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OSSIETZKY/567: Was geschah in Srebrenica?


Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Nr. 16 vom 8. August 2009

Was geschah in Srebrenica?

Von Hans-Georg Ruf


In ihrer Ausgabe vom 1./2. August 2009 brachte die Frankfurter Rundschau unter der Überschrift "Massengräber in Srebrenica entdeckt" eine Meldung, die hier vollständig zitiert sei: "Vierzehn Jahre nach dem Massaker an Muslimen im ostbosnischen Srebrenica sind mindestens zwei Massengräber innerhalb des damaligen Stützpunktes der niederländischen UN-Truppen gefunden worden. Darin liegen die Überreste von sechs Erwachsenen und zwei Neugeborenen, wie ein Sender in Sarajewo meldete."

Zwei "Massengräber" mit insgesamt acht Leichen, und zwar auf dem Gelände des damaligen UN-Stützpunkts - ist damit und mit der ungewöhnlich präzisen Quellenangabe ("ein Sender") das "Massaker" endlich bewiesen?

Seit 1995 ist der Name Srebrenica in NATO-Ländern, vor allem in der Bundesrepublik Deutschland, gleichbedeutend mit serbischer Grausamkeit gegen andere Völker im damals noch bestehenden Jugoslawien. Mit der Parole "Nie wieder Srebrenica!" warb, wie die ARD-Tagesthemen in der Anmoderation einer Sendung über Srebrenica in Erinnerung riefen, im Jahre 1999 der damalige deutsche Außenminister Joseph Fischer für den NATO-Krieg gegen Serbien. Eine ZDF-Sendung über Srebrenica stempelte gleich in ihrem Titel die Serben zum "Tätervolk". Und diese Hetzpropaganda geht weiter. So veranstaltete Anfang Juli 2009 in Berlin das "Zentrum für Politische Schönheit" gemeinsam mit der "Gesellschaft für bedrohte Völker" und anderen Organisationen vor dem Brandenburger Tor und dem Bundestag ein viertägiges Srebrenica-Gedenken; den Besuchern wurden Attrappen von NATO-Bomben gezeigt, die, wenn sie 1995 gegen Serben eingesetzt worden wären, das "Massaker von Srebrenica" verhindert hätten.

Durchforscht man die Veröffentlichungen solcher Organisationen wie auch die Darstellungen der tonangebenden Medien in Deutschland, findet man zwar starke Worte, gewagte Behauptungen und phantastisch hohe Zahlen der Opfer des "Massakers" (7.000 oder gar 8.000 Muslime sollen im April 1995 ermordet worden sein), aber kaum konkrete Einzelheiten. Um so deutlicher treten die Absichten hinter dieser Propaganda-Kampagne hervor: Die deutsche Großmachtpolitik braucht für ihre "Interventionen", also Angriffskriege, ein für allemal die Legende, daß wir Deutsche militärisch eingreifen müssen, um in aller Welt die Guten vor den Bösen zu schützen. Und ausgerechnet das Volk der Serben muß dafür herhalten.

Niemals im Lauf der Jahrhunderte hat Serbien Deutschland angegriffen, aber im 20. Jahrhundert hat deutsches Militär dreimal Serbien überfallen: 1914, 1941 und 1999. Der Name der serbischen Stadt Kragujevac sollte Synonym für deutsche Kriegsverbrechen auf dem Balkan sein: Deutsche Wehrmachtssoldaten ermordeten dort an einem einzigen Tag im Herbst 1941 zwischen 7.000 und 8.000 Menschen, darunter ganze Schulklassen, die mit ihren Lehrern zur Erschießung anzutreten hatten. Aber wie viele Deutsche haben den Namen Kragujevac überhaupt je gehört? Sehr viele kennen hingegen den Namen Srebrenica. Seine permanente Wiederholung genügt zur Konstruktion eines serbischen Tätervolks, das der Bändigung und Erziehung durch uns zivilisierte Deutsche bedarf.

In der Schlußakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) 1975 in Helsinki, die besonders auf Betreiben des blockfreien Jugoslawiens zustande gekommen war und den wesentlichen Sinn hatte, den nicht zustande gekommenen Friedensvertrag mit dem wiedererstarkenden Deutschland zu ersetzen, verpflichteten sich alle Unterzeichnerstaaten, gegenseitig ihre Souveränität, ihre territoriale Integrität und ihre politische Unabhängigkeit zu respektieren und zu garantieren. Aber die Bundesrepublik Deutschland unterstützte eifrig separatistische Tendenzen von Slowenen und Kroaten und anderen jugoslawischen Völkern. Kaum war Deutschland vereinigt, erkannte es Slowenien und Kroatien als unabhängig an. In Kroatien hatte das die gewaltsame Vertreibung hunderttausender Serben zur Folge, in Bosnien-Herzegowina entbrannte ein schrecklicher Bürgerkrieg zwischen Muslimen, meist katholischen Kroaten und meist orthodoxen Serben, angestachelt von vielen ausländischen Organisationen, zu denen auch die deutsche "Gesellschaft für bedrohte Völker" gehörte. In der Darstellung fast aller deutscher Medien reduzierte sich dieser Bürgerkrieg im wesentlichen auf die Beschießung muslimisch besiedelter Stadtteile der Hauptstadt Sarajewo durch serbische Truppen - Beschießung in umgekehrter Richtung blieb meist unerwähnt - und auf das "Massaker von Srebrenica" 1995; Einzelheiten wurden meist ebenso ausgespart wie Zusammenhänge. Was gerade in und um Srebrenica in den drei vorausgegangenen Jahren geschehen war, blieb außer Betracht. Die deutsche Öffentlichkeit weiß nichts davon, obwohl inzwischen mehrere Bücher darüber berichten.

In Srebrenica herrschte damals - auch nachdem die Stadt 1993 zur UN-Schutzzone erklärt worden war - die etwa 5.800 Mann starke 28. muslimische Division mit ihrem Befehlshaber Naser Oric, der keine Scheu hatte, Reportern der Washington Post und des Toronto Star Videos von Massakern zu zeigen, die seine Soldaten in serbischen Dörfern in der Umgebung verübt hatten. Grausige Details über Oric und seine Verbrechen kann man in dem Buch "Von den Karawanken bis zum Kosovo - Die geheime Geschichte der Kriege in Jugoslawien" von Malte Olschewski, Redakteur des aktuellen Dienstes im Österreichischen Rundfunk und Fernsehen (ORF), nachlesen.

Eine Zusammenfassung der Ereignisse gab der österreichische Politikwissenschaftler Professor Walter Manoschek im vergangenen Jahr in der Wiener Tageszeitung Der Standard:

"Srebrenica war ursprünglich ethnisch gemischt. Doch bereits unmittelbar nach dem Eintreffen von Orics 28. bosnisch-muslimischen Division in Srebrenica waren die serbischen Einwohner im Mai 1992 aus der Stadt geflohen. An ihre Stelle kamen Muslime aus der umliegenden Gegend, und Srebrenica wurde zu einer muslimischen Enklave mit 35.000 Menschen. Von Beginn an attackierte die 28. Division die umliegenden serbisch bewohnten Dörfer mit größter Brutalität. Eine der erbarmungslosesten Aktionen fand am 7. Jänner 1993, dem Tag des serbisch-orthodoxen Weihnachtsfestes, statt, als Oric einen Überraschungsangriff gegen das Dorf Kravice anführte, bei dem über hundert serbische Soldaten und Zivilisten getötet wurden. Ein großer Teil der Feindseligkeit der bosnischen Serben aus der Region gegenüber den Einwohnern Srebrenicas resultierte aus dieser Phase des Krieges. Im Frühjahr 1993 übergab die jugoslawische Staatskommission für Kriegsverbrechen dem UN-Sicherheitsrat ein Memorandum. Es beinhaltete eine Liste von etwa 1.300 Serben, die von Orics Truppen von April 1992 bis April 1993 getötet, und von 192 Dörfern, die niedergebrannt worden waren. Der UN-Sicherheitsrat akzeptierte das Memorandum als offizielles Dokument. Im April 1993 erhielt Srebrenica den Status einer Schutzzone, und UNO-Truppen wurden darin stationiert. Doch wurde die Stadt niemals erfolgreich demilitarisiert. Der UN-Report zu Srebrenica hielt fest, daß die muslimischen Truppen nicht mehr als 300 Waffen abgegeben hatten, die meisten davon waren unbrauchbar."

Die 28. Division - so Manoschek - habe weiterhin Ausfälle in serbisches Territorium gemacht, und Oric habe sowohl 1994 als auch 1995 ausländische Reporter eingeladen, um ihnen seine "Kriegstrophäen" zu zeigen: Videos, die verbrannte und erschossene Serben, abgebrannte Häuser und Leichenberge zeigten, darunter Zeugnisse besonderer Grausamkeiten.

Doch obwohl die unter dem Kommando von Oric verübten Verbrechen gut dokumentiert waren, sprach ihn das von NATO-Interessen dominierte Internationale Jugoslawien-Tribunal ICTY (nicht zu verwechseln mit dem Internationalen Gerichtshof oder dem Internationalen Strafgerichtshof) frei.

Schwer belastet wurde Oric auch vom ehemaligen muslimischen Bürgermeister von Srebrenica, Ibran Mustafic, der inzwischen selbst ein Buch mit reichhaltigem Beweismaterial veröffentlicht hat. Das ICTY legte keinen Wert darauf, Mustafic als Zeugen zu hören.

Als 1995 serbische Truppen in Srebrenica einzogen, brachten sie die meisten muslimischen Zivilisten mit Bussen in Sicherheit. Was mit vielen muslimischen Männern, vor allem Soldaten, geschah, die zurückblieben, ist bisher unzureichend geklärt. Ein Teil wurde offenbar in Gefechten getötet, daneben gibt es deutliche Anzeichen für Racheakte, die mit Recht Massaker zu nennen sind. Das Jugoslawien-Tribunal begründete den Haftbefehl gegen den Kommandanten der bosnisch-serbischen Armee, Ratko Mladic, und den Präsidenten der bosnischen Serben, Radovan Karadzic, mit dem Geständnis eines bosnischen Kroaten, Drazen Erdemovic, der 1996 angab, er sei an der Erschießung von 1.200 muslimischen Zivilisten beteiligt gewesen; er selbst habe auf bosnisch-serbischen Befehl 70 bis 100 muslimische Zivilisten hingerichtet. Er nannte sechs Mittäter - unter denen sich kein Serbe befand - und mehrere bosnisch-serbische Vorgesetzte. Weder die angeblichen Mittäter noch die Vorgesetzten wurden bis heute verhaftet oder auch nur vernommen; Erdemovic selber wurde zu einer milden Strafe verurteilt. Über diese äußerst widersprüchlichen Vorgänge berichtet Germinal Civikov, langjähriger Redakteur der Deutschen Welle, in seinem Buch "Srebrenica. Der Kronzeuge", das kürzlich im Wiener Promedia-Verlag erschienen ist.

Aufklärungsarbeit leistet die von dem US-amerikanischen Wissenschaftler Edward S. Herman geleitete Srebrenica Research Group (www.srebrenica-report.com), die eine Studie "Srebrenica and the Politics of War Crimes" herausgegeben hat. In einem Interview der Berliner Zeitung junge Welt sagte Herman im vorigen Jahr: "Die Mainstream-Presse ignoriert uns. Wir haben es mit einem geschlossenen Denksystem zu tun, das einem totalitären System alle Ehre macht." Ich frage mich beim Lesen deutscher Konzernblätter oft: Sind die Journalisten zu faul, die Wahrheit zu suchen, zu dumm, sie zu finden, oder unfrei?


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Quelle:
Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Zwölfter Jahrgang, Nr. 16 vom 8. August 2009, Seite 585-588
Herausgeber: Dr. Rolf Gössner, Ulla Jelpke, Prof. Arno Klönne,
Otto Köhler, Eckart Spoo
Redaktion: Eckart Spoo (verantw.)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. August 2009