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OSSIETZKY/649: Was die Atom-Lobby vertuscht


Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Nr. 7 vom 2. April 2011

Was die Atom-Lobby vertuscht

Von Otto Meyer


Das erste Bonner Ministerium für nukleare Forschung unter Franz Josef Strauß in den Jahren 1955/56 nannte sich noch ohne Scheu "Bundesministerium für Atomfragen". Strauß und seine Leute machten kein Hehl daraus, daß sie mit der Förderung der Atomforschung den Besitz der Atombombe anstrebten. Aber bald erhob sich Widerstand gegen die geplante Atomrüstung. 1957 protestierten namhafte Atomphysiker, es folgten Massenkundgebungen unter dem Motto "Kampf dem Atomtod", später die Ostermärsche. Der Bundestagsbeschluß vom 25. März 1958, die Bundeswehr atomar aufzurüsten, konnte schon aus außenpolitischen Gründen nicht realisiert werden, auch nachfolgende Bundesregierungen konnten das Ziel nur verdeckt weiterverfolgen. Statt von "Atomkraft" sprach man zunehmend von "Kernkraft" und "Kernenergie". Wir wurden daran gewöhnt, nicht an Hiroshima und Nagasaki zu denken, sondern eher an nahrhafte Nüsse oder andere Kerne. Die Sprachregelung wirkte jahrzehntelang - bis heute.

Manager der Atomwirtschaft und ihnen nahestehende Politiker haben sich schon viele Lügen einfallen lassen, um die menschheitsbedrohenden Gefahren nicht nur des militärischen, sondern auch des zivilen Atomspaltens zu vertuschen. Eine der neueren Propagandalügen lautet, wir seien inzwischen schon so abhängig von der Atomkraft geworden, daß ein kurzfristiger Ausstieg unmöglich sei. Die tonangebenden Medien bringen immer wieder Statistiken, die einen stattlichen Anteil der "Kernenergie" an der Stromerzeugung zeigen. In der BRD, so zeigt es eine Grafik der Nachrichtenagentur dpa, soll der Stromanteil der Atomkraft derzeit bei 26,1 Prozent liegen. Können und wollen wir etwa auf mehr als ein Viertel unseres Stroms verzichten? Wirtschaftsminister Brüderle warnt vor steigenden Energiekosten nach Abschaltung einiger alter Reaktoren und verschweigt dabei, daß bisher schon einige abgeschaltet waren und die deutschen Energiekonzerne trotzdem immer viel mehr Strom erzeugen, als in Deutschland verbraucht wird; die Überproduktion wird ins Ausland geliefert.

Wenn Hans-Peter Keitel, Präsident des Bundesverbands der deutschen Industrie, sagt: "Wir alle wissen, daß wir nicht von heute auf morgen aus der Kernkraft aussteigen können", klingt das so, als könnte niemand ernsthaft widersprechen. Aber schauen wir uns die Gesamt-Energiebilanz an. Laut "Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen 2009" lag der Primärenergieverbrauch 2008 bei 477,9 Millionen Tonnen Steinkohleeinheiten (MtSE), der gängigen Recheneinheit. Der weitaus größte Anteil wurde von Mineralöl, Erdgas, Steinkohle und Braunkohle erbracht, nämlich 81,1 Prozent. Und immerhin schon 7,4 Prozent kamen aus erneuerbaren Energien. Der Anteil der "Kernenergie" am Gesamtenergieverbrauch nach Steinkohleeinheiten gerechnet lag danach nur noch bei 11,6 Prozent und nicht mehr über 25 Prozent, wie die Fixierung allein auf den Stromverbrauch uns nahelegen sollte. Die Konzerne haben es in der Hand, welche Energie sie ins Stromnetz einspeisen.

Aufschlußreich ist auch ein vergleichender Blick auf die Erneuerbaren Energien (EE) aus Wind, Sonne, Wasserkraft oder Biomasse. Deren Anteil nach Steinkohleeinheiten hat sich von 2005 bis 2008 in drei Jahren versechsfacht, nämlich von 5,9 Millionen Steinkohle-Einheiten (2005) auf 35,4 MtSE (2008). Damit lieferten schon vor drei Jahren die Erneuerbaren Energien so viel Energie wie zwei Drittel aller Atomkraftwerke in der BRD; der Beitrag der EE ist seither weiter ausgebaut worden. Der Bundesverband Erneuerbarer Energien hat kürzlich ein Programm vorgelegt, "wie Deutschland schon bald ganz ohne die strahlenden Meiler auskommen könnte", und der Leiter des Umweltbundesamtes teilte mit, daß nach Berechnungen seiner Behörde (zwar nicht "von heute auf morgen", aber) "bereits 2017 der letzte Reaktor ausgeschaltet werden könnte".

Besonders dreist sind die Lügen über die angeblich so günstigen Kosten der Atomkraft, worauf Eckart Spoo im vorigen Ossietzky schon hingewiesen hat. Regelmäßig wird verschwiegen, daß sowohl die Kosten für Grundlagenforschung wie auch für technische Weiterentwicklung bis heute fast ausschließlich vom Staat finanziert worden sind. Hermann Scheer, der kürzlich verstorbene SPD-Bundestagsabgeordnete und Umweltaktivist, hat errechnet, daß der Staat seit den 1950er Jahren die Atomindustrie mit mindestens 100 Milliarden Euro für Forschung, Ausbau und Steuerentlastungen subventioniert hat.

Hinzurechnen müßte man noch die ungeheuren Kosten, die eine korrekte Absicherung der Gesamthaftung jedes Stromkonzerns im Schadensfall erfordern würde. Es ist ein Skandal, daß die Aufsichtsbehörden der BRD bis heute für ein AKW nur eine Haftungssumme von zweieinhalb Milliarden Euro vorschreiben: 255,6 Millionen müssen über eine Haftpflichtversicherung abgedeckt sein, der Rest über gegenseitige Zusagen der Betreibergesellschaften. Eine Studie des Prognos-Instituts, erstellt im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft, kam schon 1992 zu dem Ergebnis, daß mindestens eine Schadenssumme von zehn Billionen Mark anzusetzen sei; andere Schätzungen liegen noch darüber. Nichts ist geschehen. Das Bundeswirtschaftsministerium verweist auf andere Staaten, auch in der EU, wo die Haftungssumme noch niedriger liege, und warnt vor einer Erhöhung, weil sonst unsere deutsche Kernenergie unwirtschaftlich werden könnte...

Die Atomspaltung stand von Anfang an im Dienste von Strategen, die bereit sind, Massenvernichtungswaffen einzusetzen oder mit ihnen zu drohen. Das ist bis heute der Hauptgrund für die staatliche Förderung der Atomtechnik; die Konzerne profitieren davon. Um Zugriff auf die Bombe zu erlangen, wollen fast alle größeren Staaten die Atomtechnologie besitzen und verwenden dafür Unsummen an Steuergeldern. Wie Israel, Indien, Pakistan, Nordkorea und Iran würde auch die Bundesrepublik Deutschland gern dem exklusiven Club der Atommächte beitreten. Oder gehört sie ihm längst an? Fachleute schätzen, daß hierzulande alle Komponenten für den Bau einer Bombe in wenigen Tagen bereitgestellt werden könnten. Und das gilt wohl auch für Japan. Mich ließ aufhorchen, als dieser Tage im Fernsehen ein Reporter "vor Ort" berichtete, mit welchen Begründungen sich genügend Freiwillige als sichere Todeskandidaten nach Fukushima schicken lassen: Sie wollten sich dafür opfern, daß "Japan eine Atommacht" bleibe. Werden die aktuellen Schreckensnachrichten von dort weltweit die Bevölkerungen aufwachen lassen, um die Bereitschaft zu solchen Opferungen endlich aufzukündigen?


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Quelle:
Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Vierzehnter Jahrgang, Nr. 7 vom 2. April 2011, Seite
Herausgeber: Dr. Rolf Gössner, Ulla Jelpke, Prof. Arno Klönne,
Otto Köhler, Eckart Spoo
Redaktion: Eckart Spoo (verantw.)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. April 2011