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ROTFUCHS/211: Tribüne für Kommunisten und Sozialisten Nr. 258/259 - Juli/August 2019


ROTFUCHS

Tribüne für Kommunisten und Sozialisten in Deutschland

22. Jahrgang, Nr. 258/259 - Juli/August 2019



Aus dem Inhalt
  • Solidarität mit Venezuela!
  • Brasilien: Land des Rückschritts
  • Krieg der USA gegen Iran?
  • Vor 40 Jahren siegten die Sandinisten
  • Großdemonstration in Dresden am 24.8.
  • Plädoyer für die Mietpreisbindung
  • W. Pieck und der VII. Weltkongreß
  • Haben Atheisten keine Moral?
  • FKK - Gelebter Antifaschismus
  • Stimmen aus aller Welt über die DDR
  • Gisela Steineckert: Marischa, meine Liebe
  • Leserbriefe 29

Anfang Texteinschub
Bitte beachten!

Der nächste "RotFuchs" (Nr. 260) erscheint
nach einer Sommerpause am 1. September.
Ende Texteinschub

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Hände weg von Venezuela!

Imperialistische Kriege sind in vielen Regionen der Welt Alltag geworden, neue werden vor aller Augen vorbereitet. Noch weniger als von den Schlachtfeldern Afghanistans, Nordsyriens, des Jemen, Libyens oder Westafrikas erfahren die Leser der deutschen Konzern- und Staatsmedien von der Wirklichkeit in Venezuela. Die deutsche Bürgerpresse schaltete sich am 23. Januar, dem Tag, an dem sich der mit dem Faschismus sympathisierende Putschistenführer Juan Guaidó in Caracas zum "Übergangspräsidenten" ernannte, gleich und liefert seither Hetze gegen die frei gewählte Regierung von Präsident Nicolás Maduro. Mit Auswirkungen auch auf Linke. Sonst wäre nicht zu erklären, daß die Partei Die Linke, deren Vorstand Ende Januar den Putschversuch eindeutig verurteilt hatte, auf ihrem Bonner Parteitag am 23./24. Februar einen Antrag zur Solidarität mit Venezuela entgegen einem Appell der Bundestagsabgeordneten Heike Hänsel an den Bundesausschuß überwies. Offizielle Begründung: Zeitmangel. Beide Anträge wurden wenig später angenommen, aber es bleibt doch ein schlechter Nachgeschmack.

Zum einen gilt: Keine Linke ohne Internationalismus. Das wissen auch Wähler. Wo das Bekenntnis zu ihm mühsam abgerungen werden muß, ist es nicht weit her mit Solidarität und auch nicht mit menschlichem Anstand.

Zum Internationalismus gehört zugleich das Beharren auf Einhaltung des Völkerrechts. Das ist eine wichtige Waffe im Kampf gegen Kriegstreiber und die globale Diktatur des Kapitals.

Parallel zum Linke-Parteitag drohte die Trump-Administration Venezuela erneut mit Krieg - ein offener Völkerrechtsbruch. Die Bundesregierung, die den Putschführer kurz nach den USA anerkannt hat, schweigt davon. Und sie schweigt von den Toten, die den US-Sanktionen zum Opfer gefallen sind. Nur ein Beispiel: Am 25. April veröffentlichte das "Zentrum für wirtschaftliche und politische Forschung", eine sogenannte Denkfabrik in den USA, eine Studie zu den Folgen der "kollektiven Bestrafung" Venezuelas durch die Trump-Regierung seit 2017. Danach haben die Sanktionen bereits etwa 40.000 Todesopfer gefordert, in erster Linie HIV- und Krebskranke, Diabetiker und Patienten mit Bluthochdruck, die auf Medikamentenimporte angewiesen waren. 2019 habe sich nach der Anerkennung Guaidós die Lage verschärft.

Am 17. Mai schrieb die "New York Times", "der größte wirtschaftliche Zusammenbruch außerhalb von Kriegen in den vergangenen 45 Jahren" habe sich in Venezuela aufgrund der Sanktionen ereignet. Das Blatt zitierte den Harvard-Professor und früheren Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds, Kenneth S. Rogoff, mit dem Satz: "Man kann sich keine größere menschliche Tragödie außerhalb eines Bürgerkriegs vorstellen."

Tote schaffen mit oder ohne Waffen - das ist es, was Imperialismus tagtäglich bedeutet. Das wirtschaftliche Erwürgen Venezuelas, begleitet von bewaffneten Überfällen aus Nachbarstaaten, ist Teil einer US-Aggression, die sich ebenso gegen Nikaragua und vor allem auch gegen Kuba richtet. Bis zum Verfassen dieses Textes waren die Herren und Damen von Mord und Totschlag, die Trump, Merkel, Maas, Macron, May, Salvini usw., die sich öffentlich gern zerstritten geben, mit ihrer gemeinsamen Aktion noch nicht erfolgreich. Der Internationale Sekretär des ZK der KP Venezuelas Carolus Wimmer nannte auf der Solidaritätsveranstaltung mit Venezuela in der Berliner Urania am 28. Mai hierfür zwei Gründe: das veränderte Kräfteverhältnis in der Welt, sprich: Rußland und China, und die Tatsache, daß die Mehrheit der Bevölkerung Venezuelas hinter ihrer Regierung steht.

Der Ruf "Hände weg von Venezuela!" und konkrete Solidarität mit den Aktivisten, die sich vor Ort für die Bolivarische Revolution einsetzen, ist ein Gebot für alle Linken.

Arnold Schölzel

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Großveranstaltung der Solidarität mit Venezuela in Berlin
Kampf um die Würde aller Völker

Mehr als 750 Menschen kamen am 28. Mai in die Berliner Urania, um an einer von mehr als 30 Organisationen, Initiativen und Medien organisierten Solidaritätsveranstaltung "Hände weg von Venezuela" teilzunehmen. Der Anlaß für das Treffen: In Berlin waren am gleichen Tag rund 20 Außenminister aus Lateinamerika und der Karibik zu einer Konferenz im Auswärtigen Amt zusammengekommen. Als einzigen hatte Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) seinen venezolanischen Amtskollegen Jorge Arreaza nicht eingeladen.

Der Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko (Linke), der am Vormittag bei der Konferenz gewesen war, berichtete auf der Urania-Bühne, daß Maas dort seine Besuche in Brasilien und Kolumbien eine "Reise zu Freunden" genannt und damit auch den faschistischen Präsidenten Brasiliens, Jair Bolsonaro, gemeint habe.

Zuvor hatte bereits Carolus Wimmer, Internationaler Sekretär der Kommunistischen Partei Venezuelas, auf die Diffamierung der gewählten Regierung Venezuelas durch die meisten internationalen Medien hingewiesen. Die Bevölkerung des südamerikanischen Landes unterstütze den rechtmäßigen Präsidenten Nicolás Maduro, alles andere seien Falschmeldungen. Der in Kolumbien geborene und im französischen Exil lebende Journalist Hernando Calvo Ospina warnte, daß der Paramilitarismus aus Kolumbien eine weitere große Bedrohung für Venezuela sei. Die Todesschwadronen hätten sich nahe der Grenze zu Venezuela breitgemacht. Nach einem umjubelten Auftritt der venezolanischen Sängerin Cecilia Todd ergriff der deutsche Gewerkschafter Orhan Akman das Wort. Er bedauerte, daß er auf der Veranstaltung nicht im Namen von ver.di reden durfte, und erinnerte an die lange Tradition gewerkschaftlicher Solidarität, etwa in den 80er Jahren mit der Sandinistischen Revolution in Nikaragua. Für das Berliner Bündnis "Hände weg von Venezuela!" berichtete Gerhard Mertschenk über die seit Ende Januar nahezu wöchentlich stattfindenden Kundgebungen vor der US-Botschaft am Brandenburger Tor (Im Internet: haendewegvonvenezuela. net). Der DKP-Vorsitzende Patrik Köbele unterstrich, daß es heute nicht nur um Venezuela, sondern immer auch um das sozialistische Kuba gehe.

In Vertretung von Venezuelas Außenminister Jorge Arreaza, der in Oslo an den Verhandlungen mit Vertretern der Opposition beteiligt war, trat schließlich sein Stellvertreter Yván Gil ans Mikrofon. Er kritisierte die Blockade venezolanischer Finanzmittel durch die internationalen Banken und Finanzinstitute. Deshalb brauche Venezuela die Unterstützung der gesamten Welt: "Das ist ein Klassenkampf von David gegen Goliath." Anschließend präsentierte Gil eine Audiobotschaft Arreazas, die dieser aus der norwegischen Hauptstadt übermittelt hatte. Darin hieß es:

"Unser Volk erleidet eine Aggression gegen unsere Wirtschaft, unsere Bürger, unseren Geist und unser Denken, einen Medienkrieg und auch einen direkten psychologischen Angriff, indem die Regierung der Vereinigten Staaten, die Trump-Administration, den Einsatz von Gewalt, einen Krieg, androht. Das ist eine historische Auseinandersetzung zwischen dem Imperialismus und dem Volk Venezuelas. Er will die Reichtümer Venezuelas, das Erdöl kontrollieren, um die Gewinne einzustecken, um den Kapitalismus zu füttern. Doch das Volk Venezuelas und seine Revolution wollen diese Gewinne kontrollieren, um sie für das Volk zu investieren: in die Gesundheitsversorgung, in die Bildung, in Wohnungen, in die Infrastruktur, um unserem Volk seine sozialen Rechte zu garantieren.

Das ist das Modell, das der Comandante Hugo Chávez entworfen hat und das wir Bolivarischen und Chavistischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts nennen. Wir werden dieses Modell und unsere Souveränität weiter verteidigen. Aber das können wir nicht alleine tun. Deshalb all unseren Dank und unseren Stolz dafür, daß ihr uns unterstützt. In Deutschland, in Europa, in der ganzen Welt gibt es Solidaritätsbewegungen, denn ihr wißt, daß es in diesem Kampf nicht nur um Venezuela geht. Dieser Kampf geht um die Würde aller Völker der Welt. (...)

Es lebe der Frieden! Es lebe der Sozialismus! Und es lebe die Souveränität der Völker! Wir werden immer siegen!"

RF, gestützt auf "junge Welt" vom 31. Mai

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Resolution vom 28. Mai
Hände weg von Venezuela!

Venezuela wird angegriffen. Eine von den USA angeführte und von den meisten Staaten der Europäischen Union einschließlich Deutschland willig unterstützte Allianz hat sich den Sturz der vor gut einem Jahr demokratisch gewählten Regierung des Präsidenten Nicolás Maduro zum Ziel gesetzt. Sie setzt dabei auf Politiker der reaktionären Opposition in Venezuela, die sich dieser Aggression als willfährige Marionetten zur Verfügung gestellt haben.

Teil dieser Aggression ist, daß die deutsche Bundesregierung einen von niemandem in dieses Amt gewählten Oppositionspolitiker als "Übergangspräsidenten" Venezuelas anerkannt und alle offiziellen Kontakte zur rechtmäßigen Regierung des südamerikanischen Landes abgebrochen hat. Zu einer heute auf Einladung des Auswärtigen Amtes in Berlin stattfindenden Konferenz der Außenminister Lateinamerikas und der Karibik wurde der Vertreter Venezuelas deshalb nicht eingeladen.

Während sich Bundesaußenminister Heiko Maas mit seinen Gästen zum Abendessen trifft, sind wir im Berliner Konferenzzentrum "Urania" zusammengekommen, um unsere Solidarität mit dem bolivarischen Venezuela zu demonstrieren. Wir wollen unseren Beitrag dazu leisten, daß der seit Januar laufende Putschversuch in Venezuela scheitert. Unsere Solidarität gilt der Volksbewegung Venezuelas, die sich entschieden gegen die imperialistische Aggression wehrt.

Wir stellen fest:
- Die einzige legitime Regierung der Bolivarischen Regierung Venezuelas ist die vom Präsidenten Nicolás Maduro geführte.

- Die Anerkennung eines Oppositionspolitikers, der sich selbst zum "Übergangspräsidenten" ernannt hat, ist eine völkerrechtswidrige Einmischung in die inneren Angelegenheiten Venezuelas, wie sogar der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages festgestellt hat. Die Besetzung diplomatischer Vertretungen der Bolivarischen Republik in den USA und anderen Ländern, um sie Vertretern dieses "Selbsternannten" zur Verfügung zu stellen, ist eine schwere Verletzung der Wiener Konvention über diplomatische Beziehungen und der Souveränität Venezuelas.

- Die von den USA, der EU und anderen Kräften gegen Venezuela verhängte Wirtschafts- und Finanzblockade stellt eine illegale kollektive Bestrafung der Bevölkerung dieses südamerikanischen Landes dar. Eine solche ist nach der Genfer Konvention als Kriegsverbrechen zu werten.

- Die wiederholte Androhung einer militärischen Intervention in Venezuela durch die USA ist eine schwere Verletzung aller grundlegenden Regeln des Völkerrechts, insbesondere der Charta der Vereinten Nationen.

Wir fordern:
- Sofortige Aufhebung aller gegen Venezuela und seine Repräsentanten verhängten Strafmaßnahmen! Freigabe aller von internationalen Banken und Finanzinstitutionen blockierten Vermögenswerte!

- Sofortige Normalisierung der diplomatischen Beziehungen mit Venezuela! Die Bundesregierung muß die Anerkennung des selbsternannten "Übergangspräsidenten" zurücknehmen und die diplomatische Ausgrenzung der legitimen Repräsentanten Venezuelas beenden!

- Hände weg von Venezuela!

Berlin, 28. Mai 2019

Verabschiedet von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Veranstaltung in der Urania

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Gefahr eines Zufallsinfernos ist nicht gebannt

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Bolsonaros Brasilien: Land des Rückschritts

Wie lange Jair Bolsonaro, seit Neujahr Präsident Brasiliens, seine Rolle noch spielen darf, ist ungewiß. Daß ihn sein Amt überfordert, ist hingegen ersichtlich. Der Faschist, der im Kongreß zuvor fast drei Jahrzehnte lang als Abgeordneter rechter Kleinparteien den Hanswurst gab, hat kein Stück an Statur hinzugewonnen, seit er in Brasília einzog. International blamiert Bolsonaro den größten Staat Südamerikas: "Wir haben einen Präsidenten, der vor der US-Flagge die Hacken zusammenschlägt. Wir haben das nicht verdient", klagte Lula da Silva Ende Mai in einem Interview für das deutsche Nachrichtenmagazin "Spiegel". Seit April 2018 befindet sich der Politiker der Arbeiterpartei PT, von 2003 bis 2010 mit einer sozialen Agenda selbst Präsident Brasiliens, im Gefängnis der Bundespolizei in Curitiba. Ein großer Pakt von Eliten, Medienkonzernen und Teilen der Justiz hatte den Sturz der PT betrieben. Ihr Comeback durch einen wahrscheinlichen Sieg Lulas bei den Wahlen im Oktober 2018 sollte verhindert werden.

Das Verbot der Kandidatur des populärsten Politikers im Lande durch die Wahlbehörden ermöglichte vor allem ein Mann: Sérgio Moro. Mit rechtswidrigen Methoden hatte der parteiische Richter eine regelrechte Jagd auf Lula veranstaltet und diese öffentlich in Szene gesetzt. Auf der Basis konstruierter Anklagen und ohne einen einzigen echten Beweis verurteilte er Lula zu einer langjährigen Haftstrafe. Unter dem Druck der Militärführung ließ das Oberste Gericht zu, daß Lula bereits vor Ausschöpfung aller Rechtsmittel gegen das skandalöse Urteil inhaftiert wurde. Nach seinem Wahlsieg belohnte Bolsonaro Moro mit dem Amt des Justizministers. Dessen langjährige enge Verbindungen zu US-Stellen sind kein Geheimnis. Als Bolsonaro während seines Antrittsbesuchs im März bei US-Präsident Donald Trump in Washington außerhalb des offiziellen Programms gemeinsam mit Moro die CIA-Zentrale besichtigte, wurde in Brasilien gespottet, daß sich bei deren Betreten das Mobiltelefon des Ministers gleich automatisch eingeloggt habe.

Davon, daß das politische Rollback in seinem Land auch anderswo Väter hat, ist auch Lula überzeugt. "Was in Brasilien geschieht, hat mit den Interessen der US-Ölkonzerne zu tun", sagte er dem "Spiegel". Staatsanwalt Deltan Dallagnol, der Sérgio Moro zuarbeitete, bezeichnet Lula als "eine Marionette des US-Justizministeriums". Ein Jahr lang war ihm zuvor immer wieder untersagt worden, den Medien Interviews zu geben. "Die Amerikaner und die brasilianischen Eliten" hätten nicht zulassen wollen, so der Expräsident, daß die Förderung der riesigen Tiefsee-Ölvorkommen - entdeckt wurden sie erst vor wenigen Jahren vor der Küste des Bundesstaates Rio de Janeiro - nur mit Mehrheitsbeteiligung des staatlichen Ölkonzerns Petrobras möglich sei. Ebenso sollte verhindert werden, daß 75 Prozent der Lizenzgebühren in das Bildungssystem investiert werden, wie es während der PT-Regierungen festgelegt worden war, ist Lula überzeugt. "Deshalb haben sie meine Nachfolgerin Dilma Rousseff gestürzt. Deshalb folgten all die illegalen Manöver, um zu verhindern, daß ich erneut kandidiere." Unter Interimsstaatschef Michel Temer, der auf Rousseff nach ihrer Amtsenthebung durch die rechte Kongreßmehrheit 2016 folgte, erhielten US-Konzerne umgehend Zugriff auf Brasiliens Ressourcen.

Der Mann, der nun mit Gott und den USA regiert, agiert innenpolitisch als Brandstifter. Als Präsident hatte er nichts Eiligeres zu tun, als Verfügungen zur Erleichterung des Waffenbesitzes zu erlassen. Plausible Gründe für den legalen Erwerb von Pistolen, Gewehren oder Munition müssen den Behörden nun nicht mehr vorgebracht werden. Die "guten Bürger", also diejenigen, die sich ein Schießeisen auch leisten können, werden ermutigt, das Recht selbst in die Hand zu nehmen. Während insgesamt die wirtschaftliche Flaute anhält, wird der große Waffenmarkt Brasilien kräftig stimuliert. Dessen Lobby im Kongreß, als "Bancada da Bala" (Fraktion der Kugel) bekannt, weiß in Bolsonaro einen der ihren. Das gilt damit auch für große Hersteller wie den bei Porto Alegre ansässigen Taurus-Konzern. Die private Aufrüstung werde die Spirale der Gewalt mit mehr als 60.000 Toten jährlich weiter anheizen, warnen Sicherheitsexperten und Menschenrechtsorganisationen. Viele Opfer gehen auf das Konto einer hochgerüsteten, aber schlecht ausgebildeten Polizei, die von Bolsonaros Parteigängern wie Rios Gouverneur Wilson Witzel freie Hand bekommt, im Kampf gegen Drogenbanden Jagd auf junge schwarze Männer in den Favelas zu machen - und als erste zu schießen.

Nur als Verbrechen ist die Umweltpolitik unter Bolsonaro zu bezeichnen. Mit Landwirtschaftsministerin Tereza Cristina sitzt das große, exportorientierte Agrobusiness am Kabinettstisch. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres wurden von ihrem Haus in Rekordtempo 169 neue Pestizide zugelassen. Nicht nur die auf dem Land Arbeitenden werden die Folgen zu spüren bekommen. Schon jetzt finden sich solche Stoffe im Trinkwasser jeder vierten brasilianischen Stadt wieder. Ein Anschlag auf die Gesundheit von Millionen. Die Abholzung der Regenwälder hat Fahrt aufgenommen. Die Rechte der Indigenen geraten noch mehr unter den Stiefel der Jagd auf Profite. Ihrer Schutzbehörde Ibama wurden Mittel und Kompetenzen entzogen. Den Amazonas-Fonds, der hauptsächlich von Norwegen gespeist wird, an dem aber auch Deutschland beteiligt ist, will die Regierung nun zweckentfremden und daraus Großgrundbesitzer finanziell entschädigen, die von Landenteignungen in Schutzgebieten betroffen waren.

Bolsonaros Haßreden und Machosprüche, die auch seinen Wahlkampf prägten, sind keine Show. Brasilien dürfe nicht länger als ein Paradies für Homosexuelle angesehen werden, erklärte der Staatschef. "Wir haben hier Familien."

Ausländische Touristen, die kämen, um Sex mit einer Frau zu haben, seien hingegen willkommen. Fehlleistungen und verbale Exzesse des Präsidenten muß sein Vize, der pensionierte General Hamilton Mourão, immer wieder einfangen. Mourão, der viele politische Fäden in die Hand genommen hat und seriös auftritt, erscheint durch den Kontrast zum Vorgesetzten als gemäßigte Alternative. Die Rechte ist bereits gespalten, und Bolsonaro bewegt sich auf dünnem Eis. Nach Umfragen sind die Zustimmungswerte zu ihm in den Keller gegangen. Der Messias der weißen Mittelschichten hat die erhofften Wunder nicht bewirkt. Der Real hat gegenüber dem Dollar sogar weiter an Wert verloren - für viele seiner eifrigsten Unterstützer wird auch in diesem Jahr der Besuch des Disneylands in Miami ausfallen müssen. Bolsonaros Wundertäter, Wirtschaftsminister und Finanzhai Paulo Guedes, treibt derweil den Ausverkauf und die Privatisierungen zügig voran. Die Umbenennung des Flugzeugbauers Embraer in Boeing Brasil symbolisiert, wohin die Reise geht. Kernstück der neoliberalen Politik ist eine radikale Rentenreform. Die Altersversorgung von Millionen steht auf dem Spiel. In der Propaganda der Regierung und von Leitmedien hängt das Wohl Brasiliens davon ab, daß sie im Kongreß verabschiedet wird. In Wirklichkeit zielt sie darauf, privaten Banken und Versicherungen einen großen Markt für eine kapitalgedeckte Altersversorgung zu öffnen.

Für den 26. Mai hatten ultrarechte Gruppen in ganz Brasilien zu Demos aufgerufen. Auf der Straße wollte man Bolsonaro den Rücken stärken, die Opposition einschüchtern. Es wurde ein Flop. Und immer mehr Details zu den Verbindungen des Bolsonaro-Clans zu den Milizen, Rios Unterwelt, beschäftigen die Öffentlichkeit. Weit mehr Menschen, es sind Millionen, demonstrierten in diesen Wochen gegen Kürzungen im staatlichen Bildungsetat.

Peter Steiniger

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Imperialstrategie für Eurasien
Kommt es zu einem Krieg der USA gegen Iran?

Die Region um Iran ist wohl eine der bedeutendsten Konf liktherde im 21. Jahrhundert. Der kalte Krieg, den die Vereinigten Staaten von Amerika gegen Iran führen, ist in erster Linie mit der geostrategischen Bedeutung des Landes zu erklären. Vorrangig geht es in diesem Raum um die Rohstoffe Erdöl und Erdgas. Zudem sind von Iran aus Mittelasien, der Kaukasus, der Nahe und Mittlere Osten sowie Rußland erreichbar.

Die USA verfolgen insbesondere seit dem Ende der Sowjetunion akribisch die Entwicklung auf dem Gebiet des Rohstoffsektors in und um Iran, im Kaukasus sowie in Zentralasien. Der Staatssekretär im U.S. State Department, Stuart Eizenstat, hob 1997 vor dem US-Kongreß hervor, daß "das Kaspische Meer potenziell eine der wichtigsten neuen energieproduzierenden Regionen der Welt" ist. Der Globalstratege Zbigniew Brzezinski hat das ökonomische Interesse der USA an diesem Raum unmißverständlich formuliert: Wir wollen "ungehinderten Zugang zu dieser dem Westen bisher verschlossenen Region" haben! Er bezeichnete das Gebiet als "Schachbrett, auf dem sich auch in Zukunft der Kampf um die globale Vorherrschaft abspielen wird". Brzezinski beruft sich ohne Skrupel auf Hitler und dessen Ansicht, "daß Eurasien der Mittelpunkt der Welt sei und mithin derjenige, der Eurasien beherrsche, die Welt beherrsche". Nach seiner Einschätzung ist "eine Dominanz auf dem gesamten euroasiatischen Kontinent noch heute die Voraussetzung für eine globale Vormachtstellung" der USA. Brzezinski kommt zu dem Schluß, daß das erste Ziel der US-Außenpolitik darin bestehen müsse, "daß kein Staat oder keine Gruppe von Staaten die Fähigkeit erlangt, die Vereinigten Staaten aus Eurasien zu vertreiben oder auch nur deren Schiedsrichterrolle entscheidend zu beeinträchtigen". Um diesem Anspruch Geltung zu verschaffen, wurde schon 1997 durch US-Außenministerin Madeleine Albright die gesamte Region um Mit telasien und Südkaukasus "zur geostrategischen Interessenzone der USA" deklariert. Iran war stets Bestandteil dieser Strategie, die unter dem US-Demokraten Bill Clinton entwickelt und von den Neokonservativen um Cheney und Bush umgesetzt wurde.

Die Anschläge des 11. September 2001 wurden dann zum Anlaß des Krieges zunächst gegen Afghanistan, obwohl dieser schon 18 Monate vorher noch unter US-Präsident Clinton geplant war. Ende September 2006 gab er zu, einen Krieg zunächst gegen Afghanistan beabsichtigt zu haben. Erst im Juni 2001 hatte dann die Bush-Administration ihren regionalen Verbündeten Pakistan über solche Pläne informiert, wie der damalige Außenminister Pakistans Naiz Naik bestätigte.

Der Krieg gegen Afghanistan war der Auftakt des militärischen Eroberungskurses der USA in neuer Dimension. Sowohl dieser Schlag als auch der gegen Irak waren Bestandteil der als "Greater Middle East Initiative" [GME] bezeichneten Strategie der Neokonservativen in den USA.

Atomstreit zwischen USA und Iran

Es ist fast in Vergessenheit geraten, daß der Grundstein des iranischen Atomprogramms mit US-amerikanischer Hilfe gelegt wurde. 1959 war der Universität Teheran im Rahmen des Atoms-for-Peace-Programms von US-Präsident Dwight D. Eisenhower ein Forschungsreaktor geschenkt worden. 1967 wurde aus den USA ein weiterer Forschungsreaktor (Leichtwasserreaktor) mit einer Leistung von 5 Megawatt geliefert und im Teheran Nuclear Research Center (TNRC) in Betrieb genommen. Der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger sagte 1973, daß es gut wäre, wenn Iran Atomenergie nutzen würde, damit die USA von dort billiges Öl geliefert bekommen.

Am 1. Juli 1968 unterzeichnete die iranische Regierung den Atomwaffensperrvertrag, der nach der Hinterlegung der Ratifizierungsurkunde bei den Signatarstaaten am 5. März 1970 für den Iran in Kraft trat. Signatarstaaten haben dem Vertrag zufolge das Recht, Kernenergie ausschließlich für zivile Zwecke einzusetzen. Iran hat sich strikt an diese Regeln gehalten. 1975 unterzeichnete der amerikanische Außenminister Henry Kissinger das National Security Decision Memorandum 292 zur amerikanisch-iranischen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Nukleartechnologie. Es sah den Verkauf von Nukleartechnik im Wert von über 6 Milliarden US-Dollar an Iran vor. Bis in die 70er Jahre gab es zwischen den USA und Iran diesbezüglich mehrere Abkommen. 1976 wurde Iran angeboten, eine Anlage zur Extraktion von Plutonium von den USA zu kaufen und zu betreiben. Die Vereinbarung bezog sich auf einen kompletten Nuklearkreislauf. Im Oktober 1976 hat Präsident Gerald Ford dieses Angebot zurückgezogen. Da die Verhandlungen mit den USA nicht zum Abschluß gebracht werden konnten, waren es dann westdeutsche Unternehmen, namentlich die Kraftwerk-Union AG, die 1974 einen Vertrag über den Bau des ersten iranischen Kernkraftwerks nahe der Stadt Buschehr abschlossen.

Schon zu Zeiten von US-Präsident Bill Clinton galten Nordkorea, Iran und Irak als "Schurkenstaaten". Sein Nachfolger George W. Bush nannte sie im Januar 2002 "Achse des Bösen", die den "Weltfrieden bedrohten". Erst nach dieser "Einstufung" nahm Iran die Forschung zur militärischen Nutzung der Atomenergie auf.

Experten gehen davon aus, daß Iran selbst dann, wenn man es in Ruhe forschen lassen würde, mindesten 13 Jahre bräuchte, um Atombomben bauen zu können.

Internationale Atomverhandlungen mit Iran

Im Juli 2016 wurde in Wien ein umfassendes Abkommen verkündet, mit dem der seit 13 Jahren schwelende Atomstreit mit Iran beendet wurde. Dies haben auf einer Pressekonferenz die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini und der iranische Außenminister Dschawad Zarif in der UN-City in Wien bekanntgegeben. Das sei ein Zeichen der Hoffnung für die ganze Welt, sagte Mogherini unmittelbar vor der formalen Verabschiedung des Abkommens durch die beteiligten Staaten. "Wir starten ein neues Kapitel der Hoffnung", betonte Zarif. Er sprach von einem historischen Moment.

Die Verhandlungen wurden 13 Jahre lang von einer internationalen Sechsergruppe, den Vereinigten Staaten, Rußland, der VR China, Großbritannien, Frankreich und Deutschland, mit Iran geführt. Durch das Abkommen sollte das iranische Atomprogramm so eingeschränkt werden, daß sich das Land nicht heimlich oder schnell das Material zum Bau von Atomwaffen verschaffen könne. Im Gegenzug sollten die Wirtschaftssanktionen gegen das Land aufgehoben werden. Bekanntlich ist das Gegenteil eingetreten. Die Sanktionen wurden seitens der USA sogar weiter verschärft, obwohl sich Iran strikt an alle Vereinbarungen gehalten hat. Dies bestätigte die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) "insgesamt elfmal seit Mitte 2015, als das Atomabkommen unterzeichnet wurde". Die IAEA konnte jederzeit und unangemeldet die iranischen Atomanlagen inspizieren. Selbst die USA-Geheimdienste attestierten mehrfach, daß Iran alle Auflagen erfüllen würde.

Von den Sanktionen sind nicht nur Iran und Europa, sondern die ganze Welt betroffen. "Die USA haben mit schierer Macht die Herrschaft des Unrechtes über Europa [und die Welt] etabliert. Denn die Sanktionen sind flagrant illegal", weil die internationalen und europäischen Unternehmen nicht US-amerikanischer Rechtsprechung unterliegen. Nun scheint es, daß die Repräsentanten der Europäischen Union (EU) sich doch zutrauen, durch gezielte Maßnahmen auf verschiedene Weise US-Sanktionen gegen Iran zu umgehen. Am Rande der UN-Vollversammlung am 25. September 2018 erklärte die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini gemeinsam mit dem iranischen Außenminister Mohammed Dschawad Sarif, daß die EU eine Zweckgesellschaft, nämlich eine Bank, gründen werde, um den Zahlungsverkehr mit Iran aufrechtzuerhalten. Damit sollen US-Sanktionen gegen Iran umgangen werden. Die Zweckgesellschaft solle auch "anderen Partnern in der Welt" offenstehen, betonte Mogherini. Diese soll Iran die Abwicklung seiner Geschäfte in harten Devisen ermöglichen. Damit will man sicherstellen, daß Firmen aus der EU Geld für Lieferungen nach Iran erhalten können. Zugleich bekräftigten die Außenminister Frankreichs, Großbritanniens, Deutschlands sowie Rußlands und Chinas bei einem Treffen mit ihrem Amtskollegen Sarif, sie wollten die "Freiheit wirtschaftlicher Akteure garantieren, legitime Geschäfte mit Iran zu machen".

Regime Change in Iran?

Das internationale Atomabkommen ist der israelischen und der saudiarabischen Regierung ein Dorn im Auge. Hätte der ehemalige US-Präsident Barack Obama grünes Licht gegeben, hätte die israelische Luftwaffe schon längst die Atomforschungsanlagen Irans zerstört. Der junge, unerfahrene und emotional agierende saudische Kronprinz Mohammad bin Salman rief die USA offen dazu auf, "den Kopf der Schlange", womit Iran gemeint ist, abzuschlagen. Nun hat US-Präsident Donald Trump Personen, die wie der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und der saudische Kronprinz Salman vehemente Befürworter eines Regime Change in Iran sind, in seine Administration aufgenommen. Mit John Bolton als Nationaler Sicherheitsberater und Mike Pompeo als Außenminister sind radikale Verfechter für einen iranischen Regierungswechsel in Schlüsselpositionen ins Weißen Haus eingerückt. Die Annahme der Trump-Administration, daß durch Wirtschaftssanktionen der Druck auf die iranische Bevölkerung zunehmen würde und damit ein solcher Umsturz von innen erfolgen würde, ist nicht nur naiv, sondern auch gefährlich. Bei einer Intervention von außen würden sich die iranischen Völker zusammenschließen. Außerdem wissen die Iraner genau, daß die Kriege der Vereinigten Staaten gegen Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien Chaos und Zerstörung in diesen Ländern brachten. Darüber hinaus würde ein Krieg gegen Iran die gesamte Region nicht nur destabilisieren, sondern möglicherweise in Flammen ersticken.

Die bevorstehende und endgültige Zerschlagung der mit den USA, Saudi-Arabien und anderen arabischen Scheichtümern verbündeten Islamisten in Syrien ist die größte Niederlage des US-Imperialismus nach dem Vietnamkrieg. Dies hat die Trump-Administration Iran nicht verziehen, da neben Rußland als Hauptakteur auch Iran bei der Zerschlagung der islamistisch orientierten Gegner der syrischen Regierung eine wichtige Rolle gespielt hat.

Neue Stufe der Eskalation

Für Iran sind die Verschärfung der Sanktionen seitens der USA und die diesbezügliche Untätigkeit der EU-Länder nicht mehr zu ertragen. Präsident Hassan Rohani hat am 8. Mai bekanntgegeben, daß sich sein Land bis auf weiteres an zwei seiner Verpflichtungen aus dem internat ionalen Atomabkommen "Joint Comprehensive Plan of Action" (JCPOA) von 2015 nicht mehr gebunden fühlt und deshalb beabsichtige, mit der Urananreicherung zu beginnen. Der iranische Präsident rief ultimativ die europäischen Vertragspartner auf, binnen 60 Tagen Maßnahmen gegen die erneut verschärften Sanktionen zu ergreifen. Seit dem 3. Mai 2019 droht die US-Administration Rußland und Oman mit Strafmaßnahmen, wenn sie, wie im Abkommen vorgeschrieben, mehr als 300 Kilo in Iran angereichertes Uran (LEU) und mehr als 130 Tonnen schweres Wasser, das für den Betrieb der Atomreaktoren benötigt wird, übernehmen würden.

Faktisch ist die EU im Atomstreit zwischen den USA und Iran marginalisiert. Ungeachtet dessen haben Europas Staatschefs ihren Führungsanspruch auf der Weltbühne betont. "Während das Iran-Abkommen, an dem die Europäer einen entscheidenden Anteil hatten, zur Makulatur zu werden droht, beschwören die 27 verbleibenden EU-Staaten ihre 'globale Führungsrolle'."

Es muß darauf hingewiesen werden, daß Kriege und bewaffnete Konflikte auch aus Versehen beginnen können, "wenn Motive, Aktionen und Kräfteverhältnisse nicht richtig eingeschätzt werden. Entschärfende Klarheit könnten da nur direkte Gespräche bringen. Doch Amerikaner und Iraner haben keinen Draht. Und Europa fehlen Staatsmänner mit Statur, um beherzt zu vermit teln. Am Persischen Golf sind Schlafwandler, Brandstifter und Dilettanten am Werk. Eine explosive Mischung", so die Einschätzung der Zeitung "Die Presse" aus Wien vom 9. Mai. Die iranische Regierung hat mehrfach der US-Administration Gespräche ohne Vorbedingung angeboten. Die USA haben dies stets abgelehnt. Sie haben ausdrücklich erklärt, den iranischen Erdölexport "auf null" reduzieren zu wollen. Die Trump-Administration will im Grunde genommen einen Regime Change in Iran. Und dies sagen sie auch ganz offen. Wenn das Abkommen scheitern sollte, worauf die US-Regierung hinarbeitet, "erhöht sich das Risiko beträchtlich, daß die USA militärisch eingreifen, um zu verhindern, daß der Iran atomar aufrüstet", ist sich die "New York Times" ziemlich sicher (11. Mai).

Eine Lösung ist möglich, ist sie auch gewollt?

Die iranische Regierung und der oberste geistliche Führer Irans Ayatollah Chatami haben immer wieder Vorschläge unterbreitet, mit den USA und mit Israel Frieden zu schließen, was beide Seiten bisher kategorisch ablehnen.

Die internationale Gemeinschaft muß die Kriegstreiber dazu zwingen, die Friedensangebote Irans anzunehmen und am Verhandlungstisch zu erscheinen, um die Konflikte zu lösen.

Dr. Matin Baraki

Dr. Matin Baraki ist Mitglied des Zentrums für Konfliktforschung an der Philipps-Universität Marburg.

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Vor 40 Jahren siegten die Sandinisten

"Wir werden bis zur Sonne der Freiheit gehen oder bis zum Tod. Und sollten wir sterben, unsere Sache wird weiterleben. Andere werden uns folgen." (Augusto Cesar Sandino)

Im Juli 1961 traf sich Carlos Fonseca an einem geheimgehaltenen Ort in Honduras an der Grenze zu Nikaragua mit neun Männern. Sie gründeten die Sandinistische Front der Nationalen Befreiung (FSLN), um den Kampf gegen die USA-hörige Somoza-Diktatur aufzunehmen. 1969 veröffentlichte die FSLN ihr Historisches Programm. Nach 18 Jahren Kampf zogen die "Cachorros" Sandinos am 19. Juli 1979 in Managua ein. Nikaragua war frei!

Ein Regierungsrat der Nationalen Erneuerung nahm die Arbeit auf. Eines der ersten Gesetze betraf die Enteignung des Somoza-Besitzes. Die bürgerlichen Vertreter im Rat waren dagegen und traten 1980 aus. Es begann die schleichende Konterrevolution, die nach dem Antritt Reagans als USA-Präsident in die offene überging. Die FSLN setzte ein weitreichendes Reformprogramm in Gang. Sie verstaatlichte die Banken, organisierte die Alphabetisierungskampagne, führte den freien Zugang zur medizinischen Versorgung und zum kostenlosen Unterricht in den Schulen und Universitäten ein. 1984 fanden Wahlen zur Nationalversammlung statt. Die FSLN gewann, und ihr Kandidat Comandante Daniel Ortega wurde Präsident.

1985 verhängte Reagan das Wirtschaftsembargo und ließ den Kongreß weitere 120 Millionen Dollar für die Contras beschließen. Die Sandinistische Regierung mußte ein strenges wirtschaftliches Reglement einführen und Tausende Jugendliche rekrutieren. In dieser komplizierten Situation setzte die FSLN am 9. Januar 1987 eine neue Verfassung in Kraft. Die neue Gesellschaft sollte sich auf drei Säulen stützen: politischer Pluralismus, gemischte Wirtschaft und Nichtpaktgebundenheit. Ende 1987 begann der Friedensprozeß von "Escipulas II". In Sapoá verhandelte die Nationalleitung der FSLN mit der Leitung der Contras über die Beendigung des Krieges. 1990 fanden vorgezogene Wahlen statt, die von der "Allianz der Nationalen Opposition" mit Violeta Chamorro als Schirmherrin gewonnen wurden.

Nach der Wahlniederlage konstituierte sich die FSLN als Partei. Im Juli 1991 fand der I. FSLN-Kongreß statt. Die Mehrheit der Delegierten beschloß, der neoliberalen Hegemonie eine revolutionäre Antwort zu geben. Daniel Ortega wurde zum Generalsekretär gewählt. In der Folgezeit kam es zu Machtkämpfen in der FSLN. Es entstanden Fraktionen und Gruppierungen. Frühere Führungskräfte verließen die FSLN oder gingen auf Distanz zu ihr. Einige von ihnen gründeten die Bewegung der Sandinistischen Erneuerung (MRS).

Daniel Ortega verlor 1996 und 2001 die Wahlen gegen Arnoldo Alemán von der Konstitutionellen Liberalen Partei (PLC) bzw. Enrique Bolaños von der Nikaraguanischen Liberalen Allianz. Die Politik der Neoliberalen bekam dem nikaraguanischen Volk nicht gut. Nach den Kennziffern der Vereinten Nationen für menschenwürdige Entwicklung nahm Nikaragua 1990 den 85. Rang unter den beobachteten Ländern ein. 2006 lag es auf Rang 128. Nur jeder vierte Nikaraguaner hatte Arbeit, jeder zweite war wieder Analphabet geworden. Die Korruption hatte Blütezeit. Die knappen Agrarkredite gingen an die großen Latifundienbesitzer, die ihre Schulden nicht zurückzahlten.

Im März 2002 verabschiedete der III. FSLN-Kongreß ein neues politisches Programm. Die FSLN schloß den bewaffneten Kampf für die Erlangung der Macht aus. Zum ersten Mal formulierte sie ein sozialistisches, christliches und solidarisches Gesellschaftsmodell als Ziel ihres Kampfes. Daniel Ortega wurde erneut zum Generalsekretär der FSLN gewählt.

Ende 2003 erschütterte eine tiefe Krise Nikaragua. Das Land war tief verschuldet, die Wirtschaft lag darnieder, die Energieversorgung brach zusammen. Im November 2003 besuchte US-Außenminister Colin Powell Nikaragua. Er forderte die PLC auf, sich mit den anderen liberalen Parteien zusammenzuschließen und gemeinsam gegen die FSLN vorzugehen. In dieser turbulenten Lage des wachsenden Druckes aus Washington und des politischen Überlebenskampfes von Bolaños, aber vor allem der Empörungswelle immer breiterer Schichten des Volkes, verhandelten Alemán und Ortega, um einen Ausweg zu finden.

Mit der Krise der Liberalen begann der neue Aufstieg der FSLN. Im November 2004 gewann sie die Munizipalwahlen. Die FSLN zog Nutzen aus den Veränderungen in Venezuela, Argentinien, Brasilien und Bolivien. Sie begann mit einer Alphabetisierungskampagne in den von ihr regierten Regionen und schloß mit der venezolanischen Regierung einen Vertrag über die Lieferung von Treibstoff dorthin ab. Am 5. November 2006 trat Daniel Ortega erneut als Präsidentschaftskandidat des von der FSLN geführten Wahlbündnisses "Unida Nikaragua triunfa" an. Das Bündnis gewann die Wahlen. Zum zweiten Mal in ihrer Geschichte kam die FSLN an die Macht. Diesmal auf dem Weg von Wahlen.

Die FSLN nahm das revolutionäre Projekt wieder auf. Einen Tag nach seiner Vereidigung am 10. Januar 2007 verkündete Daniel Ortega die Wiederherstellung der Beziehungen zu Kuba und Venezuela sowie den Beitritt Nikaraguas zur Bolivarischen Allianz (ALBA). Seine Regierung schaffte das Schulgeld ab, fror die Preise für Wasser und Energie ein und stoppte die Privatisierungswelle. Sie leitete eine neue Alphabetisierungskampagne ein, legte eine Reihe sozialer Programme auf und förderte die "Popularwirtschaft". Heute kann sich Nikaragua aus eigener landwirtschaftlicher Produktion selbst ernähren. Die Exportproduktion stieg ständig, der Tourismussektor blühte auf, das Land wurde attraktiv für in- und ausländische Investoren. 2014 verkündete die Regierung, das Projekt des Interozeanischen Kanals in Angriff zu nehmen. 2017 betrug das Wirtschaftswachstum 4,9 Prozent. Die allgemeine Armut verringerte sich zwischen 2009 und 2014 von 42,5 auf 29,6 Prozent. Der unterernährte Teil der Bevölkerung ging von 50,5 auf 16 Prozent zurück. 2009 betätigte die UNESCO, daß Nikaragua eine Rate des Analphabetismus von unter fünf Prozent erreichte.

Die erfolgreiche Entwicklung und das wachsende internationale Ansehen Nikaraguas mißfallen der nikaraguanischen Oligarchie und der katholischen Bischofskonferenz. Die liberalen und konservativen Parteien konnten bei Wahlen nicht mehr punkten. Die außerparlamentarische bürgerliche Opposition ging zum offenen Angriff über. Sie gründete die "Allianz für Gerechtigkeit und Demokratie", erbettelte von Washington die "Nica Act", mit der Nikaragua wirtschaftlich und finanziell unter Druck gesetzt wird, und nahm die Reform der Sozialversicherung zum Anlaß, um im April 2018 den Putsch zu probieren.

Der Putschversuch scheiterte. Er hinterließ aber Opfer an Menschenleben und große wirtschaftliche Schäden. Nikaragua ist nicht mehr das Land, das es vor dem 18. April 2018 war. Obwohl nicht vom Volk gewählt, verlangt die Allianz von der Regierung, mit ihr den Dialog zu führen. Es trifft zu, was Daniel Ortega 2015 auf dem Gipfel des Forums von São Paulo in Mexiko-Stadt sagte: "Sie bestimmten die Regeln, nach denen wir auf demokratischen Wege an die Macht gelangen können. Sind wir aber dort angekommen, setzen sie alle undemokratischen Mittel ein, um uns von dort wieder zu verdrängen."

Die Trump-Administration verbannte Nikaragua wie Venezuela und Kuba ins "Reich des Bösen". Die Gefahr des militärischen Eingreifens der USA ist groß. Unsere Solidarität gehört diesen Völkern und ihrem Kampf für Freiheit, Unabhängigkeit und Souveränität. Am 19. Juli 2019 feiert die FSLN mit ihrem Präsidenten Comandante Daniel Ortega und der nikaraguanischen Bevölkerung den 40. Jahrestag des Sieges ihre Revolution. Die Lage ist nicht einfach, aber die "Cachorros" Sandinos beugen sich nicht.

Wolfgang Herrmann
Dreesch

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Zur aktuellen Situation im Kaschmir-Konflikt

Am 14. Februar hatte ein Attentäter in der Nähe von Srinagar, der Hauptstadt des indischen Bundesstaates Jammu und Kaschmir, einen mit großen Mengen Sprengstoff beladenes Auto in einen Bus gelenkt. Dabei wurden über vierzig indische Soldaten getötet. Das war einer der verheerendsten Anschläge im indischen Teil Kaschmirs seit 30 Jahren. Im Jahre 2008 hatten auch die islamistischen Extremisten die indische Finanzmetropole Mumbai tagelang mit Terror überzogen. Zu dem neuesten Attentat bekannte sich die in Pakistan ansässige islamistische Terrororganisation "Jahis-e Mohammad" (JeM). Nach dem Anschlag begann die indische Armee mit einem Großeinsatz gegen die JeM. Dabei entdeckten sie ein Versteck der Terroristen in der Nähe des Dorfes Pinglan auf dem Territorium Pakistans außerhalb Kaschmirs. Bei zwölfstündigen Feuergefechten starben sieben Menschen, darunter vier indische Sicherheitskräfte. Als die von Pakistan aus operierende JeM sich offen zu dem Terrorangriff bekannte, bombardierte die indische Luftwaffe ein Ausbildungscamp der JeM, das sich auf pakistanischem Territorium befand. Daraufhin schoß die pakistanische Armee einen Kampfjet der Inder ab und nahm den Piloten Abhinandan Varthaman fest. Kurz danach kündigte der pakistanische Premierminister Imran Khan an, den Piloten freizulassen. Beobachter interpretierten dies als ein Schuldbekenntnis bzw. einen Wiedergutmachungsakt Pakistans, um die Krise zu entschärfen, wie die Zeitung "Dawn" am 1. März aus Karachi meldete. Es ist dies das erste Mal seit dem Beginn des Kaschmir-Konfliktes, daß die Armee Militärschläge auf der pakistanischen Seite öffentlich zugab.

Die indische Regierung erwartet, daß der JeM-Führer Maulana Masood Azhar auf die Terrorliste der Vereinten Nationen gesetzt wird, und beschwert sich darüber, daß die Regierung der VR China als Vetomacht diese Maßnahme blockierte. Die staatlich gelenkte "Global Times" in Peking hat in einer Stellungnahme von der indischen Regierung "solide Beweise" gegen Azhar verlangt. Das ist im Grunde genommen eine durchsichtige Ausrede. Denn die JeM bezichtigt sich selbst, den Terrorakt begangen zu haben. Darüber hinaus ist die JeM in Pakistan offiziell verboten. Aber ihre Anführer bleiben im Lande unangetastet.

Indische Sicherheitsexperten heben immer hervor, daß JeM nach wie vor durch den pakistanischen Militärgeheimdienst Inter-Services Intelligence (ISI) beschützt werde. Nach Darstellungen der indischen Regierung kämpfen mehrere extremistische Gruppen, die vom ISI gesteuert werden, gegen den indischen Staat. Beobachter aus der Region bestätigen, daß JeM zu jenen islamistischen Tarnorganisationen gerechnet wird, "die vom pakistanischen Militär und seinen Geheimdiensten finanziert, ausgerüstet, ausgebildet und mit Anschlägen in Nachbarstaaten beauftragt werden". JeM wäre allein niemals in der Lage, autonom zu agieren und solche Terroroperationen durchzuführen, betont der Antiterror-Experte und Direktor des "Institute for Conflict Management" Ajai Sahni. Maulana Masood Azhar war schon in den 90er Jahren wegen terroristischer Aktivitäten in Kaschmir verhaftet worden. Als er 1990 eine Maschine der Indian Airlines entführte und nach Kandahar in Afghanistan brachte, wo damals noch die Taliban herrschten, wurde er in einem Austausch gegen die Passagiere freigelassen.

Auf die Drohung Indiens hat der pakistanische Ministerpräsident Imran Khan angekündigt, seine Armee werde nicht zögern, zurückzuschlagen. Die Eskalation des Konflikts zwischen Indien und Pakistan scheint vorerst abgewendet zu sein. Doch das Gleichgewicht des Schreckens zwischen den beiden Atommächten Indien und Pakistan hat bis jetzt keine nennenswerte Stabilität geschaffen, sondern konventionelle Kriege und hybride Kriegführung begünstigt. Darunter fällt Pakistans systematischer Einsatz islamistischer Terroristen für Attacken gegen Indien. Das ist eine taktisch genau kalkulierte Politik Islamabads. Denn islamistische extremistische Terrorgruppen werden als "Handlanger [...] dem bankrotten Pakistan eine kostengünstige irreguläre Kriegführung, die Indien trotz seiner atomaren und konventionellen Übermacht ins Hintertreffen versetzt, ermöglichen. Militär und Geheimdienste erhalten den Konflikt mit dem größeren Nachbarn aufrecht, weil er den Machtanspruch der Generäle über den pakistanischen Staat zementiert. Und er dient der Vergeltung: Kaschmir, Ursprung der Feindschaft, ist nicht der einzige wunde Punkt der Pakistaner. Indiens militärische Unterstützung für die Abspaltung Bangladeschs 1971, die Pakistan mit einem Schlag halbierte, hat das Militär bis heute nicht verschmerzt."

Am 27. Februar berichtete die pakistanische Zeitung "The Nation" über die Verhaftung von 44 verdächtigen Männern, die mit dem Terrorakt von 14. Februar in Zusammenhang stehen sollen. Allerdings scheint die Regierung in Islamabad unentschlossen, den Führer der Terrorgruppe, Maulana Moaood Azhar, festzunehmen. Interessanterweise stehen die Namen von einigen Verhafteten in einem von der indischen an die pakistanische Regierung übergebenen Dossier. Indien identifizierte auch Lager der Terrororganisation Jahis-e Mohammad im Nachbarland. Shehryar Khan Afridi, Staatsminister im pakistanischen Innenministerium, verkündete, daß seine Regierung entschlossen sei, den Rechtsstaat durchzusetzen, fänden sich Beweise gegen die Männer. Einen besseren Beweis als das Selbstbekenntnis zu dem Terrorakt kann es ja nicht geben. Die Inder sind skeptisch und sehen die Festnahmen eher als "kosmetische Schritte". Der indische Anti-Terror-Experte Ajai Sahni prognostiziert, daß "die Verwundbarkeit Indiens durch Terrorangriffe" auch in Zukunft weitergehen würde.

Schon früher gingen ausnahmslos alle Experten und Beobachter der Verhältnisse davon aus, daß die Gefahr einer atomaren Auseinandersetzung zwischen Indien und Pakistan jederzeit droht. Im Jahre 1999 hatte Pakistan inmitten einer Auseinandersetzung mit Indien schon einmal fast seine Atomwaffen in Stellung gebracht. Ein Atomkrieg "wäre nicht nur für beide Nachbarländer, sondern für die ganze Welt eine Katastrophe", warnt die türkische Zeitung "Milliyet" am 1. März. Pakistan fühlt sich im konventionellen militärischen Bereich Indien gegenüber unterlegen.

Deswegen hat Islamabad vor einigen Jahren eine Doktrin der "kompletten Abschreckung" entwickelt, die einen nuklearen Erstschlag beinhaltet. Wobei Indien den Ersteinsatz von Atomwaffen als Antwort auf einen konventionellen Angriff seitens Pakistans ausschließt. Die Suche nach einer politischen Lösung des Konflikts wird deshalb immer dringlicher. Der damalige indische Ministerpräsident Atal Bihari Vajpayee hatte den pakistanischen Militärmachthaber Parvez Musharaf am 24. Mai 2001 zu Friedensgesprächen eingeladen, wobei es in erster Linie um eine Lösung des Kaschmir-Konflikts gehen sollte.

Musharaf nahm die Einladung in einem Brief an den indischen Ministerpräsidenten vom 29. Mai 2001 offiziell an und wies darin auf die Bedeutung guter Beziehungen für die wirtschaftliche Entwicklung hin. Er griff die Kernaussage des indischen Ministerpräsidenten auf, indem er die Armut als den gemeinsamen Feind beider Völker bezeichnete. Pakistan sei an einem stabilen, prosperierenden Indien, das in Frieden mit seinen Nachbarn lebe, interessiert und sei bereit, über den Kaschmir-Konflikt hinaus auch über alle anderen ungeklärten Fragen in den bilateralen Beziehungen zu sprechen. Zu hoffen bleibt, daß beide Seiten ernsthafte Anstrengungen unternehmen, um den seit mehr als ein halbes Jahrhundert andauernden Konflikt friedlich beizulegen. Sind die Kontrahenten dazu nicht in der Lage oder nicht gewillt, wären die "Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit" sowie die blockfreien Staaten, zu denen auch Indien und Pakistan selbst gehören, ein geeigneter Vermittler.

Dr. Matin Baraki

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Der 9. Mai, Deutschland und die NATO

Der 9. Mai ist in Rußland und in fast allen Nachfolgestaaten der Sowjetunion der wichtigste staatliche Feiertag. Am "Tag des Sieges" über den Hitlerfaschismus gedenken die Menschen ihrer Kriegstoten, und sie feiern den Frieden, der unter so vielen Opfern errungen wurde. Anders die USA und die NATO. Für sie wird der 9. Mai tendenziell zum Tag der Provokation und Eskalation im ohnehin fragilen Vorkriegs-Frieden. Schon im Jahr 2002 bezeichnete am 9. Mai Nicolas Burns, US-Botschafter bei der NATO, Rußland als potentielles Ziel von Atomwaffen. Am 9. Mai 2015 nahm weder die Bundeskanzlerin noch ein anderes deutsches Regierungsmitglied an den Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag des Sieges in Moskau teil, dafür eröffnete Kriegsministerin von der Leyen am Tag zuvor ganz offiziell und feierlich den "Ball des Heeres" in Berlin. "Am 9. Mai dieses Jahres startet die NATO-Großübung zur Bündnisverteidigung", titelte "Spiegel online" dieser Tage. Im Drehbuch der Kriegsstrategen wird Rußland umschrieben als "aggressive Macht, die Kerneuropa attackiert und über Kernwaffen verfügt". Diese greift, beginnend mit Cyberattacken, dann mit materiellem Kriegsgerät ein NATO-Land in Europa an. Sechs Tage lang werden die Regierungen der NATO-Staaten, der NATO-Rat und der militärische Apparat, so der "Spiegel" weiter, im Geheimen "alle Schritte eines Kriegsszenarios vollziehen ... von der Erklärung des Bündnisfalls nach Artikel 5 bis zur Planung der militärischen Reaktion der NATO auf die Attacke".

Diese ganze Übung ist eine einzige Provokation. Dazu gesellen sich seitens der Bundesregierung Geschichtsvergessenheit, Geschmacklosigkeit und eine Respektlosigkeit gegenüber den Opfern des von Deutschland entfesselten Vernichtungskriegs, die einem den Atem verschlägt. Der Sieg über die faschistischen Angreifer hat die Völker der Sowjetunion 27 Millionen Kriegstote und unzählbare an Leib und Seele Verwundete gekostet. Die große Mehrheit von ihnen waren Zivilisten, Alte, Frauen, Kinder. Auf der Seite des Angreifers starben 6,3 Millionen Deutsche, davon 5,2 Millionen Soldaten. Jeder einzelne Kriegstote ist einer zuviel. Die Zahlen zeigen aber, wie monströs und maßlos die regierungsoffizielle deutsche Politik die Geschichte umschreibt, wenn sie jetzt Rußland zum Aggressor macht.

Die US-amerikanische Politik treibt aber noch weiter. Als ihr Sprachrohr fordert in einem auf "Zeit online" am 30. April erschienenen Gastbeitrag Elbridge Colby, Direktor des Verteidigungsprogramms am Center for a New American Security in Washington: "Deutschland muß mehr in die Verteidigung stecken ... Nicht trotz seiner Vergangenheit, sondern gerade deswegen." In den letzten Jahren scheint es sich einzubürgern, jede neue Etappe deutscher Militarisierung als Sühne für Verbrechen des deutschen Faschismus darzustellen.

Das war so beim Überfall auf Jugoslawien, dem ersten deutschen Kriegseinsatz seit 1945, vom grünen Außenminister Josef Fischer als Sühne für Auschwitz bezeichnet. Das geschieht jetzt, da mit dem Ziel, zwei Prozent des BIP in die Aufrüstung gegen Rußland zu investieren, Deutschland als mit Abstand größte Wirtschaftsmacht in Europa wieder zur mit Abstand größten Militärmacht im Herzen Europas wird bzw. werden soll. Erfüllt Deutschland das Zwei-Prozent-Ziel, liegen seine Rüstungsausgaben bei bis zu 85 Milliarden Euro pro Jahr - Rußlands sind in den letzten zwei Jahren auf umgerechnet 59 Milliarden Euro gesunken. Deutschland als stärkste Militärmacht in Europa - eben das ist die Antwort auf Colby's Suggestivfrage: "Worin besteht also Deutschlands historische Verantwortung heute? Sie besteht darin, einen angemessenen Beitrag zur kollektiven Verteidigung des Bündnisses zu leisten, insbesondere gegen Rußland ..."

Nur einen Tag später erschien übrigens in dem gleichen Blatt das Interview mit Kevin Kühnert mit dem Aufreger-Begriff von der Kollektivierung der Wirtschaft. Egal, für wie glaubwürdig oder relevant die Gedanken des Juso-Vorsitzenden erscheinen: Er könnte sich inhaltlich auf das Potsdamer Abkommen beziehen, in dem die Siegermächte 1945 Deutschlands Zukunft skizzierten. Dazu gehörte, "das deutsche Wirtschaftsleben zu dezentralisieren mit dem Ziel der Vernichtung der bestehenden übermäßigen Konzentration der Wirtschaftskraft, dargestellt insbesondere durch Kartelle, Syndikate, Trusts und andere Monopolvereinigungen". Kühnert ist geballter Kritik ausgesetzt. Colby hingegen, der die im Potsdamer Abkommen vereinbarte Demilitarisierung Deutschlands in ihr Gegenteil verkehren will, erntet Wohlwollen.

Christiane Reymann und Wolfgang Gehrcke

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Für eine offene und freie Gesellschaft
Solidarität statt Ausgrenzung!

Es findet eine dramatische politische Verschiebung statt: Rassismus und Menschenverachtung sind gesellschaftsfähig. Was gestern mehrheitlich noch undenkbar war und als unsagbar galt, ist heute Realität. Humanität und Menschenrechte, Religionsfreiheit und Rechtsstaat werden offen angegriffen. Es ist ein Angriff, der uns allen gilt.

Wir wissen um die Bedeutung der Landtagswahlen in Sachsen und der sächsischen Verhältnisse für die Auseinandersetzung um den bundesweiten Rechtsruck.

Ganz Europa ist von einer nationalistischen Stimmung der Entsolidarisierung und Ausgrenzung erfaßt. Kritik an diesen unmenschlichen Verhältnissen wird gezielt als realitätsfremd diffamiert. In dieser Situation lassen wir nicht zu, daß Sozialstaat, Flucht und Migration gegeneinander ausgespielt werden. Wir halten dagegen, wenn Grund- und Freiheitsrechte weiter eingeschränkt werden sollen.

Während der Staat sogenannte Sicherheitsgesetze verschärft, die Überwachung ausbaut und so Stärke markiert, ist das Sozialsystem von Schwäche gekennzeichnet: Menschen leiden darunter, daß viel zuwenig investiert wird, etwa in Bildung, Pflege und Gesundheit, in den Kampf gegen die ökologische Krise, in öffentlichen Nahverkehr, Kinderbetreuung und Jugendkultur. Während ländliche Infrastruktur massiv unterfinanziert ist und die Menschen in die urbanen Zentren drängen, fehlt es in den Großstädten an bezahlbarem Wohnraum. Die Umverteilung von unten nach oben wurde durch die Wendekrise, Agenda 2010 und Finanzkrise massiv vorangetrieben. Steuerlich begünstigte Milliardengewinne der Wirtschaft stehen einem der größten Niedriglohnsektoren Europas und der Verarmung benachteiligter Menschen gegenüber.

Nicht mit uns - Wir halten dagegen!

­... Wir treten ein für eine offene und solidarische Gesellschaft, in der Menschenrechte unteilbar und vielfältige und selbstbestimmte Lebensentwürfe selbstverständlich sind - in Sachsen, Deutschland und weltweit. Wir stellen uns gegen jegliche Form von Diskriminierung und Hetze. Gemeinsam treten wir Rassismus, Antisemitismus, antimuslimischem Rassismus, Antiromaismus und Antifeminismus ... entschieden entgegen. Menschen, die auf die Solidarität der Gesellschaft angewiesen sind, dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Die Gleichwertigkeit aller in ihrem Ansehen und ihren Möglichkeiten ist nicht verhandelbar. Allen hier lebenden Menschen muß gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht werden.

Wir sind jetzt schon viele, die sich einsetzen:

Ob an den Außengrenzen Europas, ob vor Ort in Organisationen von Geflüchteten und in Willkommensinitiativen, ob in ... antirassistischen Bewegungen, in Migrantenorganisationen, in Behinderten- oder Kinderrechtsorganisationen, in Gewerkschaften, in Verbänden, NGOs, Religionsgemeinschaften, Vereinen und Nachbarschaften, ob in dem Engagement gegen Wohnungsnot, Verdrängung, Pflegenotstand, gegen Überwachung und Gesetzesverschärfungen, gegen die Entrechtung von Geflüchteten und für Klimagerechtigkeit - seit dem Herbst der Solidarität sind Hunderttausende Menschen für eine solidarische Gesellschaft auf die Straßen gegangen - an vielen Orten haben sich Menschen aktiv für eine Gesellschaft der vielen eingesetzt. Diesen Aufbruch sozialer Bewegungen werden wir in diesem Sommer fortschreiben.

Als Auftakt unserer gemeinsamen Aktivitäten wird am 6. Juli eine Demonstration in Leipzig stattfinden, mit der wir den Großdemonstration mit bundesweiter Mobilisierung am 24. August in Dresden geplant. Dazwischen wollen wir mit der Erzgebirge, in Zwickau, Grimma und Bautzen kooperieren. So werden wir an verschiedenen Orten lokal aktiv sein und in einer großen bundesweiten Mobilisierung in Dresden zusammenkommen.

Vorbereitung gefragt: bei der Vernetzung mit anderen Aktiven und der Mobilisierung in unseren Nachbarschaften.

- Für eine offene und freie Gesellschaft - Solidarität statt Ausgrenzung in ganz Sachsen und weit darüber hinaus!
- Für ein Europa der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit!
- Für ein solidarisches und soziales Miteinander in Sachsen statt Ausgrenzung und Rassismus!
- Für das Recht auf Schutz und Asyl - Gegen die Abschottung Europas!
- Für eine freie und vielfältige Gesellschaft! Solidarität kennt keine Grenzen!

(Aus dem Aufruf zur Großdemonstration am 24. August in Dresden)

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Stichworte und Widerspruch

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Ein Blick auf die Schülerproteste

Der phänomenale Wahlerfolg der "Grünen" bei den Wahlen zum EU-Parlament am 26. Mai und besonders in Deutschland hat das zerrüttete Parteien-Spektrum der Bourgeoisie aufgemischt und dessen bisherige Platzhalter in Panik, die Oppositionsparteien in anhaltende Verwirrung gestürzt.

Als entscheidender Überraschungsfaktor hat seit dem 20. August die Schüler-Massenbewegung "Fridays for Future" mit harten Forderungen nach einer schnellen Umsetzung der unverbindlichen Pariser Klimaschutzvereinbarungen von 2015 mit europaweiten Massendemonstrationen richtungweisenden außerparlamentarischen Druck ausgeübt. In der Folge sind alle Parteien auf der (oft fatal strittigen) Suche nach anderen Strategien zur Selbstbehauptung im Umgang mit einer neuerdings unerwartet politisierten Jugend und künftigen Wählergeneration.

Im Massenspektrum der Bewegung gibt es neben zivilgesellschaftlich-kulturellen, ethisch-humanitären auch Kräfte wie z. B. "Seebrücke", "Antikapitalistische Plattformen" ("Systemwechsel, nicht Klimawandel"), "Omas gegen rechts" oder Gewerkschafts- und Partei-Jugendgruppen, was sich in dieser Ausprägung nur damit erklären läßt, daß ihre Akteure ursprünglich auf ein systemkompatibles Ziel konzentriert waren.

Um so interessanter war jedoch eine Protestaktion von 3000 Hamburger Schülern gegen einen AfD-Versuch, antifaschistische Aufklärung an der "Ida-Ehre-Schule" zu verbieten. Mancherorts nahmen sie an den Ostermärschen teil, schon gegen die Irak-Invasion hatten einst Schüler und Gewerkschaftsjugend demonstriert. Massenbewegungen mit "Punktzielen" wachsen spontan bei aktuellen, medial breit kommunizierten Anlässen, wie die Anti-Atomindustrie-Demonstrationen nach dem Fukushima-GAU. Zeitweilig vereinen sie Menschen, die sonst völlig unterschiedliche Ansichten haben.

Wie es mit den "Fridays for Future" weitergeht, wird sich zeigen. Jedenfalls bringen solche Aktionen auch einige Lernprozesse der praktischen Erfahrung in Gang. Die Spontaneität als eine historisch bestimmte Qualität der gesellschaftlichen Praxis der Menschen ist dadurch charakterisiert, daß die praktischen Handlungen der Menschen, die in die Gesamtheit der gesellschaftlichen Verhältnisse und Prozesse eingehen, nicht nur die bezweckten unmittelbaren Resultate, sondern zugleich mit Notwendigkeit mittelbare, entferntere gesellschaftliche Wirkungen von wesentlicher Bedeutung haben, die ungewollt sind, im Gegensatz zu den Ansichten der Handelnden stehen und sich gegen sie kehren. Die tatsächlichen Resultate widersprechen den gewollten Zwecken oder sie haben, soweit sie diesen zunächst doch zu entsprechen scheinen, wieder unvorhergesehene Folgen. Die Gesellschaftsgesetze setzen sich gleichsam hinter dem Rücken der Menschen durch. (MEW, Bd. 37, S. 37) Die Marginalisierung der multipolaren französischen "Gelbwesten" gelang Macron nach einer intensiven soziologischen Abschätzung ihrer Zusammensetzung und Teilforderungen durch Scheinzugeständnisse an relevante Teilnehmer-Schichten bei gleichzeitiger Kriminalisierung des "harten Kerns", der seine neoliberalen Absichten substanziell gefährdet.

Die "Fridays for Future" wurden wegen der Wahlen und fehlender Gegenstrategien bald von den Parteitaktikern "umarmt" und mit Lob, Einladungen und zustimmenden Absichtserklärungen besänftigt. Luisa Neubauer, wie viele Aktivisten den "Grünen" zugehörig, forderte nach dem ersehnten Wahlsieg, diese müßten nun "liefern", die Verlierer aber einsehen, daß Klimaschutz Anliegen aller und keine Parteipolitik sei. Dabei bereitete sich diese neoliberale ökokapitalistische Mittelstandspartei mit Habeck an der Spitze schon auf eine Koalition mit der CDU im Bund vor.

Auch Herr Kretschmann in Stuttgart ist sehr industriefreundlich und verbreitet vom Erfolg überzeugt ein Wohlgefühl umweltfreundlicher hedonistischer Absolution gegen ein schlechtes Umweltgewissen "für alle". Sie teilen den "sozialpartnerschaftlichen" Konsens aller Parteien der Bourgeoisie: "Wenn ihr die Herren am Tische nur mästet, dann fallen für euch mehr Krümel herunter." Nur sitzt Erhard bei ihnen mit "grüner Zigarre" in der Tafelrunde. Das heißt Schonung bei Umweltforderungen, Kostenabwälzung auf die Arbeitenden, faule Kompromisse. Das aber sehen die Schüler nicht ein. Sie erkennen den Antagonismus von Klimaschutz und Politik, aber noch nicht dessen Ursache. "Das Bewußtsein wird nur dann zur materiellen Gewalt, wenn es sich umsetzt in praktisches Handeln der Menschen bei der Umgestaltung von Natur und Gesellschaft." (MEW, ebd.). Der Welternährungs- und Umweltkämpfer Jean Ziegler kommt in seinem neuen Buch "Was ist so schlimm am Kapitalismus?" durch Erfahrungen mit den Herrschaftsinstitutionen der UNO erst nach 14 Jahren zum Schluß, daß die repräsentative Demokratie am Ende, nicht reformierbar ist, und die Macht der Konzerne stärker ist als alle Staaten. "Kapitalismus zerstören, bevor er uns zerstört!"

Nach "bleierner Nachwendezeit", in der Jugendliche kein aktives Interesse an der verheerenden politischen Entwicklung zeigten, man ihnen Konsum- und Facebook-Abhängigkeit, entfremdete marktkonforme "Selbstinszenierung" und "antikollektivistische" Egozentrik zuordnete, erwachten nun Engagement und Interesse für die gesellschaftliche Gestaltung der eigenen Zukunft. Das bleibt für mich als Lehrer die wichtigste Seite der neuen Schülerbewegung, denn es ist die Grundvoraussetzung für jeden weiteren Kampf und wachsendes kapitalismuskritisches Bewußtsein überhaupt. Daß es im Kapitalismus unter der Herrschaft der Eigentümer von Produktionsmitteln und Ressourcen, Herren über den Einsatz von Produktivkräften, auch keine ökokapitalistische Lösung des Klimaproblems geben wird, werden die Jugendlichen selbst erfahren müssen. Denn, lernen wir von Engels: Gerade die höchste und letzte Ausbeuterordnung, der Kapitalismus, verfängt sich immer stärker in dem Widerspruch zwischen der bewußten Organisation der Produktion in einzelnen Betrieben (und großen Monopolverbänden) und der Anarchie und Planlosigkeit der Produktion im gesamtgesellschaftlichen Maßstab.

Wenn bürgerliche Ideologien darum bemüht sind, die Idee der Planung und Beherrschung des imperialistischen Systems zu propagieren, so dient das der Beschönigung und Rechtfertigung einer Ordnung, die ihrem Wesen nach weder planbar noch beherrschbar ist, weil sie durch die Antagonismen zwischen Bourgeoisie und Proletariat, zwischen den Interessen der Monopolbourgeoisie und den Lebensinteressen der Werktätigen, durch Widersprüche zwischen den Monopolen zerrissen ist. In der zyklischen Entwicklung der kapitalistischen Produktion, in der chronischen Massenarbeitslosigkeit, in Krisen des imperialistischen Finanzsystems, in Handels- und Eroberungskriegen treten die spontan wirkenden ökonomischen Gesetze des Kapitalismus als eine fremde und feindliche, die Gesellschaft beherrschende Macht zutage. (MEW, Bd. 39, S. 206)

Jobst Heinrich Müller

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Gegen hohe Mieten und Willkür von Immobilienkonzernen
"Markt macht krank"

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Immobilienwirtschaft und Mieten, kritisch betrachtet
Wohnst du noch ...?

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
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"Mietpreisbindung als Dauerrecht!"

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.] Von Sozialwissenschaftlern wird eine

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Goethefeiern 1949 und 1999

Am 3. Juli 1945 gründete sich der Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands. Johannes R. Becher rief in seiner programmatischen Rede dazu auf, "ein freiheitliches, wahrhaft demokratisches Deutschland auferstehen" zu lassen. Bernhard Kellermann beschwor den Bund, ein "geistiges und kulturelles Parlament" zu werden.

Einen Monat später, am 26. August 1945, konstituierte sich der Kulturbund in Mecklenburg-Vorpommern. Initiatoren und Impulsgeber waren die Schriftsteller Willi Bredel und Ehm Welk, die Pastoren Karl Kleinschmidt und Aurel von Jüchen, die Rektoren der Universitäten Rostock und Greifswald, Intendanten, Schauspieler und Heimatforscher. Bereits nach einem Jahr gab es 63 Ortsgruppen mit 12.000 Mitgliedern. 1947 zählte der Kulturbund 20.000 Freunde, 1948 waren es über 30.000.

Das war die Basis für eine Idee Willi Bredels, die begeistert aufgegriffen und mitgetragen wurde. Der 200. Geburtstag Goethes sollte zum Gedenk- und Feiertag für das ganze Land werden. Goethes Vorstellungen vom Sinn des Lebens, seine soziale Utopie, seine Hoffnungen, sein Humanismus sollten in den Rang einer gesellschaftlichen Kommunikation erhoben werden. Der entscheidende Grundsatz lautete: "Wir glauben an die Aufgeschlossenheit und Aufnahmebereitschaft unseres Volkes für diejenigen Ideale und Ideen, die zu unserem wertvollen Kulturgut gehören und die, in die Wirklichkeit umgesetzt, eine geschichtliche Kraft darstellen."

Bredels Idee wurde Wirklichkeit. Es hat in diesem Landstrich, von dem man sagte, daß es "hundert Jahre zurück" sei, "daß ein Ochse vor und einer hinter dem Pflug" genügen würden, noch nie eine solche Kulturbewegung, Fortschrittsdiskussion und Humanismusdebatte gegeben wie 1949. In der Festveranstaltung des Landtages würdigte Bredel Goethe als einen "allen Neuerungen aufgeschlossenen, rastlos forschenden und vorwärtsstrebenden, den Forderungen des Tages verpflichteten, selbstbewußten Menschen".

1999 hat der Kulturverbund Mecklenburg-Vorpommern zum 250. Geburtstag Goethes die Idee Bredels erneut aufgegriffen. Wiederum fanden in Städten und Gemeinden, Betrieben, Kultureinrichtungen, Schulen und Freundeskreisen Veranstaltungen statt, in denen Goethes Ideale bewußtgemacht und zu den herrschenden Verhältnissen in Beziehung gesetzt wurden. Auch die Festveranstaltung im Thronsaal des Schweriner Schlosses war diesem Anliegen verpflichtet. In der Festrede spielte neben anderen Themen die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Geschichtsschreibung eine besondere Rolle. Goethe hatte gefragt: "Wie wenig enthält auch die ausführlichste Geschichte, gegen das Leben eines Volkes gehalten? Und von dem Wenigen, wie wenig ist wahr? Und von dem Wahren, ist irgendetwas über allen Zweifel erhaben?" Faust zügelt Wagner, der frohlockt, daß wir es doch "so herrlich weit gebracht". "O ja", antwortet Faust, "bis an die Sterne weit! Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit sind uns ein Buch mit sieben Siegeln. Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln!"

Im August jährt sich Goethes Geburtstag zum 270. Mal. Es ist gut, daß unser Volk diesen großen Dichter und Denker hatte. Unbesonnene haben daraus überschwenglich "ein Volk der Dichter und Denker" gemacht. Es geht auch bescheidener - ein Volk der Nachdenker.

Prof. Dr. Benno Pubanz, Güstrow

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BUCHTIPS

Krieg und Frieden in den Medien
Dokumentation der IALANA-Tagung im Januar 2018 in Kassel

Warum veranstaltet eine Vereinigung von Juristinnen und Juristen, die sich in erster Linie für die Abschaffung von Atomwaffen einsetzt, eine Tagung zu diesem Thema? Das liegt daran, daß man als Friedensaktivist immer wieder auf Artikel stößt, vorzugsweise in den sogenannten Mainstream-Medien wie FAZ und "Süddeutsche Zeitung", bei deren Studium man stutzt: Da fehlt doch die Hälfte. Diese Beobachtung machen auch andere, z. B. die Autoren der Kabarett-Sendung "Die Anstalt". Deswegen geben sie jeder Sendung einen Faktencheck im Internet bei, der häufig viele Seiten stark ist.

So geht es übrigens auch der "heute-Show", deren Moderator Oliver Welke vor kurzem in einem Interview in der FAZ auf die Frage "Muß wegen des Erstarkens der AfD auch Satire präzise sein?" sagte: "Definitiv. Satire muß viel mehr aufpassen als früher. Deshalb haben wir schon seit Jahren Redakteure, die gar nicht mit dem satirischen Teil der Sendung befaßt sind, sondern nur die Fakten checken, in Ministerien anrufen, für uns die Themen vorrecherchieren." Das war beim Thema Krieg und Frieden: "Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit."

Autoren und Autorinnen u. a.: Volker Bräutigam, Rainer Braun, Daniela Dahn, Gabriele Krone-Schmalz, Karin Leukefeld, Michael Meyen, Ekkehard Sieker, Max Uthoff
Ossietzky-Verlag, Dähre 2018, 282 S., 20 €


Tino Eisbrenner: Das Lied vom Frieden

Reisebilder eines Songpoeten

Daß einem Songschreiber, der sich für eine bessere Verständigung zwischen Westeuropa und Rußland ausspricht, nicht nur Blumen auf den Weg gestreut werden, erfährt man auch aus dem vorliegenden Buch. Aber vor allem beschreibt Eisbrenner seine Erlebnisse und Eindrücke auf den "Musik statt Krieg"-Tourneen, die ihn seit Ende 2015 durch Deutschland, Österreich und Osteuropa geführt haben. Rußland, Georgien, Belarus, Polen, Tschechien hat er viele Male mit Musik bereist und dabei interessante Menschen und deren Sicht auf das Leben, die Heimat, ihre Geschichte und auch auf Deutschland kennengelernt. Der Sänger und Poet Tino Eisbrenner veröffentlicht hiermit sein drittes autobiographisches Buch.

Er hat nicht nur das "Lied vom Frieden" als Song getextet, sondern lebt es auch mit dem, was er als Künstler initiiert und präsentiert. In den letzten 30 Jahren in der größeren Bundesrepublik sei das Wissen über Rußland zunehmend verlorengegangen. Das werde dazu genutzt, "um uns ein X für ein U vorzumachen", beschrieb Eisbrenner die Folgen. "Da mußte ich aktiv werden."

Er habe sich deshalb auch mit russischen Liedern beschäftigt. Er habe sie geprüft, ob sie etwas mit dem Leben, dem Alltag und den Herzen der Deutschen zu tun haben, und sie übersetzt. Anfangs habe er sie in seine Konzerte eingebaut, bis daraufhin die ersten Einladungen aus Rußland, später auch aus Belarus und aus Georgien kamen.

Seit sechzehn Jahren veranstaltet er sein eigenes Festival "Musik statt Krieg", 2017 veröffentlichte er sein siebzehntes Album "November", auf dem er vorwiegend seine deutschen Nachdichtungen von Liedern russischer Barden wie Wladimir Wyssozki, Bulat Okudshawa, Juri Kukin, Alexander Rosenbaum u. a. singt ...
Nora-Verlag, Berlin 2018, 326 S., 19,90 €


Dietrich Krauß (Hg.): Die Rache des Mainstreams an sich selbst

Fünf Jahre "Die Anstalt"

"Die Anstalt" ist eine Institution im deutschen Fernsehen: Anlaufstelle für Andersdenkende, Rettungsanker für Rebellen und das Medium für Mainstream-Muffel. Max Uthoff, Claus von Wagner und ihr Redakteur und Mitautor Dietrich Krauß wollen Stimme sein für Unerhörtes und Ungehörtes. Bei der Wahl ihrer Mittel kennen sie keine Tabus: Es gibt knallharte Recherchen mit angeklebten Bärten, Komik im Kollektiv und Tafelunterricht als Unterhaltungsprogramm. "Die Sendung mit der Maus" für Erwachsene. Die "Anstalt"-Satire schafft einen barrierefreien Zugang zur Politik für alle. Nach 45 Minuten ist man oft schlecht gelaunt, aber immer gut unterhalten.

Im Buch zum 5. Geburtstag schreiben Macher und Mitstreiter, Fans und Kritiker über das Phänomen "Anstalt". Mit Max Uthoff, Claus von Wagner, Dietrich Krauß, Mely Kiyak, Norbert Blüm, Gabriele Krone-Schmalz, Hans Hoff, HG Butzko, Joe Bauer u. v. a.
Westend-Verlag, Frankfurt am Main 2019, 312 S., 20 €

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WISSENSCHAFTLICHE WELTANSCHAUUNG
Wilhelm Pieck auf dem VII. Weltkongreß der Komintern
Sendung des Deutschlandsenders vom 14. August 1975

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Seniorenresidenz - eine phantastische Wortschöpfung

Residenz ist laut Kleinem Duden ein "Wohnsitz eines Staatsoberhauptes oder Würdenträgers" oder auch "ein Wohnsitz von regierenden Fürsten". In der BRD werden auch Altersheime so genannt. Das Wort suggeriert alles, was man sich im Fall von Pflege und Betreuung wünscht: Menschen, die uns waschen und Medikamente geben, die uns zuhören, Aufmerksamkeit, Respekt und Zeit schenken.

Doch nicht die Würde des Menschen steht auf der Agenda, sondern der "Pflegenotstand", der zum medialen Schlagwort geworden ist. Viele machen sich Sorgen, daß sie oder ihre Angehörigen in Armut leben müssen, wenn sie Pflege benötigen. Dabei ist der Notstand politisch gemacht. Der Kostendruck ist eine direkte Folge der Spar- und Privatisierungspolitik der letzten Jahrzehnte. Es ist ein "Pflegemarkt" entstanden, in dem die Anbieter um knappe Pflegesätze konkurrieren. Um Kosten zu drücken, wird am Personal gespart. Unter Zeitstreß ist gute Betreuung aber kaum möglich. Darunter leiden die Menschen mit Pflegebedarf ebenso wie die Beschäftigten.

Rebecca H. arbeitet in einem Seniorenhaus. Sie schreibt: "Was mich aufregt, ist, wenn Politiker es so darstellen, als hätten alte Menschen in Pflegeheimen praktisch keine Rechte mehr. Am liebsten würde ich Frau Merkel oder den Gesundheitsminister einladen, mal eine Woche Praktikum bei uns zu machen! Dann würden sie sehen, was hier los ist." Außerdem verdienen die im Pflegeberuf Tätigen im Vergleich zu anderen Facharbeitern noch immer deutlich weniger.

Seit Anfang der 90er Jahre wird in der Gesundheitspolitik auf Konkurrenz im Gesundheitswesen gesetzt anstatt auf eine am gesellschaftlichen Bedarf orientierte Planung und eine Kooperation der verschiedenen Bereiche und Beschäftigungsgruppen. Erst in den letzten zwei Jahren scheint bei Politikern angekommen zu sein, daß diese Ökonomisierung des Gesundheitswesens auch Probleme schafft. Wirkliche Einsicht haben die Regierenden aber bislang vermissen lassen. Die "Märkische Oderzeitung" titelte im Januar 2019: "Kosten für Pflege explodieren, Heimkosten höher als Rente".

Zur gleichen Zeit hatten Verbraucherzentralen Änderungen bei der Pflegeversicherung gefordert. "Der Pflegefall darf nicht länger zur Kostenfalle werden", sagte der Chef des Verbraucherzentrale-Bundesverbands (vzbv) Klaus Müller.

Die Realität widerspricht diesen Forderungen. Alle Kosten werden erhöht. Ein Strausberger Einrichtungsleiter erklärte: "Die wesentlichen Bewegründe seien hier Tarifsteigerungen und ein landesweit vereinheitlichter Personalschlüssel für die Qualitätsbeauftragten. Dadurch können wir in unserer Einrichtung mehr Personal für die Qualitätssicherung einsetzen, was zukünftig allen Bewohnern zugute kommen wird - und auf der anderen Seite die Personalkosten erhöht.

Auch in unserer Residenz, in der meine Frau und ich leben, hat sich die Einrichtungs- und Pflegedienstleitung um mehr als das Doppelte verstärkt. Um mehr als das Doppelte ist auch die Anzahl der ProCurand-Seniorenresidenzen auf 27 gewachsen. Es muß also durchaus ein profitables Geschäft sein.

Die Pflege dagegen gerät in einer Wirtschaft, die auf Wachstum und Profit gepolt ist, immer mehr unter Bedrängnis. Der Widerspruch zwischen den Erfordernissen guter Pflege und einer Logik von Profit und Kostensenkung wird im Alltag für viele spürbar. Daß genau jene Arbeiten unter die Räder geraten, auf welche die Gesellschaft als Ganzes angewiesen ist, daß Streß, Druck und Erschöpfung derart zunehmen, läßt sich als Krise der sozialen Reproduktion beschreiben und ist angesichts des vorhandenen gesellschaftlichen Reichtums ein Skandal.

Geradezu provokativ kolportiert der Geschäftsführer der Seniorenresidenzen von ProCurand: "Ich bin stolz auf unsere Unternehmensgeschichte und blicke gleichzeitig wohlgemut in die Zukunft."

So einfach ist Kapitalismus!

Heinz Pocher
Strausberg

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Wie frei waren die ersten Bundestagswahlen 1949 wirklich?

Da Politiker aller im Bundestag vertretenen Parteien sowie die Medien den 70. Jahrestag der ersten Bundestagswahlen gebührend feiern werden, ist ein Blick auf die ersten Bundestagswahlen 1949 zu empfehlen. Es geht um die Frage, wie "frei" sie in Wirklichkeit waren.

1. Zwangswahl
Mitte Juli 1949, vier Wochen vor dem Wahltag, mischte sich Papst Pius XII. massiv in die Bundestagswahlen ein. Am 13. Juli 1949 erließ die heilige römische Kongregation ein von ihm sanktioniertes Dekret, das die Exkommunikation aller Katholiken anordnete, welche zum einen Mitglieder der Kommunistischen Partei sind oder diese unterstützen, zum anderen aller derjenigen, welche kommunistische Bücher, Zeitungen und Flugblätter drucken, lesen oder verbreiten.

Für die Katholiken war dies "Gesetz". Am 8. August 1949, eine Woche vor der Bundestagswahl, wurde ein Hirtenbrief der katholischen Bischöfe zur Bundestagswahl verlesen. "[...] Sie fordern die Wähler auf, ihre Stimme nur den Kandidaten zu geben, die den "christlichen Grundsätzen Geltung verschaffen wollen", d. h. die Vertreter der CDU zu wählen. Begründet wird diese aktive Einmischung der katholischen Kirche in den Wahlkampf mit einem Hinweis auf das päpstliche Exkommunizierungsdekret.

Am Wahltag waren 33 % der Wähler nicht mehr frei in ihrer Wahl. Papst XII. stand, bildlich gesprochen, mit in der Wahlkabine. Von den ca. 24 Millionen abgegebenen Stimmen betraf das fast 8 Millionen Wähler, die nicht frei wählen konnten.

2. Wahlbeeinflussung durch die westlichen Besatzungsmächte
Im Vorfeld der Wahl gab es eine regelrechte Jagd der Besatzungsbehörden auf Wahlpropagandamaterial der KPD. So erschienen z. B. im Kreisbüro in Hagen drei Kriminalbeamte, die auf Befehl der britischen Militärregierung das Wahlplakat mit dem Text "500.000 Wohnungen könnten mit 5 Milliarden Besatzungskosten gebaut werden", beschlagnahmen wollten. In Hannover wurde amtlich bekanntgegeben, daß die britischen Behörden 30 t Wahlflugblätter der KPD beschlagnahmte, die auf dem Bahnwege nach Hannover transportiert worden waren.

3. Wahlbetrug
Zunächst zum Wahlergebnis einiger Parteien (s. Tabelle unten). Obwohl die KPD fast genauso viele Stimmen hatte wie die CSU, bekam die CSU 24 Mandate, während die KPD nur 15 Bundestagsmandate erhielt. Die Bayernpartei und die Deutsche Partei hatten 380.000 bzw. 420.000 Stimmen weniger und erhielten jeweils 17 Mandate. Wie war dies möglich?

Bundestagswahlen 1949
Stimmen
%
Mandate
KPD
CSU
Bayernpartei
Deutsche Partei
1.361.706
1.380.448
986.478
939.934
5,7
5,8
4,2
4,0
15
24
17
17

Im Wahlgesetz von 1949 stand unter § 10 Abs. 4: "Parteien, deren Gesamtstimmenzahl weniger als fünf vom Hundert der gültigen Stimmen im Lande beträgt, werden bei der Errechnung und Zuteilung der Mandate nach Absatz 1-3 nicht berücksichtigt."

Dies hatte zur Folge, daß die Stimmen für die KPD in vier Bundesländern gestrichen wurden, weil sie unter 5 % lagen. In Bayern erzielte die KPD 195 787 (4,1 %), in Niedersachsen 104.017 (3,1 %), in Schleswig-Holstein 43.770 (3,1 %) und in Südbaden 22.754 Stimmen (3,8). Der KPD verlor durch diese Regelung, die übrigens nur 1949 zum Tragen kam, 366.328 Stimmen. Dies sind fast 28 % ihrer Stimmen, die bei der Berechnung der Bundestagsmandate nicht mitgerechnet wurden.

4. Wahlfälschung
Nach den Regeln der Wahl zum Bundeskanzler konnte Adenauer im ersten Wahlgang keine Mehrheit erringen. Es hätte ein zweiter Wahlgang durchgeführt werden müssen. Diese Regelung wurde einfach vom Bundestagspräsidenten Köhler außer Kraft gesetzt. Hier ein Auszug aus dem Protokoll zur 3. Sitzung des Deutscher Bundestages. Bonn, Donnerstag, den 15. September 1949:

Meine Damen und Herren! Wir kommen nunmehr zu Punkt 2 der Tagesordnung:
Wahl des Bundeskanzlers. [...] Nachdem Sie den Vorschlag des Herrn Bundespräsidenten gehört haben, schreiten wir zur Wahl. Ich bitte die Mitglieder des Bundestags, ihr Wahlrecht durch Abgabe der im Umschlag befindlichen Stimmzettel auszuüben dergestalt, daß auf den Stimmzettel entweder das Wort "Ja" oder das Wort "Nein" geschrieben wird bzw. bei Stimmenthaltung der Stimmzettel keine Bezeichnung erhält. Ich bitte, die Stimmzettel ungefaltet in die Umschläge zu stecken und darauf zu achten, daß nicht etwa versehentlich ein zweiter, leerer Stimmzettel sich im Umschlag befindet. [...]

Ich möchte das Ergebnis der Stimmabgabe bekanntgeben. Bevor ich es tue, möchte ich eine formelle Frage klären. Ich habe vorhin zum Ausdruck gebracht, daß entweder "Ja" oder "Nein" bzw. bei Enthaltungen nichts auf die Stimmzettel geschrieben werden soll. Es hat sich nunmehr herausgestellt, daß auf drei Stimmzetteln der Name "Adenauer" steht. Ich bitte das Haus um eine Meinungsäußerung, ob diese Stimmzettel als gültig anzusehen sind. (Ja-Rufe.)

Ich höre keinen Widerspruch. Dann darf ich die Einmütigkeit des Hauses feststellen, daß die drei mit dem Namen "Adenauer" beschriebenen Zettel als solche im Sinne des angegebenen Abstimmungsverfahrens gelten.

Meine Damen und Herren, ich stelle nun folgendes fest. Mit Ja haben 202, mit Nein 142 gestimmt, 44 Abgeordnete haben sich der Stimme enthalten, und eine Stimme ist ungültig. Nach den Vorschriften des Grundgesetzes über die Wahl des Bundeskanzlers, Artikel 63 Absatz 2 Satz 1 in Verbindung mit Artikel 121, beträgt die absolute Mehrheit der 402 Mitglieder des Bundestags 202. Diese Mehrheit im Sinne der eben genannten Vorschriften ist auf den Abgeordneten Dr. Adenauer entfallen. (Lachen links. Zurufe.)

5. Wählertäuschung
Adenauer hatte keine Skrupel, eine Koalition mit den rechtsnationalen Partei, der "Deutschen Partei (DP) einzugehen. Ihr Sprecher Dr. Ewers durfte im Bundestag offen Straffreiheit für Faschisten fordern und dabei den Naziminister Schacht als "Widerstandskämpfer" bezeichnen. Mit den Herren Hellwege und Seebohm saßen zwei Vertreter dieser extrem rechtsnationalen Partei am Ministertisch.

Fazit:
Die Westalliierten und die Kirchen (vertreten durch die C-Parteien) hatten nur ein Ziel: Mit allen Mitteln sollte verhindert werden, daß die KPD in den Bundestag gewählt wird. Sollte dies nicht gewährleistet werden können, sei das Ergebnis so zu beeinflussen, daß sich die KPD nicht in einer Regierungskoalition wiederfindet. Schon allein dieses Ansinnen drückte der Bundestagswahl 1949 den Stempel "unfreie Wahlen" auf.

Johann Weber

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GEDANKEN ZUR ZEIT

Haben Atheisten keine Moral?

Es gehört zu den jahrtausendealten und wahrscheinlich weltweit verbreiteten menschlichen Unsitten, den weltanschaulich Andersdenkenden oder wissenschaftlichen Gegner, statt daß man sich mit seinen rationalen Argumenten auseinandersetzt, als moralisch minderwertig, verlogen und in jeder Hinsicht verachtenswert hinzustellen.

Ein klassisches Beispiel unter vielen ist hierfür ein Satz Johann Gottlieb Fichtes, der in seiner "Einführung in die Wissenschaftslehre" sagt: "Ein gekrümmter, geknechteter Charakter wird sich nie zur Höhe des Idealismus erheben." - Welch ein Hochmut! Vielleicht könnte man diesen Dünkel abkühlen mit dem entgegengesetzten Satz: "Ein Idealist, der sich selbst einem hohen sozialen Ethos verpflichtet glaubt, wird nichts dabei finden, seine weltanschaulichen Gegner auf moralischer Ebene abzuqualifizieren und zu diffamieren, also andere zu erniedrigen, um sich selbst zu erhöhen."

Und auch, ja in geradezu überwältigender Fülle finden sich Beispiele ähnlicher Art in der Kirchengeschichte, wo der Andersdenkende, der Häretiker oder der Ketzer erst verteufelt, dann verfolgt und verbannt und schließlich auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird. Er wird schon auf Erden in den "Feuerofen" geworfen, "und daselbst wird Heulen und Zähneknirschen sein". Wahrlich, nicht eine Welt ohne Gott, sondern eine Welt mit Gott kann für den Ungläubigen die Hölle auf Erden sein, und bis in die Gegenwart hinein erhält sich in kirchlichen Kreisen das Vorurteil, daß Atheisten und zumal Kommunisten böse Menschen seien, denen man sogar das Recht auf Leben absprechen und die man mit Napalm verbrennen darf, denn (so der Bonner Moraltheologe Schöllgen) "es handelt sich hier ja schließlich um Kommunisten".

Das verschlägt einem den Atem, und auch wenn der so Redende sich selbst richtet, wird das Übel dadurch nicht geringer. Es bleibt die noch immer weit verbreitete Irrlehre, daß Atheisten Immoralisten seien und daß ein Ethos, das sich nicht auf Glaube und Offenbarung stützt, nur ein Scheinethos sei und nur vom Teufel stammen könne. Wir wollen im folgenden versuchen, diese Irrmeinung zu widerlegen und uns dabei auf die unbestreitbaren historischen Fakten stützen:

Die großen, ganze Gesellschaften prägenden Gesetzesentwürfe stammen fast ausschließlich von nichtchristlichen, oft dezidiert atheistischen Geistern: von Hamurabi über Moses, Sokrates und andere griechische Denker wie Solon, dann die römischen Philosophen, unter ihnen Seneca, sowie vor allem in der Zeit der humanistischen Aufklärung in Fortentwicklung des perikleischen Gedankens der Demokratie die französischen Revolutionäre mit ihren Herolden Rousseau und den Enzyklopädisten bis hin zu den Vätern moderner demokratischer Verfassungen, in denen unter anderen, bürgerlichen Rechten, vor allem die Menschenrechte verankert sind.

Diese großartigen Ethoi verdanken wir aber gerade nicht theistischen oder gar kirchlichen Lehren, sondern sie mußten vor allem der katholischen Kirche und ihren Päpsten mühsam abgerungen werden, da diese erklärtermaßen primär am Seelenheil des Menschen und seiner jenseitigen ewigen Seligkeit, nicht aber an seinem Wohlergehen auf Erden interessiert waren und sind. So sagte der katholische Moraltheologe Carlo Caffarra wörtlich: "Wenn der AIDS-infizierte Ehemann die lebenslängliche völlige Abstinenz nicht fertigbringt, ist es besser, daß er seine Frau infiziert, als daß er ein Kondom nimmt, denn die Wahrung spiritueller Güter, wie des Sakramentes der Ehe, ist dem Gut des Lebens vorzuziehen."

Dies zählt zu den Früchten, an denen wir den Wert oder richtiger: den Unwert theistischer, durch göttliche Offenbarung geheiligter kirchlicher Morallehren erkennen. Hier wird uns "Glaubenswahrheit" um die Ohren geschlagen, daß wir taumeln und schleunigst Halt suchen bei nicht kirchlich gebundenen, aber dezidiert "biophilen" Geistern wie etwa den buddhistischen Mönchen, die den Weg vor ihren Füßen fegen, um kein Tier zu zertreten.

Nach all dem, was ich gesehen und erfahren habe, halte ich dafür, daß ein möglichst optimales, für das menschliche Zusammenleben hilfreiches und für das Glück der größten Zahl dienliches Ethos nur in einem auf Solidarität und Vernunft gründenden immerwährenden rationalen Diskurs und somit auf demokratischer Grundlage ermittelt werden kann.

Was dem entgegensteht, ist neben egoistischen Interessen Einzelner, neben Habsucht und Machtgier der Herrschenden, die um ihre Privilegien bangen, vor allem der rational nicht erreichbare, da ans Pathologische grenzende überhebliche Starrsinn jener, die sich im Besitz göttlich verkündeter Wahrheit wähnen und die, wie Joseph Ratzinger, "grundsätzlich nicht belehrbar" sind. Diesen wird man zwar nicht die Hölle wünschen, weder die Hölle im Jenseits noch eine Hölle auf Erden, aber man wird sie ihrem Schicksal überlassen müssen wie Patienten, die mangels Krankheitseinsicht die Therapie verweigern. Und das bedeutet: Das Rad der Geschichte wird über sie hinweggehen, und sie werden der Vergessenheit anheimfallen wie prähistorische Kulturen, von denen keiner der jetzt Lebenden irgend etwas weiß.

Theodor Weißenborn

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Schrumpfende Städte in Ostdeutschland - das Beispiel Gera

Mit den Worten "Was ist hier gewesen? Wo ist all das Leben? Die Geisterstadt beginnt hier tief im Osten!" bringt der Sänger und Songwriter Clueso (Thomas Hübner) kurz und knapp den Kern einer wissenschaftlichen Debatte auf den Punkt, die sich mit Schrumpfungsprozessen von Städten und deren weitreichenden gesellschaftlichen Folgen befaßt.

Von Großbetrieben zur Reduzierung auf ein Minimum

Gera war zu DDR-Zeiten eine bedeutende Bezirkshauptstadt mit einer hohen industriellen Dichte. In den Bereichen Bergbau, Textilindustrie, Werkzeugmaschinenbau, Elektronik und Feinmechanik/Optik gab es viele Großbetriebe und Kombinate, die das Stadtbild prägten. In einzelnen Betrieben waren bis zu 5000 Arbeiter beschäftigt. Gera galt als das administrative Zentrum Ostthüringens. Betriebe wie der VEB Textilmaschinenbau stellten Produkte für mehr als 45 Länder her. Andere Großbetriebe, wie etwa der VEB Carl Zeiss Jena, waren mit ihrer Roboter- und Handhabetechnik für die gesamte DDR von großer Bedeutung.

Infolge der Deindustrialisierung in Ostdeutschland kam es auch in Gera innerhalb von nur zwei Jahren zur umfangreichen Abwicklung der Großbetriebe. Die Stadt verlor somit innerhalb kürzester Zeit ihre hohe Bedeutung als Industriestandort. Die wenigen Industriebetriebe, die noch übrigblieben, wurden zu kleinen Nachfolgeunternehmen umgewandelt. Die Stadt ist heute zu fast 90 % von Kleinunternehmen geprägt. Nach einer weiteren Abwärtsentwicklung gab es 2006 nur noch 17 Betriebe, die mehr als 250 Beschäftigte hatten.

Einsetzen einer nicht gekannten Arbeitslosigkeit

Zu DDR-Zeiten bestand mit dem Grundrecht auf Arbeit eine fast hundertprozentige Vollbeschäftigung. Alle Jugendlichen erhielten eine Lehrstelle bzw. einen Studienplatz. In Gera sah das im Jahre 1984 wie folgt aus: Von den ca. 75.000 Arbeitern hatten 86 % eine Berufsausbildung, 7 % einen Hochschul- und 64 % einen Facharbeiterabschluß. Mit der Abwicklung der volkseigenen Betriebe und der völligen Umstrukturierung der ostdeutschen Wirtschaft sank in Gera die Zahl der Beschäftigten im industriellen Sektor von 30.000 auf 3000. Damit setzte auch eine bis dahin nicht gekannte Arbeitslosigkeit ein, die bis zum Jahre 2005 fast kontinuierlich bei 19 % lag. Laut offiziellen Statistiken sank die Arbeitslosigkeit seitdem auf 12 %. Es muß hierbei beachtet werden, daß sich die Erhebungsformen mit der Einführung vom "Arbeitslosengeld II" (Hartz IV) stark geändert haben - so werden etwa "Ein-Euro-Jobber" nicht als arbeitslos ausgewiesen. Wenn die Manipulierung der Statistiken weggelassen wird, dann bewegt sich die Arbeitslosigkeit zwischen 15 und 20 %. Aber schon bei der näheren Betrachtung der offiziellen Zahlen wird deutlich, daß sich eine sich verfestigende Arbeitslosigkeit herausgebildet hat. So machen Langzeitarbeitslose 35 % der Gesamtarbeitslosen aus. Einen weiteren Hinweis auf den sozialen Abstieg, den die Beschäftigten hinnehmen mußten, geben die Zahlen zur SGB-II-Quote. Im Jahre 2011 lag diese laut Arbeitsagentur bei 18 %, d. h. fast jeder fünfte Einwohner war nach SGB II hilfsbedürftig. Die Zahl bei den unter 15jährigen lag sogar bei 30 %. Demnach muß fast jedes dritte Kind unter der Armutsgrenze leben.

Massenhafte Herausbildung von prekären Beschäftigungsverhältnissen

Seit 1990 gehen die Zahlen der Sozialversicherungspflichtigen (SV) in Ostdeutschland kontinuierlich zurück. In Gera sanken die SV-Beschäftigungen zwischen 2000 und 2011 um mehr als 17 %. Dabei hat auch die Zahl der Vollzeitbeschäftigten in Gera, wie in ganz Thüringen, stark abgenommen. Demgegenüber ist der Anteil der Teilzeitbeschäftigten kontinuierlich angestiegen. Sie haben mit erheblichen Lohneinbußen gegenüber Vollzeitbeschäftigten zu kämpfen. In Thüringen betragen sie für Frauen knapp 29 % (entspricht 649 €) und bei Männern sogar 31 % (769 €) des Bruttolohns. Darüber hinaus erhalten die Beschäftigten in Thüringen rund 6 € (ca. 32 %) weniger Stundenlohn als in den alten Bundesländern. Zu beachten ist bei dieser Entwicklung der Niedriglohnsektor, der sich im Laufe der Zeit herausgebildet hat. In Gera waren im Jahre 2012 46 % aller Beschäftigten in prekären Beschäftigungsverhältnissen tätig. In diesem Zusammenhang muß auf die sogenannten Aufstocker hingewiesen werden, die zumeist in Vollzeit arbeiten, deren Einkommen aber nicht ausreicht, um ihr Existenzminimum zu gewährleisten. Nicht zu vergessen sind die geringfügig Beschäftigten, die im Durchschnitt mit 145 bis 290 € brutto auskommen müssen.

Vom Höhepunkt der Bevölkerungsentwicklung zum dramatischen Sinken

Gera stand im Jahre 1988 mit 135.000 Einwohnern auf dem historischen Höhepunkt seiner Bevölkerungsentwicklung. Zu dieser Zeit waren knapp 47.000 jünger als 25 Jahre. Bis 1990 war das Stadtbild von großen und teilweise neu entstandenen Betrieben und Wohngebieten mit angeschlossener Infrastruktur geprägt. Diese Situation änderte sich nach dem Ende der DDR vollkommen. Gera verlor innerhalb von 20 Jahren 26 % seiner Einwohner. Unter den 15- bis 25jährigen kam es sogar zu einem Rückgang von ca. 40 %. Ein Ende des Schrumpfens ist nicht abzusehen. Laut Zukunftsprognosen der Stadt werden 2030 nur noch 77.214 Menschen in Gera wohnen, was einen weiteren Rückgang von 22 % darstellt. Auch das Durchschnittsalter wird weiter ansteigen. Die zu DDR-Zeiten weitestgehend junge Stadtbevölkerung alterte auf 48 Jahre im Jahre 2010 und wird im Jahre 2030 voraussichtlich bei 54 Jahren liegen. Wo einst Jugendzentren, Sportanlagen und viele Schulen das Stadtbild prägten, sind es heute Senioreneinrichtungen.

Das Ausbluten der einstigen sozialistischen Infrastruktur

Die (Groß-)Betriebe in Gera waren, wie in der gesamten DDR, nicht nur Arbeitsplatz, sondern sie hatten auch eine außerordentlich hohe Bedeutung für die Lebensgestaltung der Gesamtbevölkerung. Die sozialistischen Brigaden, Betriebsgruppen, Konfliktkommissionen usw. sorgten für eine Einbindung in das Arbeitskollektiv. Daneben waren die Betriebe für die Sozialpolitik der DDR enorm wichtig. Gemeinsam mit den Fachabteilungen der Städte und Gemeinden sorgten sie für ein subventioniertes Netz von Infrastruktureinrichtungen, die vom Gesundheitsbereich über den Kultur- und Freizeitsektor bis hin zum Bildungswesen reichten. Dementsprechend waren auch Geras Stadtteile geprägt von vielfältigen schulischen, sozialen und kulturellen Einrichtungen. Mit dem Verschwinden der Großbetriebe gingen die Betriebskollektive verloren, und große Teile der Infrastruktur verschwanden. In Gera wurden im Bildungsbereich zwischen 1995 und 2011 insgesamt 17 Schulen geschlossen.

Ebenfalls geschlossen wurden mehrere Schwimmhallen sowie das einzige Freizeitbad der Stadt. Was für gefährliche Folgen diese Entwicklungen haben kann, zeigt sich schon daran, daß Neofaschisten genau hier ansetzen. Eigene Nazi-Läden und unterwanderte Sportvereine dienen dabei als "soziale Orte", die gezielt auf perspektivlose Jugendliche ausgerichtet sind.

Der Pleitegeier über Gera

Seit Anfang des Jahres 2014 ist Gera aufgrund seiner sich zuspitzenden Finanzsituation bundesweit in den Medien. Die Flugbetriebsgesellschaft, die Geraer Stadtwerke und die Geraer Verkehrsbetriebe GmbH mußten Insolvenz anmelden. Hintergrund der Zahlungsunfähigkeit sind unter anderem die jährlich festgeschriebenen Garantiezahlungen für Konzerne, die an profitablen Bereichen der Stadtwerke beteiligt sind - wie etwa der französische Energiekonzern GDF Suez, dem jährlich 300.639 € zustehen. Die Stadt muß neben dem insolventen Stadtunternehmen derzeit auch noch mit dem eigenen, in den letzten 20 Jahren immer weiter steigenden Schuldenstand von ca. 120 Mio. € umgehen. Die Kassen sind leer, und so hatte die derzeitige Oberbürgermeisterin im Jahre 2012 eine totale Haushaltssperre verhängt. Seitdem müssen alle Ausgaben ab 500 € von ihr selbst bewilligt werden. Nur mit Krediten und Liquiditätshilfen vom Land konnte bisher die Infrastruktur aufrechterhalten werden.

Ein trauriges Fazit

Am 1. Juli 1990 versprach der in herrschenden Kreisen als "Kanzler der Einheit" gefeierte Helmut Kohl, Ostdeutschland "schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln, in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt". Knapp 30 Jahre nach dem Ende des Sozialismus zeigt sich, was solche Versprechen bedeuten: Die Abwicklung der Großbetriebe führte dazu, daß für die Mehrzahl der Bewohner der einstige Arbeits- und Lebensmittelpunkt wegbrach. Es folgten für die Mehrheit der Beschäftigten der Arbeitsplatzverlust und die Entwertung von Qualifikationen. Die Beschäftigungszahlen gingen rapide zurück, und die Größenstrukturen der Betriebe sind nun nur noch ein Schatten vergangener Zeiten. Auch die Beschäftigungsverhältnisse veränderten sich entscheidend.

So steigt heute nur noch die Zahl der prekären Beschäftigungsverhältnisse. Es folgte ein massiver Bevölkerungsrückgang. Dies führt zu weiteren Problemen: Wegzug von Einkommensstärkeren, hoher Wohnungsleerstand, Überalterung der Stadt, Rückgang der Infrastruktureinrichtungen, kommunale Sparmaßnahmen etc. Es ist festzuhalten, daß diese Entwicklung ein wesentlicher Ausdruck der veränderten kapitalistischen Verhältnisse ist, die, wie von Clueso im eingangs zitierten Liedtext beschrieben, zu "Geisterstädten" in Ostdeutschland führen. An vergangene Zeiten erinnern heute nur noch die im Stadtbild sichtbaren - tatsächlich inzwischen "blühenden" - Industrieruinen.

Ralf Jungmann

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Wider die Schlächterei

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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1932 bekam Friedrich Karl Kaul die Vorboten des Nazi-Terrors zu spüren

Gelebter Antifaschismus

Als der junge Jurist Friedrich Karl Kaul sein Studium an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität abgeschlossen hatte und sich bereits einige Zeit in der Ausbildung zum Assessor befand, wurde er kurz nach dem Machtantritt der Nazis wegen seiner jüdischen Abstammung aus dem Staatsdienst als Beamter auf Probe entlassen. Es gelang ihm gerade noch, seine Doktorarbeit "Die Entwicklung der Freiheitsstrafe zur Zentralstrafe im Strafsystem Preußens" erfolgreich abzuschließen.

Bereits 1933 wurde er das erste Mal durch die Gestapo verhaftet, zwei Jahre später brachte diese ihn in das Konzentrationslager Lichtenburg. Von dort verlegte man ihn Anfang 1937 in das KZ Dachau. Durch den Einsatz eines seiner früheren Professoren gelang es, daß er dort im selben Jahr unter der Bedingung entlassen wurde, das sogenannte Reichsgebiet zu verlassen, nach Übersee zu gehen und nicht wieder zurückzukehren. Das einzige Land, welches ihm sofort die Einreise gewährte, war Kolumbien in Südamerika. Von dort gelangte er späterhin nach Nikaragua, Honduras und letztlich in die USA. Als Bauarbeiter, Büroangestellter, Austräger und in anderen Gelegenheitsjobs mußte er sich durchschlagen.

Vor Beginn dieser Odyssee bekam er jedoch bereits Ende 1932 die Vorboten nazistischen Terrors unmittelbar am eigenen Leib zu spüren. Er besuchte das Künstlerlokal "Aenne Menz" in Berlin-Charlottenburg. Dort geriet er in ein politisches Streitgespräch, bei dem auch seine jüdische Abstammung und antifaschistische Position deutlich wurde. Der am Nachbartisch sitzende Helmuth K. mischte sich schließlich in die Geschehnisse ein. Dieser war bereits damals ein glühender Anhänger der Nazis. Offensichtlich hatte er sich das Auftreten Kauls gemerkt. Als dieser Anfang Februar des Folgejahres wieder das Lokal betrat und erneut auf Helmuth K. traf, war der jetzt auch an der SA-Uniform zu erkennen. Den weiteren Ablauf der Geschehnisse beschreibt F. K. Kaul mehr als ein Jahrzehnt später wie folgt: "... stürzte sich der Dentist K. (...) unversehens auf mich, schlug mich nieder und versuchte, indem er mich 'jüdisches Kommunistenschwein' nannte, zwangszustellen. Erheblich blutend - außer durch die Schlagverletzungen wurde ich auch noch durch die Scherben meines Brillenglases verwundet (die Narbe habe ich bis heute noch unterhalb des linken Auges) - gelang es mir nur mit Mühe, mich von dem K. und seiner Rotte freizumachen und zu entkommen." K. war bekannt dafür, daß er zu antisemitischen und körperlichen Übergriffen gegenüber Antifaschisten neigte. Zum Zeitpunkt der Geschehnisse konnte sich der junge Jurist Kaul mit rechtlichen Mitteln nicht zur Wehr setzen. Polizei und Justiz waren bereits gleichgeschaltet und eine Strafverfolgung des Täters deshalb nicht zu erwarten.

Als er 1946 aus dem Exil nach Berlin zurückkehrte, arbeitete er unter anderem auch ehrenamtlich als Leiter der Rechtsbetreuungsstelle der SED im Stadtteil Tiergarten. Dort gelangte ihm mehr oder weniger zufällig ein Schreiben in die Hände, wo von einem Entnazifizierungsantrag des K. die Rede war und dieser auch angab, nur "Mitläufer" des faschistischen Systems gewesen zu sein. Dies, obgleich es Hinweise darauf gab, "daß K. aktiv an den von der SA veranstalteten Saalschlachten in den Pharus-Sälen bereits in den Jahren 1930 teilgenommen haben soll". In dem gegen ihn daraufhin eingeleiteten Ermittlungsverfahren gab er zu, "sich sehr oft geschlagen zu haben". Ob auch Kaul zu seinen Opfern gehörte, könne er sich nicht erinnern. Der Generalstaatsanwalt bei dem Landgericht Berlin erhob im April 1947 gegen Helmuth K. Anklage wegen des Vorwurfs "einen anderen durch Beleidigung und Mißhandlung aus rassischen Gründen verfolgt und dadurch gegen die Menschlichkeit verstoßen zu haben". Dies stellte ein Verbrechen nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 dar. Zusätzlich wurde darauf hingewiesen, daß er im Bereich des Kurfürstendamms auch "andere Personen terrorisiert und wegen ihrer jüdischen Abstammung oder antinazistischen Einstellung mißhandelt" hat. Erwartungsgemäß bestritt K. politische oder rassische Gründe für sein Handeln und berief sich darauf, wegen einer Halsverletzung öfters gehänselt worden zu sein und oft in angetrunkenem Zustand gehandelt zu haben. Am 30. Juni 1947 verhandelte die 10. große Strafkammer des Landgerichts Berlin gegen K. Dort wurde Dr. Kaul auch als Zeuge gehört. Das Landgericht verurteilte Helmuth K. wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu zehn Monaten Gefängnis. Hiergegen legte er Revision ein, die das Kammergericht am 17. Dezember 1947 verwarf. Aus der Begründung ergibt sich auch, daß er seit 1932 Mitglied der NSDAP und der SA war. In der Revisionsentscheidung heißt es abschließend: "Die Strafzumessung der Strafkammer ist zwar sehr kurz begründet. Sie ist aber nicht zu beanstanden, weil nicht ersichtlich ist, wie eine derartig brutale Ausschreitung milder als mit zehn Monaten Gefängnis gesühnt werden könnte." Jetzt versuchte K. am 20. Februar 1948 das rechtskräftige Urteil mit einem Wiederaufnahmeantrag anzugreifen, indem er behauptete, zur Tatzeit aus gesundheitlichen Gründen nicht zur Tat in der Lage gewesen zu sein. Auch gab er an, sich "in jener Zeit immer gegenüber jüdischen Personen und andersdenkenden Menschen durchaus korrekt, einwandfrei und anständig" verhalten zu haben. Die von ihm dazu angebotenen Zeugen sind in ihren schriftlichen Erklärungen sichtlich bemüht, ihm dies zu attestieren. Der Wiederaufnahmeantrag wurde am 16. April 1948 vom Landgericht abgelehnt. Eine hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde verwarf das Kammergericht am 30. August desselben Jahres. Die unter anderem von dem Beschwerdeführer angebrachte Sprachbehinderung war nicht geeignet, die Wiederaufnahme zuzulassen. Auch sah das Gericht die Glaubwürdigkeit der Aussage des Zeugen Kaul nicht beeinträchtigt.

Jetzt versuchte es K. mit einem Antrag auf Strafaufschub, als ihm die Vollstreckung der Gefängnisstrafe drohte. Diesen Antrag wiederholte er mehrfach unter Hinweis auf gesundheitliche Beeinträchtigungen. Durch Verfügung vom 6. November 1950 hatte die Staatsanwaltschaft "die Vollstreckung der Strafe bis zum 30. November 1953 mit der Aussicht auf einen Gnadenerweis für den Fall guter Führung" ausgesetzt. Zu einem solchen kam es jedoch nicht mehr, da K. am 10. Juni 1951 verstarb.

Für Friedrich Karl Kaul hatte zu diesem Zeitpunkt seine Zeit als Rechtsanwalt mit Zulassung in allen vier Besatzungszonen Berlins - und nach Gründung der beiden deutschen Staaten auch dort - gerade erst begonnen. In den folgenden 30 Jahren verteidigte er zahlreiche Kommunisten, die wegen ihrer Gesinnung und ihres Auftretens für Demokratie und Gerechtigkeit in der BRD strafrechtlich verfolgt wurden. Unvergessen bleibt seine Mitwirkung als einer der Vertreter der Partei im Prozeß vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, welches 1956 das Verbot der KPD verhängte. In 17 Prozessen gegen nazistische Gewaltverbrecher in der BRD nahm er als Vertreter der Nebenklage die Interessen von Hinterbliebenen der Opfer aus verschiedenen sozialistischen Ländern wahr und sorgte so dafür, daß nazistischer Greuel, vor allem durch die Ermordung von jüdischen Mitbürgern aus ganz Europa, gesühnt wurde oder Gerichte sich zumindest mit den begangenen Verbrechen auseinandersetzen mußten. Antifaschismus wurde - nicht zuletzt durch seine eigenen Erfahrungen mit dem Naziterror - für ihn zu einer Lebensaufgabe, der er sich mit ganzer Kraft widmete.

Ralph Dobrawa
Gotha

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Vor 65 Jahren wurde die FDJ von der Adenauer-Regierung verboten

Klassenjustiz gegen Friedenskampagne

Zur feierlichen Eröffnung des neu geschaffenen Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG ) in Westberlin am 8. Juni 1953 ließ dessen Präsident Dr. Ludwig Frege nicht ohne Pathos in der Stimme verlauten: "Daß von diesen drei Tugenden - Weisheit, Besonnenheit und Tapferkeit - die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts getragen sein und von ihnen zeugen möge, ist mein sehnlichster Wunsch."

Wie es um die genannten Tugenden bestellt war, zeigte sich einige Wochen später: Unter seinem Vorsitz verkündete der Erste Senat des BVerwG am 16. Juli 1954 das Verbot der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Das Gericht bestätigte damit die Verbotsverfügung der Bundesregierung vom 26. Juni 1951. Das Adenauer-Regime wollte sichergehen und jedwede politische Aktivität von KPD und FDJ unterbinden. Schon 1950 hatte der sog. Adenauer-Erlaß für ein Berufsverbot all jener gesorgt, denen verfassungsfeindliche Aktivitäten unterstellt wurden. Der Antrag auf das Verbot der KPD vom 21. November 1953 lag bereits in der Schublade. Der Fraktionsstatus der KPD im Bundestag war ihr 1952 genommen worden. Die herrschende Klasse, Waffenlobbyisten und Kriegsgewinnler setzten den gesamten Justizapparat Westdeutschlands in Gang, um die Friedensaktivisten mundtot zu machen. Die Zielsetzung der Maßnahmen wird im 1951 neu eingeführten Paragraph 80 des Strafgesetzbuches anschaulich beschrieben: Lebenslanges Zuchthaus drohten jedem, der das Grundgesetz oder eine Länderverfassung zu "ändern" beabsichtigte.

Was war der Auslöser dafür, daßder bourgeoise Staat alle Register seiner Macht zog? Im März 1946 gegründet, stand für die FDJ in Westdeutschland nach Vollendung der deutschen Teilung durch Währungsreform (20. Juni 1948) und Verabschiedung des Grundgesetzes (23. Mai 1949) der Kampf gegen die Wiederbewaffnung der BRD im Mittelpunkt ihrer Tagesarbeit. Schon im Dezember 1949 hatte Adenauer in einem Interview mit der Zeitung "Cleveland Plain Dealer" angedeutet, daß eine Wiederbewaffnung des westdeutschen Staates nun zur Diskussion stehen müsse. Winston Churchill unterstützte die Avance zur Remilitarisierung. Am 11. August 1950 stimmte der Europarat zu, unter Einbeziehung deutscher Truppenteile eine "Europa-Armee" zu bilden. Dadurch bestärkt, sandte Adenauer zwei Wochen später dem Vorsitzenden der Alliierten Hohen Kommission, John McCloy, ein Memorandum mit dem Wunsch, die westalliierten Militäreinheiten in der BRD zu verstärken und gleichzeitig deutsche Streitkräfte daran zu beteiligen. Damit hatte Adenauer die Westallierten auf seiner Seite: Im September 1950 befürworteten die Außenminister der USA, Großbritanniens und Frankreichs das westdeutsche Militärengagement. Nun ging alles ganz schnell. Nachdem im Oktober 1950 die Konzeption einer Wiederbewaffnung in der "Himmeroder Denkschrift" ausgearbeitet worden war, setzte die "Dienststelle Blank" (so benannt nach dem von Adenauer beauftragten Chef der Operation, Theodor Blank) nun institutionalisiert die weiteren Bemühungen durch, die im Jahre 1952 zunächst in die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) mündeten und schlußendlich zum NATO-Beitritt Westdeutschlands (1955) und zur Schaffung der Bundeswehr (1956) führten.

Der Kampf der FDJ und der mit ihr kooperierenden demokratischen Kräfte (zu nennen sind vor allem die "Falken", die Naturfreundejugend und verschiedene gewerkschaftliche und christliche Gruppen) gegen die Remilitarisierung war machtvoll. Und ihr Protest hatte einen breiten gesellschaftlichen Rückhalt: Laut den Umfragen des Emnid-Instituts im Dezember 1949 und November 1950 bekundeten 74,6 Prozent bzw. 73,4 Prozent der Bundesbürger ihre Gegnerschaft zur Wiedereinführung des deutschen Militärs. Die Deutschlandtreffen der FDJ in den Jahren 1950 und 1954, an denen Hunderttausende Jugendliche teilnahmen, darunter auch Zehntausende aus der BRD, wurden neben unzähligen Demonstrationen, Kundgebungen und Einzelaktionen zum Fanal der Antimilitarisierungsbewegung. Das Adenauer-Regime wütete.

Nach Ende des Deutschlandtreffens 1950 wurden Polizeikräfte aus ganz Schleswig-Holstein zusammengezogen, um die Rückreise von Zehntausenden westdeutscher Teilnehmer über die Grenze bei Lübeck/Herrnburg zu vereiteln. Unter dem fadenscheinigen Argument, die Rückreisenden seien "Seuchenträger", wurde ihre amtliche Registrierung angeordnet. Die FDJ ließ sich nicht beirren. Die von ihr getragene Bewegung zur Durchführung einer Volksbefragung gegen die Remilitarisierung startete in den Januartagen des Jahres 1951. Weil erkennbar war, dass breite Teile der Bevölkerung mit der Forderung nach Frieden sympathisierten, wurde sie flugs im April jenes Jahres verboten. "Wer an der kommunistischen Volksbefragung teilnimmt, gefährdet den Frieden und stellt sich in den Dienst des Bolschewismus", ließ das Ministerium für gesamtdeutsche Fragen verlauten. Trotz Verbots der Volksbefragung und der FDJ wurden bis zum Frühjahr 1952 über neun Millionen Stimmen auf dem Gebiet der BRD gegen die Wiederbewaffnung gesammelt. Tausende Aktivisten wurden wegen ihres Einsatzes für die Volksbefragung kriminalisiert und teils mit langen Haftstrafen belegt. So tief saß die Furcht der Militaristen vor den Blauhemden. So tief saß sie, daß die Ordnungskräfte sich auch nicht scheuten, von der Schußwaffe Gebrauch zu machen: Die "Friedenskarawane der Jugend", die für den 11. Mai 1952 in Essen angemeldet war und kurz vor Veranstaltungsbeginn verboten wurde, endete mit dem Tod des 21-jährigen Arbeiters und FDJ-Mitglieds Philipp Müller, der von Polizeikugeln in den Rücken getroffen wurde. Zu einer Ahndung des Todesschützen kam es nicht - die Polizei habe sich in einer notstandsähnlichen Situation befunden. Es liegt in der Logik der Klassenjustiz, daß indes elf Demonstrationsteilnehmer wegen der Teilnahme an der Friedenskarawane in Haft geschickt wurden.

Philipp Müller bleibt unvergessen. Unvergessen auch Zehntausende junger Menschen, die in den Jahren 1949 bis 1956 dafür gekämpft haben, daß von deutschem Boden kein Krieg mehr ausgehen solle. Der Frieden läßt sich nicht verbieten.

Dr. Ralf Hohmann
München

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Stimmen aus aller Welt über die DDR

Solange der sozialistische deutsche Staat, die DDR, existierte, haben sich immer wieder Persönlichkeiten aus der ganzen Welt bei oder nach Besuchen über die DDR geäußert. Zum 30. Jahrestag am 7. Oktober 1979 hat die Auslandspresseagentur Panorama DDR über hundert solcher Stellungnahmen in einem Buch vereint. Entstanden ist so ein Mosaik persönlicher Erfahrungen und Erkenntnisse, die jeweils ein Stück gesellschaftlicher Wirklichkeit widerspiegeln. Stellvertretend für die anderen veröffentlichen wir hier einige dieser Äußerungen - Älteren zur Erinnerung, Jüngeren zur Verdeutlichung dessen, was die DDR für die Welt (und für uns) war.

Istvan Iglodi (1944-2009)
Regisseur und Schauspieler, Ungarn

Gegen Ende der sechziger Jahre begegnete ich zum erstenmal der Theaterkunst der DDR, und zwar während eines Gastspiels des Berliner Ensembles in Budapest. Das war ein großes Erlebnis, eine Offenbarung. Das ungarische Theater machte damals die ersten Experimente, Brecht zu spielen. Diese Versuche sind im allgemeinen mißlungen, so daß einige das Daseinsrecht der Werke von Brecht auf den ungarischen Bühnen in Frage gestellt haben.

Das Gastspiel bewies uns überzeugend das Gegenteil. Das Berliner Ensemble hat das spezielle Deutsche des Brechtschen Dramas demonstriert und gleichzeitig das internationalistische Daseinsrecht des Brechtschen Theaters gerechtfertigt.

Lange Zeit war für uns das DDR-Theater mit dem Brecht-Theater und die dramatische Literatur der DDR mit den Werken von Brecht gleichbedeutend. Erst allmählich haben sich unsere Beziehungen vertieft, und wir haben die Möglichkeit gehabt, uns immer vielseitiger kennenzulernen. Ich habe mich in Ihrem Land unter anderem mit den Werken des jungen Dramatikers Kurt Bartsch bekannt gemacht und 1975, anläßlich der Festtage des DDR-Dramas in Budapest, eines seiner Stücke, "Der Bauch", in unserem Theater inszeniert, das übrigens auch noch heute mit großem Erfolg gespielt wird. Fast als symbolisch empfinde ich es, daß ein ungarisches Ensemble mit Tschingis Aitmatows "Abschied von Gülsary" beim Berliner Publikum großes Interesse erwecken konnte.

Im Herbst 1978 eröffnete das neugegründete "Volkstheater" in Budapest seine zweite Saison mit der Premiere des Werkes von Bertolt Brecht "Mann ist Mann". Ich hatte die Möglichkeit, in diesem Stück als Schauspieler mitzuwirken. Damit hat sich für mich ein Kreis geschlossen: Vom Erlebnis einer Brecht-Aufführung bin ich, mit Hilfe meiner Freunde aus der DDR, Brecht auch als Schauspieler begegnet. Aber ich glaube, wir sind noch nicht am Ende des Weges angekommen. Ich bin vielmehr davon überzeugt, daß sich die Beziehungen zwischen unseren Ländern weiter vertiefen werden - gleich ob auf staatlicher Ebene oder im Bereich von Kultur und Kunst und in den persönlichen Begegnungen.


Luis Francisco Rebello (1924-2011)

Theaterregisseur, Portugal

Wenn auch ein kurzer, allzu kurzer Aufenthalt von einigen Tagen in der DDR nicht ausreicht, um mehr als nur ein Steinchen eines sehr reichen und vielfältigen Mosaiks zu zeigen, so reicht er doch aus, um Gewißheit über diesen Reichtum und diese Vielfalt zu erlangen. Denn jeder Teil dieses Ganzen widerspiegelt die gesamte Realität, in die er sich einfügt. Dies ist vor allem die Wirklichkeit eines Landes, das die Wurzeln des Faschismus beseitigt hat und sich mit allem, was es besitzt, dafür einsetzt, daß dieser nie wieder entstehen kann. Das ist auch das heldenhafte Engagement für den nationalen Wiederaufbau, dem sich das Volk der DDR mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele verschrieben hat.

Was ich am besten kenne und was ich am direktesten verfolgen konnte, ist die Entwicklung des Theaters in der DDR, das, eingedenk der Trümmer und Ruinen, die der Faschismus auch hier hinterlassen hatte, durch eine großzügige und fortschrittliche Kulturpolitik im Verlaufe von dreißig Jahren auf höchstes Niveau geführt wurde. Und wenn ich dies sage, dann denke ich nicht nur an das fast schon legendäre "Berliner Ensemble", sondern an die Gesamtheit der Theatertätigkeit. Hier wird zukunftsweisendes Theater im Dienste der Gesamtheit gemacht, das künstlerische Qualität und gesellschaftlichen Nutzen als zwei Werte, die einander bedingen und sich gegenseitig ergänzen, dialektisch miteinander verknüpft. Es ist ein Theater, das sich auf das Volk stützt und sich an dieses wendet, das ihm den Lebenssaft spendet und so den Aufbau des Sozialismus unterstützt.

Brecht hat einmal geschrieben, daß es Aufgabe des Theaters sei, den Menschen die Welt zu geben und ihnen zu zeigen, daß es von ihnen abhängt, wie sie verändert und bewohnbar gemacht wird. Es wird nur wenige Länder geben, in denen diese Funktion des Theaters beispielhafter als in der DDR erfüllt wird. Als Theaterschaffender, als Angehöriger der fortschrittlichen Intelligenz ist die Feststellung dieser Tatsache Anlaß zu tief empfundener Freude.


Dr. Franco Leonori

Direktor der katholischen Presseagentur ADISTA, Italien

Die erste Gelegenheit zu einem Besuch in der Deutschen Demokratischen Republik bot sich mir, als ich 1971 mit einer italienischen Delegation an der IV. Plenartagung der Berliner Konferenz katholischer Christen aus europäischen Staaten teilnahm. Bei der Abreise aus Italien hatten wir nur sehr geringe Kenntnisse über die DDR: Italien hatte diesen demokratischen Staat noch nicht offiziell anerkannt, und die Stimmen, die in unserem Land - hauptsächlich über die Presse - verbreitet wurden, waren nicht sehr wohlwollend und erhellten nur wenig die tatsächliche Situation.

Der Eindruck, den wir bei dieser ersten Begegnung erhielten, ließ uns erstaunen. Vor uns entstand das Bild eines Staates, der unbeirrt von der Polemik des Westens und vom kalten Krieg alle seine Anstrengungen auf den Aufbau des Sozialismus richtet und sich der konkreten Verbesserung der Lebensbedingungen für die Arbeiterklasse und die gesamte Gesellschaft verpflichtet hat.

Mit besonderer Freude konnten wir die Aufmerksamkeit feststellen, die der Staat der religiösen Freiheit ohne jede Diskriminierung widmet. Auch die Katholiken, obwohl sie eine Minderheit bilden, erfreuen sich eines weiten Raumes für ihre Tätigkeit und wurden in ihren Aktivitäten von den gesellschaftlichen Autoritäten tatkräftig unterstützt.

Beeindruckt waren wir von der Politik der DDR zur Förderung der sozialen, ökonomischen und moralischen Entwicklung des Volkes wie für die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und in der Welt. Ein Bild also, das im ganzen völlig verschieden von dem war, das wir mitgebracht hatten. Ein Bild des Friedens und der Völkerfreundschaft.

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Gisela Steineckert: Marischa, meine Liebe

Es war ein fast unerträglich heißer Sommer, und ihm folgte "der schönste September, an den ich mich erinnern kann". Freilich war es auch ein Sommer voll der beängstigenden Nachrichten, auf die hin manche das Notwendigste einpackten, um sich in das Innere des polnischen Landes zurückzuziehen, weg von der Grenze. Die Familie Wollenberg war es gewöhnt, mit einem gewissen Unbehagen zu leben. Als Atheisten gehörten sie nicht zu den gläubigen Juden, hatten nicht teil an deren Zusammenhalt, aber Juden blieben sie für die katholischen Mitbürger dennoch. Marischa, die Tochter des Zollangestellten, wäre in der Schule gern geblieben, wenn die Religionsstunde begann, nicht wegen der Belehrung, sondern wegen der Gemeinschaft. Für ein kleines Mädchen war es fast zuviel des Mutes, daß sie nach dem Willen des Vaters jedesmal aufstehen und gehen mußte.

Dafür war es zu Hause warm, ein gutes Zuhause. In jenem Jahr war Marischa eben achtzehn Jahre alt geworden, da fühlt man sich bei guten Verhältnissen den Eltern noch nahe wie ein Kind, das Herz ist befaßt mit allerlei Händeln und Träumen und der Kopf voll von Gedanken an die eigene Zukunft. Es war herauszufinden, was man aus einem Abitur, den eigenen Gaben und der Anregung durch Literatur, unter anderem Majakowski, Ehrenburg, wohl machen kann.

Zukunft, Hoffnungen, Träume, damit hat ein junger Mensch ausreichend zu tun. Marischa hatte zwei Geschwister, den kindlichen Bruder und den großen, der wegen seiner Zugehörigkeit zur KP Polens schon Jahre im Zuchthaus hatte zubringen müssen. Eben war er entlassen worden, er emigrierte bei Ausbruch des Krieges in die Sowjetunion.

"Seht doch, was sie für schöne Beine hat", sagte der Vater, wenn die Mutter durch den Raum ging. Die beiden liebten sich. Marischa wußte also eine große Wahrheit schon in ihrem kleinen Lodz: daß Menschen sich lieben und einander gut sein können.

Am 6. September 1939, nach dem heißen Sommer und mitten im "schönen Herbst", erlag die polnische Stadt Lodz dem deutschen Überfall.

Der Bruder Joachim schrieb aus der Sowjetunion: "Hier gibt es Arbeits- und Lebensmöglichkeiten." Die offene Karte erreichte die Familie im Ghetto Lodz als letztes Lebenszeichen des ältesten Sohnes. Er ist, so denkt Marischa, später als Soldat der Roten Armee kämpfend gefallen. Der Vater kam als organisierter Sozialdemokrat auf die erste "Transportliste". Wo er umgebracht wurde, weiß Marischa nicht. Sie sahen ihn zum letztenmal in jenem schrecklich kalten Winter neununddreißig, in dem der dreizehnjährige Alexander, wie Tausende andere, im Ghetto qualvoll langsam verhungerte. Ein Junge, mitten im Wachstum, die einmal im Monat verteilten Rationen reichten nicht aus, die Lebensflamme zu erhalten.

Als Büglerin hatte Marischa für die Ihren keine der noch möglichen Vergünstigungen, ihr Leben vorher hatte die Frauen auch auf keine Schläue, auf keine "Tüchtigkeit" getrimmt.

Es gab eine jüdische Lagerverwaltung, die Deutschen hatten das Elend den Betroffenen zur scheinbaren eigenen Verantwortung übergeben. Die Wollenbergs sprachen kein Wort Jiddisch, das schloß sie zusätzlich aus.

Marischa hatte nur einen einzigen natürlichen Vorteil: Sie war jung, schön und lebensvoll. Sie suchte sich Hoffnung, fand auch Freunde, nahm auch den armseligen Trost, der im Widerspruch gegen Trostlosigkeit lag. Sie wollte an die Aussicht auf Leben glauben. War es nicht schon Leben, daß Gedichte kursierten, die wenigen Bücher untereinander ausgeliehen wurden und es trotz angedrohter Todesstrafe Nachrichten aus verborgenen Radios gab? Blumen waren verboten, verboten war Nachricht zu empfangen, Nachricht zu geben, aber es gab doch Nachrichten, die Karte des Bruders kam doch an, sie waren ja noch jung, und das Leben fühlte sich in Marischa schon gestärkt, wenn sie einen Moment nicht an das gegenwärtige Elend dachte, sondern an ein Nachher als Sein und Tun.

Marischa, ich versuche dich zu beschreiben.

Inzwischen lebt eine andere Generation ...

Ich bin mittelgroß, sie reicht mir gerade bis an den Mund. Ihr Gesicht ist glatt, um den Teint aus Milch und Blut könnte sie jedes junge Mädchen beneiden. Marischa ist durch die Hölle gegangen, wie lange mag es gebraucht haben, bis die überraschend tiefe Stimme so ruhig scheinen konnte. Nur die Pausen weisen die Qual aus, das Notwendigste an Auskunft herzugeben. Mehr bekomme ich nicht, nur die Stationen, kaum Einzelheiten, das wenige auch nur, weil das eine Wort, das sie eben doch sagt, mich zur nächsten Frage führt. Wer gibt mir das Recht, an diesem heutigen normal gedeckten Kaffeetisch den Schorf von unverheilten Wunden zu heben? Ich will es nicht und will es doch. Es ist Frühling, Marischa, es ist wieder Frühling, und inzwischen lebt eine andere Generation, die holt ihr Wissen über jene Zeit zu oft aus Ausgedachtem, Nachempfundenem, und so eine zurückhaltende Person wie du gibt nichts her, wenn man es ihr nicht abverlangt.

Fünfeinhalb Tage war sie mit ihrer Mutter zusammen "auf Transport". Die Mutter hatte zu viele Verluste nicht verwunden, sie hatte schon da nicht überlebt. "Sie war neunundvierzig. Das ist im Krieg sehr alt." ­... "Wir werden nicht zusammenbleiben, mein Kind. Aber du wirst leben. Ich weiß, du wirst leben."

Rampe, Auschwitz, Selektion, eine Minute, eine Sekunde, in der sich die einen zum Leiden, die anderen zum sofortigen qualvollen Ende zu begeben hatten. Wir wissen alles darüber, Marischa, soviel das menschliche Gehirn an Wissen über fremde Erfahrung aufnehmen kann, wir wissen alles darüber und nichts, weil wir nicht dabeigewesen sind.

Niemand darf so tun, als wäre er dabeigewesen, als deine Mutter den einen Weg zu gehen hatte, du in die andere Richtung gewiesen wurdest. Deine dunklen Augen weichen da aus, die Stimme nimmt alles zurück, was dem anderen weh tun könnte. Sie sucht die nackte Wahrheit für mich nicht unerträglich sein zu lassen.

Du willst nicht, du sagst nur die eine, die tiefste Demütigung, über die du dich noch heute fragst, warum diese die tiefste gewesen ist, qualvoller als Schläge und Hunger: Sie haben dir das Haar geschoren. Das war die letzte Stufe der Erniedrigung. Vielleicht, Marischa, weil schon auf den alten Bildern die Frauen ihre Nacktheit unter ihrem Haar verbergen, weil das Haar der letzte scheinbare Schutz war.

Als eine Epoche später euer Sohn geboren wurde, habt ihr beide gesagt: Er hat nur uns, keine Großeltern, keine Geschwisterkinder. Er soll ein Kind sein. Was er wissen muß, wird er erfahren. Aber wollen wir uns versprechen, daß wir ihn nicht belasten mit dem, was wir erleben mußten.

Marischa wurde mit dreißig Jahren Mutter. Sie sagt: "In Auschwitz sind neunundneunzig Prozent aller Mütter mit den Kindern ins Gas gegangen. Sie wollten sie nicht allein lassen." Eine war, die ist nicht mitgegangen. Sie hat ihr kleines Kind der Schwiegermutter in den Arm gegeben, die niemand retten konnte. So sind die einen mit ihren Kindern gegangen, diese zerbrach daran.

Marischa hat gegen die schrecklichen Erlebnisse angelebt. Sie wollte lernen, lieben, gebären, wieder schlafen können, sie wollte auch vergessen, manches vergessen, sie wollte ein normales Leben leben. Daß sie das wollte, in manchem auch konnte, macht sie besonders. Leichter hat sie es dadurch nicht gehabt. Besser schlafen kann sie dadurch nicht. Und auch die verdrängten Schrecken und Ängste leben mit uns mit, ein Augenblick der Schwäche oder ein besonderes Wort, ein Bild, eine Nachricht, und alles ist wieder wahr und wie eben gewesen.

Wahr ist für Marischa aber auch das Gesicht der jungen Tochter oder Verwandten der Bäckersfrau, die dem "Pferd" Marischa, das mit einer Kameradin für die Oberaufseherin einen Wagen für deren Besorgungen zu ziehen hatte, immer eine Scheibe Brot oder ein Brötchen zusteckte. Aber das war schon später, in Flossenbürg. Du erinnerst dich an jede Solidarität. Sowjetische Kriegsgefangene haben euch Möhren zugesteckt, es hätte das sein können, was sie das Leben kostete. Die französischen Fremdarbeiter ließen euch wissen, wann Fliegeralarm war, dann ging die SS in die Keller, der Austausch kleiner Informationen war dann manchmal möglich.

"Ich verstehe nicht" waren die drei deutschen Wörter, die Marischa in den Konzentrationslagern gesprochen hat. Kein Wort mehr, auch wenn sie das eine oder andere verstand. Keine Tortur und keine Qual konnten den Graben überbrücken, den sie zwischen sich und allem Deutschen ausgehoben hatte.

Aber dann begegnete sie deutschen Kommunisten, deutschen Antifaschisten. Das zeigte, die Welt war so einfach nicht, wie sie sich dem vorher behüteten Mädchen, der ehemaligen Abiturientin, als Gefangene darstellen wollte. Marischa überlebte den Typhus und den letzten Transport nach Theresienstadt, wo sie wieder deutsche Kameraden und Kameradinnen hatte.

Erst am neunten Mai 1945 wurde das Lager befreit. Als Typhus ausbrach, blieb Marischa und pflegte die Kranken.

Wer hat dich gepflegt, Marischa, wer getröstet, gestärkt, dich aufgepäppelt? Dazu war keine Zeit. Sie haben jeden Tag Suppe bekommen, doch, an Suppe kann sie sich erinnern. Brot auch? Vielleicht auch Brot, das weiß sie nicht mehr so genau.

Ein Kamerad erzählte, in Frankfurt am Main hätten sich Überlebende aus allen Lagern gesammelt. Mit den deutschen Aussiedlern verließen die Befreiten das befreite tschechische Land. Unter beschwerlichen Umständen gelangten sie nach Frankfurt. Marischa trieb die Sehnsucht, vielleicht hatte ja doch einer, eine überlebt, jemand, zu dem man gehören kann, Verwandte, Kameraden. Zu dieser Zeit ist für sie das Deutsche schon nicht mehr mit den Faschisten identisch, es teilt sich in Faschisten und Antifaschisten, auch wenn sie es zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wie so lange später zu mir im Gespräch, als Klassenfrage bezeichnen würde.

Sie findet in Frankfurt am Main zwei polnische Mädchen wieder, mit denen sie in Auschwitz zusammen war. Sie waren sich sehr nahe gewesen, Kameraden, nicht nur Leidensgefährtinnen. "Wir haben unser Brot zusammengehalten und geteilt, das bedeutete damals sehr viel."

Ihr Reisegefährte sieht auf der Straße einen mageren jungen Mann auf sich zukommen, einen deutschen jungen Genossen, der auch in Auschwitz gewesen war. So wie sie dort aufeinander zugingen, der Adam, genannt Adi, und die Marischa, so sind sie bis zum heutigen Tag zusammengeblieben. Adi war seit seinem 16. Lebensjahr im Lager gewesen, und nun ist er 22, durch ihn wird aus Marischa Wollenberg eine Marischa König, Deutsche.

Das war die Liebe, der so bitter notwendige und nie bis zu Ende wirksame Trost gegen die Erkenntnis, daß von ihrer Familie niemand überlebt hatte. Adi ist eins von acht Kindern, vier konnten ins Ausland entkommen und kehrten nie von dort zurück, die anderen sind in Lagern gestorben. Adi hatte ein bißchen Klempnern gelernt, Marischa nur ihr Abitur und den Traum, Medizin zu studieren.

Sie wollte etwas tun, was anderen Menschen helfen kann. Sie ging zum Arbeitsamt, um sich Rat zu holen. Dort saß, für sie zuständig, ihre ehemalige Aufseherin Elfriede, für die das zivile Leben schon wieder in Ordnung war. Marischa sagt, diese habe niemanden geschlagen, sei auch erst 1944 ins Lager gekommen, vermutlich dienstverpflichtet.

Aber sie geht nie wieder in jenes Arbeitsamt. Adi hat die Verbindung zu seinen Genossen, da kommt Leben in die Arbeit, der Genosse Carlebach und andere haben starke und wichtige Pläne - aber Marischa ist noch nicht Genossin. Inzwischen spricht sie deutsch, aber außer im Privaten hat ihr eigenes Leben noch immer nicht angefangen, kann dort auch nicht anfangen, Signale, die unbehaglich machen, zeigen sich, mehren sich. Die Welt, in der sie und Adi lebten, veränderte, restaurierte sich.

"Wir wollten leben, wo man sich nicht dauernd vorsehen muß. Wo man Vertrauen haben kann." Im Jahre 1950 reisen Adi und Marischa König für immer aus der Bundesrepublik Deutschland aus, in die Deutsche Demokratische Republik, zuerst ins sächsische, damalige Chemnitz. "Da haben wir aufgeatmet. Da waren wir endlich zu Hause, gleich, vom ersten Tag an. Wir waren angekommen."

Was nach solchem Erleben heilbar ist, heilte von nun an. Adi absolvierte mit Erfolg die ABF, studierte dann Geschichte, wurde. Dozent. Marischa suchte noch immer. "Bei einer Beratung hatte ich Glück. Da saß ein Mann dabei und sagte: Ich nehme dich. Du kommst zu uns." Er war Generaldirektor beim VEB Herrenkonfektion, und so kam Marischa zu Kollegen, "die sich unendliche Mühe mit mir gegeben haben". Das ist Marischas Maß, vielleicht war es nicht Mühe, sondern Zuneigung, vielleicht war es nur das Normale, und Marischa kannte das Normale nicht.

Sie war seit sechs Jahren verheiratet, hatte jetzt eine Tätigkeit, aber sie träumte noch immer von einem Beruf. Da wurde sie schwanger. Konnte dieser Körper, dem Hunger, Typhus, Überanstrengung, Todesängste und wertloser Fraß zugemutet worden waren, ein gesundes Kind zur Welt bringen?

Es war ein Risiko in Marischas Ängsten und Kenntnissen. Aber sie wollten das Kind, und so wurde ihr Sohn geboren, der später in der Sowjetunion studierte und heute an der Akademie als Chemiker arbeitet.

Vor allem aber wurde sie Lehrerin

Erst als ihrer beider Michael sechs Jahre alt war, und weil auch er in ihr den Traum von der eigenen Leistung nie verdrängt hatte, bewirbt sich Marischa am Pädagogischen Institut in Leipzig. "Auch da hatte ich Glück." Was Marischa in diesem Fall Glück nennt, ist ein Gespräch mit dem Genossen Institutsleiter, der offenbar einen Blick für Menschen gehabt hat.

Marischa ist jetzt sechsunddreißig Jahre alt und studiert Pädagogik, mit Erfolg. Abschluß, die erste Schule, die Kinder, die Kollegen. "Ich hatte wieder Glück. So wunderbare Kollegen, die haben mir ihr Herz aufgemacht. Sie kommen noch heute zu mir, wenn sie in Berlin zu tun haben." Genossin Marischa König, der noch immer jede menschliche Zuwendung zur Unvergeßlichkeit wird, wurde Parteisekretär, stellvertretende Direktorin, Direktorin, auch Mitglied der Kreisleitung. Vor allem aber wurde sie Lehrerin. Sie liebt die Kinder, die Kinder geben ihr Liebe zurück.

Ich habe sie nicht gefragt, ob sie, als von den Faschisten verfolgte polnische Jüdin, ganz ohne Momente der Beklemmung nun deutsche Kinder unterrichten konnte, denn alle diese Kinder entstammten doch Familien mit unterschiedlicher Vergangenheit innerhalb der zurückliegenden Epoche. War sie nicht besonders hellhörig, nicht leichter zu verstören als ihre Kollegen? Ich habe sie das nicht gefragt, weil sich eine solche Frage bei Marischa verbietet. Sie wäre nicht angemessen. Hätte es solche Momente gegeben, die Kinder hätten sie nicht bemerkt und ich sie nicht erfahren.

Was sie für wichtig hält, sagt sie schon selber. Als sie in Flossenbürg war, gingen die Frauen von und zur Arbeit manchmal eine unendlich scheinende Allee entlang, vorbei an Häusern, hinter deren Fenstern sich Menschen bewegten, sprachen, lachten. Sie warfen, so schien es den gefangenen Frauen, keinen Blick nach draußen. Damals hat Marischa sich an deren Stelle versetzt, und der Gedanke ließ sie nicht los, wie sich Menschen daran gewöhnen können, daß draußen, unmittelbar vor dem eigenen Fenster, halbverhungerte Sklavinnen vorbeigetrieben werden.

Aber als Lehrerin hätte Marischa König nicht leben können, sie wäre dem gelben Stern nachträglich erlegen, wär' da nicht ihr eigener Stern gewesen, dem sie folgen wollte: leben, mit den anderen, das Gute bestärken und die Kinder lieben.

Marischa hat Orden. Sie runzelt die schöne Stirn, nicht so wichtig. Stolz ist sie auf die erste Auszeichnung, die sie bekommen hat. Ihre ersten Kollegen an ihrer ersten Schule in Leipzig haben für sie, und nicht einmal zur Freude des damaligen Direktors, einen "Aktivisten" beantragt, und sie hat diese Auszeichnung auch bekommen. Strahlt sie, die Marischa, heute noch, ihre Kollegen haben damals gesagt: Den hast du verdient.

Marischa kannte die Liebe ihrer Eltern zueinander, sie weiß, wovon sie spricht, wenn sie ihre Ehe noch nach fast vierzig Jahren Dauer so nennt. Die gleiche Vergangenheit hat den Grund für diese Verbindung sehr tief gelegt, aber außerdem ist da Wohlgefallen, Solidarität auch bei ganz neuen Problemen, ist sie eine Frau geblieben, er ihr ein Mann.

"Ich brauchte viel Verständnis und habe es bei ihm immer gefunden." Ein andermal, Marischa, reden wir vielleicht über das Maß an Verständnis, das er gebraucht und bei dir gefunden hat. Selbst in der viel zu kurzen Zeit, die wir uns für unser Gespräch nehmen konnten, und ich muß dich ja fragen, wie schwer es mir an manchen Stellen fällt und wie zudringlich ich mir auch vorkomme, selbst in dieser kurzen Zeit muß ich dauernd aufpassen, daß wir nicht unversehens nur über mich reden, meine Kinder, meine Arbeit, meine Probleme. Das kannst du, Marischa, da redet man auf einmal und du hörst zu und nickst nur und willst mehr hören und neigst den Oberkörper nach vorn, den Kopf etwas tiefer, legst die Hände ruhig um die Knie, schöne Beine, schönes Zuhören, schöne Zeit und schnell vorbei, und Zuhören scheint dir gewohnter als Auskunft zu geben über dich selber. Da ist wieder eine Familie entstanden.

Michael hat eine junge Frau, die Enkeltochter heißt Jenny und sieht auf dem Foto aus wie ein Kind von Marischa. Hat hellere Augen, hellere. Haarfarbe, ein ganz unbeschwertes Lachen, sieht aber doch aus wie Marischa. Das sagt die Schwiegertochter auch, "die hat was von dir". In der Neubauwohnung in Berlin ist alles licht gehalten, keine dunkle, nur helle Behaglichkeit, viel deutsche Literatur. Du warst nie eine Hausfrau? Vielleicht nicht gern, aber die Wohnung ist bewohnt von musischen reifen Leuten, die sich neue Bücher kaufen, reisen, Platten sammeln.

Lehrerin ist Marischa nun nicht mehr. Nun hat die Gesellschaft sie ganz für vielerlei ehrenamtliche Aktivitäten. Sie ist nun im zentralen Jugendweiheausschuß, nach zehnjähriger hauptamtlicher Tätigkeit dort.

Sie kümmert sich auch um die kleine Gruppe ehemaliger Auschwitz-Häftlinge, die sich in Berlin jedes Jahr einmal zum Jahrestag der Befreiung trifft. Dorthin war ich mit meinen Gedichten in diesem Jahr eingeladen, dort habe ich Marischa zum erstenmal gesehen, sie hat meine Beklommenheit und Aufregung gespürt, meine Angst, etwas falsch zu machen, etwas zu sagen, was ich nicht hätte sagen sollen.

"Du warst damals ein Kind, ein Kind kann nicht schuldig sein." Ich weiß es besser, Marischa, das wenigstens weiß ich besser, aber lassen wir das auf ein anderes Mal. Kann sein, die Sprache versagt da auch, dein "nicht schuldig" trifft es so wenig wie mein "auch schuldig".

Ich wollte ein Mensch sein wie andere auch

Meine Haltung ist nicht zulänglich gegenüber eurer Erfahrung. Auschwitz ist Auschwitz, alles, was wir wissen, ist zuwenig. Marischa ist noch immer eine schöne Frau. "Wie geht es dir gesundheitlich?" - "Gut!" Abwehr, das geht mich nichts an, danach habe ich nicht zu fragen. Sie sagt: "Ich wollte danach leben, wirklich leben, ein Mensch sein wie andere auch. Nicht nur in der Vergangenheit, sondern ganz in der Gegenwart, und ich wollte auch eine Zukunft haben."

Marischa, hast du den Kindern, deinen Schülern, jemals erzählt, was du erlebt hast?

"Nein. Ein Kind ist ein Kind, und wenn man ihm zu früh Schreckliches erzählt, dann hat das Kind Angst und denkt: Ich bin auch so klein, was wird mir geschehen? Ich wollte, daß sie aufwachsen und die Geschichte verstehen lernen, daß sie Antifaschisten werden. Entsetzliche Einzelheiten habe ich meinen Schülern niemals erzählt."

Am Tag nach unserem Gespräch wird Marischa nach Polen fahren, dorthin.

"Weißt du ..." - in dunklem, ausschwingendem Ton, so fangen viele ihrer Sätze an, "ich mache das. Dort ist ein internationales Treffen, und es gibt zu viele verschiedene Meinungen auch über dort. Es ist wichtig, daß wir als Genossen dort sind. Aber ich lebe jetzt und bin ein ganz normaler Mensch, nichts Besonderes. Ich bin nicht schöpferisch, ich kann nur Liebe haben dafür, ich kann es nicht selber."

Ich sitze diesem ganz normalen Menschen gegenüber, die Füße auf einem weichen Teppich, den Kaffee noch in der Tasse, einen Kloß im Hals, und was hab' ich schon, außer zwei Armen, in die ich diese zierliche Weibsperson nehmen kann, da lachen wir ein bißchen, irgendwie kriegen wir das zustande, Jenny lacht ja auch vom Foto im Bücherregal, dann versuchen wir im Fahrstuhl Alltagssätze, wir bringen sie zum Alex, und erst, als sie dort eilig um die Ecke biegt, fällt, was ich hier wiedergebe und anderes, was ich nicht schreiben werde, wie ein Balken auf meinen Kopf.

Dabei ist doch alles gut ausgegangen. Wie im Märchen, die Gute und Schöne hat den Richtigen gekriegt, und da sie nicht ermordet wurden, leben sie noch heute.

Ach Marischa, das macht so viel rauhen Alltag glatt, wenn du sagst, daß du hier und seither niemals vor den anderen Menschen Angst gehabt hast. Damit können wir leben, Marischa, meine Liebe.

(1984, RF-Archiv)

*

LESERBRIEFE

Die Urheber von Tod, Leid und Zerstörung fürchten die Proteste der Kriegsgegner nicht. Noch nicht. Das Pflänzchen der Friedensbewegung ist zart, aber es wächst! Denn überall im Volk regt sich Friedensbestreben. Demonstrationen sind ein Mittel, die Verwirklichung unseres Traums vom Frieden voranzubringen. So geschehen anläßlich des Friedensmarsches am Ostermontag in Berlin. Aus allen Bezirken, dem Umland und Orten sind Menschen aufgestanden aus lähmender Gleichgültigkeit, aus dem Wirrwarr der Informationen, aus der Trägheit körperlichen Befindens und strömten mit Fahnen und Transparenten, auf denen in großen Buchstaben FRIEDEN zu lesen war, vom Treffpunkt Potsdamer Platz hin zum jeweiligen Firmensitz der todbringenden Waffenproduzenten. Friedenstauben, gemalt, gebastelt, symbolisierten, hoch am Stab durch die Menge getragen, den dringenden Wunsch, alle Waffen der Welt ruhen zu lassen, um diese alsbald zu vernichten. Für eine Zukunft ohne Waffen, dafür Schutz unserer Erde vor Klimakatastrophen, ohne Rüstungsindustrie und deren Export und sofortige Beendigung aller Kriegsherde auf der ganzen Welt!
Alle diese Menschen gaben Zeugnis ihres friedlichen Strebens gegen eine unmenschliche Ideologie ab.
Der Zug zog entschlossen von Rüstungskonzern zu Rüstungskonzern, zum allmächtigen Finanzministerium und zu den Helfershelfern der Kriegslogistik. Dort jeweils postierten sich die Demonstranten, lautstark ihren Protest zu verkünden gegen deren menschenverachtendes Tun. Gesprochene Worte, genannte Zahlen beweisen die Produktion der kriegerischen Mittel und deren Finanzierung und lassen jeden erschaudern, der es hört. Die Rüstungsproduzenten aber wollen nicht verstehen. Sie verschließen Augen und Ohren. Ihre Nasen riechen nicht den Gestank des besudelten Geldes, das aus der Vernichtung der Natur, der Völker und menschlicher Werte quillt. So häufen sie Milliarde auf Milliarde. Am Ende dient dieses Vermögen dem Herstellen weiterer mörderischer Waffen.

Barbara Ludwig, Berlin


So, als wäre es eine unumgängliche Notwendigkeit, werden Rüstungsausgaben in ungeahnte Höhen getrieben, wohlgemerkt aus "Verteidigungs"gründen. Aber was haben dann deutsche Soldaten u. a. in Mali, Afghanistan, derzeit insgesamt in 16 Ländern, zu suchen?
Offensichtlich wird Deutschland nicht nur am Hindukusch, sondern überall dort "verteidigt", wo es um Rohstoffe und Machteinfluß geht.
Frau von der Leyen verspricht der NATO weitere Milliarden, aber den Mächtigen in Wirtschaft und Rüstung sind 74 Friedensjahre zuviel. Ein billig zu produzierender Kochtopf, der wenigstens zehn Jahre hält, bringt keinen Gewinn. Gewinn bringt eine Granate. Sie hat eine Lebensdauer von Sekunden.

Marianne Wuschko, Hoyerswerda


Aus Anlaß des Besuchs der Bundeskanzlerin in Westafrika und der Verlängerung des Bundeswehreinsatzes in Mali möchte ich auf einen Widerspruch aufmerksam machen.
Nach dem Tsunami 2011 in Japan beschlossen die Bundeskanzlerin und ihr Kabinett, aus der Kernenergie auszusteigen. Dementgegen werden fast 80 Prozent des französischen Stroms aus Kernenergie gewonnen. Die weltweit drittgrößten Uranvorkommen der Welt liegen in der Sahel-Zone, in den ehemaligen Kolonien Frankreichs in Mali und Niger. Der französische Staatskonzern AREVA betreibt z. B. den Uranbergbau in Niger und bezieht etwa 40 Prozent des für den Betrieb der 58 Atomkraftwerke in Frankreich erforderlichen Urans aus Westafrika.
Der Bundeswehreinsatz in Afrika dient also nicht nur dem Kampf gegen den internationalen Terrorismus, sondern auch der Sicherung des Kernbrennstoffbedarfs Frankreichs. Was für eine Heuchelei!

Prof. Harry Conrad, Dresden


Zu "Genug ist genug - es reicht", RF 256, S. 2

Deutschland ist besonders unterwürfig, verhält sich häufig besonders kriegswütig und völkerrechtswidrig und würde deshalb einen Rabatt für die Stationierungskosten der US-Truppen der US-Truppen erhalten. Doch diese Kosten sollen jetzt vollständig von Deutschland getragen werden. Aber wir sollten wirklich nein zu dieser Vasallentreue sagen und die US-Truppen zum Teufel jagen, sie also in die USA zurückschicken.

Dr. Kurt Laser, Berlin


Wenn ich die fast täglichen Informationen in den Medien zur Situation in Libyen verfolge, bin ich tief erschüttert, was in so relativ kurzer Zeit aus diesem Land geworden ist und welches Leid die dort lebenden Menschen erfahren.
Anfang der 80er Jahre konnte ich Libyen mit einer DDR-Jugenddelegation besuchen. Wir sahen mit eigenen Augen, wie man versuchte, den Ölreichtum des Landes zur Verbesserung der Lebensverhältnisse der Bevölkerung zu nutzen. Es wurde u. a. in kostenlose Schulbildung, kostenloses Gesundheitswesen und den Wohnungsbau investiert. Unter Muammar al-Gaddafi unternahm man Anstrengungen, die Wüste zum Ergrünen zu bringen. Dazu wurde aus dem Gebirge Wasser in gewaltigen Tunneln bis an die Küste geleitet. Dieses Vorhaben sollte auch dazu dienen, die zum großen Teil nomadisierenden Stämme seßhaft zu machen.
Bei einem Besuch der Volksvertretung von Tripolis erlebten wir, wie man begann, in einem Land, das Jahrhunderte feudal und kolonial unterdrückt wurde und in dem der Großteil der Bevölkerung aus Nomaden besteht, demokratische Strukturen aufzubauen.
Die USA und andere westliche Länder verteufelten Gaddafi als Diktator, doch kaum einer bezeichnet die regierenden Ölscheichs in der arabischen Welt als Diktatoren, obwohl sie es faktisch auch sind. Ein Grund dafür, daß sie relativ sicher agieren können, ist, daß sie die Vormachtstellung der USA und des Dollars nicht in Frage gestellt haben. Aber genau das tat Gaddafi mit der Bildung der afrikanischen Union und dem Versuch, den Gold-Dinar als Gegenwährung zum US-Dollar zu installieren. Damit zog er sich Washingtons Zorn zu. Wie schon mehrfach in der Vergangenheit praktiziert, wurde dann auch wie im Irak oder in Syrien schnell ein Grund gefunden, um das Land in Schutt und Asche zu legen und dem Westen genehme Leute in Positionen zu bringen. Ein Schelm, der Schlechtes denkt, wenn man hört, daß General Khalifa Haftar über 20 Jahre in den USA, in der Nähe des Hauptquartiers der CIA, gelebt hat.
Ich laß mich überraschen, was die selbsternannten Schutzmächte für Libyen tun werden, um dem Land Frieden zu bringen und einen Wiederaufbau zu organisieren. Am Geld kann es nicht scheitern, Libyen hat hervorragendes Erdöl.

Ralf Kaestner, Bützow


Der April-"RotFuchs" bot den Lesern wieder eine gute Mischung aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Nur so werden gesellschaftspolitische Zusammenhänge für jedermann verständlich.
Was mich in dieser Ausgabe jedoch emotional besonders stark berührte, war die Fotomontage von Siegfried Lachmann auf der letzten Seite. Sie zeigt zwei Frauen und ein Kleinkind während eines Fliegeralarms in einem Luftschutzkeller. Diese Darstellung erinnerte mich an die Unzahl von Bombennächten im Zweiten Weltkrieg, die ich als junges Mädchen mit meinen Eltern im Keller unseres Wohnhauses in Berlin-Neukölln verbracht habe. Sie erinnert mich aber auch an unsere Hochzeitsnacht vom 27. zum 28. Mai 1944. Als frisch vermähltes Paar hatten wir die Feier im Friedrichshainer "Petersburger Hof" vorzeitig verlassen, liefen zum S-Bahnhof Landsberger Allee, um nach Neukölln zu fahren.
In der Wohnung meiner Eltern machte sich mein junger Ehemann daran, mir beim Aufknüpfen der vielen Knöpfe meines Brautkleides zu helfen. Mitten hinein in diese Beschäftigung heulten plötzlich die Fliegeralarm-Sirenen. Unser "Volksempfänger" - so hießen damals kleine Radiogeräte, die fast in jedem Haushalt zu finden waren - meldete, daß sich von Hannover und Braunschweig kommend starke angloamerikanische Bomberverbände auf Berlin zu bewegten. Mit fliegenden Fingern knöpfte mein junger Ehemann das Brautkleid wieder zu, und wir eilten in den Keller unseres Wohnhauses. Dort saßen schon einige Mitbewohner, die mit verängstigtem Gesicht auf das bedrohliche Brummen der bombentragenden Flugzeuge lauschten. Natürlich löste unser Erscheinen in Brautkleid, mit Frack und Zylinder eine gewisse Heiterkeit aus. Die verflog aber schnell, als offenbar in der Nähe Bomben einschlugen und Kellerwände sich nach innen wölbten.
Dieses schreckliche Erleben hat uns zeit unseres nunmehr 75jährigen Ehelebens begleitet und unser Denken und Handeln für den Aufbau einer friedensfreundlichen Gesellschaft in der DDR bestimmt.

Inge Hellge, Berlin


Zu Andreas Wenzel: Wie sozial war die DDR tatsächlich? RF 256, S. 26

Ich erwarte immer wieder mit Interesse und Freude den "RotFuchs", da wirklich anspruchsvolle Beiträge und Einschätzungen zu lesen sind. Dem Artikel von Andreas Wenzel stimme ich voll zu, da er ein realistisches Bild der DDR mit Positiven und auch Problemen zum Inhalt hat. Ich bin froh, 40 Jahre in der DDR gelebt zu haben. Sehr verärgert bin ich, daß viele ehemaligen DDR-Bürger die Vorteile unseres Staates, vor allem die soziale Sicherheit, zwar als Selbstverständlichkeit annahmen, diese aber dennoch abwerten oder sogar leugnen. Darunter leider auch einige in meinem Bekanntenkreis, selbst frühere Mitglieder der SED, denen es meines Wissens in der DDR nicht schlecht ging.

Siegfried Tietz, Altenberg/Sachsen


Im Zusammenhang mit der Debatte um die Sozialismus-Äußerung des Juso-Chefs Kühnert und der darauf folgenden Medienkampagne ist mir nun endgültig der Geduldfaden gerissen.
Ich bin in der DDR geboren, habe bis zum 3.10.1990 in der NVA als Offizier gedient; dabei vier Jahre an einer sowjetischen Militärakademie studiert, habe die Bundeswehruniform nicht einen Tag lang getragen, am Übernahmeappell nicht teilgenommen und bin am Tag der feindlichen Übernahme aus dem Verein ausgeschieden. Beim Verabschiedungsgespräch mit Oberst Steinbrecher von der Bundeswehr war ich der einzige, der in Zivil verabschiedet wurde.
Seitdem ärgere ich mich über den Zustand dieser Republik und der "Linken", weil ich offensichtlich zu den "Ewiggestrigen" gehöre, die nicht einsehen wollen, daß die DDR ein Unrechtsstaat und der Sozialismus ein verachtenswertes System darstellen.
"Die Linke", deren eigentliche Aufgabe es wäre, die Geschichte der DDR und der anderen sozialistischen Länder positiv aufzuarbeiten, um daraus ein zukunftsfähiges Gesellschaftsmodell zu entwickeln, wagen nicht einmal mehr, das Wort Sozialismus in den Mund zu nehmen, weil sie eine anschließende Medienkampagne gegen sich fürchten und annehmen, daß sie dann für die vielen Kleinbürger nicht mehr wählbar sind. So aber lassen sie zu, daß die Geschichte der DDR in allen Beziehungen in den Dreck getreten wird und sie von den "Siegern" in ihrem Sinne umgeschrieben wird.
Ich habe jetzt genug von dieser "freiheitlichen, sozialen und demokratischen Republik" und werde übersiedeln. Ich werde mich am Ufer der Wolga zur Ruhe setzen, dem Niedergang der "westlichen Wertegemeinschaft" aus der Ferne zusehen, und am 9. Mai jeden Jahres werde ich auf dem Roten Platz in Moskau die Parade zum Tag des Sieges ansehen und dabei eine DDR-Fahne schwenken.

Horst Schade (Oberstleutnant der NVA a. D.), E-Mail


Was hat nur den Kühnert geritten? Hätte er doch nur mal Marx gelesen, der schon um die "heilige Hetzjagd" gegen die Idee wußte. Zahllos alle jene, die ihnen folgten, nicht nur Schmähungen, Hohn, Spott und antikommunistisches Gegeifer ertragen hatten! Wer vermag jene zu zählen, die Blut und Leben dafür opferten.
Jetzt hat Kühnert erfahren, was es heißt, das Heiligtum Eigentum und Kapital in Frage zu stellen, Sozialismus begrifflich in den Ring zu werfen. Noch nicht so lange her ist es, als Gesine Lötzsch ähnliche Haß- und Hetztiraden auslöste, weil sie von Kommunismus zu sprechen wagte, was an sich schon vor Marx ein Begriff und Ziel war.
Verwunderlich sind die reflexartigen Reaktionen zumeist nicht.
"Die englische Hofkirche z. B. verzeiht eher den Angriff auf 38 von ihren 39 Glaubensartikeln als auf 1/39 ihres Geldeinkommens. Heutzutage ist der Atheismus selbst eine culpa levis (kleine Sünde), verglichen mit der Kritik überlieferter Eigentumsverhältnisse", bemerkte Marx in weiser Voraussicht. Kirche oder Kapital macht keinen Unterschied. Der Haß wird heftiger, je mehr im Jetzt und Heute die Wirklichkeit im Wesen des Kapitalismus Marx erstaunlich recht gibt. Peinlichst dagegen, was aus einer Partei zu hören ist, an deren Wiege Marx, Bebel, Liebknecht bis Luxemburg u. a. standen. Tiefster Antikommunismus, wenn Thierse eilfertig von blutbeflecktem Sozialismus schwafelnd den Herrschenden zur Seite steht. Der selbsternannte Demokrat weiß wohl nichts vom Blutmai und von den Blutströmen, die das Kapital den Völkern abforderte.

Roland Winkler, Aue


Wir befinden uns wieder in Zeiten von Wahlen. Da besteht die Gefahr, daß eingeschliffene Praktiken des Kampfes um Parteiinteressen, Interessen von Klientel und Lobbys das Wahlgeschehen zum Nachteil des Allgemeinwohls beeinflussen. Das Wohnungsproblem spiegelt diesen Sachverhalt deutlich wider. Die Gewährleistung einer angemessenen und bezahlbaren Wohnung für jeden Bürger ist keine Spende oder caritative Zuwendung des Staates, sondern ein Menschenrecht. Meine Kritik richtet sich gegen die Unternehmen und andere Vermieter, die Wohnraum spekulativ und kriminell zur Profitsicherung mißbrauchen. Mich befremdet, daß von seiten der SPD und aus dem Kanzleramt zu dieser Frage keine befriedigende Antwort für betroffene Bürger gegeben wird. Die Forderung nach Enteignung gemäß den Möglichkeiten des Grundgesetzes kann doch nicht einfach "vom Tisch gewischt" oder - wie aus der FDP verlautet - als Praxis des "realen Sozialismus" bezeichnet werden. Das zögerliche Verhalten der Kanzlerin in der Wohnungsfrage verstehe ich aus christlicher Wertevorstellung nicht.

Dr. Wilfried Meißner, Chemnitz


Zu Marianne Walz: Weimar, Dessau, Berlin - 100 Jahre Bauhaus, RF 256, S. 22

Angesichts der Ideenlosigkeit gegenwärtiger Versuche der Stadtgestaltung war es nachgerade Pflicht, im "RotFuchs" an die Visionen der Bauhäusler zu erinnern. Im Quartett der großen Namen fehlt mir aber einer der Meister, der auch gern in den zahlreichen offiziellen Würdigungen "vergessen" wird.
1927 kam der Schweizer Hannes Meyer ans Bauhaus in Dessau und übernahm dort die Leitung der neugegründeten Bauabteilung. Schon am 1.4.1928 berief ihn Walter Gropius zu seinem Nachfolger als Direktor. Gropius, der auch nach seinem Rücktritt die Hausmacht beibehalten hatte, war zunehmend durch den linken Wind, der zaghaft hereinwehte, verschnupft. Vor allem durch Meyers Kritik an der Richtung, in die sich das Bauhaus entwickelt hatte. Bauhaus-Produkte waren teuer und damit einer exklusiven Käuferschicht vorbehalten. Von der Idee "für das Volk" zu gestalten, sei man abgekommen. Meyers neue Parole lautete deshalb: "Volksbedarf statt Luxusbedarf!"
Grandios praktiziert in den Dessauer Laubenganghäusern. Der "Versuch, zwei Bevölkerungsschichten auf dem Siedlungsgebiet Dessau-Törten durch urbanistische Maßnahmen bewußt zu vermischen: Kleinbürger in Einfamilienhäusern, Proletarier in dreigeschossigen Laubenganghäusern.
Meyers städtebauliche Visionen wie auch sein liberaler bis linker Umgang an der Schule wurden den nach rechts taumelnden Stadtoberen zur Gefahr für ihre Sitze im Stadtrat.
Am 1.8.1930 wurde Meyer von der Stadt Dessau wegen "kommunistischer Machenschaften" fristlos entlassen. Seine Nachfolge als Direktor trat Ludwig Mies van der Rohe an. Gropius schluckte die Kröte ohne Protest. Meyer war kein Kommunist. Er fühlte sich dem linken Spektrum der Sozialdemokratie verbunden und städtebaulich der Genossenschaftsbewegung verpflichtet.
Er emigrierte in die Sowjetunion, wo er unter anderem an der Hochschule für Architektur lehrte und den Entwicklungsplan für "Groß-Moskau" entwarf. 1936 kehrte er in die Schweiz zurück.
Daß der "unbekannte Bauhausdirektor" so vergessen in der DDR nicht war, zeigt eine DDR-Briefmarke aus dem Jahr 1980 mit der von Hannes Meyer entworfenen Bundesschule des ADGB in Bernau.

Bernd Gutte, Görlitz


Etwas versteckt habt Ihr die Autobiographie "Jahrgang '39 - Mein Leben in Böhmen, der DDR und der BRD" von Karl-Heinz Holub, erschienen im Verlag am Park, vorgestellt. Ich habe das Buch gelesen und mußte feststellen, daß es hoch aktuell ist.
Die Merkel-Regierung bereitet gerade Einheitsjubelfeiern vor. Dazu wurde eine Kommission gebildet, der nur Politiker von CDU/CSU und SPD angehören. Man kann ahnen, welche Geschichten zum 30. Jahrestag des "Mauerfalls" bis zum 30. Jahrestag der "Wiedervereinigung" in den Medien erzählt werden.
Karl-Heinz Holub geht in seinem Buch auch auf diese Ereignisse ein, die er in den Kontext von 80 Jahren deutsche Geschichte stellt. Er zieht Bilanz seines Lebens in drei Gesellschaftsordnungen und bekennt, daß seine beste Zeit die in der DDR war. Das wird man so in den BRD-Medien der nächsten Monate sicher nicht finden. Biermann & Co werden sich wieder über DDR-Diktatur, politische Verfolgungen, Unterdrückung, korrupte SED-Politiker, Stasi, Bespitzelung u. ä. ausbreiten dürfen. Die Herrschenden beanspruchen die Deutungshoheit für sich. Vertreter der Opposition stören da nur. Herr Platzeck von der SPD, der ehemalige Ministerpräsident von Brandenburg als einer der Vorsitzender der Kommission, dient da wohl auch nur als Feigenblatt.

Katrin Gieseler, Berlin


Der politisch-historische Exorzismus greift nicht am wissenschaftlichen oder künstlerischen Können, sondern an der Ideologie an. Es kommt auf stramme Haltung und Einhaltung des von oben befohlenen Weges an.
Ein Freund machte mich auf einen Beitrag von Christina Fischer im "Gegenwind", Januar 2019 (Politik und Kultur in Schleswig-Holstein und Hamburg), aufmerksam, in dem sie über die Eröffnung der Ausstellung "Motiv Mensch. Sitte und Cremer im Dialog" in Rostock berichtete.
Der Diktaturenforscher Dr. Mrotzek (CDU) verlangte die Schließung dieser Ausstellung mit der frechen Behauptung, daß die SED-Mitgliedschaft des Kommunisten Sitte verschwiegen würde. Auch alle anderen Behauptungen des entrüsteten Eiferers konnten nicht belegt werden.
Der Malstil Sittes wäre ideologisch fundierter Realismus und damit suspekt. Cremer und Sitte verbindet darüber hinaus das antifaschistische Engagement und ihr Bekenntnis zum Sozialismus in der DDR. Sie waren für die Kulturfunktionäre unbequem und sperrig, aber wohl auch über ihren Tod hinaus in der neuen Zeit.
Bei dem Gezeter in Rostock wurde ich an 1998 erinnert, als zur Ausgestaltung des neuen Parlamentssitzes in Berlin der Maler Bernhard Heisig den Auftrag für Bilder erhielt und nicht Frau Bohley.
Über den Kommentar in einigen Medien habe ich geschmunzelt: "Offensichtlich kann Heisig malen."

Dr. Gerd Machalett, Siedenbolletin


Wer das Arbeiterjugendzentrum (AJZ) in Bielefeld an der Heeper Straße kennt, der kennt auch das große Graffito, das auf dem Rolladen des AJZ zu sehen ist. Über 23 Jahre wurde es nicht übermalt und erinnert an den 16jährigen kurdischen Jugendlichen Halim Dener, der in der Nacht vom 30. Juni zum 1. Juli 1994 von einem zivilen SEK-Polizisten in Hannover beim Plakatieren beobachtet und von hinten erschossen wurde.
Bielefelds Oberstaatsanwalt Udo Vennewald ließ dem Vorstand des Jugendzentrums nun einen Strafbefehl in Höhe von 3000 Euro zukommen, weil das Zentrum der Handlungsanweisung der Bielefelder Polizei nicht folgte, das Graffito freiwillig zu übermalen. Vennewald erklärt, daß nach neuster Beschlußlage des Bundesinnenministeriums das Graffito einen Verstoß gegen das Vereinsgesetz darstelle. Der Erlaß, die kurdischen Embleme zu verbieten, wurde noch vom Ex-Innenminister Thomas de Maizière veranlaßt, weil diesem nicht entgangen war, daß aus einer kleinen kurdischen Bewegung ein Volksaufstand und aus einer Guerilla eine kurdische Armee gewachsen war.
Halim Deners Tod jährt sich im Juni das 25. Mal. Das Graffito mit seinem Gesicht ist ein Denkmal geworden in Bielefeld, dafür, daß es lohnt, sich für ein Morgen einzusetzen, in dem niemand mehr reich wird durch Kriegswaffenproduktion. Die Bielefelder Polizei behauptet, einen "Beschuldigten" identifiziert zu haben, der das Graffito gesprüht hat. Ihre Drohungen sollen nur einschüchtern, denn sie wissen, daß der Sprayer vor vielen Jahren verstarb. Er hat unter das Porträt von Halim Dener geschrieben: "Ich hoffe, daß ich nie von Bullen beim Sprühen erschossen werde!" Er war jung und kam aus Hamburg, und er hieß Eric.

Volker Braun, Oderaue


Wenn es um den Zerfall der Sowjetunion geht, fällt immer der Name des am 12.6.1991 gewählten Präsidenten der damaligen Teilrepublik RSFSR, Boris Jelzin. Sicherlich hat Jelzin die Aufspaltung der UdSSR in Nationalstaaten forciert und durchgesetzt.
Ich denke aber, den Grundstein für den Zerfall hat bereits sein Vorgänger Michail Gorbatschow gelegt. In der westlichen Welt wurde er als Reformer gefeiert. Allein diese Tatsache muß schon nachdenklich machen. Es ist doch so: Wenn mein Feind mich lobt, habe ich etwas falsch gemacht.
Nach der Auflösung der UdSSR, ohne Proteste aus den westlichen Ländern, begann der wirtschaftliche Niedergang. Die Sozialsysteme waren völlig dereguliert. Die Folge war die Verarmung der Bevölkerung. Im Gegensatz dazu bildete sich eine Gruppe von Oligarchen heraus, die sich der Wirtschaft und der Ressourcen bemächtigten. Bei dieser Entwicklung hatten die USA einen enormen Einfluß. Aus Sicht der USA war (und ist) alles gut, was Rußland schwächt.
Am 31.12.1999 übergab Jelzin die Macht an Wladimir Putin. Unter Präsident Putin gelang es, den Einfluß der USA zurückzudrängen. Die Oligarchen wurden politisch entmachtet. Ein neues Sozialsystem wurde aufgebaut. Die Entschuldung des Landes und die wirtschaftliche Stabilisierung wurden eingeleitet.
Seit seinem Amtsantritt versucht Präsident Putin ein gemeinsames Sicherheitssystem mit westlichen Ländern zu errichten. Anfangs sah es gut aus, Präsident Putin wurde zu den sogenannte G-Treffen eingeladen. Selbst im Deutschen Bundestag wurde Putin Rederecht gewährt. Aber auf Druck der USA lehnte die EU alle Vorschläge Putins ab. Die westliche Welt hat andere Ziele, stehen doch entgegen allen Zusicherungen NATO-Truppen an der russischen Westgrenze.
Ukraine: Die Ukraine tritt 1989 aus der UdSSR aus. Das ukrainische Parlament besteht zum großen Teil aus Oligarchen. Diese haben das Land bereits wirtschaftlich und politisch unter sich aufgeteilt.
Der damalige Präsident Janukowitsch will gleichberechtigten Kontakt zu Rußland und zur EU. Von der EU erhält Janukowitsch die Aufforderung, sich unter den Bedingungen der EU mit ihr zu assoziieren. Das war Erpressung, die Janukowitsch nicht akzeptieren konnte.
Daraufhin findet in Kiew ein lange von der CIA vorbereiteter Putsch statt. Im Februar 2014 wird Janukowitsch gestürzt. Er flieht nach Rußland. Allein die Ostukraine (Donezk und Lugansk) ist nicht bereit, sich einer faschistoiden Kiewer Regierung unterzuordnen. Seitdem führt Kiew Krieg gegen die Ostukraine. Aus meiner Sicht findet hier ein Stellvertreterkrieg USA-Rußland statt. Urheber sind die US-Marionetten in Kiew, nicht Rußland. Die Verträge Minsk I und Minsk II gelten für Kiew offensichtlich nicht. Es gibt hier wohl eine OSZE-Gruppe, die die Auseinandersetzung überwachen soll. Was sie dort tut, ist mir unklar. Vermutlich pro Kiew.
Krim: Nach einer Volksbefragung mit über 97 % Jastimmen trennte sich die Krim von der Ukraine und verband sich wieder mit Rußland. Die Mehrheit der Bevölkerung fühlt sich der durch Kiew gebrochenen Verfassung nicht mehr verpflichtet. Eigentlich ein demokratischer Vorgang.
Nicht für die NATO-Länder. Hier wird diese Rückführung als Annexion bezeichnet. In NATOKreisen glaubt man wohl, hieraus ein Recht auf militärische Intervention ableiten zu können. Das würde die Führung eines Angriffskrieges gegen Rußland bedeuten.
Selbst US-Präsident Trump äußerte 2018: "Die Krim gehört zu Rußland." Ich verstehe ja, daß die NATO Probleme hat, ihre Existenzberechtigung nachzuweisen. Ist den Strategen doch mit der Auflösung des Warschauer Vertrages der Feind abhanden gekommen. Folgerichtig hätte sich auch die NATO auflösen können. Aber nein, schnell wurde ein neuer Feind gefunden. Natürlich im Osten. Namentlich in Person von Präsident Putin. Rußland will keinen Krieg, warum auch? Ein friedliches Nebeneinander in Europa und auf der Welt ist ohne Rußland nicht möglich.

Wilfried Steinfath, Berlin


Zu Dr. Walter Michel: Solidarität im Blauhemd, RF 257, S. 23

KONTAKT, das Auslandsmagazin der FDJ, gehörte zur Medienpalette des Verlages Junge Welt und war Bestandteil der Auslandsinformation der DDR. 1968 gegründet, erschien es zunächst in Englisch, Französisch und Spanisch. Herausgeber war der Zentralrat der Freien Deutschen Jugend. Zielgruppen waren Jugendfunktionäre und junge Leser in Entwicklungsländern und jungen Nationalstaaten - vor allem in Afrika und Lateinamerika.
Nach den X. Weltfestspielen der Jugend und Studenten in Berlin 1973 galt es, die während des Weltjugendfestivals intensivierten bzw. neuen Beziehungen der FDJ zu nationalen und internationalen Jugend- und Studentenorganisationen mit den Mitteln des Journalismus weiterzuentwickeln. Das bedeutete: Erweiterung des Umfangs, Erhöhung der Periodizität, Erhöhung der Auflage, Erweiterung des Abonnentenkreises und vor allem die Einführung weiterer Sprachausgaben. So kamen Portugiesisch und Arabisch hinzu.
Vertriebskanäle waren vor allem die des Verlages Zeit im Bild Dresden, des Leitverlages für die DDR-Auslandsinformation. Aber auch die DDR-Freundschaftsgesellschaften der Liga für Völkerfreundschaft, das Soli-Komitee der DDR, die DDR-Botschaften und nicht zuletzt die Brigaden der Freundschaft nutzten das Magazin für ihre Öffentlichkeitsarbeit über die DDR und ihre Jugend. RF

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Der im Februar 1998 gegründete "RotFuchs" ist eine von Parteien unabhängige kommunistisch-sozialistische Zeitschrift.

HERAUSGEBER: "RotFuchs"-Förderverein e. V.
Postfach 02 12 19, 10123 Berlin


Das Impressum für die obenstehende Ausgabe ist zu finden unter:
www.rotfuchs.net/files/rotfuchs-ausgaben-pdf/2019/RF-258/259-07/08-19.pdf

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Quelle:
RotFuchs Nr. 258/259, 22. Jahrgang, Juli/August 2019
Internet: www.rotfuchs.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. September 2019

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