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OSSIETZKY/806: Ukraine - Krieg um Öl und Gas


Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Nr. 11 vom 10. Mai 2014

Ukraine - Krieg um Öl und Gas

Von Gerd Bedszent



Als Boris Jelzin im Dezember 1991 mit einem Federstrich die Sowjetunion auflöste und Rußland eine liberale Schocktherapie verordnete, hatte dies für die Wirtschaft der ehemals sowjetischen Republiken katastrophale Folgen. Jahrzehntelang gewachsene Austauschbeziehungen zerrissen oder wurden der Willkür mafiöser Interessen ausgeliefert. In Rußland selbst mußte das Programm militärisch durchgesetzt werden - Jelzin ließ am 4. Oktober 1993 Truppen aufmarschieren und unter dem Beifall westlicher Beobachter das Parlamentsgebäude zusammenschießen. Die industrielle Produktion in Rußland brach in der Folge massiv ein, betrug im Jahre 2000 nur noch 57 Prozent des Standes von 1990; das reale Geldeinkommen der Bevölkerung halbierte sich. Das Land erreichte 1998 einen Tiefpunkt, als es seine Staatsschulden nicht mehr begleichen konnte und die Währung zusammenbrach. Nach einem Machtwechsel an der Führungsspitze gelang es Wladimir Putin - wenn auch mit rabiaten Methoden - den wirtschaftlichen Niedergang und Verfall der russischen Staatsmacht aufzuhalten. Putins Ziel war und ist es, die wirtschaftliche Macht Rußlands - auch im Interesse der Oligarchen - zu stabilisieren und den unter Jelzin entstandenen "Mafiakapitalismus" zu zivilisieren. Die Schere zwischen arm und reich verbreiterte sich in Putins Rußland allerdings weiter, die Zahl der Dollar-Milliardäre steigt stetig an.

Putin setzte schon früh vorrangig auf den Export von Erdöl und Erdgas - die meisten Lagerstätten sind noch immer im Staatseigentum, eine knappe Mehrheit der Aktien des Konzernriesen Gazprom ebenfalls. Der Anstieg der Ölpreise nach 2000 machte Rußland wieder zum Globalplayer. Von den erwirtschafteten Petrodollars finanziert Putin den größten Teil seines Staatshaushaltes. Gazproms Exportpreise wurden an die Weltmarktpreise angeglichen und liegen derzeit um ein Mehrfaches über den in Rußland berechneten Binnenpreisen. Der Konzern wirkt so als Motor der russischen Wirtschaft.

Als Folge hat sich gemäß offiziellen russischen Angaben zwischen den Jahren 2000 und 2010 das russische Bruttosozialprodukt fast verdoppelt, das Außenhandelsvolumen mehr als vervierfacht. Das Lohnniveau verdoppelte sich, das Rentenniveau verdreifachte sich, die Armutsrate wurde halbiert. Zu berücksichtigen ist dabei, daß der Zusammenbruch am Ende der Jelzin-Ära die Ausgangsbasis der Daten darstellt und daß die Zahlen eventuell auch etwas geschönt sind.

Eine staatlich gelenkte und auf der Basis von Rohstoffexport florierende Wirtschaft ist neoliberalen Hardlinern ein Greuel. Zudem tangiert der global agierende russische Handel die Interessen anderer Wirtschaftsmächte. Rußland ist mittlerweile der weltweit zweitgrößte Erdölförderer nach Saudi-Arabien, außerdem weltweit größter Erdgasexporteur. In Europa verbrauchtes Erdöl und Erdgas kommt zum Großteil aus Rußland - was die mit dem saudischen Königreich kooperierenden US-amerikanischen Ölkonzerne sicher nicht freut. Die US-Regierung versucht seit Jahren, die wiedergewonnene Macht Rußlands einzugrenzen, Staaten, mit denen Putin enge Beziehungen unterhält, entweder dem russischen Einfluß zu entziehen oder aber sie nachhaltig zu destabilisieren.

Auch in der Ukraine wurden ab 1994 große Teile der Industrie und des Bankensektors privatisiert. Als Folge sank das reale Bruttosozialprodukt bis Ende der 1990er Jahre um etwa 60 Prozent. Die landwirtschaftliche Produktion wurde halbiert. Eine von 1990 bis 1996 grassierende Hyperinflation von jährlich etwa 800 Prozent fraß die Spargroschen der Bevölkerung.

Erschwerend kam die Abhängigkeit von russischem Erdgas hinzu. Die Ukraine ist einer der größten europäischen Verbraucher, außerdem verlaufen über ihr Territorium mehrere Pipelines in Richtung Westeuropa. Die Transitgebühren machen zwar einen nicht geringen Teil der ukrainischen Staatseinnahmen aus, die - vor allem in den 1990er Jahren - irrwitzige Gewinnspanne zwischen russischen Gaspreisen und dem, was ukrainische Endverbraucher und westliche Abnehmerländer berappen mußten, kam allerdings nur einer Schicht neureicher Oligarchen zugute. Beispielsweise kontrollierte Julia Timoschenko zeitweise ein Viertel der ukrainischen Wirtschaft. Mittels der von Putin betriebenen Angleichung der Exportpreise an das Weltmarktniveau wurden ukrainische Oligarchen weitgehend aus dem Zwischenhandel verdrängt, was sich in einer zunehmenden Rußlandfeindlichkeit niederschlug.

Politisch führte diese Situation zu einem mehrfachen Machtwechsel zwischen Oligarchen, die auf den Kurs eines staatlich gelenkten Kapitalismus und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Rußland setzten, und denen, die auf einen radikalen Schwenk in Richtung Westen drängten. Das aus dem Herbst 2013 datierende Zweckbündnis zwischen neoliberal und prowestlich ausgerichteten bürgerlichen Politikern und der faschistoiden Swoboda-Partei wurde wohl langfristig geplant. Von westlicher Seite in ukrainische Parteien und Nichtregierungsorganisationen gepumpte Millionenbeträge taten ein Übriges, um den jüngsten Umsturz zu ermöglichen.

Hinter den neuen Machthabern stehen allerdings unterschiedliche Interessengruppen. Geht es der EU vorrangig um die Schaffung eines weiteren wirtschaftlichen "Hinterhofes", setzt die USA primär auf Konfrontation mit Rußland. Der finanziell ausgebluteten und kurz vor einem Staatsbankrott stehenden Ukraine wurden jedenfalls wieder Kredite gewährt. Die Rechnung folgte allerdings auf dem Fuße: Erhöhung der Gaspreise für die Bevölkerung um 50 Prozent sowie Entlassung von etwa zehn Prozent der Staatsangestellten. Die Umsetzung weiterer Auflagen des Internationalen Währungsfonds ist bereits angekündigt.

Ukrainischem Nationalismus folgte eine gleichfalls nationalistische Welle innerhalb der in der Ukraine lebenden russischen Bevölkerungsminderheit. Zumal diese nicht einsieht, wieso sie eine erneute neoliberale Plünderungsorgie über sich ergehen lassen muß, während es im benachbarten Rußland langsam, aber stetig bergauf geht. Ob die Aufstände im russisch geprägten Osten der Ukraine nun zu einem Auseinanderbrechen der Ukraine führen oder ob das Kiewer Regime es noch einmal schafft, die zentrifugalen Tendenzen der verschiedenen Landesteile unter Kontrolle zu bekommen, ist derzeit noch nicht absehbar.

Der Konflikt zwischen der Ukraine und Rußland heizte sich nicht zuletzt auch daran auf, daß vor der Küste der Krim umfängliche Erdgaslager vermutet werden. Die Ukraine verlangt von Rußland eine Rückerstattung des von der Krim-Regierung beschlagnahmen ukrainischen Staatseigentums und erhöhte die Transitgebühren für russisches Erdgas um zehn Prozent. Dem stehen allerdings Forderungen Rußlands in Höhe von 16 Milliarden Dollar entgegen, resultierend aus offenen Gasrechnungen, fälligen Krediten sowie hinfällig gewordenen Nachlässen auf ältere Gasrechnungen.

Der Anführer des offen faschistischen "Rechten Sektors" kündigte Anschläge auf russische Erdöl- und Erdgaspipelines an, wenn auch nur ein russischer Soldat ukrainischen Boden betrete.

Ob die instabile Situation maßgebliche Auswirkungen auf den russischen Erdgasexport haben wird, ist allerdings zu bezweifeln. Die russische Regierung und der von ihr kontrollierte Gazprom-Konzern orientieren seit längerer Zeit auf den Bau alternativer Trassen. Bekannt ist die unter maßgeblicher Regie von Ex-Bundeskanzler Schröder verlegte Ostseepipeline "North Stream". Die Pipeline "Blue Stream" quert das Schwarze Meer in Richtung Türkei. Eine geplante Weiterführung in Richtung Syrien und Libanon wurde durch den syrischen Bürgerkrieg allerdings ausgebremst. Derzeit laufen Verhandlungen, einen neuen Strang durch das Schwarze Meer in Richtung Italien zu verlegen. Von den strukturellen Problemen der ukrainischen Wirtschaft wird durch den jüngsten Umsturz keines gelöst. Die Ukraine bleibt weiter von Erdgasimporten abhängig. Ob diese - wie bisher - aus Rußland und Turkmenien bezogen werden oder von westlichen Konzernen, ist dabei sekundär. Am Weltmarktpreis orientieren sich alle Unternehmen. Einen anhaltenden Wirtschaftskrieg mit Rußland kann die Ukraine nur verlieren, da sie weiter für Erdgas zahlen muß, aber infolge des Wegfalls der Transitgebühren maßgebliche Einbußen erleidet.

Westliche Strategen sehen als einzigen Ausweg aus der katastrophalen wirtschaftlichen Situation eine schnellstmögliche Westintegration der Ukraine und beschleunigte Umsetzung neoliberaler Wirtschaftsszenarien. Daß die desaströse Entwicklung im letzten Jahrzehnt Produkt des Auseinanderbrechens der Sowjetunion und der folgenden Schocktherapie der 1990er Jahre ist, kommt bei ihnen nicht vor. Die ukrainische Bevölkerung wird es ausbaden müssen.

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Quelle:
Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Siebzehnter Jahrgang, Nr. 11 vom 10. Mai 2014, S. 374-377
Herausgeber: Dr. Rolf Gössner, Ulla Jelpke, Prof. Dr. Arno Klönne,
Otto Köhler, Eckart Spoo
Redaktion: Katrin Kusche (verantw.), Eckart Spoo,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Mai 2014