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OSSIETZKY/968: Ohne Kohle im Bett mit Marx


Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Nr. 17 vom 9. September 2017

Ohne Kohle im Bett mit Marx

von Elmar Altvater


Das erste Mal las ich "Das Kapital" von Marx zwischen Weihnachten und Neujahr 1961. Ich studierte in München, hatte mir in der Buchhandlung des Bund-Verlags im DGB-Haus in der Schwanthalerstraße den ersten Band gekauft - auf Empfehlung des kompetenten Buchhändlers. Denn an der Uni wurde man während des wirtschaftswissenschaftlichen Studiums, das ich zusammen mit der Soziologie in München absolvierte, nicht auf Marx aufmerksam gemacht. Erich Preiser, einer der Großen seiner Zunft, erwähnte ihn in seinen rappelvollen Vorlesungen, aber ansonsten war Marx unter den Ökonomen eher Persona non grata.

Bei den Philosophen gab es einige, die sich für Marx interessierten, aber zumeist für die "Frühschriften", denn die hatte auch die evangelische Kirche wegen des Menschenbildes, wegen der Marx'schen Theorie der Entfremdung, für sich entdeckt. "Das Kapital" fand in der ökonomischen Dogmengeschichte Erwähnung neben den Thünen'schen Ringen und den Gossen'schen Gesetzen. Klassenauseinandersetzungen gab es nicht, waren also auch kein Thema in volkswirtschaftlichen Seminaren. In der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" der Nachkriegszeit war der "Klassenkampf stillgestellt".

Ich kaufte also "Das Kapital" und zog mich damit in meiner Studentenbude bei der Witwe Gerngroß, mit einem Notizblock für Exzerpte ausgestattet, ins Bett zurück. Denn ich hatte kein Geld, um über Weihnachten von München ins Ruhrgebiet zu Verwandten zu fahren, konnte das Zimmer auch nicht heizen, denn für die Kohlen - Zentralheizung gab es nicht - fehlte mir die Kohle. Am Ende der verfrorenen Weihnachtstage waren die Exzerpte zwar recht ausführlich, aber auch beredte Belege dafür, dass ich vom "Kapital" wenig verstanden hatte. Das fand ich später heraus, nachdem ich zum dritten oder vierten Mal das "Kapital" gelesen hatte.

Denn wenige Jahre nach 1961 begann die Studentenrevolte auch in München und Erlangen-Nürnberg, wo ich 1968 eine Assistentenstelle bekommen hatte. Die Revolte war wie der Prinzenkuss, der Dornröschen erweckte. Nun erwachten kritische Geister zum Leben, die in der dumpfen Zeit der Adenauer-Ära abgestorben oder verwelkt schienen. Das Interesse an der Marx'schen Theorie brach auf wie die Knospen in der Frühlingssonne, und an vielen Unis entstanden Marx-Arbeitskreise. Am politikwissenschaftlichen Institut in Erlangen auch, wo ich zusammen mit Arnhelm und Christel Neusüss wohl einen der ersten Lektüre-Kurse zum "Kapital" einrichtete und nun das "Kapital" wieder und wieder lesen musste, nicht im Bett in Zweisamkeit mit Marx, sondern in heftiger Auseinandersetzung mit anderen Marx-Leserinnen und -Lesern um die richtige Interpretation, und die wurde nicht nur mit den blauen Bänden, sondern mit harten politischen Bandagen ausgefochten. Die Zeit der Bettlektüre war definitiv vorüber, die Teach-ins erforderten eine ganz andere Art der Vorbereitung. Das Marx'sche "Kapital" blieb aber wichtig und war tatsächlich, wie Marx an Philipp Becker von Hamburg aus schrieb, als er im April 1867 den ersten Band bei seinem Verleger persönlich ablieferte, das "furchtbarste missile", das dem Bürger an den Kopf geworfen worden ist. Nur waren die Köpfe nicht nur die der Bürger, sondern die der Genossinnen und Genossen anderer politischer Fraktionen. Das Marx'sche "Kapital" hat damals so manchen nicht vom Sektierertum abgehalten. Heute sind einige der einstigen Rechthaber bei den Grünen gelandet und bereiten schwarz-grüne Koalitionen vor.

Marx war am Ende der Nachkriegszeit, die in der Studentenbewegung als "Rekonstruktionsperiode" des Kapitalismus interpretiert wurde, auf einmal "in". Selbst der damalige Nürnberger Kriminaldirektor und spätere Chef des Bundeskriminalamtes Horst Herold, der in den 1970er Jahren die Rasterfahndung einführte, war Ende der 1960er Jahre an "Kapital"-Kursen beteiligt. Das könnte mit Antonio Gramsci auch als linke Hegemoniefähigkeit bezeichnet werden, wenn es nicht so absurd wäre. Verständlich wird dies aber, wenn der historische Hintergrund der Studentenbewegung und auch der "Kapital"-Kurse berücksichtigt wird. Während des nationalsozialistischen Terrors und des Zweiten Weltkrieges ist eine ganze Generation von Linken ausgelöscht worden. Viele der Überlebenden waren in der DDR, also jenseits des immer undurchdringlicher werdenden Eisernen Vorhangs, oder - nach dem KPD-Verbot 1957 - in der Illegalität oder im Gefängnis.

Die Weitergabe kritischen Wissens von einer Generation zur nächsten war in Westdeutschland also unterbrochen. Da war es ein Glücksfall, dass in diesen Jahren ein kritischer Marxist und noch dazu Trotzkist wie Ernest Mandel, treu begleitet von dem westdeutschen Adlatus Georg Jungclas, der mit dem damaligen Bundestagspräsidenten von der CDU, Eugen Gerstenmaier, im Knast der Nazis die Zelle geteilt hatte, von SDS-Gruppe zu SDS-Gruppe reiste und den Kontakt "zur großen weiten Welt" des westlichen Marxismus, vor allem nach Frankreich und England herstellte. Die Bücher von Ernest Mandel waren die damals einflussreichsten Einführungen in die Marx'sche Theorie, und sie haben ihre Bedeutung bis heute nicht verloren.

Seit dieser Zeit sind eine Reihe von wichtigen Analysen des modernen Kapitalismus aus der "68er-Bewegung" hervorgegangen, die allesamt von der Vielfalt der Marx-Studien jener Jahre profitierten. Auch neue Zeitschriften wurden gegründet. Das Argument existierte bereits seit den späten 1950er Jahren, bekam aber einen kräftigen Impuls während der Studentenbewegung. Die Sozialistische Politik, am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin von Studierenden herausgegeben, lebte zeitweise auf, bis die Zeitschrift von einer der Westberliner SEW nahestehenden Gruppe unter Verweis auf das bürgerliche Eigentumsrecht gekapert wurde. Viele der einstigen Autorinnen und Autoren der Sozialistischen Politik gründeten die Zeitschrift Probleme des Klassenkampfs, die noch heute in schamvoller Erinnerung an den ursprünglichen Namen als Prokla existiert. Der Verlag der Prokla war der "Politladen Erlangen", eine Initiative aus dem SDS Erlangen, die zeitweise bundesweite Bedeutung erlangte, aber dann an der von Lenin gegeißelten "Kinderkrankheit des Kommunismus", an einem perspektivlosen Linksradikalismus und damit einhergehenden Sektierertum scheiterte, nicht ohne persönliche Tragödien. Die Zeit heilt alle Wunden, vor allem wenn die räumliche Distanz nach Lateinamerika geweitet wird.

Der kurze Sommer der verbreiteten Marx-Lektüre an den Universitäten und zeitweise sogar darüber hinaus ist zu Ende. Heute ist Marx an den Universitäten wieder an den Rand gedrängt. Ab und zu flackert wegen des Ungenüges mit der traditionellen Lehre an den Universitäten Protest auf, und dann werden die blauen Bände von Marx und Engels hervorgeholt. Inzwischen gibt es auch eine Generation von Marx-Kennern und eine lebendige Debatte um einzelne Fragen der Marx'schen Theorie, um ihre Reichweite angesichts eines globalisierten Kapitalismus, um ihre Kraft der Anrufung und ihre intellektuelle Schärfe in den Analysen der ökonomischen und heute auch der ökologischen Krise. Die theoretischen und politischen Beiträge von Marx und Engels erweisen sich dabei als hilfreich, ja unverzichtbar. Das zeigen gerade viele der Schriften, die zum 150. Jahrestag der Erstpublikation des "Kapital" erschienen sind. Dafür ist aber auch die inzwischen internationale Debatte von Marxisten aus allen Weltregionen Beleg. Marx hat sich stets dagegen gesträubt, als Marxist vereinnahmt zu werden. Aber 150 Jahre nach dem "Kapital" gibt es viele Marxismen, und nicht nur einen Marxismus, der noch dazu dogmatisch von einer Partei beansprucht wird. "Das Kapital" hat auch heute viel zu bieten, Kategorien wie die des Doppelcharakters der Arbeit und aller ökonomischen Prozesse, so dass auch deren ökologische Dimension hervortritt, oder die des Fetischcharakters der Ware, oder die des Zusammenhangs von Ware und Geld, so dass die krisenhafte Abhängigkeit des Finanzsystems von der Realwirtschaft erkennbar wird, oder die des inneren Zusammenhangs von gesellschaftlichen Widersprüchen und deren Zuspitzung in der Krise. Man kann das Marx'sche Kapital im Bett lesen und sich damit für politische Auseinandersetzungen munitionieren. Aber man sollte nicht nur "Das Kapital" lesen, sondern es so wie Marx im Britischen Museum machen: die Kritik der politischen Ökonomie in der Auseinandersetzung mit den großen Geistern der Gegenwart weiterentwickeln.

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Quelle:
Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Zwanzigster Jahrgang, Nr. 17 vom 9. September 2017, Seite 601 bis 604
Herausgeber: Matthias Biskupek, Rainer Butenschön, Daniela Dahn,
Dr. Rolf Gössner, Ulla Jelpke, Otto Köhler
Redaktion: Katrin Kusche (verantw.), Jürgen Krause (Korrektor)
Haus der Demokratie und Menschenrechte
Greifswalder Straße 4, 10405 Berlin
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Ossietzky wurde 1997 von Eckart Spoo begründet und erscheint zweiwöchentlich.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. September 2017

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