründung der DDR

Wir, die Teilnehmer an der heutigen Veranstaltung aus Anlaß der 70. Wiederkehr der Gründung des ersten deutschen Friedensstaates, der Deutschen Demokratischen Republik, melden Widerspruch zur gegenwärtigen Innen- und Außenpolitik der Bundesrepublik an.

Wir vermitteln die historische Wahrheit: Die Erhaltung und Festigung des Friedens war in der DDR im Verbund mit den sozialistischen Länder Staatsdoktrin. Die größte Gefahr für den Frieden in Europa entstand durch die Grenzöffnung vor 30 Jahren und die Zerschlagung dieses ersten deutschen Friedensstaates.

Wir fordern, die in der DDR gültige Maxime "Von deutschem Boden darf nie wieder ein Krieg ausgehen" zur Maxime für ganz Deutschland zu machen.

Wir stellen fest, daß die Militärdoktrin der Bundesregierung sich an den Interessen des Finanz- und Monopolkapitals ausrichtet. Junge Menschen dienen als Kanonenfutter für imperiale Ziele, zur Rohstoffsicherung und Unterdrückung anderer Länder. Sie werden durch scheinheilige falsche Versprechen und Lügen verführt, Waffen gegen andere Völker einzusetzen.

Wir fordern Beendigung aller Kriegseinsätze der Bundeswehr und Stop aller Waffenexporte. Zur Sicherung des Friedens in Europa sind gutnachbarliche Beziehungen zu Rußland oberstes Gebot.

Fast 30 Jahre nach dem Beitritt ist Ostdeutschland zur Kolonie in Deutschland verkommen. Die wesentlichen Merkmale eines Kolonialsytems wurden durchgesetzt:

  • das politische, juristische und wirtschaftliche System des "Mutterlandes" wurde komplett übergestülpt
  • das Eigentum in Händen westlicher Konzerne und Bürger konzentriert
  • die Wirtschaft weitgehend zerstört und zur Zulieferung an die westlichen Konzerne degradiert
  • ausgebildete Arbeitskräfte sind millionenfach abgewandert
  • wirtschaftliche und soziale Leistung sind weit zurückgeblieben
  • die Kommandohöhen in der Politik, der Wirtschaft und der Verwaltung wurden durch Bürger aus den alten Bundesländern besetzt
  • die kulturelle Identität Ostdeutschlands wurde verfälscht und mißachtet.

Wir fordern die Regierung auf, ihre Ankündigungen zum Stop des Sozialabbaus und zur Angleichung der Lebensverhältnisse in allen Bundesländern sowie die Achtung der Würde aller Menschen gemäß Einigungsvertrag und Grundgesetz umzusetzen.

Wir wenden uns gegen jede Form des Rechtsruckes, den sich daraus entwickelnden Faschismus und Rassismus sowie den Mißbrauch des Flüchtlingselends für populistische volksverhetzende politische Ziele.

Wir stellen fest, daß die Krise des kapitalistischen Systems immer breiter um sich greift. Mit imperialer Machtpolitik versucht das deutsche Kapital, Krisenerscheinungen im eigenen Land auf Kosten anderer Länder zu bewältigen.

Wir fordern die Beendigung dieser Krisenpolitik und Solidarität mit allen von der Krise betroffenen Menschen in allen Ländern.

Neuenhagen, 7. Oktober 2019

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Die DDR stand bis zuletzt an der Seite Afghanistans

Erst mit dem Sturz der Monarchie und der Ausrufung der Republik im Jahre 1973 in Afghanistan wurden einige Mitglieder der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA), vor allem aus den Reihen der Offiziere, die Prinz Mohammad Daud zur Macht verholfen hatten, ins Kabinett aufgenommen. Diese bewirkten, daß Afghanistan die Deutsche Demokratische Republik (DDR) diplomatisch anerkannte. Mit der Aprilrevolution 1978 leitete die Regierung der Demokratischen Republik Afghanistans (DRA) unter Führung der DVPA eine grundlegende Umgestaltung der feudalen und vorfeudalen Verhältnisse im Land und eine "sozialistische Orientierung" am Hindukusch ein.

Obwohl Afghanistan für die DDR noch nicht als Schwerpunktland in der Außen- und Entwicklungspolitik galt, leistete sie umfangreiche Hilfe und Solidarität. Schon 1979 wurde ein Handelsabkommen und eine Kooperationsvereinbarung zwischen der Humboldt-Universität Berlin und der Universität Kabul über einen akademischen Austausch abgeschlossen. Noch im gleichen Jahr begannen Medienspezialisten aus der DDR afghanische Kollegen in fortschrittlichem Journalismus auszubilden. Ab 1980 entwickelte sich zwischen beiden befreundeten Ländern eine vielfältige Kooperation. In Kabul wurde die Botschaft der DDR eröffnet, und es wurden Kultur- und Wirtschaftsabkommen abgeschlossen. Darüber hinaus intensivierte sich die Zusammenarbeit der DVPA mit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), mit dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB), der Freien Deutschen Jugend (FDJ), dem Demokratischen Frauenbund Deutschlands (DFD) sowie zwischen Medieneinrichtungen wie dem Fernsehen, dem Rundfunk und den Nachrichtenagenturen beider Länder. Am 21. Mai 1982 wurde während des Besuchs von Babrak Karmal, Vorsitzender des Revolutionsrates und Generalsekretär der DVPA, in Berlin ein Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit ratifiziert. Bis Mitte 1987 gab es bereits über 30 staatliche Abkommen zwischen beiden Staaten.

Schwerpunkt der Solidaritätsarbeit war der Bildungssektor. Basierend auf dem beiderseitigen Kulturabkommen von 1980 ratifizierten die DDR und die DRA Ende 1981 ein Regierungsabkommen über die Aufnahme von Hochschulabsolventen und Studenten sowie über die gegenseitige Anerkennung akademischer Grade und Zeugnisse.

In diesem Rahmen wurden jährlich 50 afghanische Studierende mit DDR-Stipendien ausgestattet, von denen bis zu 15 zur Promotion zugelassen wurden. Voraussetzung für die Zulassung zum Studium waren natürlich entsprechende Deutsch-Kenntnisse. Zusätzlich besuchten die Kandidaten einen einjährigen vorbereitenden Sprachkurs am Herder-Institut in Halle. Der Frauenanteil unter den afghanischen Studierenden lag bei 10 bis 20 Prozent.

1982 reiste der Staatssekretär des afghanischen Ministeriums für Hoch- und Fachhochschulen, Abdullah Spantgar, in die DDR und verhandelte über weitere Stipendien für afghanische Studierende. Auch die Bereitstellung einer Laboreinrichtung für die Medizinische Fakultät der Universität in Kabul wurde vereinbart. Bis Mai 1982 hatten über 600 Afghanen die Möglichkeit, an DDR-Bildungseinrichtungen in verschiedenen Fachrichtungen ausgebildet zu werden.

Im afghanischen Bildungsministerium arbeiteten DDR-Berater in den Abteilungen für Planung, Haushalt, Sport und Kindergärten. Afghanistan übernahm vollständig das Bildungssystem der DDR. Eine Freundschaftsbrigade der FDJ war seit September 1986 am Elektro-Mechanischen Technikum Kabul eingesetzt, einer Berufsschule, die 1937 aus einer Werkstatt der Firma Siemens hervorging und nach dem 2. Weltkrieg im Rahmen der Entwicklungspolitik von der BRD gefördert wurde. Der Verfasser dieses Beitrags ist Absolvent dieses Technikums.

Die DDR-Helfer waren als Ausbilder und Lehrer in Metall- und Elektroberufen tätig und wirkten auch an der Entwicklung des Lehrplanes mit. Zudem arbeiteten sie "ein Projekt zur technischen Ausrüstung" des Technikums aus. Die erste Bildungseinrichtung, an der Deutsch-Unterricht neu eingeführt wurde, war das Mahmud-Hotaki-Lyzeum in Kabul. Die ersten drei DDR-Deutschlehrer trafen bereits 1980 an dieser Schule ein. Sie und eine größere Nachfolgegruppe erarbeiteten neue Lehrpläne und Unterrichtsmittel. Geplant war, die Absolventen dieser Schule an die Universität und die besten unter ihnen zum Studium in die DDR zu schicken. Der Unterricht in deutscher Sprache sollte nach Englisch und Russisch zur dritten Fremdsprache im afghanischen Bildungswesen werden. Deshalb führte man ab 1986 Deutsch als Fremdsprache schrittweise an mehreren Kabuler Schulen und in der Provinz Balkh im Norden des Landes ein. Die afghanischen Lehrkräfte erhielten im Heimatland und in der DDR regelmäßige Weiterbildungskurse, darunter Studienplätze und Aspiranturen. Ab 1988 begann die Erarbeitung einer neuen Lehrbuchreihe mit einer modernen didaktischen Konzeption. Im gleichen Jahr wurden Spezialklassen für die Studienvorbereitung in der DDR eingerichtet.

Ab 1990 bildete sich am Mahmud-Hotaki-Lyzeum in Kabul ein Deutschlehrerkollektiv heraus, das führend an der Durchsetzung der neuen didaktisch-methodischen Konzeption beteiligt war. Hier wirkten sowohl afghanische Lehrkräfte als auch Lektoren aus der Deutschen Demokratischen Republik.

Die Solidarität der DDR mit der DRA war grenzenlos. Viermal jährlich brachte die DDR-Fluggesellschaft Interf lug Solidaritätsgüter nach Kabul, die über das DDR-Solidaritätskomitee und mit Soli-Spenden von Mitgliedern der FDJ und des FDGB finanziert wurden. 1985 betrug die Gesamtsumme der Spenden mehr als 200 Millionen DDR-Mark, mehr als die Hälfte davon wurde von FDGB-Mitgliedern erbracht. Auch das Rote Kreuz und die evangelische Kirche der DDR - im Rahmen der Aktion "Brot für die Welt" - stellten Solidaritätslieferungen für Afghanistan bereit. Eine der ersten Lieferungen im Februar 1981 enthielt 200 Laborgeräte für die Fächer Physik, Biologie und Chemie vom VEB Metallbau und Labormöbelwerk Apolda, drei Tonnen Arzneimittel, vor allem Antibiotika, Vitaminpräparate und schmerzstillende Mittel aus dem VEB Berlin-Chemie, dem VEB Arzneimittelwerk Dresden, dem VEB Jenapharm und dem VEB Fahlberg-List Magdeburg, des weiteren Verbandsmaterial und 2000 Anoraks. Die Behandlung von afghanischen verwundeten Zivilisten und Sicherheitskräften, die von der Konterrevolution angegriffen worden waren, wurde aus Solidaritätsmitteln finanziert. Mitte 1987 hatten die für die RDA verwendeten Solidaritätsgelder ein Gesamtvolumen von über 75 Millionen DDR-Mark erreicht. Die DVPA bekam eine komplette Druckerei aus der DDR als Geschenk. Eine Freundschaftsgesellschaft DDR-Afghanistan wurde gegründet.

Im Sommer 1980 entstand in Afghanistan die Nationale Vaterländische Front. Damit sollte eine breite Teilhabe der Bevölkerung am revolutionären Prozeß ermöglicht und die Basis der Unterstützer der Revolution erweitert werden. Auch hierbei hat die DDR unterstützend gewirkt. Dr. Norbert Podewin, ehemaliges Mitglied des Nationalrates der Nationalen Front der DDR und Historiker, war diesbezüglich einer der führenden Berater in Kabul. Die diplomatische Vertretung der DDR schlug der afghanischen Partei- und Staatsführung vor, nach dem Muster der DDR ein Mehrparteiensystem einzuführen. Kurz danach wurde die Gründung einer Bauern-und einer Islamischen Partei sowie die unabhängige afghanische Linkspartei zugelassen. Diese Parteien existieren heute noch.

Die afghanische Polizei und der Geheimdienst (KhAD) waren seit Anfang des 20. Jahrhunderts fast nahtlos ein Projekt Deutschlands bzw. der BRD. Als die Bundesrepublik ihr Engagement beendete, übernahm die DDR ab 1980 die Aus- und Weiterbildung der afghanischen Polizei und zum Teil auch des Geheimdienstes. Afghanische Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere wurden in der DDR ausgebildet. Die Nationale Volksarmee (NVA) unterstützte die afghanische Armee mit Nachrichtentechnik.

Festzuhalten bleibt, daß die DDR faktisch bis zum letzten Atemzug aktive Solidarität mit Afghanistan leistete. Dieser Staat ist nicht mehr da, aber das afghanische Volk wird dessen Solidarität nie vergessen. Die DDR lebt im kollektiven Gedächtnis der afghanischen Patrioten.

Dr. Matin Baraki

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40 Jahre DDR - nur Geschichte?

RotFüchse aus Eberswalde trafen sich am 70. Jahrestag der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik. Wir sangen die DDRNationalhymne, tranken Rotkäppchen-Sekt, naschten Halloren-Schokokugeln und aßen Torte aus einer Konditorei der bundesdeutschen Gegenwart. Wir sahen uns Filme an und hörten vertraute Kampflieder aus dem vorigen Jahrhundert, aber aus nicht vergangenen Zeiten. Wir nahmen auch ein Video zur Kenntnis, auf dem ein junger Mann die DDR erklärte. In Punkt sieben kam er zum Schluß, daß sie eine Diktatur war. In seinem Vortrag kamen die Worte Frieden, Freundschaft, Solidarität nicht vor. Sie kommen auch bei anderen nicht vor, wenn sie über die DDR schwatzen. In der Nationalhymne des bürgerlichen Deutschlands fehlen sie. Dafür heißt es dort, daß Einigkeit, Recht und Freiheit des Glückes Unterpfand sind. Und so waren wir schnell bei den Themen: Was war die DDR? Warum haben wir verloren? Wie geht es weiter? Drei Genossen der Gruppe hatten am gleichen Tag an der Veranstaltung teilgenommen, in der das OKV an den 70. Jahrestag der Gründung der DDR, des ersten deutschen Friedensstaates, erinnerte. Dort sagte Hans Modrow, daß "eine gute Zukunft ohne Nachdenken über den Sozialismus im 21. Jahrhundert" nicht möglich sei. Das sehen wir genauso.

Wir sprachen über unsere DDR. Unter uns herrscht kein Zweifel, daß sie die größte Errungenschaft des Kampfes der deutschen Arbeiterbewegung war und bleibt. Als sie existierte, ging von deutschem Boden kein Krieg aus. Die Jugend der DDR sang "Frieden, Freundschaft, Solidarität" und lebte diese Werte. Wir waren uns auch einig darin, daß die DDR noch nicht ideal und vollkommen war, daß ihren Führungen Fehler unterliefen. Der Aufbau eines sozialistischen Staates war etwas Neues, noch nicht Erprobtes. Für diese neue Aufgabe gab es noch kein Musterprojekt und keine Anleitung. Jeder Schritt war einer ins Neuland, jede Handhabe eine neue Prüfung. Nicht die Fehler unserer Führungen ließen den ersten sozialistischen Anlauf auf deutschem Boden scheitern. Wenn dem so wäre, dann hätte die deutsche Bundesrepublik schon längst untergehen müssen. Es gelang uns nicht, ein im Klassenkampf mit dem Kapitalismus wettbewerbsfähiges sozialistisches ökonomisches System zu entwickeln.

Sofort kam die Volksrepublik China ins Gespräch. Sie will bis 2049 so weit sein, daß sie die Grundlagen für den Aufbau des Sozialismus schaffen kann. Wir wünschen ihr, daß ihr Gesellschaftskonzept erfolgreich ist. Das Weiterleben der sozialistischen Idee sehen wir auch im Kampf der linken und Fortschrittskräfte Lateinamerikas und der Karibik. Zum 25. Treffen des Forums von São Paulo im Juli dieses Jahres trafen sich in Caracas, der Hauptstadt Venezuelas, 400 Delegierte von 120 fortschrittlichen Parteien und gesellschaftlichen Bewegungen aus 70 Ländern. Es kamen Delegierte von allen fünf Kontinenten. "Einheit und Frieden" waren die Schlagworte der Veranstaltung. Im Schlußwort bezeichnete der kubanische Präsident Miguel Díaz-Canel die Einheit als das entscheidende Kampfmittel, um der Gegenoffensive des Imperialismus und der Oligarchie zu trotzen. Er sagte: "Um die Träume und Hoffnungen zu retten, als der europäische sozialistische Versuch zusammenbrach, gründeten Fidel und Lula dieses Forum als Ausdruck der fortschrittlichen Kräfte, damit sie ihre Aktionen in dem begründen, was sie eint und nicht in dem, was sie trennt." Wir verstehen diese Worte auch als eine Mahnung an die linken Kräfte der Bundesrepublik Deutschland. Wir haben aber auch Zweifel, daß sie verstanden wird.

Der kubanische Präsident betrachtet "die Gegenoffensive des Yankee-Imperialismus und der Oligarchie als Ausdruck der imperialistischen und oligarchischen Angst vor der Linken an der Macht". Die Rückschläge der Fortschrittskräfte in einigen Ländern seien Ergebnis der Spaltung, die zwischen ihnen aufkommt. Diese zerlege und schwäche den erklärten Willen, einheitlich zu wirken. Es gäbe Linke, die kein strategisches politisches Programm haben, die von den sozialen Bewegungen getrennt wirken und sich selbst als Alternative ausschließen. Trifft das nicht auch für linke Kräfte in unserer politischen Landschaft zu?

Wir sprachen über die Solidarität, die von der DDR ausstrahlte. Heute befinden sich Kuba, Nikaragua und Venezuela im Fadenkreuz der imperialistischen und oligarchischen Angriffe. Keine Frage, daß wir solidarisch an ihrer Seite stehen. Auf die Frage, wie wir diesen Ländern heute helfen können, lautet unsere Antwort: am besten, indem wir in Deutschland für politische Verhältnisse sorgen, die Schluß mit den Angriffen auf die um ihre Befreiung kämpfenden Völkern machen. Das ist ein langer Weg!

Die Idee vom Sozialismus lebt fort, weil es die DDR gab, nicht weil sie verlor und annektiert wurde. Die Idee zu erhalten und weiterzutragen, ist eine große Verantwortung. Uns darf nicht abschrecken, daß wir angegriffen werden. Wir sitzen nicht in den Kaffeestuben der bürgerlichen Parlamente. Wir leben im Alltag, unter den einfachen Menschen. Neben Drohungen gibt es doch auch Sympathiebekundungen. Ist das nicht Ansporn genug, um weiterzumachen?

Wolfgang Herrmann
Dreesch

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Der Verein "Erinnerungsbibliothek DDR" hat sich aufgelöst

Noch sind es nur einzelne Stimmen, die gegen das Gebrüll "DDR-Unrechtsstaat-Diktatur" für andere Töne plädieren. So nutzte der Historiker Götz Aly seine Kolumne in der "Berliner Zeitung" am 17. September für den Hinweis: "Weil die staatlichen Akten der DDR so übermächtig erscheinen, kommt es darauf an, in höherem Maße als im Westen private Nachlässe aus allen gesellschaftlichen Ecken zu sichern." Und er führte Beispiele an: "die Dokumentationen und Gesprächsabende des Erzählsalons Rohnstock, den Katrin Rohnstock seit Jahren mit bewundernswerter Energie organisiert, ebenso das Projekt Erinnerungsbibliothek DDR". Für Aly "bleibt es falsch", die DDR-Bürger mit Schlagworten der genannten Art "geschichtlich zu erledigen". Eben das war in den vergangenen Wochen wieder Mode in deutschen Großmedien.

Die "Erinnerungsbibliothek DDR" entstand unabhängig und sicher auch gegen das permanente Totschlagspektakel. Über den vor Jahren getroffenen Beschluß des Vereins, sich nach getaner Arbeit und aus Altersgründen aufzulösen, wurde bereits berichtet. Rechtskräftig geschah das nun im Münzenberg-Saal des nd-Gebäudes in Berlin. Den Anstoß, der zur Vereinsgründung führte, hatte ein Artikel über den als "Taubendoktor" bekannten Veterinär Rolf Funda aus Staßfurt in Sachsen-Anhalt geliefert, der Heiligabend 2011 unter dem Titel "Der Traum von einer ganz besonderen Bibliothek" im "neuen deutschland" erschienen war.

Die Autorin Gabriele Oertel schrieb darin über seine Idee, möglichst viele Autobiographien zu sammeln, um sie für spätere Generationen aufzubewahren. Funda selbst schilderte 2014 im "RotFuchs" das Echo auf seinen Text so: Es "brach eine wahre Flut von Anrufen, E-Mails und Briefen über mich herein. Niemals hatte ich mit einer derart überwältigenden Reaktion gerechnet. Und so zeichnete sich bald ab, daß dieses Projekt einen einzelnen hoffnungslos überfordern würde, so daß sich nur ein gemeinnütziger Verein dieser großen Aufgabe stellen könnte."

Seine Bilanz: Mehr als 1000 Bücher von mehr als 2000 Autorinnen und Autoren hat der Verein gesammelt, Bücher, "die vom Leben in der DDR künden". Die "Erinnerungsbibliothek" habe den "Löwenanteil der Aufzeichnungen" erhalten, die nach 1990 vor allem von freigestellten und "davongejagten" Führungskräften der DDR verfaßt wurden. Sie seien als in der DDR Aufgewachsene des Schreibens mächtig, ohne Schriftsteller oder Journalisten zu sein. Die Sammlung sei "eine Goldgrube für spätere Zeiten, in denen man sich für den kleinen Staat wieder interessieren wird".

So sah das auch das Bundesarchiv, das die Erinnerungsbibliothek vor einigen Jahren in seinen Bestand aufnahm. Damit sei die Sammlung auf Dauer gesichert, so Funda, unabhängig von politischen Konjunkturen.

Die 41 anwesenden Vereinsmitglieder (von 95) votierten einstimmig für die Auflösung des Vereins mit Wirkung zum 10. Oktober. Die Liste der vorhandenen Bücher, die zum Teil schon Signaturen des Bundesarchivs tragen und damit für Interessenten zugänglich sind, bleibt bis Ende 2039 auf der Vereinswebseite zugänglich.

Arnold Schölzel

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Die DDR mit den Augen eines Schweizer Lehrers gesehen

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Eurozentrismus
Moderne, Religion und Demokratie

Wer kennt diese Weltkarte nicht: Europa plaziert sich in der allerschönsten Mitte und wirkt irgendwie bedeutender als die peripher gelegenen Kontinente Afrika, Asien und Amerika. Die sind eigentlich riesig, aber der Blick auf die Weltkarte belehrt uns: Europa ist das Zentrum dieser Welt.

Von den meisten Europäern wurde diese Weltsicht verinnerlicht, wobei man im Westen Europas das russische Osteuropa gern auch einmal für asiatisch hält. Jedenfalls gehört es, wie heute wieder mit Nachdruck phrasiert wird, "nicht wirklich" zu Europa. Mit diesem Eurozentrismus setzt sich der ägyptisch-französische Autor Samir Amin in einer Aufklärungsschrift auseinander, die bereits 2008 in Lyon erschien und zum Teil Texte aus dem Jahre 1988 enthält. Jetzt endlich ist dieses bedeutsame Werk auch auf Deutsch erschienen. Dem Verlag und seinem Verleger ist dafür sehr zu danken, denn was Amin in diesem relativ schmalen Band zur Sprache bringt, das zielt mitten hinein in die heute geführte politische Europa-Diskussion und deckt die Verlogenheit und die mangelnde Bildung der meisten Europa-Protagonisten auf.

Der im August letzten Jahres verstorbene Ökonom und Politikwissenschaftler Amin ist auch in der internationalen Politik kein Unbekannter. Er war Regierungsberater in Ägypten und Mali, zehn Jahre lang Direktor des Afrika-Instituts für Ökonomische Entwicklung und Planung in Dakar und bis zuletzt Leiter des Dritte-Welt-Forums. Als Professor in Poitiers, Dakar und Paris veröffentlichte er zahlreiche Schriften zur Situation und Entwicklung der "Dritten Welt".

Einige der arabisch bzw. französisch verfaßten Texte liegen in deutscher Übersetzung vor. Jetzt also "Eurozentrismus". Und es ist bemerkenswert: Auch nach der Niederlage des europäischen Sozialismus beharrt Amin darauf, Marxist geblieben zu sein - im Unterschied zu vielen Linken, die sich im Kapitalismus eingerichtet hätten. Ohne Marx lasse sich die Welt gar nicht verstehen, und es würde uns jene ökonomische Analytik fehlen, die uns in die Lage versetzt, die gesellschaftlichen Gesetze des Ökonomischen und die ökonomischen Maßgaben des Gesellschaftlichen durchschauen zu können. Und auch dieses ist für Amin klar: Wenn unsere Welt nicht irreversibel zerstört werden will, dann gibt es für sie nur eine "Lösung": in der "Perspektive einer sozialistischen Alternative" (S. 241). Entweder es kommt zu einer "globalen sozialistischen Transformation" (S. 171), oder wir geraten weltweit in apokalyptische Realitäten, in die "schlimmste Barbarei" (S. 162).

Sozialismus oder Barbarei. Das klingt nicht nur radikal, es ist auch ganz radikal gemeint. Dabei ist Amin alles andere als ein rigoristischer Dogmatiker. Er ist eher ein historisch argumentierender und dialektisch reflektierender Pragmatiker; aber ein Pragmatiker, der an die Wurzeln geht. Und hier sieht er einen Kapitalismus (einen, wie er durchgängig betont, "real existierenden Kapitalismus"), der bereits in seiner geschichtlichen Genese den Keim zur Zerstörung in sich trägt. Von Anfang an lebt er nicht nur von der Ausbeutung der Arbeit, sondern auch von einer zunehmend globaler und aggressiver werdenden Polarisierung. Der Kapitalismus lebt von der wesenseigenen Polarisierung von Zentrum und Peripherie.

Der "real existierende Kapitalismus" und seine "weltweite Expansion hat die Vereinheitlichung der Welt nicht auf die Tagesordnung gesetzt. Sie hat vielmehr eine neue Polarisierung geschaffen, die an der Peripherie die vorkapitalistischen Gesellschaftsformen den Bedürfnissen der Kapitalproduktion in den zentralen Formationen unterwirft. Indem der Kapitalismus diese Polarisierung in jeder weiteren Etappe seiner globalen Expansion reproduziert und vertieft, hat er eine andere Revolution auf die Tagesordnung gesetzt als die proletarische Weltrevolution: die der Völker der Peripherie, die Opfer dieser Polarisierung sind. Wir stoßen hier wieder auf einen Aspekt der ungleichen Entwicklung, weil die Notwendigkeit einer Infragestellung des Kapitalismus ... viel stärker in den Peripherien als in den entwickelten Zentren zum Ausdruck kommt. Das muß man zur Kenntnis nehmen und daraus Schlüsse ziehen."

Gewisse Analogien zu Lenins Imperialismus-Analyse lassen sich bei Amin durchaus erkennen, auch wenn Lenin andere Schlußfolgerungen gezogen hat. Aber die Oktoberrevolution fand ja durchaus nicht im Zentrum des Kapitalismus statt, sondern an seiner Peripherie. Und Lenin war auch nicht der Meinung, Rußland müsse zuerst die Entwicklung zu einem entwickelten Kapitalismus durchlaufen, bevor es sich von diesem revolutionär befreien könne. 1917 konnte von einem entwickelten Kapitalismus in Rußland gar nicht die Rede sein.

Für Amin ist das überhaupt der springende Punkt: die Vorstellung einer geschichtlichen Entwicklung, die notwendig die Stadien Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus, Kapitalismus, Sozialismus durchlaufen müsse, um schließlich im Kommunismus anzukommen. Erst wenn eine Gesellschaftsformation "überreif" geworden ist, entspringt ihr eine andere. Diese Vorstellung, so Amin, spiegelt die Geschichte nicht adäquat wider. Sie kann sogar kontraproduktiv werden, wenn man sich auf einen solchen Algorithmus politisch verläßt.

Geschichtliche Verläufe formieren sich auch anders, nämlich im Spannungsfeld von Zentrum und Peripherie. Das Römische Reich wurde von peripheren Barbaren entmachtet, und in eben dieser Peripherie entwickelte sich schließlich ein kapitalistisches Zentrum, das nun seinerseits neue Peripherien schuf und schafft (aktuell: Europa der zwei Geschwindigkeiten). Und das nicht zufällig, sondern mit einer dem Kapitalismus innewohnenden Notwendigkeit. Expansion und Globalisierung gehören zu seiner Charakteristik: "die Unterentwicklung der einen ist Resultat der Entwicklung der anderen", ein Satz, der "nicht umkehrbar ist" (S. 234).

Amin bestreitet keineswegs die Tatsache, "daß jede Entwicklung in letzter Instanz bestimmt ist durch die ökonomische Basis" (S. 212), aber er will die Perspektive weiten und auf Zusammenhänge hinweisen, die sich zu dieser "letzten Instanz" komplementär verhalten und einen Ansatz für politische Schlußfolgerungen erlauben. Und die sind für die "Dritte Welt" überlebensnotwendig.

Folgt man Amin, dann müßte man sagen, daß allein schon der Begriff "Dritte Welt" in die Irre führt, denn die "Erste" und die "Dritte Welt" gehören zu einem System, und eine "dritte" Welt gibt es nur, weil es eine "erste" Welt gibt. Zentrum und Peripherie sind eine Einheit. Genau diese Erkenntnis steht im Fokus von Amins Analytik, die in die Lage versetzt, zu verstehen, daß das Zentrum seine Peripherie auch genauso sieht - wiewohl das offiziell zu einem Staatsgeheimnis, zu einem Systemgeheimnis erklärt werden muß. Amins entscheidende Schlußfolgerung lautet denn auch: Die "Dritte Welt" wird sich von der Ersten nur befreien können, wenn sie sich von dieser "abkoppelt" und einen radikalen "Bruch" vollzieht, statt auf eine "Angleichung durch Nachahmung und Auf holen" zu setzen (S. 160). Das Zentrum wird niemals zulassen, daß es "aufgeholt" wird.

Und tatsächlich, was wir in der Geostrategie des Westens (des Zentrums) erleben, ist genau dieses: Wo immer sich die Peripherie abzukoppeln versucht, wird das mit Sanktionen, Staatsstreichen und Bombardements beantwortet, bis hin zur völligen Zerstörung von Staaten. In den Kriegen unserer Tage geht es um Erdöl und um Abkoppelung.

Für den Westen ist das alles ganz selbstverständlich, denn er hat sich mit einer Herrschaftsideologie umgeben, die geradezu metaphysisch davon ausgeht, daß das Zentrum natürlich das Zentrum ist, dem sich alle anderen unterzuordnen haben. Deshalb pflegt er einen Eurozentrismus, der unhinterfragbar sein will.

Amin freilich hinterfragt ihn ganz radikal und kommt dabei zu höchst unkonventionellen Thesen. Europa schmücke sich mit den alten Griechen, doch in Wahrheit wurde Griechenland vom Abendland "annektiert". Und das geht so: "Man kappt ... die Verbindung Griechenlands zum alten Orient (Ägypten, Mesopotamien, Syrien, Persien), man setzt es dem Orient sogar entgegen (das europäische Athen, die Demokratie - auch wenn sie sich Sklaven hielt -, im Gegensatz zu den asiatischen Persern, die natürlich Barbaren waren ...) so wie man später das Christentum mit dem Islam konfrontiert (und dabei vergißt, daß es aus dem Orient kommt), das griechische Kind mit dem osmanischen Despoten etc. Das ist eine Legende, die aus dem 19. Jahrhundert stammt." (S. 213)

Das ist nicht die einzige Legende, die Amin zerstört. Auch der Mythos von den christlich-jüdischen Wurzeln der abendländischen Kultur wird von ihm entmythologisiert, und den "Einschnitt zwischen Antike und Mittelalter" findet er bereits in der Zeit Alexander des Großen (S. 123).

"Eurozentrismus" ist ein überaus anregendes Buch, mit vielen Analysen und facettenreichen Informationen auch zu Geschichte und Gegenwart des Islam. Seine Lektüre kann nur nachdrücklich empfohlen werden.

Dieter Kraft


Samir Amin: Eurozentrismus. Moderne, Religion und Demokratie.
Mangroven-Verlag, Kassel 2019, ISBN 9783946946083, 242 S., 25 €

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BUCHTIPS

Rolf Gloël u. a.: Gegen rechts argumentieren lernen
Aktualisierte Neuausgabe

Rassistische und nationalistische Vorstellungen und Taten müssen als das genommen werden, was sie sind: Äußerungen eines politischen Standpunktes, der sich nicht durch Ächtung (siehe den Umgang der etablierten Parteien mit AfD, Pegida etc.) oder Verbote (Parteienverbote, Strafverfolgung nach Übergriffen auf Flüchtlinge etc.) aus der Welt schaffen läßt. Es gilt, Menschen, denen völkische und ausländerfeindliche Urteile einleuchten, brauchbare und stichhaltige Argumente gegen Rassismus und Nationalismus nahezubringen.

Die Autoren wollen diese kritische Auseinandersetzung fördern. Sie setzen sich dabei von der verbreiteten Methode ab, nationalistischen Positionen dadurch den Wind aus den Segeln nehmen zu wollen, daß um deren glaubwürdigere "Besetzung" konkurriert wird. So führen etablierte Parteien, aber auch Pädagogen und Wissenschaftler angesichts der Wahlerfolge der AfD eine Diskussion, inwieweit sie es versäumt haben, die "berechtigten Sorgen der Bürger" - als die sie die zunehmende Zustimmung zu nationalistischen und ausländerfeindlichen Parolen deuten - "ernst zu nehmen". Die Autoren dieser Handreichung zeigen statt dessen, wie es gelingt, die "rechten" Standpunkte und deren "Logik" als solche ernst zu nehmen und ihnen mit Argumenten entgegenzutreten.

"Wer gegen rechts kritisch-argumentativ Front machen will ..., dem ist mit der umfangreichen Materialsammlung und deren scharfsinnigen Schlußfolgerungen eine äußerst lesenswerte Handlungsanleitung gegeben." (hlz - Zeitschrift der GEW Hamburg)

VSA-Verlag, Hamburg 2017, 192 S., 16,80 €


Heinz-Jung-Stiftung (Hg.):
Wer ist denn hier der Verfassungsfeind?

Radikalenerlaß, Berufsverbote und was von ihnen geblieben ist

Der "Radikalenerlaß" löste in Westdeutschland und Westberlin eine verfassungswidrige Überprüfung mehrerer Millionen und die Verfolgung Zehntausender Anwärter für den öffentlichen Dienst oder dort bereits Beschäftigter aus. Er richtete sich nahezu ausnahmslos gegen engagierte Linke und führte zu zahlreichen Berufsverboten. Sie reichten von Universitätsangehörigen, Lehramtsanwärtern und Lehrern über Postboten bis hin zu Lokomotivführern. In Publizistik und politischer Bildung wird darüber weitgehend geschwiegen. Im vorliegenden Band gehen Historiker, Politikwissenschaftler und Juristen der Vorgeschichte, der politischen Funktion, der historischen Einordnung, der rechtlichen Bewertung und den Auswirkungen des Radikalenerlasses nach. Es werden ausgewählte Fälle vorgestellt, die Solidaritätsbewegungen mit den Betroffenen im In- und Ausland geschildert, und es wird die stockende Aufarbeitung nachgezeichnet. Anhand neuerer Fälle wird die fortbestehende Aktualität dieses unbewältigten Skandals nachgewiesen.

PapyRossa-Verlag, Köln 2019, 230 S., 18 ?



Eike Kopf: Eine chinesische Reformation
Zum Werden eines neuen Zivilisationstyps

Ein kurzer Rückblick auf die Einleitung der welthistorischen Rolle des städtischen Bürgertums in der Schweiz, den Niederlanden, England, den USA, Frankreich, Deutschland und Skandinavien seit Beginn der Reformation von 1517, auf die Schlußfolgerungen von Friedrich Engels und Karl Marx seit 1847 hinsichtlich einer Übergangsetappe zu einem höheren Zivilisationstyp sowie auf die Entwicklung der Volksrepublik China läßt die im Titel der vorliegenden Studie aufgeworfene Überlegung aufkommen: Bewirkt das in China bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts konzipierte und bisher gemeisterte Anfangsstadium des Sozialismus nicht eine ähnliche weltgeschichtliche Initialzündung - auf dem Niveau des 21. Jahrhunderts?

Aus dem Inhalt: Jubiläen der Weltgeschichte seit 1517; Zur Übergangsperiode; Marx und Engels zur politischen Übergangsperiode; Lenin zur politischen Übergangsperiode; Die Arbeiterbewegung des 20. Jahrhunderts zur Übergangsperiode; Von der Dialektik und ihrer zielgerichteten Nutzung; Chinas Anfangsstadium des Sozialismus.

PapyRossa-Verlag, Köln 2019, 152 S., 12,90 €



Heinz Langer: Zärtlichkeit der Völker
Die DDR und Kuba

"Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker." Meist wird dieser Satz Ernesto Che Guevara zugeschrieben, oft Pablo Neruda. Beide könnten ihn gebraucht haben, um die Bedeutung des Zusammenhalts der Völker im Ringen um eine wahrhaft menschliche Gesellschaft deutlich zu machen.

Dieses Buch erzählt von den Beziehungen zwischen der DDR und Kuba, von der solidarischen Verbundenheit ihrer Völker, Staaten und Politiker. Heinz Langer begleitete diese Beziehungen vom Anfang bis zu ihrem erzwungenen Ende - auch als Botschafter der DDR in Kuba. Es ist ein sehr persönlicher Bericht über die Freundschaft zwischen der DDR und Kuba, der Schwierigkeiten und Mißverständnisse nicht ausspart, doch immer von großer Sympathie zeugt.

Verlag Wiljo Heinen, Berlin und Böklund 2010, 174 S., 9,50 €

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Das Buch zum Jubiläum der Schweizer Friedensbewegung

Ein reich illustriertes Paperback "Frieden. Gerechtigkeit. Menschenwürde. 70 Jahre Schweizerische Friedensbewegung" zeichnet die bewegte Geschichte von den "Friedenspartisanen" bis zur heutigen SFB nach, von ihren Wurzeln bis zur Gegenwart. Zurückgegriffen wird dabei auf SFB-eigene Dokumente und Publikationen, auf die Äußerungen ihrer Repräsentanten, auf ihre Aktivitäten - ebenso wie auf Quellen ihrer Kontrahenten, speziell bei der politischen Polizei. Denn die Geschichte der Schweizerischen Friedensbewegung ist von Anfang an auch eine Geschichte des kalten Krieges, des Überwachungsstaates und der Repression - und entsprechend natürlich auch des Widerstandes, der Solidarität.

Vor allem aber ist sie eine Geschichte engagierter, wunderbarer, dem eigenen Leben, dem Leben ihrer Mitmenschen und der Welt zugewandter Persönlichkeiten. Zwei besondere Anhänge runden das Buch ab und führen wieder zurück zu den Wurzeln: ein längst in Vergessenheit geratener Essay von Anna Seghers über den Vorabend des Pariser Friedenskongresses von 1949 und ein Auszug aus dem Picasso-Buch "Für den Tag gedruckt" von Katja Herlach über die Arbeit des großen spanischen Künstlers für die französische und die Weltfriedensbewegung.

Martin Schwander: Frieden. Gerechtigkeit. Menschenwürde.
70 Jahre Schweizerische Friedensbewegung 1949-2019.
Verlag SFB, Basel 2019. Paperback, 464 Seiten, illustriert.
28 Franken plus Porto.
Bestellungen bei Buchhandlung Waser, Rümelinsplatz 17, 4001 Basel.
Telefon: 061 261 02 89, Mail: buecher-waser@bluewin.ch

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LESERBRIEFE

Zu einem Beitrag des "neuen deutschland" vom 21. August, der sich unter der Überschrift "Festival im Gedenken ..." mit dem 30. Jahrestag der "Wiedervereinigung" befaßte, erlaube ich mir, folgendes zu ergänzen: Wäre es nicht historisch wahrheitsgemäßer, neben den sieben Originalschauplätzen des 30. Jahrestages der "Wiedervereinigung" einen achten einzurichten? Vielleicht auf dem Gelände Werk für Fernsehelektronik oder anderswo? Hier könnten sich Treuhandgeschädigte vieler Industriebereiche wie Betriebsleiter, Wissenschaftler, Konstrukteure, Techniker, Brigadevertreter einfinden, die buchstäblich über Nacht ihre Arbeit verloren.
Auch das gehört zu diesen Zeiten und brachte Hunderttausenden nicht nur finanzielle Einbußen. Nein, auch Schmerz und Demütigung.

Atti Griebel, Berlin


Im 30. Jahr des "Mauerfalls" sollte sich in unserem Denken und Handeln die 1989 auf vielen Kundgebungen vorgetragene Forderung "Frieden schaffen ohne Waffen!" endlich verwirklichen. Bei all den vorhandenen Konflikten ertönt seitens verantwortlicher Politiker unseres Landes und leider auch von Journalisten als erstes der Ruf nach militärischem Eingreifen. Sollten wir Deutschen nicht vorangehen in dem Bestreben, zuallererst jedwede Auseinandersetzungen in der Welt mit friedlichen Mitteln zu lösen?
Bezeichnend, daß sich nach dem völkerrechtswidrigen Einmarsch der Türkei in Syrien die "Verteidigungs"ministerin zu Wort meldet und einen weiteren Auslandseinsatz der Bundeswehr erwägt. Der Außenminister bleibt gleich außen vor. Die Diplomatie wird anscheinend seitens der Bundesregierung nicht als erste Wahl bei Konfliktlösungen gesehen.
Leider wird auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen sowie im bundesdeutschen Blätterwald gleich noch in "großdeutscher" Manier unter dem Motto der Verantwortung für die Welt nachgelegt - runter von der Tribüne des Betrachtens sowie der Zurückhaltung und rein ins kriegerische Getümmel.
Die Bundesrepublik sollte vorangehen in einen Entspannungsprozeß mit Überlegungen wie: staatliche Neutralität und Austritt aus der NATO sowie sofortige Beendigung der Auslandseinsätze der Bundeswehr. Dies müßte auch seinen Niederschlag in einer neuen Verfassung finden. Der Bundesadler müßte durch die Friedenstaube ersetzt werden und die Nationalhymne durch die "Kinderhymne" von Brecht. Das unselige Balkenkreuz auf Bundeswehr-Flugzeugen, -Panzern usw. sollte sofort verschwinden. Alles Forderungen, die im "Einigungsprozeß" nicht nur an den Runden Tischen gestellt worden sind. Schon vergessen?

Raimon Brete, Chemnitz


Zum Frühstückskaffee hören wir Radio-Sachsen-Nachrichten, um zu wissen, was es Aktuelles gibt. Am "Tag der Einheit" am 3. Oktober und schon Wochen vorher pausenloser Einheitsjubel, Freiheitsglocken ertönten, Erinnerungsklänge auf allen Kanälen, Genscher, Mauer, "Stasi", prügelnde DDR-Staatsmacht, Sturm gen Westen, "Maueropfer" und alles, was die DDR gewesen sein soll und sein muß ... Dann ist das morgendliche Wort der Kirche, des Pfarrers, zu hören und erinnert an die gewonnene Freiheit. Freiheit, Freiheit und nochmals Freiheit, aber konkreter wird es kaum. Konkret nur eines: Millionen DDR-Bürger erlangten ihre Freiheit, Grenzen und Mauern öffneten sich, und sie durften ihrem jahrzehntelangen Gefangen- und Eingeschlossen-Sein endlich entfliehen. Wohin? In die Freiheit! In die Demokratie! In die glanzvolle bunte Warenwelt unbegrenzten Konsums, frei von jedem Mangel und unerfüllten Wünschen. Der Schritt ins Paradies, oder war es anders zu verstehen? Einer grausamen Hölle der Unterdrückung endlich entkommen, so die Lesart seit 30 Jahren.
Dann hören wir den göttlichen Vertreter von Dankbarkeit reden. Wie dankbar sollten wir doch dafür sein, was letztlich auch Gottes Werk gewesen sei. Kurz kam mir in Erinnerung, was dem DDR-Funk und Fernsehen stets nachgesagt wurde: marxistisch-leninistische Indoktrination. Das Wort Gottes, politisch klar definiert, das ist anscheinend ganz unideologisch. 30 Jahre Freiheit, meinte der Gottesmann, seien auch eine Bilanz. Jetzt wird es spannend, dachte ich. Was wird es zu bilanzieren geben? Zunächst: dankbar hätten wir zu sein - für die buntere Welt, den Glanz, die Fassaden und alles Schöne, was die DDR-"Hölle" nie hatte.
Kritische Töne nur sehr verhalten. 30 Jahre sind auch millionenfach andere Erfahrungen als nur Freiheit und Demokratie, wozu es immer noch Geld, viel Geld, Arbeit, Lohn oder Rente braucht, die ausreicht fürs Leben. Gesundheit, Pflege, Wohnen, Bildung, Kultur, Sport, soziale Fürsorge, Kinderbetreuung, Fahrpreise, Teilhabe an den reichen Angeboten der Märkte, davon kein Wort. Kein Wort von Armut, Armentafeln, Flaschensammlern, Angst und Sorge um die eigene Existenz, kein Wort von Rüstung und Krieg, von Feindbildern, die es nie mehr geben sollte. Dafür Wehklagen über "Maueropfer", aber kein Wort über Grenzen und Mauern, an denen heute Tausende zu Tode kommen, die auch nur Freiheit wollen. Kein Wort zu täglich im Mittelmeer ertrinkenden Flüchtlingen, die eine ganz andere Not treibt, als sie je einen einzigen DDR-Bürger getrieben hat.
So göttlich, ehrlich und friedlich-freiheitlich wird uns der "Tag der Einheit" erklärt.

Roland Winkler, Aue


Seit 30 Jahren wird mir immer wieder gebetsmühlenartig eingetrichtert, daß ich bedauernswerterweise in einem Unrechtsstaat geboren wurde und dazu verdammt war, dort 40 Jahre lang zu leben und zu leiden. Ministerpräsidentin Manuela Schwesig deutete nun zaghaft an, daß der Begriff Unrechtsstaat vielleicht doch nicht so ganz treffend sei. Aber gleich darauf folgt von CDU-Mann Rehberg ein christliches Donnerwetter. Er weiß es eben besser.
Ist die gesellschaftliche Entwicklung der DDR für viele Politiker immer noch so gefährlich, daß man selbst nach 30 Jahren nicht auf ihre Verunglimpfung verzichten kann?
Was ist denn nun ein Unrechtsstaat? Nach dieser Definition habe ich jede Menge Literatur durchforscht. Auf Sachebene bin ich nicht fündig geworden. Diese Begrifflichkeit ist sowohl im Staats- als auch im Völkerrecht nicht definiert.
Der Begriff ist ausschließlich als politischer Kampfbegriff gebräuchlich. Hier wird er sehr oft benutzt, um den politischen Gegner zu verunglimpfen und zwar immer dann, wenn der politischen Argumentation die Sachebene abhanden gekommen ist. "Unrechtsstaat" ist also nur ein Vehikel für unfaire, sachstandslose politische Argumentation und offenbart lediglich die Ohnmacht der Agitatoren.
Karl Marx schrieb in der "Kritik des Gothaer Programms": "Das Recht kann seiner Natur nach nur in Anwendung von gleichem Maßstab" auf ungleiche Individuen bestehen. Aber ist das auch in der heutigen BRD so? Hat das Recht wirklich für die unterschiedlichsten Individuen die gleichen Konsequenzen? Würden wir bei Betrügereien wirklich so sanft behandelt wie beispielsweise die Großkonzerne der Autoindustrie?
Oder ein anderes Beispiel, das mich heute noch sehr berührt: ein Brief vom damaligen Bundesfinanzminister Theo Weigel an die Treuhand. Sinngemäß sicherte er Haftungsausschluß bei grober Fahrlässigkeit zu. (Der vollständige Wortlaut findet sich in dem Buch von Otto Köhler: "Die große Enteignung. Wie die Treuhand eine Volkswirtschaft liquidierte".) Ich kann doch aber nur Haftungsausschluß gewähren, wenn ich von vornherein strafbares Handeln erwarte. Soll denn das nun eine zu befürwortende Rechtsstaatlichkeit auf Ministerialebene sein? Oder ist es vielleicht die zunehmende Kluft zwischen Armen und Reichen?

Jürgen Barz, Wismar


Die bundesdeutschen Medien sind nach wie vor dabei, intensiv die DDR und ihre Bürger, das Leben in der DDR und die sozialistische Wirtschaft als negative geschichtliche Epoche darzustellen. Dabei stehen, selbst nach 30 Jahren des vollzogenen Anschlusses der DDR an die BRD, an vorderster Stelle die Sicherheitsorgane. Dienststellen wurden zunächst ausgeraubt und dann dem Vandalismus überlassen, deren Tätigkeit als ungesetzlich, sogar als verbrecherisch bezeichnet.
Ich war 30 Jahre Angehöriger der Volkspolizei, davon 33 Jahre bei der Kriminalpolizei. Dabei habe ich direkt auch mit der Tätigkeit und den Auswirkungen der westlichen Geheimdienste und deren Methoden zu tun bekommen. Insbesondere wird gegen das MfS und seine Tätigkeit, seine Mitarbeiter vorgegangen, ihren größten und wirksamsten Gegner. Dazu wird ihm u. a. vorgehalten, sehr viele Informelle Mitarbeiter (IM) genutzt zu haben. Dazu ist zu sagen: Kein Geheimdienst kann ohne Informanten arbeiten, auch der BND nicht. In welchem Umfang dieser deutsche Geheimdienst heute agiert, läßt sich an der neuen gigantischen Dienststelle in Berlin ablesen. Mit welchen Mitteln und Methoden hier gearbeitet wird, kann sich der "Normalbürger" z. T. gar nicht vorstellen.
Und noch etwas: Für mich wurde der Anspruch auf Nachzahlung des Rentenanteils Bekleidungs- und Verpflegungsgeld bestätigt. Aber in Sachsen-Anhalt gibt es einen Innenminister, der die Zahlung "aussetzt", was darauf schließen läßt, daß er mit dem baldigen Ableben eines 90jährigen rechnet.

Gerhard Bochnig, Giersleben/Anhalt


Die Artikel im "RotFuchs" finden ja im allgemeinen meine Zustimmung (vor allem die, die sich mit der gegenwärtigen Weltlage befassen), aber besonders in der dem 70. Jahrestag der Gründung der DDR gewidmeten Ausgabe erscheint mir der Rückblick allzu stark im milden Weichzeichner der Verklärung. Natürlich gab es großartige Errungenschaften. Aber warum nahm dann die DDR ein so jämmerliches Ende? Leider ist es doch so, daß man (bei kritischer Analyse) den positiven Seiten meist auch negative Anmerkungen hinzufügen muß - und die zeitigten in der Summe eine fatale Konsequenz. Ja, es ist bitter, und es tut weh, aber wer über die folgende Bemerkung nicht reflektiert, wird einem wahrhaftigen Gedenken an die DDR nicht gerecht. Stefan Heym (im Oktober 1989): "Noch nie in der Geschichte ist ein Staat auf so lächerliche Weise in die Krise geraten wie die DDR. Kein Reformator verkündete neue Thesen, nein, die aktuelle Notlage ist entstanden durch Absentierung der Bevölkerung; statt Barrikaden Massenauszug; statt Streiks und Demonstrationen Botschaftsbesetzung; statt Zusammenstößen mit der Polizei Ungarnreisen."

Thomas Kacza, Berlin


Wir trauern um einen guten Freund, einen aktiven Streiter für die gerechteste Sache der Menschheit, für den Frieden und eine glückliche Zukunft des deutschen Volkes und aller friedliebenden Menschen.
Als Arbeiterkind geboren, lernte er sehr früh die Ausbeutung und Unterdrückung seiner Klasse, die grauenhafte Zeit des deutschen Faschismus, dessen Verbrechen und das hinterlassene Leid und Elend für Millionen Menschen in Europa und in der Welt kennen.
Er wurde zu einem glühenden Verfechter der Interessen und der Rechte der Jugend. Bis ins hohe Alter blieb er stets den Zielen seiner Klasse und aller friedliebenden Menschen treu. Die Freundschaft zu den Völkern der Sowjetunion - und in den letzten Jahrzehnten zu den russischen Menschen - war für ihn eine Herzenssache. Er scheute sich zu keiner Zeit, seine ganze Kraft für die Sache des Friedens, des gesellschaftliche Fortschritts und einer glücklichen Zukunft aller Völker einzusetzen.
Helmut Müller, langjähriger Funktionär der FDJ, war aufrichtiger Freund und Förderer der Jugendhochschule "Wilhelm Pieck". Als Parteifunktionär und Mitglied der Volkskammer der DDR war er für viele junge Menschen unseres Landes nicht nur Freund, Interessenvertreter und Helfer, sondern auch Vorbild. Wir werden ihn nicht vergessen.

Dieter Luhn, Berlin
(Für den Arbeitskreis Geschichte der Jugendhochschule "Wilhelm Pieck")


Nach langem, sehnsüchtigem Warten erreichten mich vor kurzem die zwei neuesten Ausgaben des "RotFuchs". Was für eine Freude für mich hier "unten" in meiner Einsamkeit! Die zwei Hefte erfüllten und verkürzten mir ein langes Wochenende.
In letzter Zeit gab es viele die Postbeförderung behindernde Streiks. Eigentlich sollte sich eine Kommunistin darüber freuen. Aber wenn sie bewirken, daß ich weder die "junge Welt" noch den RF bekomme, gehört mehr linkes Bewußtsein dazu, als ich manchmal aufbringen kann.
Der "RotFuchs" wurde mir zum ersten Mal von Peter Hacks dringend empfohlen. Ihm verdanke ich auch meine Liebe zum sozialistischen Deutschland, die für eine westdeutsche Fabrikantentochter ja nicht selbstverständlich ist. Als ich in Lyon vor einer erstaunten Jury über ostdeutsche Literatur promoviert habe, hörte ich, daß sie nicht gewußt hätten, daß in der DDR - wohl unter strengster Zensur - eine reichhaltige Literatur entstehen konnte. Stolz erzählte ich ihnen von Hacks' anspruchsvollen Dramen. Als sie das nicht glauben wollten und weiter in hämischem Ton fortfuhren, geriet ich außer mir, so daß aus meiner Promotion beinahe nichts geworden wäre. Aber es legte sich eine dunkle Afrikanerhand auf meinen Arm, um mich zu beruhigen und so meinen akademischen Titel zu retten.
Bei westdeutschen Klassentreffen mokieren sich die ehemaligen Kameraden über meine seltsame Einstellung, und die Unterrichtsletzten meinten, mein Klassenverrat habe aber nicht geholfen, auch wenn ich regelmäßig den "RotFuchs" und die "junge Welt" läse, wie ich ihnen gestand - nächstes Mal werden wir es besser machen, pflegte ich zu erwidern. "Wir wohl nicht mehr", war ihre Reaktion. Dann unsere Kinder, erwiderte ich darauf, es bliebe ihnen ja auch keine andere Wahl, wenn sie auch wie wir noch Kinder aufziehen wollten.

Heidi Urbahn de Jauregui, Montpellier


Zu Detlef Kannapin: Keine Allianz / Eine neue Studie zum Nichtangriffsvertrag von 1939 verfehlt ihr Thema. RF 261, S. 18
Wer eine Mitschuld resp. Mitverantwortung der Sowjetunion am Ausbruch des 2. Weltkrieges erkennen will - der 1939 abgeschlossene Nichtangriffsvertrag der UdSSR mit Hitlerdeutschland bietet den willkommenen Anlaß dazu -, muß mindestens sagen, was sie denn anders, also wohl "richtig" hätte machen sollen. Doch gerade das geschieht nicht. Nur Möglichkeiten der Sowjetunion allein standen ihr zur Wahl. Und warum? Weil weder Frankreich noch England, noch die USA - und auch Polen - ein Militärbündnis, also ein gemeinsames Vorgehen gegen Hitlerdeutschland mit der UdSSR vereinbaren wollten. Diese Mächte waren von einer anderen Sucht befallen: dem Antikommunismus, hier in Gestalt des Antisowjetismus.
Seitens der Sowjetunion gab es daher nur die drei eigenen Möglichkeiten: 1. Deutschland allein den Krieg zu erklären, 2. nichts zu machen oder 3. das zu machen, was sie gemacht hat. Punkt 1 hätte den 2. Weltkrieg nicht verhindert, im Gegenteil: er wäre - gleich über den gegen Polen hinaus - als Krieg gegen die Sowjetunion fortgesetzt worden, und damit zwei Jahre vor seiner eigentlichen Eröffnung im Juni 1941. Denn erst mit dem Einfall in die Sowjetunion begann ja dieser Krieg als wirklich großer Krieg, als Weltkrieg. Alles, was davor war, war er noch nicht; Frankreich und England setzten dem Einfall Deutschlands in Frankreich im Mai 1940 (!) nichts Handfestes entgegen; Frankreich ergab sich - im Grunde kampflos.
Punkt 2 dagegen - die Sowjetunion "macht nichts" - hätte den Vormarsch der deutschen Armeen an die sowjetische Grenze, Hunderte Kilometer weiter östlich, bedeutet. Daß es zur Besetzung - oder gar zum Anschluß - auch der baltischen Länder an Deutschland geführt hätte, ist wahrscheinlich.
Nur Punkt 3 allein, der Nichtangriffsvertrag, ist es, welcher der Sowjetunion real die Atempause von zwei Jahren verschafft hat. Ich halte ihn für den wichtigsten Punkt dieses Vertrages. Die Sowjetunion gewann zwei Jahre, sich auf den unvermeidlichen Krieg vorzubereiten - der Beginn dieses Krieges zeigt dann, wie notwendig diese beiden Jahre waren. Erst dicht vor Moskau bzw. in Stalingrad gelang ihnen die Wende im 2. Weltkrieg.
Und was die Westmächte betrifft, die zwar Deutschland im September 1939 den Krieg erklärt hatten, aber ihn nicht aktiv führten, so hatten sie zwei Jahre Zeit, über ein neues Verhältnis zur Sowjetunion nachzudenken und sich auf eine militärische Unterstützung der UdSSR vorzubereiten. Über die Kehrtwende im Westen sollte man mal intensiver nachdenken; sie lohnt als Ausgangspunkt eines neuen Verhältnisses zu diesem Land nicht nur für 1941 (den 2. Weltkrieg), sondern für immer.

Hermann Jacobs, Berlin


Am 10. September fand in der Landesvertretung von Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg ein Symposium statt, das sich mit der weiteren Ausgestaltung des deutschrussischen Verhältnisses befaßte. Grundtenor sollte die weitere Verbesserung der Beziehungen und das Gestalten von vertrauensfördernden Maßnahmen sein.
Neben dem Botschafter der Russischen Förderation, Sergej J. Netschajew, waren weitere bekannte Personen des öffentlichen Lebens wie Gernot Erler (Staatsminister a. D.), Horst Teltschik (Kanzleramtsminister a. D.), Markus Meckel (letzter Außenminister der DDR), Ulrich Brandenburg (Botschafter a. D.), Ernst-Jörg von Studnitz (Botschafter a. D.) und Generaloberst a. D. Anton W. Terentjew (letzter kommandierender General der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland) erschienen. Sogar der Enkelsohn des langjährigen Außenministers der UdSSR, Andrej Gromyko, war als Vertreter des Europainstituts in Moskau anwesend.
In der Diskussiopn wurde viel über das Verhältnis zwischen Deutschen und Russen gesprochen. Es wurde zwar betont, daß dieses Verhältnis einer Verbesserung bedarf, wie das jedoch in der Praxis aussehen sollte, blieb unklar. Herr Erler und Herr Teltschik blockierten sich selbst mit ihren Aussagen zur Krim und zum Ukraine-Konflikt. Man konnte den Eindruck gewinnen, daß die Russische Förderation gegenüber der westlichen Welt eine "Bringe-Pflicht" zu erfüllen habe, bevor diese willens ist, ihre Haltung zu Rußland zu ändern. Der russische General A. W. Terentjew wies unter anderem darauf hin, daß es viele Versprechen und Zusagen seitens der BRD und anderer westlicher Länder gegeben hat, die jedoch entweder nicht eingehalten bzw. nur halbherzig umgesetzt worden sind. Bezeichnend für die Haltung des Westens ist, daß der Botschafter der Russischen Förderation anläßlich des 80. Jahrestages des Beginns des 2. Weltkrieges am 1. September 1939 ein öffentliches Statement abgeben mußte, in dem er einen ehrlichen und verantwortungsbewußten Umgang mit geschichtlichen Ereignissen anmahnt. Für viele Menschen aus der DDR ist es ein Affront, erleben zu müssen, wie die deutsche Bundesregierung eine Politik gegenüber Rußland betreibt, welche die Interessen der Menschen und den völkerverbindenden Gedanken mißachtet.
Da ich an der Betreuung der Delegation der russischen Generale und Offiziere beteiligt war, konnte ich auch an der Veranstaltung teilnehmen. Diese kamen als Vertreter des Veteranenverbandes "Ehemaliger Angehöriger der Westgruppe und der anderen Militärverbände der sowjetischen Streitkräfte in der Tschechoslowakei, Ungarn und Polen". Generaloberst a. D. Terentjew ist Präsident dieses Verbandes, der seit seiner Gründung nicht nur in Rußland selbst, sondern auch in der BRD sehr aktiv ist. Leider fand diese Konferenz in den hiesigen öffentlich-rechtlichen Medien nur geringe Beachtung.

Lothar Schlüter, Berlin


Heute werden Preise und Ehrungen für kulturelle Leistungen in der Regel an Kritiker "feindlicher" Länder vergeben. Vorbei sind die Zeiten, wo Literaturnobelpreise an Michail Scholochow, Halldor Laxness oder Rabindranath Tagore vergeben wurden, wie es von Nobel festgelegt worden war: Mit dem Preis für Literatur sollte ausgezeichnet werden, "wer Werke für die vorzüglichste und idealistischste Richtung geschaffen hat". Heute wird oft literarischer oder künstlerischer Durchfall prämiert. Dabei hofiert die BRD politische Irrlichter und ehrt sie als "Menschenrechtler". 2015 hatte sich der "Starkünstler" Ai Weiwei aus China verdrückt, weil er dort mit seiner Kunst ideologisch angeeckt war und nebenbei noch Steuern hinterzogen hatte. Aber die freiheitlich-demokratische BRD wurde nicht seine neue Heimat, weil dieses Land "selbstzensiert, fremdenfeindlich und keine offene Gesellschaft" sei, außerdem fehle es an dem Respekt vor abweichenden Meinungen, maulte er rum. Das sind unangenehme Nebengeräusche im Chor der "Aktivisten" beim Kampf gegen den ökonomischen und politischen Feind China.

Dr. Gerd Machalett, Siedenbollentin


Die Wahlen in der EU, in Sachsen und in Brandenburg schienen einige Führungskräfte der Partei Die Linke zu überraschen. Das verwundert nicht. Seit Jahren verweigern sie energisch jede Analyse. Analysen zum Zustand der Partei, zur Entwicklung in Deutschland, in Rußland, Syrien, Venezuela fehlen und führen zu Haltungen, die dem Mainstream folgen, Solidarität verweigern und den Blick für die Realität trüben.
Die Sucht, unbedingt mitregieren zu wollen, hat zur Anpassung geführt. Das eigene Profil ging immer mehr verloren. Es wurde auch nicht zur Kenntnis genommen, daß der Umgang der Partei mit der DDR-Geschichte für eine größere Anzahl ehemaliger Mitglieder ein Austrittsgrund war, wobei jeder auch eine Anzahl von Wählern mitnimmt.
Der dominierende rechtsopportunistische Flügel der Partei hat nie begriffen, daß man mit negativen Urteilen über die DDR nach den ersten fünf Jahren immer weniger ankam. Die Thüringer Genossen gingen noch einen Schritt weiter und eiferten mit bei der Verteufelung der DDR. Führungskräfte wie Sahra Wagenknecht, die dagegen angingen, wurden gemobbt, was schließlich erfolgreich war. Nun fehlen neben überzeugenden Inhalten auch Persönlichkeiten, die der Partei ein Gesicht geben.
Der Abwärtstrend der Partei wird sich wohl kaum aufhalten lassen.

Horst Neumann, Bad Kleinen


Die Beilage zum "RotFuchs" 261 anläßlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR ist sehr gelungen und dem Ereignis würdig. Mit Freude habe ich die sechs Beiträge gelesen und dabei festgestellt, daß ich alle fünf Autoren persönlich kennengelernt habe und noch mit zweien davon befreundet bin. Mir wurde an einigen Stellen warm ums Herz. Wir wissen, was wir unserem ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden verdanken und haben allen Grund, uns daran auch immer wieder zu erinnern.

Ralph Dobrawa, Gotha


Eine besondere Freude habt ihr uns nicht nur mit der Beilage, sondern vor allem mit dem Titelbild und unserer ganz persönlichen Beziehung dazu gemacht. Mein Mann Ralf war in Berlin bei den Grenztruppen der DDR stationiert, ich lernte ihn bei einem Besuch in der Hauptstadt 1971 kennen. Ein Jahr später verbrachten wir unsere Hochzeitsreise in Berlin, und wir wohnten im wunderschönen Hotel "Stadt Berlin", in der 27. Etage. Einkaufsbummel? Natürlich im Centrum-Warenhaus! Es zieht uns immer wieder mal nach Berlin. Leider ist es nicht mehr der tolle Alexanderplatz von früher. Und das gepflegte Ambiente um das Hotel herum ist verschwunden. Schade, aber auch hier tragen wir unsere Erinnerung im Herzen.

Siglinda Funke, Dresden


Für die zehnjährige Belieferung mit dem "RotFuchs", die vielen interessanten und lesenswerten Artikel und die stets pünktliche Zustellung möchte ich mich ganz herzlich bedanken. Ich freue mich jeden Monatsbeginn auf Ihre Zeitschrift, besonders auf die Beiträge über die DDR. Vor 50 Jahren, im September 1969, hörte ich zum ersten Mal den Rundfunk der DDR, damals den Deutschlandsender, von 1971 bis 1990 die "Stimme der DDR". Ich verbinde damit schöne Erinnerungen, die ich nicht missen möchte und die mir niemand nehmen kann. Zu Recht kann man heute den "RotFuchs" als eine "Stimme der DDR" bezeichnen, die standhaft und kämpferisch geblieben ist. Ich wünsche Ihnen allen alles Gute und viel Erfolg für die Zukunft und verbleibe als

Ein Leser aus München


Wieder geht es im Eiltempo dem Jahresende entgegen, und als ständiger Leser des "RotFuchs" möchte ich Anerkennung und Lob all denen aussprechen, die nach wie vor am Gelingen der anspruchsvollen Zeitschrift beteiligt sind. Der Oktober-Ausgabe war eine Beilage hinzugefügt, die man auf keinen Fall übersehen darf. Ich beziehe mich besonders auf den Beitrag von Dr. Friedrich Wolff "30 Jahre weiter und keine Gerechtigkeit".
Ich war persönlich schon immer ein Gegner der Ungerechtigkeit und habe mich stets kritisch damit auseinandergesetzt, da ich festgestellt habe, daß 30 Jahre "Einheit" viel mehr Ungerechtigkeiten hervorgebracht haben, als zu DDR-Zeiten überhaupt vorstellbar war. Den Beitrag von Friedrich Wolff teile ich voll und ganz. Deutlich werden die Vorzüge der sozialistischen Gesellschaft aufgezeigt, aber auch Mängel nicht verschwiegen. So habe ich dies alles mit Genugtuung gelesen, wie sicher viele andere auch.
Ich warte schon wieder auf den nächsten "RotFuchs" und interessante Artikel zu Fragen dieser bewegten Zeit.

Siegfried Tietz, Altenberg/Sachsen


Der im Februar 1998 gegründete "RotFuchs" ist eine von Parteien unabhängige kommunistisch-sozialistische Zeitschrift.

HERAUSGEBER: "RotFuchs"-Förderverein e. V.
Postfach 02 12 19, 10123 Berlin


Das Impressum für die obenstehende Ausgabe ist zu finden unter:
www.rotfuchs.net/files/rotfuchs-ausgaben-pdf/2019/RF-263-12-19.pdf

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Quelle:
RotFuchs Nr. 263, 22. Jahrgang, Dezember 2019
Internet: www.rotfuchs.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Februar 2020

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