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OSSIETZKY/805: Pro- oder anti-russisch?


Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Nr. 11 vom 10. Mai 2014

Pro- oder anti-russisch?

Von Eckart Spoo



In diesen Wochen haben uns die tonangebenden Medien ein neues Wort beigebracht: "pro-russisch", ähnlich abfällig gebraucht wie "Putin-Versteher". Für den russischen Präsidenten sollen wir gefälligst kein Verständnis aufbringen, Feindseligkeit wird gefordert. Konfrontation. Mit Putin soll sich niemand mehr an einen Tisch setzen. Er soll bestraft werden, möglichst schmerzhaft. Und alle Deutschen sind verpflichtet, zu den Sanktionen beizutragen - auch wenn wir uns dadurch selber schaden.

Ich gestehe: Ich bin pro-russisch - so wie ich pro-britisch und pro-spanisch bin. Vielleicht sogar ein bißchen mehr, denn kein Volk hat im Kampf gegen den Faschismus mehr Todesopfer gebracht als das russische gemeinsam mit dem ukrainischen. Gerade in Zeiten, in denen über andere Völker - die Griechen, die Serben, die Russen - so geredet wird, als müßten sie sich erst einmal von uns erziehen und bilden lassen, sollten wir uns um Verständnis für sie bemühen, uns für ihre Geschichte interessieren, uns auf ihre Beiträge zur Weltkultur besinnen; dabei dürfte es schwerfallen, die russischen und die ukrainischen Beiträge voneinander zu trennen.

In der Berichterstattung und Kommentierung des Streits um die Ukraine wird immer wieder versucht, einen Gegensatz zwischen russisch und europäisch, zwischen pro-russisch und pro-europäisch zu konstruieren - als gehörte Rußland nicht zu Europa. Das größte Land, das größte Volk Europas wird ausgegrenzt; die Grenze zwischen Europa und Asien scheint nicht mehr am Ural zu verlaufen, wie wir es im Erdkunde-Unterricht gelernt haben. Als Europäer sollen sich heute nur die verstehen dürfen, die der als Wirtschaftsgemeinschaft gegründeten, inzwischen auch zum Militärbündnis gewordenen Europäischen Union (EU) angehören oder ihr vielleicht demnächst beitreten dürfen, zum Beispiel die Türkei.

Als vor mehr als 20 Jahren der Warschauer Pakt und der Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe zusammenbrachen und es dann keinen Ostblock mehr gab, hofften viele Europäer, nun könne endlich das Gemeinsame Europäische Haus entstehen, von dem große Geister seit dem Ersten Weltkrieg gesprochen hatten. Von russischer Seite kamen Vorschläge. Eine gute Grundlage war schon 1975 in Helsinki im blockfreien Finnland mit der Schlußakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) geschaffen worden, woran alle europäischen Staaten sowie die USA und Kanada beteiligt waren. Aber der Westen wollte seinen Militärblock, die NATO, nicht aufgeben. Im Gegenteil: Aus dem nordatlantischen Verteidigungsbündnis, wie es sich jahrzehntelang dargestellt hatte, wurde eine Interventionsgemeinschaft, die beispielsweise seit 13 Jahren in Afghanistan militärische Macht ausübt, obwohl Afghanistan tausende Kilometer vom Nordatlantik entfernt liegt, auf der anderen Seite des Globus. Und obwohl führende westliche Politiker wie der damalige bundesdeutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher öffentlich unzweideutig zugesichert hatten, die NATO werde sich nicht nach Osten ausdehnen, ist sie inzwischen Rußland immer dichter auf den Pelz gerückt. Mit Verteidigung hat das nicht das Geringste zu tun, denn niemand kann ernsthaft behaupten, Rußland sei seit Gorbatschow und Jelzin noch eine Bedrohung für den Westen. Oder hat etwa jemand die Sorge, der böse Kommunismus werde bald wieder zuschlagen und in russischer Uniform Großmutters Häuschen enteignen? Die Herrschaft der Oligarchen sowohl in Rußland als auch in der Ukraine unterscheidet sich immer weniger von den Besitz- und Machtverhältnissen in Deutschland, nur daß die Oligarchen hierzulande anders heißen: Konzernherren, Milliardäre, Großinvestoren ... Insofern wäre es auch unsinnig, die guten Ukrainer den schlechten Russen gegenüberzustellen oder umgekehrt.

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Quelle:
Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Siebzehnter Jahrgang, Nr. 11 vom 10. Mai 2014, S. 371-372
Herausgeber: Dr. Rolf Gössner, Ulla Jelpke, Prof. Dr. Arno Klönne,
Otto Köhler, Eckart Spoo
Redaktion: Katrin Kusche (verantw.), Eckart Spoo,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Mai 2014