Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

OFFENSIV/085: Ausgabe Januar-Februar 2010 1/10


offen-siv 1/2010
Zeitschrift für Sozialismus und Frieden

Ausgabe Januar-Februar 2010 1/10


INHALT

Redaktionsnotiz

Den Sozialismus verteidigen!
Irene Eckert: "Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch" - es bedarf dazu der theoretischen und organisierten Anstrengung
Hermann Jacobs: Der manifeste Kommunismus - Eine Bestandsaufnahme - 1. Teil

Klimagipfel in Kopenhagen
Evo Morales: "Unsere Völker erwarten Ergebnisse"
Hugo Chavez: "Der Kapitalismus ist der Weg ins Verderben"
Hugo Chavez: "Das Imperium verschwindet durch die Hintertür"
Bruno Rodrígez Parilla: "Eine grobe Verletzung der Charta der Vereinten Nationen"
Andreas Petermann: Chávez lässt sich nicht rausschmeißen
Maxim Graubner: Widerstand gegen "diktatorische Methoden"

Kulturhauptstadt
- Heinz W. Hammer: »Kulturhauptstadt 2010« - Eine Wortmeldung aus Essen

Zur kommunistischen Bewegung in Deutschland
Joachim Becker: Wir brauchen die einheitliche KP so schnell wie möglich
Frank Flegel: Über die Angst

Gedenken an Karl-Heinz-Reinhardt
Dieter Itzerott: Erinnerungen an einen Unentbehrlichen, der viel zu früh von uns ging
Karl-Heinz Reinhardt: Die Konterrevolution auf Filzlatschen
Montagsdemonstration in Leipzig

Raute

REDAKTIONSNOTIZ

Dieses erste Heft im Jahr 2010 hat den gleichen Umschlag wie unser vor etwas mehr als einem Jahr erschienene Buch "Unter Feuer". Natürlich machen wir das, um Geld zu sparen - das Papier ist noch da, warum also neues kaufen? Aber wir haben uns dieses Heft für diesen Umschlag ausgesucht, weil es in einer würdigen Nachfolge zu "Unter Feuer" steht: Den Sozialismus zu verteidigen, das ist das Anliegen dieses Heftes. Die Beiträge von Irene Eckert und Hermann Jacobs, die dokumentierten Reden von Evo Morales, Hugo Chavez und Bruno Rodrígez Parilla, die Erinnerung an Karl-Heinz Reinhardt und die Äußerungen zur kommunistischen Bewegung in Deutschland werden diesem Anspruch in hohem Maße gerecht.

Die Rechenschaftsberichte über das Jahr 2009 werdet Ihr in dieser Ausgabe vergeblich suchen. Das liegt daran, dass wir die Sitzung unseres Herausgebergremiums, welches die Rechenschaftsberichte entgegennimmt, sie einer Revision unterzieht und verabschiedet, wegen der Witterungsverhältnisse im Januar nicht durchführen konnten. In der nächsten Ausgabe werden wir das Versäumte nachholen.

Wir müssen Euch eindringlich um Spenden bitten. Unsere Rücklagen sind aufgebraucht und demnächst wird die Post wieder 800,00 Euro von unserem Konto abbuchen - nur für die Teilnahme an der Versandart "Postvertriebsstück" im Jahr 2010. Davon ist noch nicht ein Heft verschickt, das Porto kommt dann jeweils noch dazu. Wir bitten vor allem diejenigen, die sich in 2009 sehr zurückgehalten haben, uns mit einem Beitrag - wie groß oder klein er auch immer sei, alles hilft! - zu unterstützen.

Wir können diese Redaktionsnotiz nicht schließen, ohne dem Genossen Heinz Keßler, dem verdienten Kommunisten und Minister für Nationale Verteidigung der DDR, die allerherzlichsten Glückwünsche zu seinem 90. Geburtstag auszusprechen. Lieber Heinz, mit größter Hochachtung wünschen Dir die Mitglieder der Redaktion weiterhin Kraft, Gesundheit und Erfolg!

Redaktion offen-siv, Hannover


Spendenkonto Offensiv:
Inland: Konto Frank Flegel, Kt.Nr.: 30 90 180 146 bei der Sparkasse Hannover, BLZ 250 501 80, Kennwort: Offensiv
Ausland: Konto Frank Flegel, Internat. Kontonummer(IBAN): DE 10 2505 0180 0021 8272 49,
Bankidentifikation (BIC): SPKHDE2HXXX; Kennwort: "Offensiv".

Raute

DEN SOZIALISMUS VERTEIDIGEN!

Irene Eckert: "Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch" - es bedarf dazu der theoretischen und organisierten Anstrengung


Neujahrsgedanken, geschrieben in Halle im Januar 2010

Trotz des ungewöhnlich heftigen Wintereinbruchs pfeifen es die Spatzen von den Dächern: Das kapitalistische System bietet den Menschen keine Zukunft. Nicht einmal den Winter bekommt es in den Griff. Das Bildungswesen versinkt im Privatisierungssumpf, Aufrüstung und Kriege verschlingen Milliarden an Investitionsmitteln, die für basiale Infrastruktureinrichtungen fehlen. Massenarbeitslosigkeit und Prekariat sind die Zukunftsmelodie auch für akademisch gebildetete junge Menschen. Das kulturelle Niveau befindet sich auf einem beklagenswerten Tiefstand. In Kopenhagen wurde im Dezember des Vorjahres die Hoffnung auf ein Umlenken auch in Sachen Umweltschutz zu Grabe getragen, nachdem im April die Anti-Rassismuskonferenz in Genf kläglich gescheitert war und zu Ende ging, ohne minimale Hilfestellung für die bedrängten Menschen in Palästina einzufordern.

Nimmt es nicht Wunder, dass angesichts der sich ständig verschlechternden Lebensbedingungen zumindest in EU-ropa und Nordamerika sich vergleichsweise wenig Widerstand rührt? Vor allem die Jugend, die es besonders angehen müsste, tanzt auf dem Vulkan und sucht sich im - wie auch immer gearteten - individuellen Glücksstreben zu verwirklichen.

Währendessen versinken Staats- und Gemeindekassen tief in den roten Zahlen. Hypotheken auf die Zukunft werden für das Militär und für die polizeiliche Überwachung der Bürger aufgenommen, auch die private Verschuldung der Haushalte steigt ins Unermessliche. Präventive Maßnahmen gegen Bürgerinnen und Bürger sind schon einsatzbereit, noch ehe diese sich auf die Möglichkeit von Widerstand verständigt haben.

Wenn aber die immer drastischer werdenden Zumutungen vom Volke derzeit noch schwermütig hingenommen und für unabänderlich erachtet werden, dann hat diese bleierne Schwere gewichtige Gründe, die mit dem Ausbau des Polizeistaates allein nicht hinreichend erklärt sind. Die wirklichen Ursachen dafür müssen daher aufgespürt und beseitigt werden, damit die Schneepflüge durchkommen und die Wege, die aus der Gefahr führen, wieder beschritten werden können.

Das Gespenst des Kommunismus, das die Oberen noch als Schattenbild mehr fürchten als der Teufel das Weihwasser, muss wieder sinnliche Gestalt annehmen. Seine reale Bedeutung für das Überleben der Gattung Mensch muss neu ausgelotet werden. Die Tatsache, dass die Länder, die mit Nachdruck und Beharrlichkeit am Aufbau einer sozialen, sozialistischen oder zukünftigen kommunistischen Gesellschaftsordnung weiterarbeiten mit Boykott, Sanktionen und bösartigsten Verleumdungen überzogen werden, ist als Denkaufgabe zu begreifen. Die ebenso gewichtige Tatsache, dass Länder, in denen sozial verantwortungsbewusste Politiker das Sagen haben, schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen wegen angeprangert werden und ihnen mit Krieg, ja sogar mit Atomkrieg, gedroht wird, ist eine gleich große Herausforderung an den gesunden Menschenverstand. Als Denksportaufgabe sollte uns auch die Frage dienen, warum die wenigen kommunistischen Parteien dieser Erde, die nach 1956 nicht allmählich umgekippt sind, sondern sich - wenn auch oft nach schweren inneren Kämpfen - auf das gute alte, weil Erfolg verheißende Erbe besannen, warum gerade diese Parteien sich einen Massenanhang zu sichern wissen. (Siehe allen voran in Griechenland die KKE). Die Abkehr dagegen von wissenschaftlicher Gründlichkeit und kreativ-klassenkämpferischer Anwendung der Lehre der Klassiker führte allmählich aber dafür zielsicher ins Aus, sprich zur Zerstörung der Grundlagen der sozialistischen Gesellschaftsordnungen und zur Zerstörung der kommunistischen Parteien von innen heraus mit all ihren verheerenden Folgen für die betroffenen Nationen und für die ganze Welt. Die Zerrüttung der kommunistischen Parteien durch den modernen Geschichtsrevisionismus, enthauptet sozusagen die Massen, indem sie ihnen ihre Avantgarde raubt. Sie lähmt folglich zwangsläufig die Widerstandkraft der Massen. Die Folgewirkung auf die Gewerkschaftsbewegung und auf linke Parteien ist fatal. Sie führte zur Sozialdemokratisierung mit all ihren seit spätestens 1917 bekannten Folgen. Ja sie treibt die Sozialdemokratie immer noch weiter nach rechts. Der Geist des Humanismus, den die Arbeiterbewegung im besten und umfassendsten Sinne verkörperte, schließlich war sie angetreten, das Menschengeschlecht aus der Knechtschaft zu befreien, ist damit mitten ins Herz getroffen. Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staatengemeinschaft, letztlich ein Ergebnis der modernen Geschichtsverdrehung und der Verleumdung ihrer Errungenschaften, wurden die opferreich erkämpften Ergebnisse der Nachkriegsordnung revidiert. Mit immer gewichtigerer Beteiligung der wiedervereinten und neu erstarkten Großmacht Deutschland waren dadurch sehr schnell zunächst in Europa, dann in der Welt, Kriege äußerst zerstörerischen Ausmaßes wieder möglich geworden. Solches geschah erstmals im Januar 1991, im zweiten Golfkrieg unter Einsatz von Uranmunition. Für diesen Krieg gegen den Irak erwirkten die interessierten Parteien - unter anderem - durch geschickte Manipulation der Weltmeinung die Zustimmung des UN-Sicherheitsrates. Zur Erinnerung aus aktuellen Gründen: Der erste Golfkrieg war Anfang der 80iger Jahre gegen den Iran geführt worden. Giftgas kam dabei zum Einsatz seitens des Nachbarlandes Irak. Dieser Krieg war im Kern gerichtet gegen die 1979 einsetzende "grüne" (islamische) Revolution, die das Schah-Regime hinweg gefegt hatte. Angestiftet worden war der US-Verbündete Staatschef des arabischen Landes, Saddam Hussein zu dem kriegerischen Vorgehen gegen die schiitischen Brudernation von seinen kolonialen Ratgebern. Diese beseitigten ihn später wie ein Ungeziefer - auch weil der einst Vielgepriesene ein Vielwisser war - und sich seinerseits dem Land, das den Schah in den Sattel gehoben hatte, als nicht mehr gefügig genug erwies. (Sein christlicher Außenminister Tariq Aziz wird noch immer unter unwürdigen Bedingungen in Haft gehalten und vermutlich für die Hinrichtung präpariert). Im Grunde hatte der zum "Erzdiktator und zweiten Hitler" gekürte irakische Regierungschef Hussein nicht viel anders gehandelt als der vor der Inthronisierung des Schah Pahlevi gestürzte iranische Nationalist und Demokrat Mossadegh. Letzterer hatte es 1952 gewagt, die Ölressourcen des Landes zu verstaatlichen. Ersterer verteilte die staatlichen Einnahmen der Ölindustrie für großzügige Investitionen in die Infrastruktur des Landes, den Ausbau der Bildungseinrichtungen, zur Stützung des Lebensniveaus seiner Bürger. So etwas missfällt dem Imperium, wie sich heute an der Bedrohung Venezuelas, aber noch stärker an der des Iran zeigt, das durch den populären, sozial eingestellten und nicht erpressbaren Präsidenten Ahmadinedschad geführt wird. Dass beide "Regime" befreundet sind und eng kooperieren, macht die Sache in den Augen der Herren, die die Welt regieren, nicht besser. Dass Chavez katholischer Christ und Ahmadinedschad ein Muslim ist, ändert nichts an deren respektiven Schurkenstatus.

Da die UdSSR 1989 zerschlagen und gedemütigt, dem Westen ausgeliefert, am Boden lag, blockierte das große Russland nicht mehr durch sein Veto den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Das gemeinsame Ziel der imperialistisch geführten Länder schien endgültig erreicht: Der Sozialismus röchelte im Todeskampf. Das Ende der Geschichte wurde ausgerufen. Das wieder vereinte imperialistische Deutschland, das im 20. Jahrhundert zwei Anläufe unternommen hatte, die Welt zu erobern, spendete unter Kanzler Kohl freimütig 18 Milliarden DM für das militärische Eingriffen zur Sicherung der Ölquellen und seiner Einflussmöglichkeiten am Golf. Beim nächsten Mal, so wurde bereits damals vollmundig verkündet, würden die Deutschen nicht so billig davon kommen. Nachdem die Ölbrände am Golf nach einem Jahr schließlich gelöscht waren und Tausende irakischer Soldaten bei lebendigem Leib im Wüstensand begraben und vergessen waren, vergessen ebenso wie ihre am Golfkriegssyndrom erkrankten US-amerikanischen Kollegen, die der Uranmunition schutzlos ausgeliefert worden waren, begann man die Zündschnur im Balkan zu legen. Im Frühjahr 1999 entbrannte das Inferno des Bombenkriegs gegen Belgrad, flogen "Irrläufer" auf die Brücke von Vavarin und die Vokabel Kollateralschäden wurde später zum Unwort des Jahres. Inzwischen war die deutsche Unterstützung bereits zur "robusten" herangereift. Noch robuster wurde sie seit dem ersten Kriegseinsatz gegen Afghanistan nach dem 11. September 2001. Der globale Antiterrorkrieg war entfesselt. Dass seither der Terror auf allen Gebieten keine Maßstäbe mehr kennt - man denke nur an Abu Ghraib oder Guantanamo Bay, an Folterflüge und Folterlager weltweit - sollte unsere Nachdenklichkeit weiter herausfordern.

Anstatt aber der immer unfasslicher werdenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu gedenken, die diese neuen "asymmetrischen Kriege", zynisch "humanitären Interventionen" genannt, nach sich ziehen, lenken unsere ins Kriegsgeschehen eingebetteten Medien unsere Aufmerksamkeit lieber auf die "Verbrechen" des Sozialismus. Das ist für manche ergiebiger, sichert es doch gewisse Arbeitsplätze für lohnabhängige Schreiberlinge. Vor allem aber sichert es ab gegen die für das Kapital bedrohliche Wiederauferstehung des Gespenstes "Kommunismus". Deswegen wurden im Super-Jubiläumsjahr 2009 angesichts des 20jährigen Niedergangs der DDR, deren "Niedrigkeiten" in einer endlos Schleife gewürdigt. Ein Schelm, der Böses dabei denkt und etwa Ablenkungsmanöver von Verbrechen im globalen Stile im Sinn hat.

Wer aber eine Neue Welt aus der Asche der Alten errichten will, um so das Überleben der Gattung zu sichern, muss sich die geschichtlichen Tatsachen vergegenwärtigen und begreifen, welche gesellschaftlichen Kräfte, aus welchem Interesse und mit Hilfe welcher Methoden oder genauer mittels welcher Intrigen die Geschichte für ihre Belange umdefinieren.

Im Januar 1919, der erste Weltkrieg war kaum zu Ende, versuchten die Herrschenden die anschwellende kommunistische Bewegung in der Wiege zu ersticken. In Russland aber wurde unterdessen, ungeachtet aller gewaltsamen Interventionen, die Gesellschaft von unten herauf umgestaltet. Unter guter kommunistischer Führung erstarkte dennoch - trotz der verhängnisvollen Spaltung - die Arbeiterbewegung im imperialistischen Deutschland so sehr, dass die Oberen zu der List griffen, einen Proletarier auszugucken und ihn an die Spitze einer sich national und sozialistisch nennenden Arbeiterpartei zu hieven.

Im Jahre 1939, nur 20 Jahre später, war dann dank massenhafter Konzentrationslager, dank Folter und Mord, dank Verrat und mithilfe von schlimmer Demagogie die Kriegsopposition so geschwächt und die Aufrüstung so weit vorangetrieben, dass ein zweiter Anlauf zur Welteroberung von deutscher Seite aus gestartet werden konnte. Die Welt musste Auschwitz und Hiroshima, musste 60 Millionen Todesopfer erdulden, unter ihnen 27 Millionen Sowjetbürger, bevor, im Gefolge deutscher Welteroberungspläne, 1949 zwei deutsche Staaten erstanden. Diese neue politische Situation im Herzen Europas war ein Ergebnis der Kräfteverhältnisse zwischen den einstigen Alliierten der Anti-Hitler-Koalition.

Noch war man sich in beiden Deutschlands im Volke einig: Von deutschem Boden sollte nie wieder Krieg ausgehen. Aber die Kriegsgegner, so etwa die westdeutsche Frauenfriedensbewegung, eine Persönlichkeit wie die Romanistin Clara Maria Fassbinder, die Volksbefragung gegen die Wiederaufrüstung und natürlich die Kommunisten wurden bereits in den frühen 50iger Jahren im Westen diffamiert und kriminalisiert. Es gab schon früh ein erstes politisches Todesopfer, ein junger Arbeiter namens Philipp Müller starb 1952 an einer Polizeikugel, weil er gegen die Wiederaufrüstungspläne der Adenauer-Regierung demonstriert hatte. Zehntausende Ermittlungsverfahren und die erneute Verurteilung erprobter und bekannter Antifaschisten schädigte die Bewegung, konnte sie aber nicht gänzlich auslöschen.

Als Reaktion auf den Nato-Aufrüstungsbeschluss von 1979 erhob sich wieder eine imposante Friedensbewegung. Hundertausende gingen bis 1983 dagegen auf die Straße. Dank Gorbatschow, der die Friedensvermittlung in die Hand nahm und dank klarsichtigen Führungspersonals flaute auch diese Bewegung wieder ab. Man setzte blindes Vertrauen in die Friedensfähigkeit des Imperialismus, seinen Raubtiercharakter gänzlich verkennend.

Zehn Jahre nach dem Fall der innerdeutschen Grenze, im Frühjahr 1999 beteiligte sich dann Deutschland zum dritten Mal in einem Jahrhundert an der unprovozierten Bombardierung von Belgrad. Die offizielle "Begründung" lautete, man müsse ein "neues Auschwitz vermeiden" so der damalige Außenminister Joschka Fischer. Zum Schutz vor "Menschenrechtsverletzungen" müsse man eingreifen, denn "man könne nicht länger zusehen". Auf dem Spruchband einer Demonstrationsteilnehmerin gegen die Bomben abwerfenden Menschenrechtsbeschützer war treffend zu lesen: "Bombing for human rights is like fucking for virginity".

Noch einmal 10 Jahre später im Jahre 2009 trat der unheilsame Lissabonvertrag in Kraft, die verkappte EU-Verfassung mit ihrer historisch einmaligen Aufrüstungsverpflichtung. Deutschland hat maßgeblichen Anteil am Zustandekommen des Vertragswerks, mit dessen Hilfe, das Grundgesetz auszuhebeln ist, insbesondere das Friedensgebot in Artikel 26. Auf ganz "friedlichem" Wege wird diesmal über den festgefügten Zusammenschluss Europas unter deutsch-französischer Führung die neue Eroberung von Ost- und anderen geostrategisch wichtigen Zonen möglich und "wir" sichern uns erneut "unseren Lebensraum" und unsere Freiheit am Hindukusch.

Dass die Oberen und die Monopolisten sich ihre Einflusszonen, ihre Ressourcen, ihre Absatzmärkte auf die ihnen zur Verfügung stehende Weise zu sichern versuchen, ist ihrer Logik, der Logik des Profitsystems geschuldet. Dass aber die Beherrschten, die Ausgeplünderten, die Opfer solcher Vorgehensweise nicht rebellieren, ist Ausdruck ihrer gefühlten Ohnmacht, geschuldet der Verkennung historischer Vorgänge, Ausdruck des Erfolgs der Verdummungsmaschinerie, die die Menschenmassen geschickt zu blenden vermag. Die ohnmächtige Hinnahme deutscher Kriegsbeteiligung - trotz nachgewiesener mehrheitlicher Ablehnung des Einsatzes in Afghanistan etwa - ist eben geschuldet dem Fehlen einer orientierenden und den Massenwiderspruch organisierenden Kraft. Unorganisiert und damit führerlos bleiben die Massen so lange, so lange ihnen keine Wegmarkierungen zur Verfügung stehen. Dort wo Wegweiser vorhanden sind, finden die Menschen den Mut und die Energie zu gemeinsamer und damit wirksamer Gegnerschaft. Sie finden zu solidarischem Handeln. Solange aber eine schwammig auftretende "Friedensbewegung" in ihren Reihen mehrheitlich Stimmen verzeichnet, die die Ursachen für die Kriege eher beim Bedrohten ortet als beim Aggressor, sieht die Sache schlecht aus. Wenn in der deutschen Hauptstadt die "Friko", das Akronym für Friedenskoordinationskreis über das elektronische Netz als Neujahrsbotschaft dazu auffordert, die Opposition im Iran zu stärken, einem Lande, das vom Kriege bedroht ist, so kann man daran sehr schön den verfahrenen Kurs erkennen. Mit solcher Herangehensweise, mit solchem Führungspersonal, lässt sich keine Antikriegsbewegung erfolgreich organisieren. Wenn schließlich andere, auch sehr bekannte Stimmen öffentlichkeitswirksam die Meinung vertreten, heute sei es ungleich schwieriger als zu Zeiten des Vietnamkrieges, sich mit den durch Krieg und Besatzung verheerten Länder und ihren Widerstandsbewegungen zu solidarisieren, weil man etwa in Afghanistan, Irak, Gaza keine vertrauenswürdigen Ansprechpartner habe, so hat diese Haltung eine ähnlich lähmende Wirkung. Auch sie hat historische Vorbilder und ähnelt dem Vorgehen von Leo Trotzki, der in Anbetracht einer vom Kriege bedrohten UdSSR dazu aufrief, die von Stalin geführte Regierung zu stürzen.

Wenn das Völkerrecht, das ja den Respekt vor der Souveränität der Staaten zur obersten Maxime erklärt hat, eben um den Frieden zu wahren, wenn dieses oberste Gebot der UN-Charta, marginalisiert und entwichtigt wird, dann macht man sich, ob bewusst oder unbewusst, zum Erfüllungsgehilfen der Welteroberer. Dass es heute so schwer fällt, Recht und Unrecht, Kriegtreiber und Friedensstifter, Aufklärung von Demagogie zu unterscheiden, hängt mit der Raffinesse der Herrschenden zusammen, die aus der Geschichte, anders als die Beherrschten, gelernt haben. Erkennend, dass die gut organisierten, gut geschulten, gut geführten Massen, die wissen wofür sie kämpfen, unbesiegbar sind, haben sie sich auf eine weitere Strategie verlagert. Gerade im Januar sollten wir uns daran erinnern, dass der Kampf gegen die Revolution in Deutschland (aber auch anderswo) mit der Parole geführt wurde: "Schlagt ihre Führer tot!" Tötet Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht! Der Kommissarbefehl Hitlers aus dem Jahre 1941 war die Fortsetzung solcher gezielten Ausmerzung von Führungspersonal und entsprach denselben Denkmustern.

Man kann natürlich die Kampfbereitschaft der Massen unterminieren, indem man ihre Führungspersönlichkeiten zum Abschuss freigibt. Man kann aber deren Moral noch viel nachhaltiger treffen und dauerhafter. Ermordete Führer werden schließlich zu Märtyrern, sie leben weiter im Volk, wie die alljährlichen Märsche Zehntausender zur Grabstätte von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zeigen. Der Rufmord gegen vom Volk hochgeschätzte Führungspersönlichkeiten und zwar organisiert von oben herab aus den eigenen Reihen ist eine viel wirksamere Waffe als bloßer Mord.

Zwar wird der Erfolg auch nicht ewig währen, weil Tatsachen eine beharrliche Qualität haben, aber man kann über lange Zeiträume hinweg viel Unheil mit solchem Vorgehen anstiften. Wenn die Argumente der Gegenseite von den (vermeintlich) Eigenen vorgetragen werden und sich gegen gewählte und hochgeschätzte Repräsentanten richten, untergräbt das die Autorität ihres gesamten Wirkens. Noch effektiver ist es, nicht nur Personen, sondern mit ihnen die theoretischen Grundlagen zu verteufeln, ohne die keine Praxis erfolgreich sein kann.

In unserem Lande gibt es derzeit aus Gründen solcher historischer und theoretischer Begriffsverwirrung keine Partei, die über genügend historische Kenntnisse und über das nötige Analyse-Instrumentarium verfügt, um erfolgreich programmatisch für die Interessen der Mehrheit des Volkes zu arbeiten. Ähnliche gilt das für weite Teile der Erde. Computerprogramme können da auch nicht weiterhelfen. Es muss vielmehr die Bereitschaft wieder entstehen, sich das gesamte Erbe, die gesamte Hinterlassenschaft der Arbeiter- und sozialistischen Bewegung anzueignen auch und gerade das des einst als groß erachteten Staatenlenkers Stalin, dessen Leistungen nicht ungefähr einer kompletten Tabuisierung unterliegen. Seine erfolgreiche Etikettierung etwa als "verdienter Mörder des Volkes" (Bert Brecht) bringt es mit sich, dass nicht nur seine Schriften nicht mehr studiert werden. Die gesamte Aufbauleistung der UdSSR unter seiner Führung zwischen 1924 und 1939, die Kriegsvermeidungspolitik der sowjetischen Regierung zwischen 1939 und 1941, die strategischen Leistungen des Sowjetvolkes beim Niederringen Nazideutschlands werden damit ebenso ausgeblendet wie die Verdienste der Sowjetunion um den Wiederaufbau des vom Kriege verheerten Landes bis zum verfrühten Tod des Staatschefs 1953. Was uns Nachgeborenen vorerst bleibt, ist sein Ruf als "Massenmörder", während an der allmählichen Rehabilitierung Hitlers mit Erfolg gearbeitet wird. Besonders hinderlich ist für die vorurteilslose Befassung mit diesem so bedeutsamen Geschichtsabschnitt, dass auch sehr profilierte und engagierte Menschen, ja Kommunisten, die in der DDR geschult wurden und Geschichte lehrten, sich der vom Mainstream und leider auch von der kommunistischen Führung vorgegebenen Geschichtsdeutung scheinbar unhinterfragt unterworfen haben.

Dies geschieht so, während die herrschenden Kreise sehr wohl wissen, warum sie an diesem verqueren Geschichtsbild feilen und jene insgeheim encouragieren, die dabei mittun, geht es doch um mehr als Symbolik. Es geht um Vergangenheitspolitik, um die Deutungshoheit der Geschichte, um das Wissen darum, wie man den Sozialismus zum Erfolg führen kann.

Die Chinesen haben vermutlich aus wohlerwogenen Gründen einen anderen Weg als den der Verdammung ihres großen Mannes Mao gewählt, obgleich auch ihm schwerwiegende Fehler nachgewiesen wurden. Vielleicht haben sie als uralte Kulturnation einfach mehr Respekt vor den Alten, vielleicht aber sind ihnen auch - als frühe Opfer der Chruschtschowschen Wendehalspolitik - die schmerzlichen Folgen seiner Abwendung vom stalinschen Kurs rascher als anderen deutlich geworden. Dabei haben sich die Chinesen durchaus als kritik- und differenzierungsfähig erwiesen und sind manchen verhängnisvollen Umweg gegangen, wie die von Rolf Berthold (in "Chinas Weg - 60 Jahre Volksrepublik", Berlin 2009) zugänglich gemachten Dokumente erkennen lassen. Ob ihnen der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft am Ende glücken wird, ob die lateinamerikanischen Gegenmodelle langfristig überlebensfähig sind, auf die wir so große Hoffnungen setzen, hängt am Ende auch von unserer Argumentationsfähigkeit und Einsatzbereitschaft ab.

Das opportunistische Einknicken vor den Verführungen der Macht, vor ihrer Demagogie und ihren Tricks, das - wie angedeutet - auch in globalem Umfang vor Kommunisten nicht Halt gemacht hat, hat aber Millionen Menschenopfer zur Folge. Es ist deswegen an der Zeit, dass das alte Gespenst wiederbelebt und mit neuem Geist erfüllt wird. Die alten Errungenschaften der dem Humanismus verpflichteten Arbeiter- und kommunistischen Bewegung müssen neu entdeckt werden. Die Zeit der Kotaus vor den Herrschenden muss in unserem Überlebensinteresse definitiv vorbei sein. Es führt um das Wiedererstarken der sozialistischen Kräfte zu erreichen kein Weg vorbei am Studium der alten Quellen aus der Zeit der dreißiger und vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts, an Quellen, in denen die Aufbauleistung der Sowjetunion angemessen gewürdigt wird(1). Mit Sicherheit sind viele wertvolle Dokumente von interessierter Seite vernichtet worden, aber andere existieren noch und sind uns zugänglich. Wenn wir eines Tages wieder eine kommunistische Partei in Deutschland haben wollen, die ihres Erbes würdig zu sein vermag, die also nicht sozialdemokratischen Ambitionen erliegt, dann erscheint mir die Befassung mit dem gesamten Erbe dafür die unerlässliche Voraussetzung. Goethes Wort mag uns als Leitgedanke dienen: "Was ihr ererbt von euren Vätern, erwerbt es um es zu besitzen". Im abgrenzenden Sinne gehört dazu allerdings auch die eingehende Befassung mit dem Phänomen Trotzkis, mit seinen Schriften, seinem weltweiten Wirken, um davon Kenntnisse zu haben, auf wen sich seine zahlreichen Epigonen heute berufen und mit welchen Methoden sie gewohnt sind zu arbeiten(2). Sich einzusetzen für die Wiedergeburt oder das Wiedererwachen einer kommunistischen Partei, die für die moderne Arbeiterklasse, für Kopf- und Handarbeiter, für Millionen Angehörige des Diensleistungsgewerbes, für das Prekariat, für die durch kapitalistische Anwendung modernster Technologie freigesetzten arbeitslosen Massen zu kämpfen vermag und das mit der nötigen parteilichen Klarheit im Kopf, setzt die ganze Aneignung der Geschichte des Sozialismus und der Ursachen für sein vorübergehendes Scheitern voraus. Wer sich allerdings der Anstrengung umfangreicher Lektüre und theoretisch eingehender Schulung nicht unterziehen möchte, der kann kaum dem dafür erforderlichen Avantgardeanspruch gerecht werden.

Irene Eckert, Berlin / Halle


Anmerkungen

(1) Stellvertretend seien hier nur etwa genannt das populäre Buch vom "roten Bischof" von Canterbury: Hewlett Johnson, "The Socialist Sixth of the World", London erstmals 1939, dann in 16. Auflage (!) 1942, Victor Gollancz Verlag oder "20 Jahre Sowjetmacht - Ein Handbuch über die politische, wirtschaftliche und kulturelle Struktur der UdSSR", hrsg. von G. Friedrich/F. Lang, Editions Promethee Strasbourg, 1937 oder "The Great Conspiracy against Russia" by Michael Sayers und Albert E. Kahn, special introduction by Senator Claude Pepper, first published in New York February 1946, Boni and Gear Incorporated Publishers, 15 East 40th Street New York 16, N.Y. deutsch erstmals unter dem Titel "Die große Verschwörung" bei Volk und Welt 1949, leider ohne das sehr wichtige Vorwort. Es handelt sich nachweislich nicht um ein "stalinistisches Machwerk" (Steigerwald), sondern um das Recherchewerk damals sehr populärer US-amerikanischer investigativer Journalisten, die auch Bestseller fabriziert hatten wie "Sabotage - the Secret War Against America" und "The Plot Against Peace". Das Buch wurde von großen Medien wie Newsweek, Chicago News oder New York Harald Tribune als hervorragender Beitrag zum Frieden gewürdigt - vor Ausbruch des Kalten Krieges.

Dort wird auch anhand von überprüfbaren Quellennachweisen der Behauptung widersprochen, Trotzki sei einem von Stalin beorderten Auftragsmörder zum Opfer gefallen.

Als Hinweis wie am Negativ-Image von Stalin von pan-europäischer Seite gearbeitet und der und der Begriff "Stalinismus" lange vor den Prozessen 1935 geprägt wurde, siehe Coudenhove-Kalergi "Stalin und Co" Paneuropa-Verlag Wien-Leipzig, 1931

(2) Zu Trotzki siehe außer oben Sayers/Kahn auch Max Seydewitz, "Stalin oder Trotzki" Malik-Verlag, London, 1938; auch Feuchtwanger "1935" oder Henri Barbusse "Stalin", Paris 1937, Editions du Carefour, 2. Sonderband der Jahresreihe 1937 der Universum Bücherei übersetzt aus dem Französischen von Alfred Kurella. Auch: Isaac Deutscher "Stalin", eine politische Biografie 2. Auflage 1966

Raute

Hermann Jacobs: Der manifeste Kommunismus - Eine Bestandsaufnahme - 1. Teil

I. Der Kommunismus ist Praxis geworden

Ein Gespenst ist der Kommunismus nicht mehr. Er hat längst seine Geburtswehen hinter sich gelassen, hat den Wechsel zu zwei Jahrhunderten vollzogen, er ist in ein neues, das dritte Jahrhundert seiner Existenz eingetreten. Zunächst nur Bewegung einer kleinen Minderheit von Revolutionären, ist er zu einem weltweiten Anliegen werktätiger Massen geworden, hat ein Land seiner praktischen Geburt - Rußland, die Sowjetunion - erlebt und in weiteren Ländern praktisch Einzug gehalten. Er hat längst das Stadium einer Theorie verlassen, die sich nur auf ihre Prämissen beruft, sondern was als Theorie begann, kann anhand einer ersten gesellschaftlichen Praxis auch praktisch überprüft werden. Dass der Kommunismus nun in der Tat eigene Gesellschaftsordnung geworden ist, ist seine eigentliche Erscheinung. Er ist als Kommunismus erkennbar, messbar geworden, das kommunistische, zunächst nur politische Subjekt, ist als objektives, als ökonomisches Subjekt erschienen. Kommunistische Geschichte existiert gleichrangig zu jeder objektiven gesellschaftlichen Geschichte wie die das Feudalismus oder des Kapitalismus vor ihm. Kommunistische Gesellschaft läuft der Gesellschaft der bürgerlichen Klasse parallel, wir können beim Kommunismus und beim Kapitalismus - für eine geschichtliche Weile - von Parallelgesellschaften sprechen. Wir sprechen bei beiden Ordnungen von zwei objektiven gesellschaftlichen Ansprüchen an die gegenwärtige Geschichte der Menschheit. Dass es zur Kommunistischen Revolution gekommen ist, stellt die Zukunft des Kapitalismus in Frage. Es muß nicht bis zu den letzten geschichtlichen Zuckungen des Privateigentums gehen. Die weitere Geschichte der Menschheit kann in zwei Richtungen verlaufen - in die kapitalistische, und in deren Gegensatz - die kommunistische. Eine erneute große entwicklungsgeschichtliche Wende der Menschheit ist möglich geworden: Hat sie sich von ihren Urzuständen befreien können, kann sie sich nun von ihrem auf Klassen reduzierten Fortschritt befreien - menschlicher Fortschritt kann wieder allgemein werden; etwas anderes ist Kommunismus nicht.

Der Kommunismus hat den Faschismus besiegt - seine bislang größte geschichtliche Tat, mit der er auch in die innere Geschichte des Kapitalismus eingegriffen hat. Mindestens Europa ist dadurch das Schicksal einer langen Periode der barbarischsten Form des Kapitalismus erspart geblieben. Der Kommunismus wurde mit der geschichtlichen Entwicklung des Kapitalismus zum Imperialismus konfrontiert, der die Menschheit in einen Entwicklungsgegensatz gebracht und faktisch in zwei Teile geteilt hätte. Der Kommunismus hat sich den antikolonialen Widerstand der auf eine koloniale Zukunft niedergedrückten Völker Indiens, Asiens, Afrikas, des mittleren und südlichen Teils des amerikanischen Kontinents, und auch der arabischen Völker zu Eigen gemacht. Der Kommunismus in China hat den Kolonialismus in China verhindert. Aus diesem antiimperialen Widerstand heraus wurden dem Imperialismus der entwickelten kapitalistischen Staaten schwere Niederlagen zugefügt. Dass heute die Nationalstaatlichkeit als allgemeine Form der Staatlichkeit triumphiert, ist ohne ihre Unterstützung und Verteidigung durch die Staaten der kommunistischen Revolution nicht denkbar.

Aber der Kommunismus hat auch Fragen von geschichtlicher Bedeutung für sich selbst lösen können. Er hat die Frage gelöst, entwicklungsgeschichtlich die bürgerliche Revolution überspringen zu können. Es ist kein Gesetz mehr, aus dem Feudalismus in den Kapitalismus zu verwandeln, und danach erst in den Kommunismus hinüber zu wechseln. Bei entsprechender Entwicklung des subjektiven Faktors vor dem objektiven Faktor, bei einem frühen Verständnis des doppeltgesellschaftlichen Charakters der bürgerlich-proletarischen Revolution, als Wechsel zu zwei gesellschaftlichen Ordnungen, bei einem Beginn des politischen Kommunismus vor dem entwickelt gesellschaftlichen Charakter der Arbeit, kann die bürgerliche Form der Revolution übersprungen werden. Die kommunistische Revolution hat dann die Frage zu lösen, wie man auf andere als kapitalistische Weise die Industrialisierung noch feudalistisch bis archaisch geprägter Länder vollbringt - und sie hat sie auch gelöst. Bewiesen wurde auch, dass der Kommunismus in ersten, einzelnen Völkern aufgebaut werden kann. So hat er die ganze Palette von Formen geschichtlicher Entwicklung des Kapitalismus als die vorausgesetzte Bedingung seiner eigenen Existenz abgedeckt, hat er auf alle Fragen, in der noch Entwicklungsformen des Kapitalismus bestimmend sind für Formen, in denen der Kommunismus beginnt, die notwendigen Antworten gefunden. Der Kommunismus hat Antwort gegeben nicht nur auf die Frage, wie ein Kommunismus innerhalb von Nationen auszusehen hat, sondern hat auch Antwort gegeben auf die Frage, was eine Internationalität von kommunistischen Ländern ausmacht. Weil nicht auf ein einzelnes Volk beschränkt, sondern zu mehreren Völkern erweitert worden, hat der Kommunismus erstes Licht in die Frage gebracht, wie eine internationale Ökonomie des Kommunismus aussehen kann. Damit hat er nicht nur den Klassenbann von gesellschaftlichem Fortschreiten durchbrochen, sondern auch den Nationalbann. Er ist damit direkt Gegensatz wie Antwort auf die höchste Form des kapitalistischen Expansionismus, den Imperialismus, er ist als Kommunismus direkt antiimperialistisch geworden. Er hat sich in jeder Weise als ein Gegensatz zum Kapitalismus, als eine Gegenmacht zum Imperialismus des Kapitalismus erwiesen.

Als Theorie entstanden zunächst auf dem Boden eines entwickelteren kapitalistischen Landes - England(3) - ist der Kommunismus allgemeine Theorie, allgemeine Praxis aller Länder geworden bzw. es steht dem nichts entgegen, dass er dies auch werden kann. Der erste auf Produktion beruhende Kommunismus, Kommunismus auf dem Boden der zur Gemeinschaftsarbeit entwickelten Arbeit, ist der allgemein gültige, auch der für entwickelte kapitalistische Gesellschaften gültige Kommunismus. Die These, es gäbe auch einen künftigen Kommunismus, und der sähe anders aus als der bisherige, er ersetze gar diesen - so dass es gäbe, was es bisher noch nie in der Geschichte gab: Gesellschaftsordnung in zweifacher Ausfertigung, eine Form, die sich aus kapitalistisch unterentwickelten Ländern herleite, die "russische/sowjetische", und eine andere, die sich aus kapitalistisch entwickelten Ländern herleiten würde, eine "eurozentristische"? (Namen fehlen hier noch) -, besitzt keine bewiesene Grundlage. Wo dieser These eine "kommunistische Selbstkritik" entgegenarbeitet, ist ihre Grundlage eine irrtümliche Auslegung der Dialektik des Anfangs des Kommunismus. Uns werden noch Wege zum Kommunismus beschäftigen, uns wird noch sein Erhalt als Gesellschaftsordnung bzw. Kommunismus in der Form der staatlichen Existenz beschäftigen, aber nicht mehr die Kommunismusfrage an sich. Sie ist geklärt, davon gehen wir aus.


II. Die Praxis ist an Widersprüche geraten

Der Kommunismus ist also Praxis geworden - aber nicht ohne Probleme Praxis geworden. Er wurde Praxis in einer weiter im Kapitalismus verharrenden Umwelt, er mußte Bürgerkriege, von innen entfachte und aus dem kapitalistischen Ausland herein getragene, überstehen. Der Sieg im nationalen Kampf der Klassen bedeutete nicht den Sieg im internationalen Kampf der Klassen. Dieser gewann überhaupt erst eine Form nach dem Sieg des Kommunismus in ersten Ländern und brachte dem Kommunismus eine Dauerform des Drucks auf seine Revolution aus der kapitalistischen Umwelt - den Krieg, der kalt genannt, aber heiß verlief. Der Kommunismus mußte erwidern - mit ebenfalls einer Dauerform des Widerstands gegen diesen Druck. Verteidigung des Kommunismus gegen alle Arten des Antikommunismus - auch das wurde eine Erscheinungsform des Kommunismus.

Der Kommunismus widerstand aber auch Theorien des Unglaubens an die Revolution in den Reihen der Revolutionäre selbst, was deren Reihen einengte und Formen, die dem Klassenkampf gegen das Bürgertum entsprangen, in die eigene Klasse trug. Er widerstand der These, die erste Revolution habe nur den weiteren zu dienen, sie sei nur ein Mittel für das "Machen" anderer Revolutionen; die erste könne außer "Revolution" (Macht) zu sein nichts sein - der Trotzkismus verkannte die Kraft Rußlands. Der Kommunismus widerstand der These, der Kommunismus könne auch von einer anderen Klasse als der proletarischen ausgehen, bäuerlichen also, es könne auch Kommunismus durch Bauern geben - der Bucharinismus verkannte die Notwendigkeit der Klassenumwandlung von Bauern in Arbeiter in Rußland. Aus der Vorstellung - besser: Hoffnung - von einer einfachen Form des Aufbaus des Kommunismus wurde ein Wissen von deren wirklichen Wegen, aber auch wirklichen Schwierigkeiten.

Am schwierigsten erwies es sich, Wohlstand allgemein zu machen - die allgemeine, die verallgemeinernde Form ist die langsamste Form des ökonomischen Machens. Der reiche Kommunismus - kam nicht. Kam dadurch der Kommunismus nicht? Was ist Kommunismus, der noch nicht reich sein kann? Eine Frage nicht an die Kommunisten (die es immer sind), sondern durch das Volk, das erst im Kommunismus für den Kommunismus gewonnen werden kann. Eine Frage von theoretisch schon entwickelter Vorstellung vom Kommunismus und ökonomischer Realität am Beginn des Kommunismus, eine Frage von Höhe und Tiefe in einer proletarischen Revolution, wurde zur Frage eines Machtanspruchs im politischen Überbau des Kommunismus.

Der Kommunismus beginnt ja den Verhältnissen nach und den Verhältnissen nach allgemein, aber er beginnt zugleich auch "elitär" - dem Verständnis nach. Der Kommunismus wurde mit dem Problem eines Absolutistischwerdens der proletarischen Macht konfrontiert, einem scheinbaren Gegensatz von Partei und Volk, ja, von "führenden Genossen" und geführten Genossen - ein kein von vornherein erkanntes und nur schwer, im Grunde kaum überwundenes Problem des Kommunismus in seinem politischen Überbau. Den Perioden im Unterbau der Gesellschaft, in der Ökonomie - können ihnen nicht auch Perioden im politischen Überbau entsprechen? Es gibt Geschichte, an die man nur gerät, indem man sie macht. Das ist keine Entschuldigung, aber es handelt sich doch um eine Tatsache. Dem Kommunismus, auch ihm, sind Überraschungen eigen. Er lernt - von sich: Der Absolutismus (der Person, von Personen) verfiel der Kritik - wurde sein Erscheinen erklärt? Anders: Dass einem Absolutismus des Kommunismus kein Volk des Kommunismus entspricht, wurde behauptet. Was wahr, zeigt sich erst jetzt. Keine Kritik am Erscheinen einer absolutistischen Periode am Beginn des Aufbaus des Kommunismus darf an der Tatsache vorbei gehen, dass diese unter der Bedingung entstand, dass bereits das grundlegende ökonomische Verhältnis, das Eigentumsverhältnis zur Arbeit, hergestellt ist, so dass eine politische Entwicklung kritisiert werden muß, aber ihre ökonomische Grundlage, die sie mit allen Perioden des Kommunismus teilt (worin sie also keine besondere ökonomische Periode kennzeichnet), nicht.

Zwar wurde eine im Prinzip funktionierende Planwirtschaft aufgebaut, aber nicht erkannt, dass ihr Wesen von Anfang an mit der Überwindung der Warenproduktion einhergeht. Die Ökonomie der ersten Phase des Kommunismus blieb doppelt auslegbar, es entstand eine ambivalente Theorie vom weiteren Weg des Kommunismus zu seinen höheren Phasen. So konnte die Frage des Inhalts der Perioden beim Aufbau des Kommunismus nicht richtig bestimmt werden, der Beginn des Kommunismus blieb in seinen schon kommunistisch geprägten Faktoren unterbewertet bzw. sogar unerkannt. Der These der einheitlichen kommunistischen Gesellschaft, mit zwei Phasen im Nacheinander, wurde die These der ersten Phase des Kommunismus als einer eigenen Gesellschaftsordnung gegenübergestellt - und einem Kommunismus erst "nach dem Sozialismus". Der Kommunismus machte sich - klein. Die Unklarheiten über den weiteren ökonomischen Weg wirkten sich aus als Unfähigkeit, die Masse des Volkes zielbewusst zu führen; der Fortgang der sozialistischen Demokratisierung der Gesellschaft von den führenden Formen der Arbeiterklasse, ihrer politischen Partei, zu den allgemeinen Formen, dem arbeitenden Volk in seiner Gesamtheit, geriet ins Stocken. Führung nahm ein platonisches Gebaren an. Auch hier wieder zeigt sich, dass wirklich verstandene Revolution wirklich realisierte Revolution erst ist. - Von der politischen Führung ausgehend wurden Vorstellungen (Reformen, Reformabsichten) in die Gesellschaft getragen, eine sozial stärker differenzierte kommunistische Gesellschaft sei die bessere, zunächst zu machende und daher erst die richtige erste Form des Kommunismus - das war eine Annäherung an die soeben überwunden gedachte Klassengesellschaft aus dem Innern des Kommunismus heraus! Statt an die Revolution seiner Verhältnisse geriet der Kommunismus an die Reform der Verhältnisse seiner Revolution. Notwendig? Die Reform, plötzlich wichtiger, bedeutender als die Revolution selbst? So schnell, kaum dass angefangen?

Dem realen Kommunismus fehlte die Dauer, zur Klarheit über sich zu kommen. Es kam zur "sowjetischen Tragödie"...

Alle diese gemachten Aussagen über den Kommunismus in seiner bisherigen Existenz, so wahr wie widersprüchlich bis entgegengesetzt sie auch scheinen mögen, besitzen geschichtliche Gültigkeit, sind Aussagen, die man mit seiner Praxis verbinden kann, die seine Praxis sind. Ist der Marxismus richtig? Ja, der Marxismus hat den Kommunismus vorausgesagt, ja, der Kommunismus hat den Marxismus bestätigt. Im allgemeinen Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft sind die Prozesse so gelaufen, wie sie in den Bedingungen der modernen Geschichte angelegt sind.


III. Die sowjetische Herausforderung

Ist eine allgemeine Bilanz des Kommunismus im Großen und Ganzen auch eine positive, so hat der Kommunismus nach seiner schon 70jährigen Existenz dennoch hinnehmen müssen, dass die revolutionäre Geschichte seines Hauptlandes abgebrochen worden ist. Die höchste entwickelte Form des Kommunismus gibt es nicht mehr. Die höchste vom Kommunismus ausgehende Macht existiert nicht mehr. Das Ende der Sowjetunion kam unerwartet über den Kommunismus in seiner Gesamtheit. Das Land, das einer Bewegung überhaupt den notwendigen Ernst verlieh, steht zugleich für sein Gegenteil. Steht ein Land, das für Alles stand, auch für Nichts? Muß der Marxismus, allein aus sowjetisch-russischen Gründen, seine Kommunismus-Aussage revidieren?

Man sagt, das Mutterland des Kommunismus, die UdSSR, sei "zusammengebrochen". Dem Kommunismus wird die Frage gestellt, ob er, der Kommunismus (oder sie, die Sowjetunion), sich als Gesellschaftsordnung als zu schwach erwiesen hat - zu schwach, an sich Gesellschaft zu sein, zu schwach, dem Kapitalismus Konkurrent zu sein. Ihm kann aber auch die Frage gestellt werden, ob sich des Kommunismus eine bis dato unbekannte Moral, eine bis dato nicht bekannte "Ideologie" bemächtigt hat, ein so genanntes Neues Denken, das Anlass zum Abbruch des Kommunismus als Gesellschaftsordnung wurde - mindestens der Sowjetunion Anlass war, sie abzubrechen? Wäre das eine, die oben genannte Unklarheit über die ökonomische Grundlage, ein objektiver, eben ein ökonomischer Grund, so das andere, jetzt genannte, ein subjektiver, ein politischer, ein ideologischer Grund, ein Grund, sagen wir, in den auch das Kräfteverhältnis von Kommunismus und Kapitalismus hereinspielt.

Beide Fragen erheischen eine Beantwortung und wir beantworten sie so: Der Kommunismus hat sich nicht als eine Gesellschaftsordnung erwiesen, die an Schwäche litt und wegen dieser Schwäche abgebrochen werden mußte, aber sie geriet an einen Moralismus der besonderen Art, der einer Mehrheit der Führung der Sowjetunion der Anlass wurde, den kommunistischen Charakter der Gesellschaftsordnung in der Sowjetunion, und damit die Sowjetunion zu beenden und das Land in eine eigene, russische Form des Kapitalismus zurückzuführen. So dass für Rußland der Kapitalismus wieder hergestellt wurde, aber ein Kapitalismus mit zwiespältiger Natur. Was war Grundlage eines solchen Moralismus? Nun, die sowjetische Führung sagte es: die Gefahr eines möglichen mit Atomwaffen geführten Krieges zwischen den USA und der Sowjetunion, dem die letzte sowjetische Politik darin begegnete, dass sie den gesellschaftlichen Grund, einen solchen Krieg mit diesen Waffen zu führen, aufhob. Sie opferte ihre gesellschaftliche Ordnung.

Ein solcher Grund, wenn es denn der entsprechende war, ist schwer von einer Geschichtsauffassung zu verarbeiten, deren ganzes Sinnen und Trachten auf die Lösung eines gesellschaftlichen Ordnungswiderspruchs gerichtet ist.

Wie hat sich der Marxismus bzw. Kommunismus zur Entwicklung der Sowjetunion, jener neuen Moral zu verhalten, die dem Gesellschaftswechsel zugrunde lag? - Er bezieht diese neue Erscheinung in der Geschichte der Menschen in seine theoretischen Analysen ein, d.h. er behandelt sie als Tatsache, als neue Form der politischen Realität, die nach den gleichen Kriterien zu beurteilen ist wie andere Geschichte auch. Er wird sie natürlich mit besonderer Aufmerksamkeit behandeln, denn sie brachte eine Überraschung für ihn. Moral, die über die bisher einfache kommunistische Moral - wonach die proletarische Revolution, wie jede Revolution vor ihr, auch mit der Methode und Mitteln der Gewalt, in einem Wort: militärisch zu verteidigen ist - hinauszugehen scheint, sich allem Anschein nach außerhalb dieser einfachen Moral bewegt. Wenn es gegen ein Mittel des Angriffs angeblich kein Mittel der Verteidigung gibt, ist das der Grenzfall für die Methode der Gewalt? Und/Aber: Wer triumphiert letzten Endes? Wenn dies neue, absolute Bedingung ist für alles was Gesellschaft ist, was ist, was kann dann noch Kommunismus sein? Folgt, muß folgen eine Umstellung des gesamten bisherigen Kampfes en general?

Es gibt Antworten, die Fragen aufwerfen, die noch nicht beantwortet werden können. Belassen wir es damit für's erste. Letzte Antworten sind auch dem Marxismus nicht eigen. Es ist ein Prozess eröffnet worden, in dem nicht das erste, sondern erst das letzte Schicksal der Sowjetunion/Rußlands unsere Fragen beantworten wird.

Wir konstatieren, dass Rußland den Kommunismus aufgegeben hat, die atomaren Waffen, deren Einsatz das Leben auf der Erde vernichtet hätte, nicht. Mindestens in einer Hinsicht ist ein Schritt getan worden, ohne dass wir einen Schritt weiter sind. Wenn das neue Denken eine Schicksalsfrage der Menschheit auf neue Weise stellt, dann ist sie zur Hälfte Frage geblieben. Es bleibt immer die andere Hälfte der Frage offen: Ändert sich die andere Gesellschaft auch, oder gibt sie ihren Charakter gar genauso auf wie der Kommunismus in der Sowjetunion? Ist denn der Kapitalismus friedlich geworden, oder: ist denn der Kapitalismus zum allgemeinen Frieden bereit oder fähig? - So muß in jedem Falle ein Kampf gegen den Kapitalismus weitergehen. Eine Delegierung der Moral vom Kommunismus auf den Kapitalismus fand nicht statt (und kann ja selbstverständlich auch gar nicht stattfinden).

Rußland ist wieder "alt", aber es wird sich verändern. Russland steht vor der Tatsache, seine gesellschaftliche Geschichte wiederholen zu müssen. Ökonomisch ist das jetzige Rußland entwickelter Staatkapitalismus, politisch ein um sein Selbstbestimmungsrecht kämpfender Staat. Ökonomisch sucht Rußland einen Konsens zu den entwickelten kapitalistischen Staaten, politisch steht es - schwankend - an der Seite der anderen um ihr Selbstbestimmungsrecht kämpfenden Völker wie Staaten.

Bei der Bewertung der sowjetisch-russischen Geschichte hat der Marxismus davon auszugehen, dass er eine bürgerliche Restauration, die eine kommunistische Gesellschaft trifft, als einen sich in die Länge ziehenden Prozess zu begreifen hat; sie ist nicht fertig. Konterrevolution zieht sich hin. Erstmals in der Geschichte ist für den Kapitalismus die Situation entstanden, es mit einem Volk zu tun zu haben, das schon im Kommunismus gelebt hat, und nun den Kapitalismus nicht nur am Kapitalismus misst, sondern auch am Kommunismus, also auf doppelte Weise gesellschaftlich misst.

Der antikapitalistische Kampf hat mit dem Gesellschaftswechsel Rußlands aber nicht geendet, er hat tiefe Einbrüche in Formen seiner Wirksamkeit hinnehmen müssen. Es haben ja trotz des Ausscheidens des sowjetischen Rußlands aus der Phalanx der schon kommunistischen Staaten nicht alle kommunistischen Staaten geendet, die staatliche, die gesellschaftliche Existenz des Kommunismus geht weiter, wenn auch nicht mehr in ihrer höchsten gesellschaftlichen Form; es sind an die Existenz des Kapitalismus angepasste Formen des kommunistischen Verhaltens entstanden. Das ist sogar vom letzten maßgeblichen Land mit kommunistischer Revolution, China, zu sagen. Aber die kommunistische Bewegung in ihrer allgemeinsten Form, der von Parteien in allen Ländern, darunter auch den entwickeltsten kapitalistischen Ländern der Welt, geht weiter; es kommt darauf an dafür zu sorgen, dass sie ungebrochen weitergeht.

Wir konstatieren: Die sowjetische Herausforderung ist für den Kommunismus keine dauerhafte, und die Herausforderung durch das Neue Denken ist überhaupt keine. Das Anliegen des Neuen Denkens teilt der Marxismus/Kommunismus unter jeder gesellschaftlichen Bedingung.


IV. Die kapitalistische Herausforderung

Den Grund dafür, dass der kommunistische Gedanke unvermindert weitergeht, sehen wir darin, dass die Widersprüche des Kapitalismus weitergehen, dass insbesondere die von seiner imperialistischen entfalteten Form ausgelösten besonderen Widersprüche eine neue Zuspitzung erfahren. Nicht nur der Kommunismus reagierte auf den Kapitalismus, auch der Kapitalismus reagiert auf den Kommunismus; er konnte in Folge des Abbruchs des Kommunismus in der Sowjetunion zu neuer geschichtlicher Initiative auflaufen.

Er hat den Platz auf der Welt bestimmt, wo der künftige große, und wohl auch letzte Kampf um die absolute Weltgeltung des Kapitalismus umgesetzt werden soll: Zentralasien, der Orient. Nach der Devise: entweder hier siegen oder niemals siegen, erfüllt sich das Schicksal der kapitalistischen Form der Gesellschaft. Wird der Kapitalismus siegen? Nein, er wird verlieren.

Der zentralasiatisch-orientalische Raum ist der Raum, der geographisch gesehen unmittelbar an China und an Rußland, an ein noch bestehendes und an ein einst bestandenes kommunistisches Land angrenzt. Er hat die größte strategische Bedeutung für die geschichtliche Zukunft Chinas und Rußlands, d.h. auch des neuen (oder "neuen") Rußlands. Und China und Rußland haben die größte Bedeutung dafür, wohin sich die Waage des Kapitalismus neigt: zu einer Form der fragilen Gleichgewichtigkeit unterschiedlichen Kapitalismus plus kommunistischer Länder, oder zu einem monopolartig auf den USA-Imperialismus sich ausrichtenden Kapitalismus ohne kommunistische Länder. Und entschieden wird "am Hindukusch".

Dem vom äußeren Kapitalismus erzeugten Aufruhr des Orients entspricht/kommt entgegen ein von innen her sich erzeugender Aufruhr. In einem viel höheren Sinne als bei jedem bisher um seine Selbstbestimmung kämpfenden Volk ergibt sich für die Völker des Orients die Aufgabe einer doppelten, zur gleichen Zeit ablaufenden Revolution: Die "Revolution" durch Fremdbestimmung zurückzuweisen bei Durchführung einer inneren, durch eigene Interessen bestimmten Revolution, darunter eine der sozialen Form, die Traditionen des Orients nicht verleugnet.

Gefragt ist ein Revolutionstheorie für den Orient. Der Orient, Zentralasien, steht vor einem Balanceakt zwischen Selbstbestimmung und Fremdherrschaft: Wir vertrauen den intellektuellen Kräften des Orients, den eigenen Weg zum Fortschritt zu finden.

Es kommt in der Geschichte immer wieder zu Situationen, wo alles von einer Region, einem Volk abhängt. Nur wenn diese Region, dieses Volk, die Völker dieser Region, richtig reagieren, kommt ein Fortschritt für die ganze Welt heraus. Wenn nicht - ist die Sache nicht ein für alle Mal vertan, aber es kommt ein Umweg, eine Verzögerung heraus, und die Menschheit muß einem neuen Punkt entgegenfiebern, an dem sich der neuralgische Knoten knüpft. Dieses Mal ist es der Orient, dessen Stunde gekommen; die Schuld liegt nicht beim Orient selber, sie liegt bei den - USA. Die USA treiben die Geschichte des Orients voran! Woraufhin, auf welche Geschichte, auf Geschichte welchen Interesses hin? Auf Geschichte des Orients? Mitnichten. Der Orient bildet zufällig die Südflanke zu Rußland und ist die Westflanke zu China. Der Kapitalismus (denn die Nato ist "mit im Boot") sucht den Kontakt zu den Grenzen jener Länder, die den anderen Völkern der Welt - noch immer - den anderen Weg zeigen. Sie sind, trotz der früheren Einheit und des heutigen Unterschieds, die Garanten für eine Gleichheit - nicht in der Gesellschaftsform, aber doch in der Teilhabe an einem allgemeinen Fortschritt der Menschheit. Und der Orient ist frei - sowohl für das eine als auch für das andere. Die USA haben zur Zeit nur eine Strategie: die Politik Rußlands und Chinas unter ihre Kontrolle zu bringen, und der Orient ist der räumliche Schlüssel zum Erfolg dieser Strategie. Aber der Orient muß nicht Rußland und China verteidigen, sondern sich.

Der Kapitalismus, allen anderen voran der Kapitalismus der USA, nutzt die ambivalente gesellschaftlich-geschichtliche Situation der Länder dieser Region aus. Er setzt alle Mittel des Imperialismus ein, um hier zu Einfluß zu gelangen und sein Interesse durchzusetzen, darunter das äußerste politische Mittel: das militärische. Er erfand einen Grund für dieses militärische Mittel: eine terroristische Bedrohung der "westlichen Welt" durch diesen Raum, aus diesem Raum heraus. Die Sache wird so dargestellt, als müsse man den Orient vor dem Orient schützen. Als müsse man immer "vor Ort" erscheinen, um jemanden zu schützen. Wie sich der Imperialismus doch wiederholt, noch immer, noch immer wieder. - An welche gesellschaftliche Macht die Völker dieses Raumes geraten, entscheidet darüber, ob der Kapitalismus sein Endziel erreicht - Weltgeltung des Kapitalismus, oder ob sich das Selbstbestimmungsrecht der Völker - und letztlich damit der Kommunismus - doch als stärker erweist als der Imperialismus.

Wir konstatieren: Statt nur mit dem Abbruch des Kommunismus im Osten Europas, statt also nur mit dem Kommunismus beschäftigt zu sein, müssen wir uns auch mit einem neuen Aufbruch des Kapitalismus befassen, der wohl Folge jedes Zurückweichens des Kommunismus aus der Geschichte ist.


V. Der Marxismus ist gefragt ...

Der Marxismus weltweit ist gefragt, für diese tiefen Veränderungen in den Formen der Existenz des Kommunismus die richtige Antwort zu finden. Die Entwicklung der marxistischen Theorie wird zum Hauptanliegen einer höheren Form des praktischen Kampfes des Kommunismus und ist der nächste Gegenstand einer kommunistischen Initiative im Weltmaßstab. Um die Theorie des Kommunismus muß jetzt gerungen werden wie einst um die Praxis des Kommunismus. Sie muß - dies einerseits - verteidigt werden, sie muß - dies andererseits - weitergehender bis neu (aber nicht erneuert!) begründet werden.

Es mag nach 70 Jahren Existenz der kommunistischen Gesellschaftsordnung überraschen, dass es dennoch keine entwickelte Kommunismustheorie gibt - sonst wären ja die Fragen längst beantwortet. Es gibt, wie schon gesagt, Prämissen, eine Reihe von Oberbegriffen dessen, was Kommunismus sein muß - abgeleitet aus den Widersprüchen des Kapitalismus -, und sie haben große Denker zu ihrer Voraussetzung, aber was es letztlich doch nicht gibt, ist eine Konfrontation dieser Prämissen mit den vom entwickeltsten Kommunismus vorgestellten Praktiken und einer Theorie ausgehend von diesen Praktiken. So dass es noch immer die alten theoretischen Prämissen gibt - die inzwischen verschieden theoretisch ausgelegt werden (es ist, als böte Marx die Ausdeutung zu vielen Kommunismen, manche tun sogar so, als sei der praktizierte im Gegensatz zu seinen Prämissen entstanden), aber was es eben nicht gibt, ist eine Kommunismustheorie, die von dieser Praxis auch ausgeht, die ihr Maß in der Praxis des Kommunismus hat.

Hermann Jacobs, Berlin

Fortsetzung im nächsten Heft (d.Red.)


Anmerkung

(3) Damaliger Standard. Heutigen Ansprüchen nach würde das England des 19. Jahrhunderts dem Begriff "kapitalistisch entwickelt" nicht mehr genügen.

Raute

KLIMAGIPFEL IN KOPENHAGEN

Evo Morales: "Unsere Völker erwarten Ergebnisse"

Rede des Präsidenten Boliviens, Evo Morales, auf dem XV. UNO-Gipfeltreffen über den Klimawandel, Kopenhagen, Dänemark, 17. Dezember 2009

Zunächst möchten wir unserem Unmut über die mangelnde Organisation und die Verzögerungen Ausdruck verleihen, die auf dieser internationalen Konferenz herrschen. Dabei erfordert unsere Verantwortlichkeit, mit großer Effektivität vorzugehen. Unsere Völker erwarten Ergebnisse, die dazu dienen, das Leben, die Menschheit und den Planeten Erde zu retten.

Als wir wegen dieser Debatten gefragt haben, welche Probleme die Gastgeber aufhalten, verwies man uns an die Vereinten Nationen. Als wir nach den Problemen bei den Vereinten Nationen fragten, sagte man uns, dass Dänemark zuständig sei. So wissen wir nicht, wer eigentlich diese internationale Veranstaltung organisiert. All dies geschieht, während die ganze Welt von den Staatschefs eine Lösung erwartet, einen Lösungsvorschlag zur Rettung des Lebens.

Deshalb möchte ich auf sehr aufrichtige, ehrliche und verantwortungsvolle Weise unsere enorme Besorgnis über die hier herrschende Desorganisation zum Ausdruck bringen.

Nachdem ich einige Beiträge von Präsidenten aus der ganzen Welt gehört habe, bin ich überrascht. Sie haben nur die Auswirkungen und nicht die Gründe des Klimawandels behandelt. Es tut mir sehr leid sagen zu müssen, dass wir offenbar aus Feigheit nicht die Gründe für die Umweltzerstörung auf dem Planeten Erde berühren möchten.

Deswegen möchten wir von dieser Stelle aus bekräftigen, dass die Ursachen im Kapitalismus liegen. Wenn wir nicht feststellen, wovon die Zerstörung der Umwelt und folglich des Lebens und der Menschheit ausgeht, werden wir dieses Problem, das alle und nicht nur einen Kontinent, nur eine Nation, nur eine Region angeht, sicherlich niemals lösen können.

Deshalb ist es unsere Pflicht, die Gründe für den Klimawandel auszumachen, und ich möchte Ihnen aus der Verantwortung gegenüber meinem Volk und der Weltbevölkerung sagen, dass die Ursachen für all dies im Kapitalismus begründet sind.

Selbstverständlich haben wir von Präsident zu Präsident, von Regierung zu Regierung tief greifende Differenzen. Worin aber liegen diese Differenzen? Wir haben zwei verschiedene Lebensweisen. Es stehen zwei verschiedene Lebenskulturen zur Debatte: die Kultur des Lebens und die Kultur des Todes.

Die Kultur des Todes, das ist der Kapitalismus oder, wie wir als indigene Völker sagen, die Kultur des Lebens auf Kosten des Anderen; und die Kultur des Lebens aber, das ist der Sozialismus, das gute Leben.

Was sind die Unterschiede? Auf der einen Seite steht das Leben auf Kosten anderer, in Ausplünderung der natürlichen Ressourcen, in der Vergewaltigung der Mutter Erde, in der Privatisierung der grundlegenden Dienstleistungen. Hingegen bedeutet das gute Leben ein Leben in Solidarität, in Gleichheit, in Ergänzung. In wissenschaftlichen Begriffen, aus marxistischer, aus leninistischer Sicht heißt dies: Kapitalismus und Sozialismus (...).

Diese beiden Lebenskulturen stehen zur Debatte, wenn wir vom Klimawandel reden. Und wenn wir keine Entscheidung darüber treffen, was die bessere Lebensart ist, werden wir dieses Thema sicherlich niemals lösen. In der Tat haben wir Probleme mit der Lebensart, mit dem Luxus, mit dem Konsumismus, der der Menschheit Schaden zufügt. Wir fürchten uns bei dieser Art internationaler Veranstaltungen davor, diese Wahrheit auszusprechen.

Seit Beginn meiner Aktivitäten in der UNO bin ich sehr darüber besorgt, dass es offensichtlich keine Präsidenten gibt, die diese Wahrheit aussprechen. Alle lamentieren über den Klimawandel - aber niemand protestiert gegen den Kapitalismus, gegen den übelsten Feind der Menschheit. Wenn der Kapitalismus der schlimmste Feind der Menschheit ist, und man sagt das nicht, obwohl man es weiß, dann belügen die Staatschefs das bolivianische Volk. (...)

Hoffentlich können einige der Präsidenten des kapitalistischen Systems unsere Verfassung des bolivianischen Staates durchlesen. Glücklicherweise konnten wir diese Verfassung, wenn auch unter großen Mühen, verabschieden. Darin sind die Prinzipien des ama su a, ama llulla, ama q'ella (Quechua-Sprache, d. Red.) enthalten: das Nichtstehlen, Nichtlügen und Nichtfaulsein. Diesen Prinzipien zu folgen heißt, dem Volke zu dienen, den Völkern der Welt, den Völkern in Bolivien.

Ich bedauere es sehr, dass, während ich von diesem Pult aus spreche, die Leute hinausgeschickt werden und ich vor leeren Sitzen reden muss. Ich frage mich, was wohl passiert ist, bevor wir hier eingetroffen sind. (...) Aber wir werden noch die Möglichkeit haben, uns auf anderen internationalen Foren bei den sozialen Bewegungen Gehör zu verschaffen. Hier kann man uns sabotieren. Doch es ist egal, ob man die Leute hier hinaus schickt, damit sie uns nicht zuhören. (...)

Wenn das unsere tiefen ideologischen, programmatischen, kulturellen Differenzen sind, dann komme ich zu der Schlussfolgerung, liebe Präsidenten und hier anwesende Delegationen, dass es in diesem Jahrtausend wichtiger ist, die Rechte der Mutter Erde zu verteidigen als die Menschenrechte.

Die Erde oder der Planet Erde oder die Mutter Erde oder die Natur existiert und wird auch ohne die Menschen existieren. Aber der Mensch kann nicht ohne den Planeten Erde existieren. Von daher ist es unsere Pflicht, das Recht der Mutter Erde zu schützen. Den Planeten Erde zu verteidigen, ist wichtiger als die Menschenrechte zu verteidigen. (...) Wenn es keinen Planeten Erde mehr gibt, wenn dieser zerstört wird, was nützen dann die Menschenrechte (...)?

Ich begrüße es, dass die Vereinten Nationen in diesem Jahr endlich den Internationalen Tag der Mutter Erde ausgerufen haben. Die Erde ist unsere Mutter, die Mutter ist etwas Heiliges, die Mutter bedeutet unser Leben. Die Mutter wird nicht vermietet, wird nicht verkauft, wird nicht vergewaltigt, sie muss respektiert werden. Die Mutter Erde ist unsere Heimstatt. Wenn die Mutter Erde all dies ist, wie kann es dann eine Politik der Zerstörung der Mutter Erde geben, der Vermarktung der Mutter Erde? Wir haben tief greifende Differenzen zum westlichen Modell. Dies steht im Augenblick zur Debatte.

Und deshalb möchte ich Ihnen, liebe Präsidenten, sagen, haben wir die Verpflichtung, die Mutter Erde vom Kapitalismus zu befreien, der Versklavung der Mutter Erde ein Ende zu bereiten (...).

Wenn wir die Versklavung der Mutter Erde nicht beenden, werden wir die Fragen des Lebens, der Menschheit, des Planeten niemals lösen können.

Natürlich haben wir, wie ich wiederholen möchte, tief greifende Differenzen mit dem Westen. Ich nutze diese Gelegenheit daher auch, zu unterstreichen, dass es jetzt so wichtig wie nie zuvor ist, das Thema der Klimaschuld zu erörtern.

Die Klimaschulden betreffen nicht nur ökonomische Ressourcen, sondern auch unser vorrangiges Vorhaben: die Suche nach dem Ausgleich zwischen dem Menschen und der Natur, der Mutter Erde. Es geht um die Wiederherstellung dieses Gleichgewichtes, es geht darum, das Gleichgewicht innerhalb der Gesellschaft wieder herzustellen, die diese Welt bewohnt.

Ich bin hier in Europa, und wie Sie wissen, leben viele bolivianische Familien, lateinamerikanische Familien, in Europa. Sie sind hierher gekommen, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern. In Bolivien könnten sie 100 bis 200 US-Dollar im Monat verdienen. Eine Person kommt hierher, um zum Beispiel einen europäischen Großvater oder eine europäische Großmutter zu pflegen, und verdient 1000 Euro im Monat. Das sind Asymmetrien, die wir von Kontinent zu Kontinent haben, und die wir zu diskutieren gezwungen sind. Wir müssen darüber sprechen, wie ein gewisses Gleichgewicht zu erreichen ist, wie man diese tiefen Asymmetrien von Familie zu Familie, von Land zu Land und besonders von Kontinent zu Kontinent verringern und abbauen kann.

Wenn aber unsere Familien hierher kommen, wenn unsere Schwestern und Brüder kommen, um zu überleben oder um ihre Lebensbedingungen zu verbessern, dann werden sie ausgewiesen. Sie bekommen dann Dokumente, die vom Europäischen Parlament "Rückkehrpapiere" genannt werden. Als die Großeltern der Europäer nach Lateinamerika gekommen sind, wurden sie niemals ausgewiesen.

Meine Brüder kommen auch nicht hierher, um Bergwerke oder tausende Hektar Land zu vereinnahmen, um zu Großgrundbesitzern zu werden. Früher hat es weder Visa noch Reisepässe gegeben, um nach Abya Yala zu kommen, das heute "Amerika" genannt wird. (...) [Beifall]

Nun reden wir hier also über tief greifende Lösungen, tief greifend und historisch. Dabei möchte ich das Thema der Schulden ansprechen, über die Anerkennung des Rechtes der Mutter Erde. Wenn wir das Recht der Mutter Erde nicht anerkennen, dann werden wir vergebens über zehn Milliarden, über 100 Milliarden (US-Dollar für einen Klimafonds, d. Red.) reden, was eine Beleidigung für die Menschheit darstellt.

Wie gibt man der Mutter Erde ihr Recht zurück? Stellen Sie sich vor, im vergangenen Jahrhundert, vor 70 Jahren, da hatten die Vereinten Nationen gerade erst das Recht des Menschen erklärt, die Universelle Erklärung der Menschenrechte. Davor gab es also keine Menschenrechte.

Den indigenen Völkern wurden gerade erst vor drei Jahren ihre Rechte zuerkannt, und nun sehen wir uns in diesem Jahrtausend dazu gezwungen, die Rechte der Mutter Erde zu debattieren. Wenn wir das Recht der Mutter Erde nicht anerkennen, werden wir alle für die Folgen sein verantwortlich. (...)

Eine zweite Komponente ist die Rückgabe der Atmosphäre an die Entwicklungsländer, die die reichen Länder bzw. die Industrieländer mit ihren Treibhausgasen verschmutzt haben. Um diese Emissionsschuld zu bezahlen, müssen sie ihre Treibhausgase reduzieren und abfangen, sodass sich eine gerechte Aufteilung der Atmosphäre unter allen Ländern unter Berücksichtigung ihrer Bevölkerungszahl ergibt. Wir, die wir uns auf dem Weg der Entwicklung befinden, bedürfen dieser Ressourcen zur Entwicklung unserer Regionen.

Eine dritte Komponente ist natürlich die Beseitigung der gegenwärtigen und zukünftigen Schäden, die durch den Klimawechsel angerichtet werden. Diejenigen oder die Systeme, die dabei sind, die Umwelt und die Mutter Erde zu zerstören, haben die Verpflichtung, diese Schäden wiedergutzumachen.

Wegen dieser Schäden, das ist unser Vorschlag, müssen die reichen Länder alle Migranten aufnehmen, die vom Klimawandel betroffen sind. Sie dürfen sie nicht wieder wegschicken, zurück in ihre Länder, so wie sie das zurzeit tun, weil es schließlich die westlichen Länder sind, die die Verantwortung für diesen Klimawandel tragen.

Liebe Präsidentinnen und Präsidenten: Es ist unsere Verpflichtung, die ganze Menschheit zu retten und nicht nur die Hälfte der Menschheit. Das Ziel muss sein, den Temperaturanstieg so weit zu senken, um zu verhindern, dass viele Inseln verschwinden, dass Afrika einen klimatischen Holocaust erleidet, und dafür zu sorgen, dass unsere Gletscher und unsere geheiligten Seen nicht verschwinden. Die Reduzierung der Treibhausgase muss in den entwickelten Ländern realistisch umgesetzt werden. (...)

Ich möchte diese Gelegenheit dazu nutzen, um einen neuen Ansatz zu unterbreiten. Ich bin vorgestern Abend hier angekommen und habe von unseren Compañeros von der Staatskanzlei und unseren Botschaftern die Einschätzung gehört, dass es kein Abkommen geben wird. Da wir tief gehende Differenzen in unseren Lebensformen haben, wird es bei dieser Art von Versammlungen niemals irgendwelche Abkommen geben (...). Ich grüße von hier aus Amerika, den Kontinent Amerika, wo wir Dank der Völker und einiger Präsidenten mit der permanenten Ausplünderung Schluss gemacht haben, die vom nordamerikanischen Imperialismus ausgeht.

Mein Respekt gilt Fidel, gilt Hugo Chávez, den sozialen Bewegungen, die Jahre zuvor dem ALCA-Projekt, der Gesamtamerikanischen Freihandelszone Einhalt geboten haben. Ich habe dazu stets nicht Amerikanische Freihandelszone, sondern Amerikanische Freikolonisierungszone gesagt (...). [Beifall]

Wenn wir aus wirtschaftlicher Sicht über die ALCA sprechen, dann habe ich sie ALGA genannt, Area Libre de Ganancias de las Américas (Freie Profitzone Amerikas). [Beifall]

Dank der Kraft der Völker haben wir diese Projekte abgeschmettert. Hier möchte ich Ihnen sagen: Nur mit dem Kampf des Volkes, dem Kampf der Völker der Welt, werden wir den Kapitalismus stürzen, um die Menschheit zu retten.

Da wir uns hier nicht einigen können und es keine Abkommen gibt, möchte ich Sie darum bitten, von den Vereinten Nationen aus eine Lösungsmöglichkeit zu diskutieren, die nicht von den Staatschefs ausgeht, sondern von den Völkern der Welt: ein weltweites Referendum über den Klimawandel. Lassen Sie uns die Völker befragen, lassen Sie uns hören, was unsere Völker sagen. Was die Völker sagen, das sollte in verbindlicher Weise in allen Ländern der Welt respektiert werden. Auf diese Weise werden wir schließlich zu Lösungen kommen, obgleich wir tief greifenden Differenzen von Präsident zu Präsident, von Kontinent zu Kontinent gegenüber stehen, ganz besonders mit den Ländern des Kapitalismus.

Und ich möchte hier fünf Fragen aufwerfen, damit die Vereinten Nationen vom Verhandlungstisch aus die Befragung der Völker der Welt über den Klimawandel einleiten können.

Die Fragen für das weltweite Referendum über den Klimawandel lauten:

- Erstens: Sind Sie damit einverstanden, unter Anerkennung der Rechte der Mutter Erde die Harmonie mit der Natur wieder herzustellen? (...)
- Zweitens: Sind Sie damit einverstanden, das System des übermäßigen Konsums und der Verschwendung zu ändern, welches
 im kapitalistischen System begründet ist? (...)
- Drittens: Sind Sie damit einverstanden, dass die entwickelten Länder ihre Treibhausgasemissionen reduzieren und abfangen,
 damit die Temperatur nicht um mehr als ein Grad Celsius ansteigt? (...)
- Viertens: Sind Sie damit einverstanden, alles, was für Kriege ausgegeben wird, umzuwidmen und einem Etat gegen den Klimawandel
 zuzuweisen, der höher ist als der Etat für Verteidigung? (...)

Ich kann einfach nicht verstehen, wie es möglich ist, dass einige Länder wie die USA massenweise Gelder dafür ausgeben, um zu töten, und zugleich kein Geld dafür da ist, um Leben zu retten. Das sind zwei Kulturen: die Kultur des Todes und die Kultur des Lebens. Und ich kann einfach nicht verstehen, dass die USA Ausgaben einplanen, um mehr und mehr Truppen zu mobilisieren, die dann Menschen töten. Selbstverständlich hat jedes Land das Recht, sich zu verteidigen. Das aber geschieht im eigenen Land. (...) Doch diese Art, Truppen nach Afghanistan und in den Irak zu schicken, Militärbasen in Südamerika, in Lateinamerika zu unterhalten, ist die beste Form der Unterstützung von Staatsterrorismus. Anstatt Gelder auszugeben für Staatsterrorismus, sollten wir lieber Geld ausgeben, um Leben zu retten, um den Planeten Erde zu retten. [Beifall]

Und als fünften Punkt, als letzte Frage, die wir uns stellen sollten, einen Vorschlag zur Diskussion unter Präsidenten, den wir natürlich noch verbessern können:

- Sind Sie mit einem Tribunal für Klimagerechtigkeit einverstanden, um diejenigen zur Verantwortung zu ziehen, die die Mutter Erde zerstören? [Beifall]

Ich habe also bereits eine Stimme dafür abgegeben. Nun, liebe Präsidenten, möchte ich diesen Vorschlag hier vorstellen. Wir müssen uns entscheiden und es ist unser Vorschlag, dieses Tribunal für Klimagerechtigkeit bei der UNO einzurichten, ein Tribunal, das über jene ein Urteil fällt, die die Umwelt zerstören, über diejenigen, die zum Beispiel den Kyoto-Vertrag nicht respektieren.

Es ist höchste Zeit, diese schwierige Aufgabe anzugehen, um das Leben und die Menschheit zu verteidigen. (...)

Evo Morales, Kopenhagen; Übersetzung: Klaus E. Lehmann (amerika21.de)

Raute

Hugo Chavez: "Der Kapitalismus ist der Weg ins Verderben"

Rede des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez auf dem XV. UNO-Gipfeltreffen über den Klimawandel, Kopenhagen, Dänemark, 16. Dezember 2009

Herr Präsident, meine Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde, ich verspreche Ihnen, dass ich nicht länger reden werde als derjenige, der hier heute Nachmittag am längsten gesprochen hat. Erlauben Sie mir einen Kommentar zu Beginn, den ich gerne zum vorangegangenen Tagesordnungspunkt gemacht hätte, der von den Delegationen Brasiliens, Chinas, Indiens und Boliviens wahrgenommen worden ist. Wir waren auch da und haben um das Wort gebeten, aber es war nicht möglich, an die Reihe zu kommen. Die Vertreterin von Bolivien hat gesagt... - Grüße bei dieser Gelegenheit natürlich an den Compañero Evo Morales, der auch hier anwesend ist, den Präsidenten der Republik Bolivien... - [Beifall]

­... sie sagte unter anderem das Folgende, beachten Sie dies, sie sagte: Der vorgelegte Text ist nicht demokratisch, er bezieht nicht alle mit ein. Ich war gerade erst angekommen. Wir setzten uns gerade, als wir die Präsidentin der vorherigen Sitzung, die Ministerin, sagen hörten, dass ein Dokument aufgetaucht sei, das keiner kennt. Ich habe nach dem Dokument gefragt, wir haben es noch nicht vorliegen. Ich glaube, niemand hier weiß etwas von diesem Top-Secret-Dokument.

Nun ist das gewiss nicht demokratisch, die bolivianische Genossin hat es gesagt, es bezieht nicht alle mit ein. Also, meine Damen und Herren, ist das vielleicht nicht die Realität dieser Welt? Befinden wir uns etwa in einer demokratischen Welt? Bezieht denn etwa das weltweite System alle mit ein? Können wir denn überhaupt etwas Demokratisches vom gegenwärtigen weltweiten System erwarten?

Was wir auf diesem Planeten erleben, ist doch eine imperiale Diktatur. Deswegen erklären wir von diesem Platz aus: Nieder mit der imperialen Diktatur! Es leben die Völker und die Demokratie und die Gleichheit auf diesem Planeten! [Beifall]

Was wir hier sehen, spiegelt genau dies wieder: den Ausschluss. Es gibt eine Gruppe von Ländern, die sich für überlegen halten, gegenüber uns, die wir aus dem Süden sind, uns, die wir aus der Dritten Welt sind, die wir unterentwickelt sind, oder wie unser großer Freund Eduardo Galeano sagt: Wir sind die abgewickelten, die überfahrenen Länder, als ob uns ein Zug der Geschichte überrollt hätte.

Wir sind also nicht gerade erstaunt, nicht verwundert darüber, dass es keine Demokratie gibt auf der Welt und so sehen wir uns einmal mehr einer offensichtlichen weltweiten, imperialen Diktatur gegenüber.

Später sind zwei junge Leute hier heraufgekommen. Glücklicherweise haben sich die Ordnungsbeamten zurückgehalten. Sie haben sie nur ein bisschen geschubst und die beiden haben sich gefügt, oder? Dort draußen sind eine Menge Leute, wissen Sie? Klar, die passen nicht alle hier in den Saal, so viele Leute. Ich habe in der Presse gelesen, dass es einige Verhaftungen gegeben hat, einige heftige Proteste dort in den Straßen von Kopenhagen und ich möchte all diese Menschen da draußen grüßen, zumeist junge Leute. [Beifall]

Sicher, es sind die jungen Leute, die sich Sorgen machen. Ich glaube, sie machen sich zu Recht viel mehr Sorgen um die Zukunft der Welt als wir. Wir hier - wenigstens die meisten von uns, die hier sind - wir haben die Sonne ja schon im Rücken, während sie die Sonne noch von vorne sehen und sehr besorgt sind. Man könnte sagen, Herr Präsident, dass ein Gespenst umgeht in Kopenhagen, um es mit Karl Marx auszudrücken, dem großen Karl Marx, ein Gespenst geht durch die Straßen von Kopenhagen und ich glaube, dass dieses Gespenst im Stillen auch durch diesen Saal geht. Es läuft hier herum, mitten unter uns, es schleicht durch die Gänge, schlüpft unten durch, steigt wieder hoch. Dieses Gespenst ist ein schreckliches Gespenst, das fast niemand beim Namen nennen will: Der Kapitalismus ist dieses Gespenst, das fast niemand beim Namen will. [Beifall]

Hier ist der Kapitalismus. Und dort begehren die Völker auf, dort draußen kann man sie hören.

Ich habe einige von den Parolen gelesen, die auf den Straßen zu sehen sind. Ich glaube, das sind die Parolen von diesen jungen Leuten. Ein paar davon habe ich gehört, als vorhin der Junge und das Mädchen da waren und zwei davon habe ich mir gemerkt. Unter anderem hört man zwei besonders starke Parolen. Die eine: "Ändert nicht das Klima, ändert das System." [Beifall]

Diese Parole nehme ich für uns in Anspruch: Lasst uns nicht das Klima ändern! Lasst uns das System ändern! Als Schlussfolgerung daraus fangen wir an, den Planeten zu retten. Der Kapitalismus, das Modell der zerstörerischen Entwicklung, macht das Leben zunichte. Er droht, die Gattung Mensch endgültig zu vernichten.

Die zweite Parole regt zum Nachdenken an. Sehr passend zur Bankenkrise, die um die Welt gegangen ist und die diese noch immer heimsucht, und zu der Art und Weise, in der die reichen Länder des Nordens den Bankiers und den großen Banken geholfen haben. Was allein die Vereinigten Staaten getan haben - man hat die Zahlen aus den Augen verloren, das ist einfach astronomisch - um die Banken zu retten. Dazu heißt es auf den Straßen: Wenn das Klima eine Bank wäre, dann hätten sie es schon gerettet. [Beifall]

Und ich glaube, das ist wahr. Wenn das Klima eine von den größten kapitalistischen Banken wäre, dann hätten es die reichen Regierungen schon gerettet.

Ich glaube, Obama ist noch nicht da. Er hat den Friedensnobelpreis fast am selben Tag bekommen als er weitere 30.000 Soldaten losgeschickt hat, um in Afghanistan unschuldige Menschen zu töten. Jetzt kommt er hierher, um sich hier mit dem Friedensnobelpreis zu präsentieren, der Präsident der Vereinigten Staaten.

Aber die Vereinigten Staaten haben ja Maschinchen, um Geldscheine herzustellen, um Dollars zu drucken und sie haben so die Banken und das kapitalistische System gerettet. Oder glauben zumindest, sie hätten es getan. Na gut, das ist nur ein Kommentar am Rande.

Wir waren dabei, Brasilien, Indien, Bolivien und China in ihrer interessanten Position zu unterstützen, die von Venezuela und von den Ländern der Bolivarischen Allianz (ALBA) mit ganzem Nachdruck geteilt wird. Aber gut, man hat uns nicht das Wort erteilt. Rechnen Sie mir also bitte diese Minuten nicht an, Herr Präsident. [Beifall]

Stellen Sie sich vor, da hatte ich neulich das Vergnügen, diesen französischen Schriftsteller, Hervé Kempf, kennen zu lernen. Ich empfehle Ihnen dieses Buch, ich empfehle es wirklich. Es ist auf Spanisch erhältlich und es gibt Hervé auch auf Französisch, und auf Englisch ganz sicher auch: "Como los ricos destruyen el planeta". Hervé Kempf: Wie die Reichen den Planeten zerstören. Deswegen hat schon Christus gesagt: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als das ein Reicher in den Himmel kommt. So sprach Christus, unser Herr. [Beifall]

Die Reichen sind dabei, den Planeten zu zerstören. Ob sie wohl vorhaben, sich auf einen anderen zu begeben, wenn sie diesen hier zerstört haben? Ob sie wohl Pläne haben, auf einen anderen Planeten abzuhauen? Bis jetzt ist jedenfalls noch keiner am Ende der Galaxie zu sehen.

Das Buch ist mir gerade erst in die Hände gekommen. Ignacio Ramonet, der auch hier in diesem Saal ist, hat es mir geschenkt. Wenn man ans Ende des Prologs oder des Vorwortes kommt, dann stößt man auf diesen sehr wichtigen Satz, in dem Kempf folgendes sagt. Ich zitiere: "Wir werden den materiellen Konsum auf globaler Ebene nicht reduzieren können, wenn wir nicht dafür sorgen, dass die Mächtigen mehrere Stufen herunter kommen und wenn wir die Ungleichheit nicht bekämpfen. Es ist notwendig, dem im Augenblick der Bewusstwerdung so nützlichen ökologischen Prinzip des globalen Denkens und des lokalen Handelns, ein Prinzip hinzuzufügen, das die Situation erfordert: Weniger konsumieren und besser verteilen." Ich glaube das ist ein guter Rat, den uns dieser französische Schriftsteller Hervé Kempf da gibt. [Beifall]

Nun gut, Herr Präsident, der Klimawandel ist ohne Zweifel das verheerendste Umweltproblem des gegenwärtigen Jahrhunderts: Überschwemmungen, Trockenheiten, schwere Unwetter, Hurrikans, Tauwetter, der Anstieg des durchschnittliches Meeresspiegels, die Übersäuerung der Ozeane und Hitzewellen, alles das verschärft die schweren Schläge der globalen Krisen, die uns heimsuchen.

Die gegenwärtige menschliche Aktivität überschreitet die Schwellen der Nachhaltigkeit und bringt das Leben auf dem Planeten in Gefahr. Aber auch in dieser Hinsicht sind wir zutiefst ungleich.

Ich möchte daran erinnern: Die 500 Millionen der reichsten Leute, 500 Millionen, das sind sieben Prozent der Weltbevölkerung, diese sieben Prozent, diese fünfhundert Millionen der reichsten Leute sind verantwortlich für fünfzig Prozent der Schadstoffemissionen. Während die fünfzig Prozent Ärmsten nur für fünf Prozent der Schadstoffemissionen verantwortlich sind. Deshalb macht es mich stutzig und ist es ein wenig seltsam, hier die Vereinigten Staaten und China auf eine Stufe zu stellen. Die Vereinigten Staaten kommen gerade mal auf 300 Millionen Einwohner, während China fast fünfmal soviel an Bevölkerung hat wie die USA.

Die USA verbrauchen mehr als 20 Millionen Barrel Öl am Tag, während China auf kaum 5,6 Millionen Barrel täglich kommt und da kann man doch von den Vereinigten Staaten und China nicht dasselbe verlangen.

Es gibt hier einige Themen, die zu diskutieren sind. Und hoffentlich können wir Staats- und Regierungschefs uns hier zusammensetzen und wirklich und wahrhaftig über diese Dinge diskutieren.

Darüber hinaus, Herr Präsident, sind 60 Prozent der Ökosysteme des Planeten geschädigt, 20 Prozent der Erdkruste ist geschwächt; wir sind zu gleichgültigen Zeugen der Vernichtung der Wälder, der Wüstenbildung, der Störungen der Süßwassersysteme, des Raubbaus an den Meeresressourcen, sowie der Vergiftung und des Verlustes der biologischen Diversität geworden.

Die verschärfte Nutzung des Bodens überschreitet seine Regenerationsfähigkeit um 30 Prozent. Der Planet verliert, was die Fachleute die Fähigkeit zur Selbstregulierung nennen. Jeden Tag werden mehr Abfallstoffe freigesetzt als verarbeitet werden können. Das Überleben unserer biologischen Art quält das Bewusstsein der Menschheit. Trotz aller Dringlichkeit sind zwei Jahre der Verhandlungen vergangen, um eine zweite Verpflichtungsperiode für das Kyoto-Protokoll zu beschließen und wir wohnen nun diesem Treffen bei, ohne dass es bisher zu einer wirklichen und bedeutsamen Vereinbarung gekommen wäre.

Und was im Übrigen nun diesen Text angeht, der da aus dem Nichts kommt, wie es einige bezeichnet haben, sagt der chinesische Vertreter, sagt Venezuela und sagen wir als Alba-Länder, die Länder der Bolivarischen Allianz, dass wir, wie bereits zum Ausdruck gebracht, keinen anderen Text akzeptieren, der nicht aus den Arbeitsgruppen des Kyoto-Protokolls und des gleichnamigen Abkommens stammt, aus den legitimen Texten, die in all den letzten Jahren mit so großer Intensität diskutiert worden sind. [Beifall]

Und in den letzten Stunden haben Sie, glaube ich, nicht geschlafen (...). Es erscheint mir nicht logisch, dass jetzt ein Dokument aus dem Nichts auftaucht. Das wissenschaftlich gestützte Ziel, den Ausstoß schädlicher Gase zu reduzieren und auf jeden Fall eine langfristige Kooperationsvereinbarung zu erreichen, heute, zu diesem Zeitpunkt, scheint gescheitert zu sein, vorerst(4).

Was ist der Grund dafür? Da haben wir keinen Zweifel.

Der Grund ist die unverantwortliche Haltung und der Mangel an politischem Willen auf Seiten der mächtigsten Nationen dieses Planeten. Niemand sollte sich beleidigt fühlen, ich verweise auf der großen José Gervasio Artigas, wenn ich sage: "Mit der Wahrheit beleidige ich weder noch fürchte ich sie."

Aber tatsächlich ist es eine unverantwortliche Haltung des Ausschlusses. Hier wird auf eine elitäre Weise angesichts eines Problems verfahren, das uns Menschen betrifft und dass wir nur gemeinsam lösen können.

Politischer Konservatismus und der Egoismus der großen Konsumenten der reichsten Ländern bedeuten ein hohes Maß an Teilnahmslosigkeit und Mangel an Solidarität mit den Ärmsten, mit den Hungernden, mit den Hauptbetroffenen von Krankheiten, von Naturkatastrophen, Herr Präsident. Es ist unerlässlich, einen neuen und gemeinsamen Vertrag zu schaffen, zwischen absolut ungleichen Seiten. Ungleich in Hinsicht auf die Größe ihrer Beiträge und ihrer wirtschaftlichen, finanziellen und technischen Kapazitäten. Dieser Vertrag muss auf der unbeschränkten Anerkennung der in dem Kyoto-Protokoll enthaltenen Prinzipien basieren.

Die entwickelten Länder sollten zu verbindlichen Kompromissen finden, klar und konkret, was eine wesentliche Verringerung ihrer Emissionen betrifft. Sie sollten finanzielle und technische Hilfen für die ärmsten Länder übernehmen, um den zerstörerischen Gefahren des Klimawandels zu begegnen. In diesem Sinne sollte die einzigartige Stellung der Inselstaaten und der weniger entwickelten Länder allgemein anerkannt werden.

Herr Präsident, der Klimawandel ist nicht das einzige Problem, das heute die Menschheit betrifft. Andere Plagen und Ungerechtigkeiten bedrängen uns: Die Kluft, welche reiche und arme Länder trennt, nimmt weiter zu, trotz aller Millenniumsziele, trotz des Finanzgipfels in Monterrey, all dieser Gipfel, wie der Präsident von Senegal hier feststellte, als er eine große Wahrheit aussprach: Uneingelöste Versprechen folgen anderen Versprechen, während die Welt ihren zerstörerischen Weg fortsetzt.

Das Einkommen der reichsten 500 Individuen auf der Welt liegt zusammen über dem Gesamteinkommen der ärmsten 416 Millionen Menschen. Die 2,8 Milliarden Menschen, die mit weniger als zwei US-Dollar am Tag in Armut leben, machen 40 Prozent der Weltbevölkerung aus. Sie erhalten nur fünf Prozent der der weltweiten Einkommen. Heute sterben im Jahr 9,2 Millionen Kinder, bevor sie das fünfte Lebensjahr erreichen und 99,9 Prozent dieser Toten fallen in den ärmsten Ländern an. Die Kindersterblichkeit liegt im Durchschnitt bei 47 Toten auf eintausend Lebendgeborene, aber nur bei fünf auf Tausend in den reichen Ländern. Die Lebenserwartung liegt weltweit bei 67 Jahren, in den reichen Ländern sind es 79 Jahre, während es in einigen armen Ländern nur 40 Jahre sind. Zusammengerechnet leben 1,1 Milliarden Menschen ohne Zugang zu Trinkwasser, 2,6 Milliarden Menschen ohne Sanitärservice, mehr als 800 Millionen Analphabeten und 1,02 Milliarden Personen hungern. Das ist das Szenario der Welt.

Aber jetzt zu den Gründen? Was ist der Grund?

Sprechen wir von den Gründen, weichen wir der Tiefe dieses Problems nicht aus. Der Grund ist ohne Zweifel - ich kehre zu diesem katastrophalen Thema zurück - das notwendigerweise zerstörerische System des Kapitals und seines fleischgewordenen Modells: der Kapitalismus.

Ich habe hier ein Zitat, das ich Ihnen kurz vorlesen möchte, von einem der großen Befreiungstheologen, Leonardo Boff, ein Brasilianer, aus unserem Amerika. Leonardo Boff sagt folgendes zum Thema: "Was ist der Grund? Der Grund ist, Glück zu suchen durch die materielle Akkumulation und endlosen Fortschritt. Dafür werden Wissenschaft und Technik benutzt, um mit ihrer Hilfe unbegrenzt alle Vorkommen der Erde auszubeuten." Und er zitiert dafür Charles Darwin und seine "natürliche Auslese", das Überleben der Stärksten. Aber wir wissen, dass die Stärksten in der Asche der Schwächsten überleben.

Jean-Jacques Rousseau, immer wieder sei daran erinnert, sagte dieses: Zwischen dem Stärksten und dem Schwachen wird die Freiheit zerdrückt. Deshalb spricht das Imperium von Freiheit; Es ist die Freiheit zu unterdrücken, einzumarschieren, umzubringen, zu vernichten, auszubeuten. Darin besteht seine Freiheit und Rousseau prägte den Satz: Nur das Gesetz befreit.

Es gibt einige Länder, die Spielchen spielen, damit hier kein Dokument zustande kommt, weil sie kein Gesetz wollen. Sie wollen keine Vorschrift, weil die Inexistenz dieser Norm es ihnen erlaubt, ihre ausbeuterische Freiheit auszuspielen, ihre überwältigende Freiheit.

Strengen wir uns an und machen wir Druck, hier und auf den Straßen, damit hier eine Vereinbarung getroffen wird, damit ein Dokument zustande kommt, das die mächtigsten Länder der Erde in die Pflicht nimmt. [Beifall]

Leonardo Boff stellt gute Fragen, Präsident, Haben Sie Boff kennen gelernt? Ich weiß nicht, ob Leonardo kommen konnte. Ich habe ihn vor kurzem in Paraguay kennen gelernt. Immer haben wir seine Texte gelesen: Kann eine begrenzte Erde ein unbegrenztes Projekt aushalten? Die Hypothese des Kapitalismus, die unbeschränkte Entwicklung, ist ein zerstörerisches Modell. Akzeptieren wir das! Danach fragt uns Boff: Was könnten wir von Kopenhagen erwarten? Gerade dieses einfache Eingeständnis: So wie es ist, können wir nicht weitermachen. Und ein einfacher Vorschlag: Wir werden den Kurs wechseln, lass es uns tun, aber ohne Zynismus, ohne Lüge, ohne doppelte Agenda, ohne Dokumente, die nirgendwohin führen, mit der Wahrheit voran.

Wie lange noch, fragen wir aus Venezuela uns, Herr Präsident, meine Damen und Herren, wie lange noch werden wir diese Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten zulassen? Wie lange noch werden wir die aktuelle Weltwirtschaftsordnung und die geltenden Marktmechanismen tolerieren? Wie lange noch werden wir erlauben, dass große Epidemien HIV-AIDS ganze Bevölkerungen ausrotten? Wie lange noch werden wir es hinnehmen, dass die Hungernden sich weder selbst ernähren können, noch ihre Kinder versorgen können? Wie lange wollen wir erlauben, dass Millionen Kinder an heilbaren Krankheiten sterben? Wie lange wollen wir bewaffnete Konflikte hinnehmen, in denen Millionen unschuldiger Menschen massakriert werden, mit dem Ziel, dass die Mächtigen sich die Ressourcen anderer Völker aneignen?

Beendet die Aggressionen und Kriege, die darauf abzielen, weiterhin die Welt zu dominieren und uns auszubeuten! Das fordern die Völker der Welt von den Imperien. Keine weiteren imperialen Militärstützpunkte, keine Staatsstreiche! Bauen wir eine gerechtere und stärker ausgewogene Sozial- und Wirtschaftsordnung. Löschen wir die Armut aus! Senken wir sofort den Spitzenausstoß an Schadstoffen! Bremsen wir die Umweltzerstörung und vermeiden wir die große Katastrophe, die der Klimawechsel bedeutet! Stellen wir uns hinter das uneigennützige Ziel, gemeinsam freier und solidarischer zu sein!

Herr Präsident, vor fast zwei Jahrhunderten lieferte ein universeller Venezolaner, der Befreier der Völker und Wegbereiter unseres Denkens, eine absichtsvolle Aussage: "Wenn die Natur sich uns entgegenstellt, kämpfen wir und sorgen dafür, dass sie uns gehorcht." Das war Simón Bolívar, der Befreier. Aus Venezuela, wo uns an einem Tag wie heute, allerdings vor zehn Jahren, die größte Klimakatastrophe in unserer Geschichte ereilte: die Tragödie von Vargas, wie sie genannt wird, in Venezuela dessen Revolution eine größere Gerechtigkeit für seine gesamt Bevölkerung erreichen will.

Dies ist nur möglich über den Weg des Sozialismus. Der Sozialismus, ein anderes Gespenst, von dem Karl Marx sprach, das geht hier auch um, mehr als ein Gegen-Gespenst. Der Sozialismus, das ist die Richtung, um den Planeten zu schützen, daran habe ich nicht den geringsten Zweifel, und der Kapitalismus ist der Weg ins Verderben, zur Zerstörung der Welt. Der Sozialismus aus diesem Venezuela widersetzt sich den Drohungen des nordamerikanischen Imperiums.

Als die Ländern, mit denen wir das ALBA, die Bolivarianische Allianz, bilden, fordern wir, ich sage das mit Respekt, aber aus tiefster Seele, fordern wir - Simón Bolívar, den Befreier umschreibend - im Namen von Vielen auf diesem Planeten die Regierungen und Völker der Welt auf: Wenn der zerstörerische Charakter des Kapitalismus sich uns entgegenstellt, dann kämpfen wir gegen ihn und sorgen dafür, dass er uns gehorcht. Wir warten nicht mit vor der Brust verschränkten Armen den Tod der Menschheit ab.

Die Geschichte ruft uns zum Zusammenschluss und zum Kampf. Wenn sich der Kapitalismus widersetzt, sind wir gezwungen, gegen ihn in den Kampf zu ziehen und Wege zum Schutz der Menschheit zu ebnen. Wir sind an der Reihe, wir erheben die Fahnen von Christus, von Muhammad, der Gleichheit, der Liebe, der Gerechtigkeit, des Humanismus - des tatsächlichen und grundlegenden Humanismus. Wenn wir das nicht tun, wird die wundervollste Schöpfung des Planeten - ein Mensch zu sein - verschwinden. Dieser Planet ist tausende von Millionen Jahre alt, und dieser Planet lebte tausende von Millionen Jahre ohne uns, die menschliche Spezies. Das heißt, zum Überleben wir werden ihm nicht fehlen. Jetzt sind wir, die wir ohne diesen Planeten nicht leben können, dabei die Pachamama, die Mutter Erde, zu zerstören, wie Evo sagte, wie unsere Brüder, die Ureinwohner von Südamerika sagen.

Schließlich, Herr Präsident, um zum Schluss zu kommen, hören wir auf Fidel Castro, wenn er sagt: Eine Gattung ist in Gefahr ausgerottet zu werden: der Mensch. Hören wir auf Rosa Luxemburg, wenn sie sagt: Sozialismus oder Barbarei. Hören wir auf Christus, den Erlöser, wenn er sagt: Geheiligt seien die Armen, denn ihrer ist das Himmelsreich. Herr Präsident, meine Damen und Herren, seien wir in der Lage, dafür zu sorgen, dass diese Erde die Menschheit nicht beerdigt, machen wir diese Erde zu einem Himmel, einem Himmel für das Leben, für den Frieden, einen Frieden in Brüderlichkeit für die gesamt Menschheit, für die Gattung Mensch.

Herr Präsident, meine Damen und Herren, vielen Dank. [Beifall]

Übersetzung: Klaus E. Lehmann, M. Daniljuk (amerika21.de)


Anmerkung

(4) [1] Mit dem Ausspruch "por ahora" (vorerst) wurde Chávez 1992 berühmt. Damals übernahm er die Verantwortung für das Scheitern eines von ihm geführten Militäraufstandes. Er gab im Fernsehen die Niederlage bekannt und ergänzte: "Vorerst."

Raute

Hugo Chavez: "Das Imperium verschwindet durch die Hintertür"

Zweite Rede von Hugo Chávez auf dem XV. UNO-Gipfeltreffen über den Klimawandel Kopenhagen, Dänemark, 18. Dezember 2009

Ich bin sehr dankbar, dass Sie uns das Wort gegeben haben. Wir hatten schon zu Beginn des Vormittags darum gebeten, denn wir sind nun schon einige Tage hier.

(Der US-amerikanische Präsident Barack) Obama kam, sprach und verschwand. Durch diese verborgene Tür dort, durch diese Hintertür dort verschwand er. Das Imperium ist mitten in der Nacht und in der Dunkelheit erschienen. Auf antidemokratische Weise versuchen sie ein Dokument durchzusetzen, das wir nicht akzeptieren werden. Nie werden wir das akzeptieren. [Beifall]

(...) Gestern Abend haben wir uns mit tausenden Aktivisten der sozialen Bewegungen, die im Schnee mit Bannern auf den Straßen warteten, in einer Turnhalle versammelt, mit Bewegungen, die für soziale Gerechtigkeit kämpfen, mit politischen Parteien. Wir haben hier in Kopenhagen Landsleute aus Lateinamerika getroffen, aus der Karibik, aus allen möglichen Ländern. Darüber waren wir sehr glücklich. (...)

Wir waren dann heute sehr besorgt, als wir davon erfuhren, dass es Versammlungen einer kleinen Ländergruppe gab, die mit dem Vorsitz der Konferenz befreundet sind. Wir sind aber doch keine Feinde, oder? Wir sind auch Freunde. Aber wir wurden nicht zur Teilnahme eingeladen, nicht einmal zur Anhörung. Ich will damit deutlich machen, dass alle Länder gleich sind. Wir Präsidenten, Staats- und Regierungschefs stehen auf einer Ebene. Hier gibt es keine Präsidenten erster und zweiter Klasse, noch gibt es Völker erster oder zweiter Klasse. Das soll klargestellt sein. [Beifall]

Ich glaube es war, um es vornehm auszudrücken, ein intransparentes Vorgehen mit dem Versuch, eine Lösung zu vereiteln, die, wie (der brasilianische Präsident Luiz Inácio) Lula (da Silva) sagte, nur durch ein Wunder hätte gerettet werden können. Wir erwarten hierfür keine Wunder. Ich spreche nicht nur im Namen Venezuelas, ich wurde von den hier anwesenden Repräsentanten der Länder der Bolivarischen Allianz für die Völker Amerikas beauftragt, das heißt, von der Regierung und dem Volk Boliviens, der Regierung und dem Volk Kubas, der Regierung und dem Volk Ecuadors, der Regierung und dem Volk Nicaraguas, der Regierung und dem Volk der Karibik, den Ländern Dominica, St. Vincent und den Grenadinen, Antigua und Barbuda sowie Venezuela. Es soll später nicht so sein, dass durch die Hintertür, durch die Obama verschwand, heute Nachmittag ein Geheimpapier erscheint - top secret -, das man dann der Weltöffentlichkeit als Ergebnis zu präsentieren versucht.

Jetzt schon fechten wir ein solches Vorgehen an, denn wir kennen ja nicht einmal ein offizielles Papier. Es waren verschiedene Versionen und Dokumente im Umlauf, deren Entstehen wenig transparent ist. Dagegen ist Einspruch zu erheben. (...) Wenn etwas in dieser Welt zurück gewonnen werden muss, so ist es das Vertrauen zwischen uns. Schluss damit, dass einige sich übermächtig fühlen, uns Indios im Süden gegenüber, uns Afrikanern, den Völkern des Südens gegenüber. Wir sind alle gleich.

Aber genug des Protestes gegen diese Verletzung der Arbeitsweise der Vereinten Nationen.

Wir hatten sogar Angst, sie würden uns nicht das Wort erteilen. Man konnte uns das im Sekretariat nicht garantieren und erklärte uns, dass heute Vormittag nur ein Teil der Präsidenten reden würde, sehr würdige Staatsführer. Sie standen auf einer Liste, die irgendjemand angefertigt hatte, wer, das weiß man nicht. Deshalb danken wir der Präsidentin sehr, dass sie dem Präsidenten Morales und mir das Wort erteilt hat. Es wäre bedauerlich gewesen, wenn sie versucht hätten, uns in dieser Sitzung zu übergehen (...).

Das Kyoto-Protokoll, Lula hat es schon erwähnt, kann nicht für tot erklärt oder annulliert werden, wie es die Vereinigten Staaten wollen. Deshalb hat Evo (Morales) eine große Wahrheit ausgesprochen. Obama, der Kriegsnobelpreisträger, hat genau hier gesagt - übrigens riecht es auch hier nach Schwefel und es wird in dieser Welt weiter nach Schwefel riechen -, dass er gekommen ist, um zu handeln: Also gut, dann zeigen Sie es uns und verschwinden Sie nicht durch die Hintertür! Tun Sie alles Notwendige, damit sich die Vereinigten Staaten dem Kyoto-Protokoll anschließen, und wir werden diesen Mechanismus anerkennen, ihn ausbauen und uns vor der Welt auf transparente Art und Weise verantworten. [Beifall]

Zum anderen sind wir uns alle einig, dass die Reduktion der CO2-Emissionen bis zum Jahr 2050 nicht geringer sein darf als 80 bis 90 Prozent. Die Mehrheit stimmt dem zu.

Wir glauben, Frau Präsidentin, dass Kopenhagen nicht heute endet. Wegen der Würde dieses Volkes wollen wir nicht mit dem bitteren Geschmack der Enttäuschung abreisen. Nein, wir möchten gehen mit der Erinnerung an ein freudiges Volk, ein Volk, das wir vorher nicht kannten, eine Stadt, ein Land, Dänemark. Wir möchten Kopenhagen nicht als Enttäuschung, sondern als Hoffnung in unserem Herzen tragen. Letzte Nacht sagten wir, Kopenhagen endet nicht heute, sondern Kopenhagen öffnet die Türen, damit wir weiter eine große, weltweite Debatte darüber führen, wie dieser Planet zu retten ist, wie das Leben auf diesem Planeten zu retten ist.

Kopenhagen ist nicht das Ende, Kopenhagen ist der Anfang, damit wir die Abkommen erreichen, die erreicht werden müssen, und, Evo hat es schon gesagt, damit wir das Gleichgewicht der Mutter Erde, der Pachamama erlangen.

Das, was Obama sagt, ist wirklich lächerlich. Die Vereinigten Staaten, die die Maschinen haben, um Dollars zu drucken, die Vereinigten Staaten haben für die Rettung der Banken, soweit ich weiß, 700 Milliarden US-Dollar versprochen. Zu Recht heißt es dort auf den Straßen: Wenn das Klima eine Bank wäre, hätten sie sie schon gerettet. Jetzt kommt er und sagt, er werde jährlich zehn Milliarden US-Dollar beisteuern - eine lächerliche Summe.

Die Ausführungen des Präsidenten der Vereinigten Staaten sind ein Witz. Die Militärausgaben der Vereinigten Staaten, nun, sie betragen jährlich 700 Milliarden US-Dollar.

Sie sollten die Militärausgaben wenigstens um die Hälfte senken, die Vereinigten Staaten, die der große Emissionsverursacher sind, der große Umweltverschmutzer. Dieses Yankee-Imperium ist der große Schuldige denn es hat dieser Welt mit Invasionen, Kriegen und Bedrohungen, Morden und sogar Genoziden den Kapitalismus aufgezwungen. Die Vereinigten Staaten und ihre Alliierten, also die großen Schuldigen, sollten dies mit Würde eingestehen. Wir wissen aber, dass diese Regierung der Vereinigten Staaten es nicht eingestehen wird, da sie nicht mehr ist als die Fortsetzung der alten Regierung. Obama wird in die Geschichte eingehen als eine der größten Enttäuschungen für viele Menschen, die an ihn geglaubt haben, in den Vereinigten Staaten und in anderen Teilen der Welt (...).

Sei es drum! Worauf es ankommt ist, dass wir, die Völker der Welt und die würdigen Regierungen der Welt, die große Mehrheit, uns einigen und echte Lösungen anstoßen.

Wir sind nicht hierher gekommen, um Almosen zu erhalten. Wir sind als gleichberechtigte Partner gekommen, um bescheidene Ideen beizusteuern und Lösungsansätze zu suchen.

Dass es ja niemand vergisst, dass es ja niemand vergisst: Die Schuld liegt im Kapitalismus, und es geht darum, die Ursachen zu bekämpfen.

In aller Bescheidenheit sagen wir aus Venezuela: Die einzige Möglichkeit, ein Gleichgewicht der Gesellschaften zu erreichen, Leben zu bewahren, höhere Lebensstandards zu erreichen und dem Menschen würdige Lebensbedingungen zu schaffen ist der Sozialismus. Diese Debatte ist eminent politisch, moralisch und notwendig, absolut notwendig. Der Kapitalismus ist der Weg zur Zerstörung des Planeten.

Frau Präsidentin, wir möchten eines klarstellen: Wir gehen, aber vorher möchten wir als Länder der ALBA klar stellen, dass wir schon jetzt jedes Dokument anfechten, das Obama hinter der Tür hervorzieht, oder, wie es gestern einige von Ihnen ausdrückten, das dort aus dem Nichts entsteht, und dann als die vermeintlich rettende Lösung präsentiert werden soll.

Es gibt keine rettenden Lösungen. Wir gehen schlichtweg in dem Bewusstsein, dass eine Einigung hier in Kopenhagen nicht möglich war, und warum sie nicht möglich war haben wir gestern schon gesagt: wegen eines Mangels an politischem Willen der am weitesten entwickelten Länder der Erde, angefangen bei den Vereinigten Staaten. Und das ist wirklich beschämend, es ist der Egoismus der am höchsten Verantwortlichen, vor allem der irrationellen Arbeitgeber in Produktion und Konsum in ihrem überentwickelten Kapitalismus.

Fidel Castro - und damit ende ich, um nicht das Mittagessen, das Foto und die Sitzungen später zu stören - schrieb letzte Nacht eine Reflexion. Er verfolgt von Havanna aus aufmerksam diese Konferenz, in der Hoffnung, dass Entscheidungen zur Rettung der Menschheit getroffen werden. Und er sprach schon von einer ruhmlosen Abschlusssitzung. Ich stimme ihm zu: Es wird eine Sitzung ohne Ruhm sein. Frau Präsidentin, ich möchte aber auch zu Ehren aller, die teilgenommen haben, sagen: Es gibt hier Leute, die ich weiß nicht wie viele Tage hintereinander nicht geschlafen haben. Ihnen gilt eine besondere Anerkennung, den Verhandlungsführern, Ministern, Delegierten, Delegationsleitern und Experten. Wie viel haben sie gearbeitet! Ihnen allen gebührt Anerkennung. [Beifall]

Lasst uns den Glauben haben, dass all ihre Arbeit nicht verloren geht, sie ist ein wichtiger Beitrag. Wir gehen von hier mit größerem Bewusstsein für das Problem und stärkerem Engagement, um in unseren Gesellschaften Bewusstsein zu schaffen für die Themen Klima und Ungleichgewicht der Natur.

Nun, wie Fidel es ausdrückt, wird die Abschlusssitzung später ohne Ruhm sein. Aber das soll nicht heißen, dass sie eine Sitzung voll Kummer sein wird. Die Sitzung, die heute Nachmittag ansteht, lässt gleichzeitig die Hoffnung keimen, dass wir es dereinst schaffen, Entscheidungen zur Rettung der Menschheit zu treffen, und wir werden das nur erreichen, wenn wir die egoistischen Interessen, insbesondere der entwickelten Länder, beiseite lassen.

Ich möchte Kopenhagen und seiner Atmosphäre meinen Tribut zollen, seinem Volk und den Völkern der Welt. Wir wissen uns dem Leben verpflichtet, wir wissen uns der Zukunft verpflichtet.

Eine ruhmlose, aber schöne Konferenz, voll von Hoffnung - so tragen wir Kopenhagen in unserem Herzen.

Frau Präsidentin, vielen Dank. Guten Nachmittag meine Damen und Herren. [Beifall]

Übersetzung: Regina Ellwanger (amerika21.de)

Raute

Bruno Rodrígez Parilla: (5) "Eine grobe Verletzung der Charta der Vereinten Nationen"

Rede des kubanischen Außenministers Bruno Rodríguez Parrilla auf der Abschlusssitzung des XV. UNO-Gipfeltreffens über den Klimawandel, 18.12.2009, Kopenhagen, Dänemark

Herr Präsident, es ist jetzt vier Stunden her, dass (US-)Präsident (Barack) Obama ein Abkommen angekündigt hat, das nicht existiert. Es mangelt an Respekt vor der internationalen Gemeinschaft, er führt sich wie ein imperialer Chef auf.

Das Dokument, von dem Sie, Herr Präsident, mehrmals sagten, dass es nicht existiert, taucht jetzt auf. Wir alle haben Versionen gesehen, die heimlich in Umlauf gebracht wurden und in kleinen geheimen Zusammenkünften diskutiert werden - außerhalb der Säle, in denen die internationale Gemeinschaft mit ihren Vertretern in transparenter Weise verhandelt. Es stellt sich also heraus, Herr Präsident, dass das Dokument, das nicht existierte, doch existiert. Ich bedaure zutiefst die Art und Weise, in der Sie diese Konferenz leiten.

Ich kann Ihnen schon jetzt sagen, dass die Delegation der Republik Kuba beschlossen hat, dem von Ihnen vorgelegten Entwurf einer Erklärung nicht zuzustimmen. Ich verlange keine weiteren Konsultationen, in welchem Rahmen oder in welcher Form auch immer, sondern erkläre vielmehr, dass es auf dieser Konferenz keinen Konsens bezüglich dieses Dokuments gibt. [Beifall]

Ich schließe mich den Stellungnahmen der Vertreter Tuvalus, Venezuelas und Boliviens an. Kuba erachtet den Text dieses im Verborgenen erarbeiteten Dokuments als äußerst unzureichend und unzulässig. Das Ziel von zwei Grad Celsius ist inakzeptabel und hätte unberechenbare, katastrophale Folgen, insbesondere für die kleinen Inselstaaten. Es hätte schwerwiegende Auswirkungen auf zahlreiche Arten.

Das Dokument, das Sie bedauerlicherweise vorlegen, enthält keinerlei Verpflichtung, den Ausstoß von Treibhausgasen zu reduzieren. Ich kenne die vorherigen Versionen, die ebenfalls mittels fragwürdiger und heimlicher Verfahrensweisen in kleinen, geschlossenen Gruppen diskutiert wurden, in denen zumindest von einer Reduzierung (der Treibhausgase) um 50 Prozent bis zum Jahr 2050 die Rede war. Ich habe diese vorherigen Versionen hier bei mir, und es würde die Mühe lohnen, sie den Presseorganen und den Vertretern der Zivilgesellschaft vorzulegen und in diesem Saal hier öffentlich zu machen.

Das Dokument, das Sie jetzt vorlegen, lässt genau diese an sich schon mageren und unzureichenden Schlüsselsätze weg, die die frühere Fassung enthielt. Dieses Dokument garantiert in keiner Weise Mindestmaßnahmen, die eine schwerwiegende Katastrophe für unseren Planeten und die menschliche Gattung abwenden würden. Der Text dieses Dokuments ist für Kuba unvereinbar mit dem weltweit anerkannten wissenschaftlichen Kriterium, demzufolge es dringend und unausweichlich ist, eine Emissionsreduzierung von mindestens 45 Prozent bis 2020 und nicht von weniger als 80 oder 90 Prozent bis 2050 durchzusetzen.

Dieses schmachvolle Dokument, das Sie hier aus dem Ärmel zaubern, ist gleichermaßen nachlässig und zweideutig hinsichtlich einer spezifischen Verpflichtung zur Emissionsreduzierung seitens der entwickelten Länder, die aufgrund des Umfangs der Emissionen in der Vergangenheit und in der Gegenwart für die globale Erwärmung verantwortlich sind und für die es sich ziemt, sofortige substantielle Reduzierungen vorzunehmen. Dieses Papier enthält nicht ein einziges Wort bezüglich einer Verpflichtung der entwickelten Länder.

Zudem bringt die Delegation Kubas zum wiederholten Male ihre Überzeugung zum Ausdruck, dass die Reduzierung des Kohlenstoffausstoßes durch die Länder des Südens nicht so formuliert werden kann, dass dadurch ihr Recht auf Entwicklung behindert wird. Dieser Wisch hier ignoriert dieses Konzept. Jeglicher Vorschlag zur Fortführung der Verhandlungen, um in der Zukunft Abkommen über die Reduzierung der Emissionen abzuschließen, muss unausweichlich die Gültigkeit des Kyoto-Protokolls beinhalten und davon ausgehen, dass diese Abkommen Teil weiterer Verpflichtungen sein werden. Ihr Papier, Herr Präsident, ist die Sterbeurkunde des Protokolls von Kyoto. Meine Delegation akzeptiert das nicht.

Die kubanische Delegation möchte besonderen Wert auf den Vorrang des Prinzips "gemeinsame, aber differenzierte Verantwortlichkeiten" legen als einem zentralen Konzept für zukünftige Verhandlungsprozesse. Ihr Papier sagt dazu nicht ein einziges Wort.

Dieser Entwurf für eine Erklärung lässt konkrete Verpflichtungen für die Finanzierung und den Technologietransfer an die Entwicklungsländer als Teil der Erfüllung der von den entwickelten Ländern innerhalb des Rahmenvertrages der Vereinten Nationen zum Klimawandel übernommenen Verpflichtungen vermissen. Das Dokument beschränkt sich auf die Vorstellung, dass die entwickelten Länder sich an einer so genannten Mobilisierung von Ressourcen beteiligen, von denen man sagt, dass sie öffentlicher oder privater, bilateraler oder multilateraler Natur sein können, oder sogar aus alternativen Quellen kommen können. Die entwickelten Länder, die mittels Ihres Dokuments, Herr Präsident, ihre Interessen durchsetzen, vermeiden jegliche konkrete Verpflichtung.

Die Delegation Kubas wiederholt ihren Protest gegen die schweren Verletzungen bei der Verfahrensweise, die durch die antidemokratische Leitung der Konferenz verursacht wurden, insbesondere durch die Anwendung von willkürlichen, ausschließenden und diskriminierenden Debatten- und Verhandlungsformaten. Was Sie, Herr Präsident, "eine Gruppe von repräsentativen Führern" nennen, ist für mich eine grobe Verletzung des in der Charta der Vereinten Nationen verankerten Prinzips der souveränen Gleichheit, ist ein Mechanismus, der darauf abzielt, der internationalen Gemeinschaft Entscheidungen aufzuzwingen und die öffentliche Meinung zu manipulieren. Auf dieser Konferenz war die Formulierung von Dokumentenentwürfen ständig intransparent.

Herr Präsident, ich muss meinen Protest und meine Sorge bezüglich des restriktiven Zugangs der Nichtregierungsorganisationen zu dieser Konferenz zum Ausdruck bringen. Die Delegation Kubas schließt sich den von den Mitgliedsländern der Bolivarischen Allianz der Völker unseres Amerikas vorgebrachten Positionen an, insbesondere den Reden der Präsidenten Hugo Chávez und Evo Morales.

Herr Präsident, hiermit beantrage ich förmlich, dass diese Erklärung in den Abschlußbericht über die Tätigkeit dieser bedauerlichen und peinlichen 15. Konferenz der Teilnehmer aufgenommen wird.

Vielen Dank. [Beifall]

Übersetzung: Gerhard Mertschenk


Anmerkung

(5) Bruno Rodrígez Barilla ist Außenminister der Republik Cuba

Raute

Andreas Petermann: Chávez lässt sich nicht rausschmeißen

Erneute Provokation gegenüber Venezuelas Präsident und die ALBA-Vertreter bei "COP15"-Pressekonferenz in Kopenhagen

Kopenhagen. Mit deutlichen Worten hat sich Venezuelas Präsident Hugo Chávez einer Anweisung der Organisatoren des UN-Klimagipfels in Dänemarks Hauptstadt Kopenhagen widersetzt. Die Verwaltung wollte Chávez und weitere Vertreter der Bolivarischen Allianz für Amerika (ALBA) am Freitag aus einem Konferenzraum werfen. Angeblich war die vorgesehene Zeitspanne für die ALBA-Pressekonferenz abgelaufen. Allerdings hatte die Veranstaltung des Bündnisses erst mit einer Verspätung von einer halben Stunde beginnen können, berichtet die spanische Nachrichtenagentur EFE. Die anschließend geplante Veranstaltung der Europäischen Union fiel zudem aus.

Kapitalismus-Gegner Chávez reagierte scharf auf die erneuten Provokationen: "Sie können Ton und Licht abstellen, aber wir werden den Raum nicht verlassen, bis unsere Pressekonferenz hier an ihr Ende gelangt ist." Zufälligerweise hatte es nach der Aufforderung zum Abbruch der Veranstaltung einen "Stromausfall" in dem Raum gegeben. Zur Not mache man auch ohne Strom weiter, reagierte Chávez selbstbewusst. Weiter sagte er: "Rufen Sie doch die Polizei, damit diese Tränengas in den Raum feuert, aber wir bleiben hier", womit er auf die extremen Repressionsmaßnahmen der dänischen Sicherheitskräfte gegenüber friedlichen Demonstranten im Umfeld des Gipfels anspielte. Gemeinsam mit seinen Partnern hatte er zuvor das Vorgehen der Polizei in Kopenhagen verurteilt und sich mit den Protesten solidarisiert.

Chávez' unnachgiebige Reaktion auf die Anweisungen der Organisatoren kommt nicht von ungefähr. Der linksgerichtete Präsident war in Dänemark zuvor bereits mehrfach von Sicherheitskräften der rechten Regierung schikaniert worden: Bei seiner Einreise nach Dänemark wurde das Gepäck des Staatschefs entgegen internationalen Bestimmungen im Umgang mit Diplomaten und Staatsgästen 45 Minuten lang durchsucht. Am Mittwochabend hielt die dänische Polizei seine Wagenkolonne zudem so lange auf, bis ein Treffen mit Gewerkschaften und Vertretern sozialer Organisationen abgesagt werden musste.

Quelle: amerika21.de, 20.Dezember 2009

Raute

Maxim Graubner: Widerstand gegen "diktatorische Methoden"

UN-Klimagipfel: Venezuela bezeichnet Vorgehen als "Putsch gegen die UN". ALBA solidarisiert sich mit Tuvalu-Inseln

Kopenhagen. Nach einer über 48-stündigen Marathonsitzung ist der wichtige UN-Klimagipfel von Kopenhagen gescheitert. Ein von den mächtigsten Staaten der Welt unter Ausschluss der Entwicklungsländer erarbeitetes "Abschlussdokument" wurde im Plenum der UN-Mitgliedsstaaten am Samstag Vormittag nur "zu Kenntnis genommen", da viele Länder das Vorgehen wie auch den Inhalt des Papiers ablehnten, berichtet das Online-Magazin wir-klimaretter.de aus Kopenhagen. Zur Annahme des Dokumentes hätte es eines einstimmigen Votums bedurft.

Neben Staaten wie die durch den Klimawandel gefährdete Inselgruppe Tuvalu im Pazifik stellte sich besonders Südamerika und die Bolivarische Allianz für Amerika (ALBA) von linksgerichteten Staaten um Venezuela gegen das von US-Präsident Barack Obama vorgestellte Papier. Venezuelas Vertreterin Claudia Salerno bezeichnete das Vorgehen der Industrieländer als Versuch eines "Putsches gegen die Vereinten Nationen". Die Methoden seien undemokratisch und intransparent, betonte auch Bolivien: "Das ist diktatorisches Verhalten". Der Vertreter Kubas sagte, Obama verhalte sich wie der "imperiale Anführer der Welt". Mit einem solchen Dokument sei kein Konsens möglich.

Wie bei anderen Vorschlägen auch, hätten die Verfasserstaaten des als "Abschlussdokument" präsentierten Papiers ihren Entwurf in den offiziellen Verhandlungsprozess einbringen müssen, hieß es von Seiten der ALBA-Länder. Mit dem Vorgehen Obamas werde der Verhandlungsprozess vor und während des Gipfels konterkariert. Solche überrumpelnden Alleingänge seien inakzeptabel und der Inhalt des Dokumentes ungenügend, wiederholten die ALBA-Vertreter immer wieder und begründeten damit ihre strikte Ablehnung des Papiers.

ALBA übte zudem scharfe Kritik daran, dass der Text keine konkreten Vorgaben zur Reduzierung von Treibhausgasen enthält. Diese lateinamerikanischen Länder bezeichneten des Weiteren die vorgeschlagene Zwei-Grad-Celsius-Grenze für die Erderwärmung als unzureichend. Damit werde für Inselstaaten wie das pazifische Tuvalu das Versinken im Ozean besiegelt. Deren Vertragsentwurf wurde freilich nicht ausführlich im Plenum diskutiert. "Warum wurde dieser nicht gleichwertig behandelt?", fragte Boliviens Vertreter rhetorisch. Die ALBA-Länder hatten sich während des Gipfels entschieden auf die Seite Tuvalus gestellt.

Die Bolivarische Allianz für Amerika (ALBA) wurde 2004 von Kuba und Venezuela als linke Alternative zu der von den USA geplanten panamerikanischen Freihandelszone (ALCA) gegründet. Mittlerweile gehören ihr neun lateinamerikanische Staaten an. Im Gegensatz zum engagierten Auftreten des ALBA-Bündnisses beteiligte sich Deutschland überhaupt nicht an der abschließenden Diskussion, meldet wir-klimaretter.de vom Tagungsort.

Quelle: amerika21.de, 19.12.20092

Raute

KULTURHAUPTSTADT

Heinz W. Hammer: »Kulturhauptstadt 2010« - Eine Wortmeldung aus Essen

Die in Essen erscheinende NRZ veröffentlichte am 5. Januar - recht versteckt im Sportteil - auf einer Sonderseite »Kultur extra« einen ganzseitigen Beitrag des bekannten Journalisten, Literaten und Ruhrpottschriftstellers (»Anita Drögemöller und Die Ruhe von der Ruhr«) Jürgen Lodemann zum Thema Kulturhauptstadt unter dem Titel »Auf zum Kulturwunder Ruhr«.

Derzeit schreiben ja Hinz und Kunz zum Thema - und offensichtlich gelegentlich auch voneinander ab.

Lodemanns, streckenweise launiger, Artikel schlägt dagegen - auf durchaus begrenztem Raum - einen historisch-kulturellen Bogen vom 1. Jahrtausend unserer Zeitrechnung über die Nazi-Vergangenheit als »Waffenschmiede des Reiches« sowie die (verdientermaßen selbstreferentielle) wunderbare Anita Drögemöller der 80er Jahre des abgelaufenen Jahrhunderts bis zum am 09.01.10 startenden Veranstaltungsmarathon. Letzteres mit verdientermaßen kritischen Hinweisen.

Die letzten zwei Sätze des Artikels haben es in sich. Lodemann warnt in Bezug auf die Wortwahl »Metropole«, das Ruhrgebiet »müsste sich nicht auch noch selber zur Herrschaftsstadt aufblasen« und verweist auf die »zigtausenden kunstwilligen Menschen« in unserer Region und damit zugleich darauf, dass dieses Potential weit, weit über das offizielle Gedöns hinausreicht.

Ja, weit mehr ist der Fall: Nicht nur wurden, wie man im abgelaufenen Jahr immer wieder hören konnte, künstlerische Projektvorschläge »von unten« rundweg abgelehnt, sondern dies wohl meist auch in skandalös arroganter Art und Weise.

Zumindest per Wortwahl sollte es um mehr als Präsentation von Kunst - und hier vor allem: »Promi-Kunst« - gehen: KULTURhauptstadt. Kultur aber, so heißt es, sei im Kern, wie der ganze Mensch lebt. Und hier wird es in der Praxis absurd: Die 53 Ruhrgebietsstädte sind durch die Bank pleite und stehen zunehmend unter Kuratel irgendwelcher Bürokraten der Landesregierung »vom Großdorf an der Düssel« (wie Lodemann treffend schreibt). Außer den berühmten »Leuchttürmen« gehen hier flächendeckend nicht nur die alternativen Kunstprojekte den Bach hinunter und selbst Kommentatoren der mainstream-Presse prognostizieren den großen Kahlschlag unmittelbar nach Beendigung des Kulturhauptstadtjahres. Doch dieser hat andere Bereiche längst erreicht: Viele Schulen sind schimmelverseucht, Turnhallen müssen wegen Einsturzgefahr dichtgemacht werden, Sport- und Schwimmstätten werden direkt komplett platt gemacht (in Essen: der famose »Masterplan Sport«). Kindern wird ein zentraler Bestandteil ihrer kulturellen Entwicklung entzogen - von eben jenen Polit-Nasen, die widersinnigerweise immer wieder davon schwafeln, alles, aber wirklich alles nur zum Wohle eben jener nächsten Generation zu tun. Es ist erbärmlich.

Zugleich wird dadurch natürlich auch verständlich, wieso es diesen Damen und Herren nicht ins Konzept passen kann, die von Lodemann vorgeschlagene und abgelehnte Arbeiter-Oper (»Regina«) ins Programm zu nehmen, eine, wie er schreibt, Paulskirchen-Oper, komponiert frei von Zensur und Polizei, deren Inhalt weit über einen Lohnstreik hinausginge: »Es handelt sich um höheren Lohn, es handelt sich um noch weit mehr, beschlossen ist, zu Ende sei die Knechtschaft und die Tyrannei!« Da könnten ja, und sei es nur auf Grundlage der Medienberichte über diese Oper und ihrer Ideen, die Menschen, denen tagtäglich ein Stück ihrer Kultur und ihrer Würde genommen wird, auf manch garstige Ideen kommen ...

Dass dies auch schon im Ansatz zu verhindern sei, davon zeugt bspw. die Tatsache, dass der höchst lesenswerte Artikel von Lodemann von der NRZ nicht online gestellt wurde.

So gehen hierzulande die marktbeherrschenden Medien mit kritischen Literaten um - in der Kulturhauptstadt 2010...

Heinz-W. Hammer. Essen, 08.01.2010

Raute

ZUR KOMMUNISTISCHEN BEWEGUNG IN DEUTSCHLAND

Joachim Becker: Wir brauchen die einheitliche KP so schnell wie möglich.

Da haben 84 DKP-Genossinnen und -genossen (die den revisionistischen Kurs ihrer Parteiführung nicht länger mittragen wollen) ein Positionspapier verfasst, unterschrieben und in Umlauf gebracht, und schon hagelt es Kritik. "Linksradikale" und "Sektierer" seien sie, so die Meinung der Revisionisten und Reformer innerhalb der Partei und innerhalb der Parteiführung. Ich hoffe nur, dass die 84 Genossen/innen an ihren durchaus vertretbaren Positionen festhalten.

Ich unterstütze den Prozess der Schaffung der Einheit der Kommunisten in der BRD. Von verschiedenen linken Organisationen wird der Kommunistischen Initiative unterstellt, sie sei "sektiererisch", "westgesteuert" und "linksradikal". Dass Angriffe gegen die Kommunistische Initiative aus dieser Ecke kommen, wundert mich nicht, denn dort hat man sich schon weit vom Marxismus-Leninismus entfernt.

Es gibt aber auch KP-Führungen (DKP-Parteivorstand und KPD-Führung), die ins gleiche Horn blasen. Offensichtlich haben diese Genossen/innen die Notwendigkeit der Einheit der Marxisten-Leninisten, die Schaffung einer einheitlichen Kommunistischen Partei auf marxistisch-leninistischer Grundlage immer noch nicht erkannt. Nicht in zehn oder zwanzig Jahren brauchen wir eine einheitliche KP, welche die Führung der ArbeiterInnen-Klasse übernimmt, den Klassenkampf organisiert, die Massen mobilisiert usw. - sondern jetzt, so schnell wie möglich. Die Kommunistische Initiative ist die Chance. Nutzen wir sie!

Joachim Becker, Eilenburg

Raute

Frank Flegel: Über die Angst

Vor etwas mehr als einem Jahr hat das Herausgebergremium unserer Zeitschrift beschlossen, den Versuch einer Kommunistische Initiative zu unternehmen mit dem Anliegen, die Marxisten-Leninisten dieses Landes für das Ziel der Schaffung einer einheitlichen Kommunistischen Partei zusammenzuführen, dies als einen langfristigen Prozess anzulegen und das Ganze nicht über Vereinigungsverhandlungen der Parteiführungen (das hat seit inzwischen 20 Jahren nicht funktioniert), sondern über ein Personenbündnis anzugehen; niemand soll seine Partei, Organisation oder Gruppe verlassen, stattdessen aber die Möglichkeit ergreifen, in einer marxistisch-leninistischen Sammlungs- und Dachorganisation mitzuarbeiten.

Diesem Beschluss gingen internen Diskussionen über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr und im gleichen Zeitraum Diskussionen über und mit ähnlichen Initiativen im Ausland voraus. Wichtig in diesem Prozess war, dass der Genosse Bruckner von der Kommunistischen Initiative Österreich uns direkt über die dortigen Erfahrungen informierte.

Die Reaktionen eines Teils der bundesdeutschen kommunistischen Linken auf den Aufruf zur Gründung der Kommunistischen Initiative waren unglaublich. Es würde Seiten füllen, sie hier alle zu beschreiben. Zusammenfassend wären sie gut mit dem Ausspruch von Dietrich Kittner über die drei deutschen Meinungsbildungsmaximen zu charakterisieren: "Das haben wir schon immer so gemacht. Das haben wir noch nie so gemacht. Da könnte ja jeder kommen."

Nun kam aber - ganz ungefragt - dieser "Jeder": die Kommunistischen Initiative. Neue Leute, jung, unverbraucht, völlig unabhängig von den bisherigen Strukturen. Sie meinen es ernst, ihnen ist die Anerkennung der sich in den Jahren seit der Konterrevolution etablierten und sich in ihren Nischen und Reservaten wohlfühlenden "theoretischen Köpfe" gleichgültig. Sie haben die genickbrechenden Mühlen der revisionistischen Wendungen, die die kommunistische Weltbewegung den Genossen seit dem XX. Parteitag der KPdSU zugemutet hat, nicht mitmachen müssen. Ihre politische Sozialisation begann nach der Konterrevolution. Ihr Bezug auf die Vergangenheit heißt nicht Verklärung oder Abgrenzung, also Glaubenssatz, sondern Analyse; ihr Bezug auf die Gegenwart heißt Organisation, Aufbau, Kampf. Zu beidem haben sie sich natürlich Rat geholt bei den Genossinnen und Genossen, die wirkliche Antworten auf ihre wirklichen Fragen liefern können - und dies ohne "Licht und Schatten" in einer undefinierten "Gemengelage" zu sehen, also ohne Eiertänze aufzuführen.

Da ging die Angst um in den Vorständen eines Teils der seit 20 Jahren vor sich hindümpelnden Parteien und Vereine und den von ihnen zur Verzögerung der eigenen Zersetzung hervorgebrachten sanft-linken Oppositionsgruppen. Eine Kooperation wurde von vornherein ausgeschlossen, die Linie hieß stattdessen Abgrenzung und persönliche Diffamierungen.

Wir werden dieses Angstbeißen und die daraus resultierenden Ausgrenzungstendenzen auch weiterhin dokumentieren. Heute und hier soll es um den RotFuchs gehen. Denn auch dort ist man der Auffassung, sich distanzieren zu müssen.

Im Rechenschaftsbericht des Vorstandes des RotFuchs-Fördervereins, gehalten von Rolf Bertold am 31. Oktober 2009, heißt es u.a.:

"In der politischen Praxis gibt es mitunter auch Probleme, die zu Verwirrung führen können. Die vor einiger Zeit mit der Bezeichnung "Kommunistische Initiative" gebildete Gruppierung hat auch eine Veranstaltung zum 60. Gründungstag der DDR durchgeführt. Wir haben uns bekanntlich nicht daran beteiligt. Diese Position möchten wir nochmals bekräftigen. Wir sind durchaus der Auffassung, dass über Probleme in der kommunistischen Bewegung inhaltliche Diskussionen geführt werden müssen, aber unser Ansatz ist dabei immer die Zusammenführung der Kräfte auf der Grundlage klarer Positionen. Etwas anderes führt nur zur Spaltung und Schwächung. Wir stimmen mit den Genossen der DKP, KPD und KPF hier voll überein."

Man muss sich leider immer wieder mit solcherart Lügen und Unterstellungen beschäftigen, es ist nicht zu ändern. Also:

1. Die Veranstaltung "...und der Zukunft zugewandt" wurde nicht von einer "mit der Bezeichnung 'Kommunistische Initiative' gebildeten Gruppierung" durchgeführt, sondern von der Zeitschrift offen-siv(6). Der Vorsitzende des RotFuchs-Fördervereins, Rolf Bertold, weiß dies genauso wie der Chefredakteur, Klaus Steiniger, denn wir haben den RotFuchs mit Brief an beide zur Teilnahme an der Veranstaltung (incl. Möglichkeit der Mitbestimmung über das Programm und der Platzierung eigener Referenten) eingeladen(7). Warum wird im Rechenschaftsbericht des RotFuchs-Fördervereins eine Lüge ausgesprochen?

2. Rolf Bertold formuliert für den RotFuchs-Förderverein in Bezug auf unsere DDR-Veranstaltung: "Wir haben uns bekanntlich nicht daran beteiligt." Und er fährt nicht etwa mit einer Begründung für diese Entscheidung fort, sondern mit dem Satz: "Diese Position möchten wir nochmals bekräftigen." Was denn an unserer DDR-Veranstaltung so kritikwürdig war, dass man nicht teilnehmen konnte, wird nicht offen ausgesprochen, dafür aber orakelnd in den nächsten Sätzen angedeutet: "Wir sind durchaus der Auffassung, dass über Probleme in der kommunistischen Bewegung inhaltliche Diskussionen geführt werden müssen, aber unser Ansatz ist dabei immer die Zusammenführung der Kräfte auf der Grundlage klarer Positionen. Etwas anderes führt nur zur Spaltung und Schwächung." Diesen Vorwurf, wir wären Spalter, kennen wir von Klaus Steiniger schon lange. Der Leser entscheide selbst, ob es nicht vielmehr er ist, der das tut, was er uns vorwirft (siehe Fußnote)(8). Die interessanteste Frage aber ist natürlich die Frage WARUM? Und genau diese Frage WARUM bleibt bei all dem stets ohne Antwort. Es gibt keine inhaltliche Debatte, keine Auseinandersetzung, keinen Diskurs - stattdessen Lüge, Ausgrenzung, Diskriminierung und üble Nachrede.

3. Rolf Bertolt verkündet für den RotFuchs-Förderverein: "Wir stimmen mit den Genossen der DKP, KPD und KPF hier voll überein." Was die Kommunistische Plattform der Partei Die Linke über unsere DDR-Veranstaltung verlauten lassen hat, wissen wir nicht. Über die Reaktionen der DKP-Führung auf die Kommunistische Initiative und der KPD-Führung auf unsere DDR-Veranstaltung sind wir informiert und haben wir bereits berichtet. Kurz zur Erinnerung: Die DKP-Führung hat einen Unvereinbarkeitsbeschluss gegenüber der Kommunistischen Initiative gefasst, die KPD-Führung hat die Unterstützung unserer DDR-Veranstaltung abgesagt und intern zu deren Boykott aufgerufen. Im Namen des RotFuchs-Fördervereins verkündet Rolf Bertolt nun die Übereinstimmung mit diesen Maßnahmen!

Die Beurteilung des Geschehens fällt widersprüchlich aus: einerseits ist es unendlich schade, ja verheerend für die kommunistischen Bewegung in Deutschland, andererseits bringt es Schritt für Schritt Klarheit über diese Akteure und eröffnet so neue und bessere Entwicklungsmöglichkeiten, denn es ist immer gut zu wissen, mit wem man es zu tun hat.

Frank Flegel, Hannover


Anmerkungen

(6) Die Kommunistische Initiative ist inzwischen selbstständig. Seit ihrem Perspektivkongress besteht sie als politische Organisation auf eigener Grundlage. Wir, die Redaktion der Zeitschrift offen-siv, sind ihr selbstverständlich gewogen, es ist und bleibt unser Anliegen, sie zu unterstützen und zu fördern, aber das eine, die KI, ist eine politische Organisation - das andere, die offen-siv, nur eine Zeitschrift, die niemals eine Organisation ersetzen kann.

(7) Als Antwort teilte man uns, der Redaktion offen-siv, mit, dass man eine eigene Veranstaltung durchführe.

(8) Wir hatten Ende des Jahres 2003 um ein Gespräch mit dem RotFuchs gebeten, es fand Anfang Mai 2004 statt. Teilgenommen haben Klaus Steiniger, Rolf Bertolt, Frank Mühlefeldt und Achim Neumann, Anna C. Heinrich, Michael Opperskalski und Frank Flegel. Die Teilnahme Kurt Gossweilers als Mitglied in beiden Herausgebergremien wurde von Klaus Steiniger im Vorfeld abgelehnt. Resultat des Gespräches: null. Im von Klaus Steiniger daraufhin an die DKP-Parteiführung gesendeten Brief erklärte er: "Seitens des RotFuchs bestand an der Unterredung, die in gespannter Atmosphäre stattfand, kein inhaltliches Interesse. Die Verhandlungsdelegation des RotFuchs ging davon aus, die Beziehungen abzubrechen, also keine Übereinkünfte herbeizuführen." (Brief von Klaus Steiniger an den Parteivorstand der DKP vom 3.7.2004)

Klaus Steiniger schrieb im RotFuchs, Dez. 2008: "Personen aus dem "Umkreis" der in Hannover erscheinenden Zeitschrift "offen-siv" - sie ist de facto seit langem mit dem Auseinanderdividieren linker Kräfte befasst - haben "Marxisten-Leninisten" zum möglichst umgehenden Zusammenschluss in einer "Kommunistischen Initiative" aufgerufen. Daraus soll "mal so auf die Schnelle" eine avantgardistische Partei hervorgehen. Gemeinsam mit "Personen aus" DKP, KPD und KPD(B), deren Publikationsorgan "Trotz alledem" Michael Opperskalski, Köln, - der tonangebende Mann bei "offensiv" - als Leitartikler bedient, sollen zu einem "Unterstützerkreis" gehören. Es wird behauptet, der Zeitpunkt für den Zusammenschluss von "Marxisten-Leninisten - dieser hier missbrauchte Begriff wird im Aufruf der Initiatoren unzählige Male verwendet - sei "nie so günstig gewesen wie heute". Ein "vorläufiges Komitee" lädt zu Veranstaltungen ein. Vermutlich zielt "offensiv" als der eigentliche Regisseur des Unterfangens mit diesem jüngsten Einfall auf Irreführung redlicher Genossen und deren Missbrauch. Es geht offensichtlich um das Herauslösen marxistisch-leninistischer Kader aus linken Organisationen, was ihre Isolierung und Einflusslosigkeit zur Folge haben würde. Anvisiert ist die mit Einheitsphrasen getarnte Spaltung der Linkskräfte."

Raute

EIN LESERBRIEF

Gerhard Schiller: Was Kommunismus heißt oder verlangt

Ich bin recht froh, mich 2009 für den Bezug von "offen-siv" entschieden zu haben und bedauere in einer Art Selbstkritik mein vorheriges Zögern. Als SED-Mitglied seit 1947 bin ich nach der Konterrevolution, die man als Wende oder gar friedliche Revolution bezeichnet, der linken Bewegung innerlich wie äußerlich treu geblieben und so in die PDS marschiert; zusammen mit meiner Frau. Ich habe aus dieser Umbruchszeit sehr unangenehme Erinnerungen, weil viele Genossen aus meinem Betrieb, dem VEB Projektierungsbüro Süd Dresden, für die ich die Hand ins Feuer gelegt hätte, ausgetreten und verschwunden sind. Mit einigen Wenigen, treu Gebliebenen habe ich heute noch Verbindung aus dem Umstand heraus, dass ich Leserbriefe in SZ Dresden und ND schreibe, d.h. Angebote dafür, denn nicht alles wird veröffentlicht. Man muss da den Geschmack der Redaktion treffen. Aber die Redaktionen dieser Zeitungen tendieren unterschiedlich in Richtungen, die mir nicht gefallen, womit ich mich aber abfinden muss. Die SZ ist im Medien-Müll West angekommen, wo Beiträge von mir, vor 10 Jahren noch veröffentlicht, heute gar nicht mehr durchkämen. Aber auch das ND hat m.E. etwas an Richtungsänderung vollzogen. Was soll's? Das sind eben so Dinge, die mich beschäftigen und die natürlich überhaupt nicht in diesen Brief müssen. Wollte sagen, die Wenigen rufen manchmal als Reaktion auf solche Leserbriefe an und so kommt die Verbindung zustande.

Nun, was ich noch betonen will, was mich bewogen hat, nach Büchern auch die Zeitschrift offen-siv zu beziehen, ist, dass die Sprache, die dort gesprochen bzw. niedergeschrieben wird, mir mehr gefällt als manch anderes. Will sagen, ich lese Dinge aus der Vergangenheit, in der ich gelebt und mitgewirkt habe, die mir vieles erklären, was mir damals wenig oder nicht erklärlich war und was andere Publikationen nicht oder wenig, zu wenig, tun. Ich habe darüber auch schon in unserer Linken Basisgruppe gesprochen, wo wir alten Leute, max. 15 an der Zahl, und jeden ersten Montag im Monat treffen und aus unserer Sicht und Erfahrung Austausche führen. Und so finde ich mich in einer Welt, wo ich sage, früher, zu DDR-Zeiten, habe ich oft in Versammlungen u.ä. gesagt, wir, je nach Anlass, wir, die Kommunisten, müssen das oder jenes tun und packen, - aber echte sind wir wohl doch nicht gewesen, weil zum Teil doch nur Parteisoldaten mit Lippenbekenntnissen. Heute, in diesem Alter, merkt man erst, was Kommunismus heißt oder verlangt und zieht sich in der Praxis dahin. Was aber nicht jeder aus meiner Zeit so findet.

Abschließend: offen-siv lese ich nicht nur aus (diplomatischem) Interesse, sondern weil das Dortige meiner Überzeugung entspricht. Und die ist nun tatsächlich eine kommunistische, ich kann's nicht leugnen. Ich finde aber auch durch diese Publizistik nicht nur meine Einstellung, sondern auch die erlebte Praxis bestätigt. Damit bin ich ein zufriedener Mensch - leider durch das Chaos der kapitalistischen Verhältnisse in Ruhe und Zufriedenheit gestört.

Gerhard Schiller, Dresden

Raute

GEDENKEN AN KARL-HEINZ REINHARDT

Dieter Itzerott: Erinnerungen an einen Unentbehrlichen, der viel zu früh von uns ging.

Erinnerungen an meinen Freund und Genossen Karl-Heinz Reinhardt.


B. Brecht:
"Die Schwachen kämpfen nicht. Die Stärkeren
Kämpfen vielleicht eine Stunde lang.
Die noch stärker sind, kämpfen viele Jahre. Aber
Die Stärksten kämpfen ihr Leben lang. Diese
Sind unentbehrlich."


Von solcher Stärke war Karl-Heinz Reinhardt.

Am Morgen des 2.12.2009 waren seine Kräfte aber erschöpft, der Tod setzte einem unermüdlichen Kämpferleben für die Sache des Kommunismus ein Ende. Wenige Tage zuvor saß ich an seinem Krankenbett. Obwohl er vom nahen Tod gekennzeichnet war, konnten wir miteinander sprechen. Er gab mir ein letztes Mal zu verstehen, dass er nichts bereute und vom kommenden Sieg der Sache, für die er lebte, überzeugt war. Karl-Heinz hatte mit bewundernswerter Geduld ertragen, was geschah. Er sagte stets: "So lange mein Kopf noch klar ist, wird mein Herz stark sein für den Kampf."

So hat er uns allen die Erkenntnis vermittelt, dass man den Wert eines Menschen vor allem daran messen kann, wie er Belastungen zu meistern versteht.

Ich will sein Leben nicht heroisieren, das ist nicht unsere Art. Ich will auch nicht, dass wir ihn als fehlerfreien, strahlenden Helden in Erinnerung behalten. Das war er nicht, das wollte er nicht sein. Er hat sie durchlebt, die Zeit der Niederlage in einer Konterrevolution, durch die die DDR annektiert und die Sowjetunion zerschlagen wurde und nach der die kommunistische Bewegung am Boden lag. Er erlebte das Triumphgeheul des Klassenfeindes und dessen Kriminalisierungshetze, der er als ehemaliger Tschekist genauso wie seine Genossen vom MfS besonders ausgesetzt war. Er kannte auch die damit verbundenen Gefühle der Entmutigung und Resignation. Am meisten erschütterte ihn, dass so viele der vermeintlichen Mitstreiter sich als Karrieristen entpuppten, zum Gegner überliefen und skrupellos dessen Handwerk versahen.

Die bohrende Frage war: "Wie konnte das geschehen?" - "Welche Ursachen führten zu dieser Katastrophe?" Die Frage nach der Antwort hat ihn beschäftigt bis zuletzt.

An einem aber hat er nicht gezweifelt, daran, dass er auf der richtigen Seite gekämpft hatte. Durch die Zusammenarbeit mit solchen hervorragenden Genossen wie Kurt Gossweiler gewann er Klarheit über viele seiner Fragen. Auf dieser Basis bewahrte er auch nach der Konterrevolution sein revolutionäres Selbstbewusstsein. Der Kriminalisierungshetze trat er mutig entgegen, er war ein Gründungsmitglied der ISOR in Leipzig, widmete sich der Betreuung der Genossen und hielt bis zuletzt Kontakt zu seinen ehemaligen sowjetischen Kampfgefährten.

Karl-Heinz war ein einfacher Mensch, ein Arbeitersohn, stark im Charakter, einfach und bescheiden in seinen Ansprüchen. Gerade das machte ihn geeignet, in der DDR in verantwortlichen Funktionen zu wirken. Die DDR, der Arbeiter- und Bauernstaat, das war für ihn kein Schlagwort. Für ihn war und blieb sie die größte historische Errungenschaft der deutschen Arbeiterbewegung. Sein ganzes politisch bewusstes Leben stand er in ihrem Dienst, zunächst als Offizier des Ministeriums für Staatssicherheit und später als leitender Funktionär für Sicherheit im Apparat seiner Partei, der SED.

Auf der Suche nach seinem Platz im revolutionären Kampf in einer nichtrevolutionären Phase der Geschichte, für eine Strategie, die auch in der konterrevolutionären Phase eine über das kapitalistische System hinausführende sozialistische Perspektive ansteuert, zog er Schlussfolgerungen für seine politische Organisiertheit. Er trat 1997 aus der PDS aus. "Das war nicht mehr meine Partei" sagte er.

1998 wurde er Mitglied der DKP und gründete gemeinsam mit anderen Genossen am 25.2.1998 die DKP-Leipzig, deren Vorsitzender er bis 2006 war. Er war ein kritisches Mitglied, suchte immer den Kontakt zu den Genossen in Berlin und Sachsen-Anhalt und zu DKP-Mitgliedern, die ähnliche, kritische Positionen einnahmen. Das machte ihn nicht beliebt beim DKP-Vorstand in Essen, der den Vorschlag der Leipziger Organisation, der von allen DKP-Mitgliedern Sachsens unterstützt wurde, ihn auf dem 17. Parteitag in den Vorstand zu wählen, zu Fall brachte. Es war also vorauszusehen dass ihm kein Vertreter des Vorstands an seinem Grab die letzte Ehre erwies. Er stellte sich seine Partei in manchen Fragen anders vor, wollte aber in der Partei für Veränderungen wirken.

Es war darum folgerichtig, dass er zu den ersten Befürwortern der "Kommunistischen Initiative" gehörte. Den Unvereinbarkeitsbeschluss des Parteivorstandes lehnte er ab, genauso wie er nicht verstand, dass Genossen, mit denen er zusammengearbeitet hatte und die immer von der Einheit der Kommunisten redeten, diese Initiative ohne sachliche Begründung engstirnig ablehnten und als "Spalter-Aktion" diffamierten.

Mutig und entschlossen trat er neofaschistischem Ungeist in Leipzig und dem allgegenwärtigen Antikommunismus entgegen. Auf einer Konferenz für Aktionseinheit hob er hervor: "In diesem Kampf brauchen wir die Jugend!" Er schlug vor, den 8. Mai, den Tag der Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus, bundesweit zum Aktionstag gegen Neofaschismus und Krieg zu erklären.

Die Kraft für den Kampf gab ihm immer wieder seine Ehefrau Erika, davon habe ich mich immer wieder überzeugen können. Die feste Gemeinsamkeit und ihre Liebe zueinander wurzelten in der Lebensauffassung beider und in langer gemeinsamer Arbeit. Eine starke Basis für ein sinnvolles Leben.

Wenn ich mich an die vielen Gespräche mit ihm, an seine Reden und Artikel erinnere, dann kristallisiert sich ein Vermächtnis heraus, in seinem Geist für folgende Ziele weiter zu wirken:

- die DDR, ihre historische Rolle und Leistungen standhaft und kämpferisch gegen den BRD-Geschichtsrevisionismus und die Kriminalisierungs-Kampagnen der Herrschenden zu verteidigen, dabei bei der weiteren Analyse ihrer Niederlage ihre Versäumnisse, Defizite und zum Teil schwerwiegende Fehler einzuschließen. Das Gefasel von der "friedlichen Revolution" hat er als historisch unhaltbar entlarvt. Er kannte dessen Charakter als Konterrevolution. Er hatte sie unmittelbar erlebt und dazu einen Artikel hinterlassen, den ich als Beigabe anfüge;

- in breiter Aktionseinheit auch in Zukunft den Kampf gegen alle Erscheinungen des Neofaschismus zu führen;

- als vorrangiges Ziel zu verfolgen, die Jugend in alle Kämpfe einzubeziehen;

- die Diskussion zur Frage des Parteienverständnisses in seinem Sinne weiterzuführen. Sein Parteienverständnis war das von einer marxistisch-leninistischen Partei, wie es von Lenin ausgearbeitet wurde.

Ich weiß, dass ein Mensch wie Karl-Heinz Reinhardt, ein solcher Kommunist, nicht vergessen wird, sondern in unserer Erinnerung, in unseren Kämpfen weiterlebt.

Es ist unsere Verantwortung, sein Vermächtnis weiter zu tragen und zu erfüllen.

Dieter Itzerott, Torgau


*


Karl-Heinz Reinhardt: Die Konterrevolution auf Filzlatschen - Montagsdemonstration in Leipzig

(Der nachfolgende Artikel von Karl-Heinz Reinhardt wurde uns von Dieter Itzerott übergeben, um ihn als sein Vermächtnis abzudrucken. Wie uns Dieter Itzerott mitteilte, hätte Karl-Heinz Reinhardt den Artikel zu seinen Lebzeiten gern in "Theorie und Praxis" veröffentlicht gesehen. Wir wissen nicht, warum das nicht geschah. Red. offen-siv)

Nein, die Veränderung der Macht- und Eigentumsverhältnisse und damit die Liquidierung der DDR fanden sich zunächst nicht in den erklärten Losungen der seit Januar 1989 organisierten Montagsdemonstrationen selbsternannter Bürgerrechtler in Leipzig. Mit Rosa Luxemburgs Worten "Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden" wurde - von den "friedlichen Revolutionären" initiiert - am 15. Januar 1989 eine Rosa-Luxemburg-Demonstration durch die Leipziger Innenstadt organisiert, die sich selbst als die größte oppositionelle Demo vor denen im Oktober 1989 bezeichnete. Eine politische Nähe zu Rosa Luxemburg aber konnte ihnen wahrhaftig nicht nachgesagt werden. Es gehörte in dieser Zeit zur erklärten Zielstellung solcher Elemente wie eines Roland Jahn, von Westberlin aus das Potential der oppositionellen Gruppen mit Antragstellern auf Übersiedlung nach der BRD zusammenzuführen. Denn dieser Kreis war, gemessen an Zahl und Aggressionsbereitschaft um ein Vielfaches größer als der der Oppositionsgruppen. Es wurde das Ziel verfolgt, den gemeinsamen Aktionen dieser Kräfte mehr Gewicht und Erfolg zu geben.

Solche Leipziger Oppositionsgruppen wie der Arbeitskreis "Solidarische Kirche", die "Initiativgruppe Leben" und die "Arbeitsgruppe Menschenrechte", in denen ab 1988 die Ausreiseantragsteller dominierten, wurden nach Jahns Empfehlungen vor allem wirksam über die Gestaltung der so genannten "Friedensgebete" in der Leipziger Nikolaikirche. Nicht von ungefähr gibt es heute Vorschläge selbsternannter "Bürgerrechtler", dass der Platz vor der Nikolaikirche ab 2009 den Namen "Platz der friedlichen Revolution" tragen soll.

Vorwiegend von den unter dem Dach der evangelischen Kirchen agierenden Gruppen wurden illegale Publikationen hergestellt und verbreitet, die antisozialistisch geprägt waren. Die Voraussetzungen für die Herstellung waren größtenteils mit westlicher Hilfe und oft durch kirchliche Unterstützung geschaffen worden, insbesondere durch die Bereitstellung von Vervielfältigungstechnik. Dazu gehörte ebenfalls die regelmäßige Einschleusung westlicher Publikationen sowie die Veröffentlichungen oppositioneller Kräfte anderer sozialistischer Länder.

Mit dem "Neuen Forum", der "Böhlener Plattform", der neu gegründeten "Sozialdemokratischen Partei", der Gründung von "Demokratie jetzt" und dem "Demokratischen Aufbruch" hatten sich die antisozialistischen Kräfte jenes politische Potential geschaffen, mit dem sie stärker, zielgerichtet und abgestimmt in Konfrontation zur Staatsmacht gingen. Provokationen gegen die Schutz- und Sicherheitsorgane der DDR nahmen zu und drohten zu eskalieren. Mit Hilfe westdeutscher Medien und Teilnehmern mit Reichskriegsflagge aus der BRD wurden aus Sprechchören und Transparenten wie "Wir sind das Volk" nunmehr "Wir sind ein Volk", richteten sich die Hauptangriffe zunehmend gegen die Partei- und Staatsführung sowie das Ministerium für Staatssicherheit der DDR.

Forderungen nach "freien Wahlen", und "Reformen", nach "unbegrenzter Demokratie" wurden in Wort und Schrift massenwirksam verbreitet. Ein zur Montagsdemonstration in Leipzig mitgeführtes Plakat mit der Aufforderung "Honecker und die Stasi an den Galgen" ließ das meist verdeckt vorgetragene Ziel nach Veränderung der Machtverhältnisse in der DDR und der Liquidierung des sozialistischen Staates nunmehr offen erkennen. Klarer formulierte das der "Bürgerrechtler" Jürgen Tallig vom "Neuen Forum" in seiner Ansprache auf einer Montagsdemonstration: "Unsere Revolution ist in die zweite Phase getreten. Nachdem wir in der ersten unsere elementaren Rechte erkämpft haben, steht nunmehr die Machtfrage auf der Tagesordnung. Konkret die Beseitigung der SED-Herrschaft."

Diese Konzeption wurde auf der Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989 und den so genannten "Friedensgebeten" in vier Leipziger Kirchen mit dem Ziel, oppositionelle Standpunkte erneut zu artikulieren, planmäßig umgesetzt. Was sich anschloss, war nicht der "Protest" von 70.000 Leipzigern, sondern die organisierte Demonstration aus fast allen DDR-Bezirken, die zu Tausenden mit Bahn und PKW anreisten. Die Atmosphäre wurde in höchstem Maße angeheizt und drohte zu eskalieren. Dass es nicht dazu kam, wird in der heutigen "Geschichtsschreibung" fälschlicher Weise allein den "friedlichen Demonstranten" zugeschrieben, das besonnene Verhalten der Schutz- und Sicherheitsorgane wird dagegen geleugnet.

Der 9. Oktober 1989 und die folgenden Großdemos in Leipzig und Dresden zeigen eindeutig, dass eine gut durchdachte Organisation der Konterrevolution existierte, die in der Folgezeit zur Veränderung der Macht- und Eigentumsverhältnisse und zur Einverleibung der DDR in die BRD führte. Die Zersetzung und Demontage der SED, das Verbot und die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit, der Kampfgruppen der Arbeiterklasse und der GST (Gesellschaft für Sport und Technik) bereiteten den Boden für den Erfolg der Konterrevolution.

Bleibt noch nachzutragen: Bei der Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 haben in Leipzig 70.000 für ein bessere Leben demonstriert. Wenige Jahre später, im Dezember 2004, hatte die "Heldenstadt" Leipzig 71.412 Arbeitslose...

"Jede Inkonsequenz oder Schwäche bei der Entlarvung derjenigen, die sich als Reformisten oder 'Zentristen' erweisen, vergrößert direkt die Gefahr eines Sturzes der proletarischen Staatsmacht durch die Bourgeoisie, die morgen für die Konterrevolution das ausnutzen wird, was heute kurzsichtigen Leuten nur eine 'theoretische Meinungsverschiedenheit' zu sein scheint." (W.I. Lenin, Werke, Bd. 31, S. 178)

Karl-Heinz Reinhardt (†), Leipzig

Raute

Achtung!

Der Protokollband unserer Konferenz zum 60. Jahrestag der Gründung der DDR wird wahrscheinlich erst im März erscheinen!

Wir bitten um Euer Verständnis.


*


IMPRESSUM

offen-siv, Zeitschrift für Sozialismus und Frieden

Herausgeber: Verein zur Förderung demokratischer Publizistik e.V.

Geschäftsführung, Redaktion, Satz, Herstellung und Schreibbüro:
A. C. Heinrich und F. Flegel
Druck: Lange und Haak, Orsingen-Neuzingen.
Bezugsweise: unentgeltlich, Spende ist erwünscht.

Postadresse: Redaktion Offensiv
Frank Flegel, Egerweg 8, 30559 Hannover
Telefon und Fax: 0511 - 52 94 782
E-Mail: redaktion@offen-siv.com
Internet: www.offen-siv.com

Spendenkonto Inland: Konto Frank Flegel,
30 90 180 146 bei der Sparkasse Hannover, BLZ 250 501 80

Spendenkonto Ausland: Konto Frank Flegel, Internat. Kontonummer.
(IBAN): DE 10 2505 0180 0021 8272 49
Bankidentifikation (BIC): SPKHDE2HXXX; Kennwort Offensiv

Freundeskreis offen-siv
A. Vogt, Telefon: 0351 - 41 79 87 91
E-Mail: freundeskreis@offen-siv.com


*


Quelle:
Offensiv Nr. 1/2010 - Zeitschrift für Sozialismus und Frieden
Postadresse: Redaktion Offensiv
Frank Flegel, Egerweg 8, 30559 Hannover
Telefon und Fax: 0511 - 52 94 782
E-Mail: redaktion@offen-siv.com
Internet: www.offen-siv.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Februar 2010