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OSSIETZKY/936: Postfaktischer Kapitalismus


Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Nr. 1 vom 7. Januar 2017

Postfaktischer Kapitalismus

von Werner Rügemer


Der Kapitalismus lügt, sobald er das Maul aufmacht. Das Maul, das sind heute viele Mäuler. Das sind in Deutschland nicht nur die leitend absterbenden Leitmedien und ihr digitaler Anhang sowie die kommerziellen Presseagenturen, sondern auch die PR-Abteilungen von Unternehmerverbänden, Banken, Pharma-, Rüstungskonzernen und so weiter, das sind Spindoktoren von Parteien und Regierungen, PR-Abteilungen von Europäischer Kommission, NATO und Weltbank, private, staatliche und privat-staatliche Thinktanks, PR-Agenturen, Lobbyisten, Social-Media-Konzerne, unternehmensfinanzierte Stiftungen und "Bürger"-Initiativen, dann auch Firmen für strategische Kommunikation und last not least die mehreren zehntausend PR-Beauftragten von CIA, NSA und BND und die von ihnen informatorisch und finanziell alimentierten Journalisten.

Aber warum lügen sie? Sie vertreten die Interessen von kapitalistischen Unternehmern und zugleich des westlichen kapitalistischen Systems. Das sind die Partikularinteressen einer Minderheit der 0,1 Prozent, mit ihrem mitprofitierenden Anhang, vielleicht fünf Prozent: Diese Minderheit möchte aber, dass ihre minderheitlichen Interessen nicht als solche erkannt, sondern als Interessen der Allgemeinheit ausgegeben werden.

Und wie sehen die Lügen aus? Die Mäuler beschwören Demokratie, Menschenrechte, freie Marktwirtschaft, gleiches Recht für alle. Aber diese Werte sind knautschfähig bis hin zur Abschaffung. Wenn es nämlich für diese Art Demokratie dienlich ist, dann werden schon mal demokratisch gewählte Politiker ermordet oder mithilfe faschistoider Kräfte weggeputscht - und postfaktisch haben wir immer noch Demokratie.

Bei dieser Art Menschenrechte lässt man schon mal die Arbeits- und Sozialrechte weg und übrig bleiben die freie Meinung (die von einer westlichen Stiftung organisiert wird) und mit etwas Glück auch die freie Wahl der sexuellen Orientierung - und dann haben wir postfaktisch immer noch die Menschenrechte.

Wenn es um diese Art freie Marktwirtschaft geht, dann ist schon mal die Macht der einen nationalen Wirtschaft über andere nationale Wirtschaften möglich, und die großen Auto- und Baukonzerne zum Beispiel erpressen ihre Subunternehmer bis aufs Blut und bis zur Insolvenz - und wir haben postfaktisch immer noch die freie Marktwirtschaft und den freien Wettbewerb.

Und wenn das gleiche Recht für alle Bürger die privaten Gewinne stört, dann bekommen Investoren in sogenannten Freihandelsverträgen ein Klage- und Durchsetzungsrecht und die Bürger und abhängig Beschäftigten bekommen keins - und wir haben postfaktisch immer noch das gleiche Recht für alle Bürger.

Und wie kann es sein, dass alle gleichzeitig in gleicher Weise lügen, ohne Propagandaministerium? Der Geheimdienst CIA log, dass die Regierung Saddani Husseins im Irak Massenvernichtungsmittel hat und die westliche Wertegemeinschaft angreifen will. Man darf sich das klebrige und mit Freiheitspathos durchnässte Unterwürfigkeitsverhältnis der westlichen Leitmedien unter das Propagandaministerium CIA als sehr primitiv vorstellen.

Auch zum Beispiel eine PR-Agentur wie Hill & Knowlton wird als Propagandaministerium akzeptiert. Sie konstruierte die Lüge, dass irakische Soldaten in Kuweit Säuglinge aus Brutkästen rissen und zertrampelten.

Auch Wikipedia funktioniert als eine Art Propagandaministerium: Die Einträge über Konzerne und Very Important Persons werden durch getarnte, beauftragte PR-Agenturen überwacht. Mainstream-Journalisten schreiben aus Wikipedia gern ab, das nennen sie Recherche.

Und lügt denn jeder Journalist? Nein, das ist nicht nötig. Auch eine gedankenlos übernommene oder gewohnheitsmäßige oder schnell abgeschriebene oder auf Druck des Chefredakteurs hin verbreitete Lüge bleibt eine Lüge.

Journalisten mit SS-Rängen hatten in der Zeit des Faschismus in Zeitungen wie Völkischer Beobachter, Münchner Neueste Nachrichten, Berliner Börsen-Zeitung oder Das Reich und aus dem Goebbels- und dem Außenministerium gegen die Juden und gegen die kommunistische Gefahr und für ein nazibeherrschtes Europa gehetzt. Nach 1945 gelangten sie vor allem mithilfe der USA in leitende Stellen der damals gegründeten und heutigen bundesdeutschen Leitmedien, in die Zeit, Welt, Christ & Welt, Süddeutsche Zeitung, FAZ, stern und Spiegel (siehe dazu auch www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22903). Aus der Hetze für das nazibeherrschte Europa wurde die Fürsprache für das US-beherrschte Europa. Unverändert blieben die Hetze gegen "die kommunistische Gefahr" und die Verteidigung des kapitalistischen Privateigentums. Als nach 1990 der allerletzte Rest der ungefährlichen Gefahr schließlich ganz verschwunden war, führte der CIA zunächst den Wahlkampf für den guten, weil korrupten und besoffenen Jelzin, und in postfaktischer Kontinuität wurde nach dessen gerechter Höllenfahrt dann Russland mit Putin zur neuen Ersatz-Gefahr hingelogen, weil er die Ressourcen im Land halten will.

Zum Reservoir des postfaktischen Gewerbes gehören bekanntlich noch folgende Lügen: "Arbeitgeber schaffen Arbeitsplätze." Auf den ersten Blick scheint das zu stimmen; aber erstens schaffen die Arbeitgeber möglichst wenig Arbeitsplätze, zweitens schaffen sie möglichst immer geringer entlohnte Arbeitsplätze, und drittens schaffen sie möglichst viele Arbeitsplätze wieder ab. Weitere bekannte Lügen: "Mindestlöhne vernichten Arbeitsplätze." "Wenn der Staat für Unternehmer und Reiche die Steuern senkt, dann entstehen neue Arbeitsplätze." "Privatisierung rettet Renten." "Privatisierung rettet öffentliche Haushalte." "Krieg gegen die Drogen mindert den Drogengebrauch." "Mit dem Krieg gegen den Terrorismus wird der Terrorismus besiegt."

Die Gesellschaft für die deutsche Sprache wählte "postfaktisch" zum Wort des Jahres 2016: "Immer größere Bevölkerungsschichten sind in ihrem Widerwillen gegen 'die da oben' bereit, Tatsachen zu ignorieren und sogar offensichtlich Lügen bereitwillig zu akzeptieren." Wir können diese Definition der Lügenpresse-Experten auf die Füße stellen: "Immer kleinere Bevölkerungsschichten sind in ihrem Widerwillen gegen 'die da unten' bereit, Tatsachen zu ignorieren und sogar offensichtlich Lügen bereitwillig zu akzeptieren bzw. produzieren zu lassen." Der westliche Kapitalismus ist ein Faktum, das sich nur postfaktisch am Leben erhält. Jedes Lügengebilde, wenn es Macht erlangt, ist gefährlich. Es besteht die demokratische Notwendigkeit, dieses Faktum selbst zum Postfaktum zu machen.

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Quelle:
Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Zwanzigster Jahrgang, Nr. 1 vom 7. Januar 2017, Seite 9-10
Herausgeber: Matthias Biskupek, Daniela Dahn, Dr. Rolf Gössner,
Ulla Jelpke, Otto Köhler, Eckart Spoo
Redaktion: Katrin Kusche (verantw.), Eckart Spoo, Jürgen Krause (Korrektor)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Januar 2017

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