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MARXISTISCHE BLÄTTER/638: Welches Russland haben wir eigentlich verloren?


Marxistische Blätter Heft 3-17

Welches Russland haben wir eigentlich verloren?

von Jelena und Alexander Charlamenko


Erinnern Sie sich, lieber Leser, wie die Delegierten eines der letzten Sowjetkongresse mit angehaltenem Atem das filmische Meisterwerk von Stanislaw Goworuchin über "Russland, das wir verloren haben" ansahen und im Anschluss daran einmütig für die Unabhängigkeit Russlands von sich selbst, für die weißgardistische Wlassow-Fahne und für einen Präsidenten stimmten, der sie alle schon nach kurzer Zeit auseinanderjagen sollte? Die Schuld dafür, dass wir es verloren hatten, wurde nun selbstverständlich nicht in den 1990er Jahren gesucht, sondern 1917 - im "Oktober-Putsch von Lenin und Trotzki", wie die heutigen "Demokraten" und "Nationalpatrioten" im Gefolge von Propagandisten weißgardistischer oder Goebbelsscher Provenienz dieses Ereignis zu nennen pflegen.

Für die Herren Demokraten, die auch heute wieder in Opposition zu einem Regime stehen, das sie einst selbst errichteten, ist der Oktober schon deswegen schlecht, weil er Russland von seinem "natürlichen", "normalen", "allgemeinmenschlichen" Entwicklungspfad abgebracht habe; mit anderen Worten, seinetwegen sei das Land aus der Weltzivilisation gefallen - wohin auch immer, und erst heute wieder - hurra! - kehre es wieder auf diesen Pfad zurück.

Für die Herren Nationalpatrioten, die ihrerseits natürlich die Demokraten auf den Tod nicht ausstehen können, verhält sich die Sache irgendwie genau andersherum: Es gab gar kein glücklicheres Land auf Erden als Mütterchen Rus' solange es seinen eigenen urwüchsigen Weg der Rechtgläubigkeit, Selbstherrschaft und Volkstümlichkeit beschritten hatte; das ganze Unglück rühre daher, dass es im Februar 1917 zunächst von den liberalen Westlern und kurz darauf von den internationalistischen Bolschewiki von diesem Weg abgebracht wurde, die sein Glück dem Moloch der Weltrevolution geopfert hätten.

Und schließlich würdigen zwar einige Linke in und außerhalb Russlands im Gefolge von Kautsky und Plechanow den Februar, aber was den Oktober angeht, so zeigen sie sich nicht völlig "dagegen", doch auch nicht ganz "dafür". Was soll man machen, Russland war eben nicht reif für einen echten Sozialismus, es hatte ja vor 1917 noch nicht mal geschafft, bei sich den Kapitalismus so wie in den zivilisierten Ländern zu entwickeln, daraus ergab sich halt die ganze folgende Misere.

Was aber haben wir in Wirklichkeit verloren und was haben wir im Oktober 1917 gewonnen?

Wir haben es hier mit direkt entgegengesetzten Positionen zu tun, die sich inzwischen kraft Autorität, Macht und Geld verfestigt haben. Wir sollten versuchen, nicht der Manipulation und vorgefertigten Erklärungsmustern zu verfallen, sondern eine eigene Position zu erarbeiten.

Dazu ist es, erstens, erforderlich, sich von dem ausgreifenden und unbestimmten "Wir" zu verabschieden, das von Politikern und Publizisten jeglicher Richtungen eindeutig missbraucht wird. Wenn die Autoren der Kürze halber dieses Pronomen gebrauchen sollten, dann sei vorab vereinbart, dass sie darunter das werktätige und ausgebeutete Volk Russlands verstehen werden, nicht aber die Wenigen, die "in Russland glücklich leben".(1)

Zweitens aber sollte man sich nicht auf romantische Legenden stützen, sondern auf historische Tatsachen, darunter solche, die man nicht nur seit einem Jahr oder Jahrzehnt absichtlich der Vergessenheit anheimgibt.

Wir haben 1917 durchaus nicht das rückschrittlichste Land verloren - wenn man auf die wenigen städtischen Industrie-, Wissenschafts- und Kulturzentren blickt -, zweifellos aber das ärmste in Europa. Nirgendwo, außer in Brasilien und einigen asiatischen Kolonien und Halbkolonien, gab es derartig massenhafte - nämlich ganze Gouvernements erfassende - und derartig regelmäßige - nämlich alle sechs bis sieben Jahre eintreffende - Hungersnöte mit Millionen Opfern, wie in Russland. Ja, das Land ernährte mit seinem Getreide beinahe ganz Europa, und darüber schreiben unsere Demokraten und Patrioten gleichermaßen begeistert. Ihnen kommt nicht einmal in den Sinn, dass Getreideexport aus einem Land, das fast vollständig in einer Zone mit Risikolandwirtschaft liegt, Hunger im Gefolge haben musste, und zwar selbst bei fortgeschrittener Agrotechnik und Rekordernten. Das vorrevolutionäre Russland aber war gekennzeichnet, ungeachtet aller Anstrengungen von Wassilij Dokutschajew(2) und seiner Schule, von Auslaugung seiner Böden, und zwar über viele Gouvernements, selbst Schwarzerde-Gebiete hinweg, von Wasser- und Winderosion überall im Süden (Waldstreifen, wie sie Dokutschajew empfohlen hatte, begann man erst zu Sowjetzeiten zu pflanzen) und von Verheerungen der Felder durch Heuschrecken, Feuerbrünste oder Mutterkorn u.ä. Das konnte auch gar nicht anders sein auf den winzigen bäuerlichen Parzellen (70 Millionen Bauern verfügten über genauso viel Grund und Boden wie 75.000 Gutsbesitzer), und bei einem Regierungssystem, das nicht einmal die letzte von der Natur und Geschichte zugefallene Chance sinnvoll zu nutzen wusste - die Masse freier Ländereien in Russlands Osten (bekanntlich nahm man unberührte Ländereien und Brachen erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts unter den Pflug).

Wir haben seit 1917 eines der Länder Europas mit der höchsten Analphabeten-Rate verloren, das diese kaum beneidenswerte Spitzenposition mit Rumänien und Serbien teilte. Schlechter stand es nur noch in den Kolonien und Halbkolonien, dabei nicht einmal in allen. Vor über 100 Jahren, am Ende des aufgeklärten 19. Jahrhunderts, schwankte der Alphabetisierungsgrad in den großrussischen Gouvernements zwischen 15 und 30 Prozent. Die Semstwo-Statistiken(3) errechneten beispielsweise für das Gouvernement Smolensk, dass dort bei Beibehaltung des damaligen Tempos der Volksaufklärung auch gegen Mitte des 20. Jahrhunderts noch 42-48 % der Männer und 92-94% der Frauen Analphabeten geblieben wären. Muss man da noch die nationalen Randgebiete erwähnen, wo nach analogen Schätzungen die Überwindung des Analphabetismus 2000 Jahre erfordert hätte ...

Und just hier mischte sich die Revolution ein: In nicht einmal zwanzig friedlosen Jahren war das Analphabetentum überwunden (wie übrigens auch in anderen Ländern des Frühsozialismus, bei all seinen Mängeln). Nicht wahr, was für einen schrecklichen Schlag gegen "unseren" überlieferten Spiritualismus haben die bolschewistischen Übeltäter geführt! Ganz anders die Provisorische Regierung, die der Heiligen Synode das Doppelte der Haushaltssumme bewilligte, die sie dem Industrieministerium zugestand ...

Wir haben 1917 eines der am meisten kranken Länder Europas verloren. Wo noch außer in den Kolonien und Halbkolonien starben zu Beginn des 20. Jahrhunderts so viele Menschen an Pocken, Cholera, Typhus, Malaria, Tuberkulose, Diphterie? Wo noch waren ganze Dörfer vollständig mit Syphilis angesteckt? Wo noch kam die Hilfe einer Hebamme nur 2 von 100 Säuglingen zugute? Die verfluchten Bolschewiki hingegen führten, kaum waren sie an die Macht gelangt, die Impfpflicht ein - und daran hinderte sie weder Krieg noch Zerstörung. Im Verlaufe der schon erwähnten nicht friedlichen 20 Jahre befreite sich die UdSSR von Pocken, Pest und Cholera, und binnen der 15 bis 20 Nachkriegsjahre von Typhus und Malaria. Auch Diphterie, Tuberkulose und Syphilis konnten sich nicht mehr ungehemmt entfalten, solange unsere heutigen Demokraten noch nicht gesiegt hatten. Kurzum, totalitär handelten die Kommunisten, und ganz und gar nicht wie die späteren Verfechter der Demokratie. In Großbritannien ist fast 200 Jahre nach Edward Jenner die Pockenschutzimpfung nicht mehr verpflichtend. Auch in der Russischen Föderation unter Jelzin wurden die Impfungen gegen Diphterie nicht mehr vorgeschrieben - Freiheit heißt eben Freiheit!

Wir haben ein Land verloren, in dem sich bis dato kein Volk, kein nationales Gebiet, Finnland ausgenommen, selbst verwaltet hatte - ungeachtet seiner Zusammensetzung aus der, im Vergleich zu Europa und der übrigen Welt, höchsten Anzahl von Nationalitäten.

Ein Land, das vermutlich die meisten Konfessionen verzeichnete, wo aber der Zarismus der Orthodoxie den Vorrang als Staatsreligion gesichert hatte. Infolge einer solchen, mit Verlaub gesagt, Politik säte man für Jahrzehnte Zwist, wo immer es möglich war: in Polen und Litauen, in der Ukraine und in Mittelasien, in Adygeja und Abchasien, in Dagestan und Tschetschenien - und dessen blutige Ernte haben die Völker Russlands und seiner Nachbarländer bis heute einzufahren. Die von unseren Patrioten so innig geliebten Zaren Alexander III. und Nikolai II. hatten ihr Reich vor der ganzen Welt verherrlicht, indem sie ihre Beschränkung des Wohn- und Arbeitsrechts der jüdischen Bevölkerung in sogenannten Ansiedlungsrayons anpriesen, falsche Anschuldigungen gegen Udmurten(4) aus dem Ort Staryj Multan und gegen den Juden Menachem Mendel Bejlis(5) wegen angeblicher Menschenopfer verbreiteten und Armenier und Aserbaidshaner gegeneinander hetzten.

Unsere Patrioten berufen sich auch mit Vorliebe darauf, dass die Selbstherrschaft immerhin Truppen aussendete, um Juden- und Armenier-Pogrome zu beenden. Man höre und staune, was für eine Leistung! "Wir" unterscheiden uns immerhin in irgendeiner Hinsicht von Sultan Abdülhamid II.(6) und seinen jungtürkischen Günstlingen!(7)

Und wie typisch das ist für die alten und neuen "Besitzer der russischen Erde": Erst schafft man alle nötigen Bedingungen für Pogrome, dann aber fasst man sich an den Kopf und schickt Soldaten aus, die die Suppe auszulöffeln haben. Hatten nicht auch dieselben Besitzer behauptet: "Wir wollten es ja besser machen, aber am Ende war es wie immer?" Überall und in allem verwandelte die herrschende Klasse gleichsam vorsätzlich das Land in eine Pulverkammer, und wünschte weder moralischen Bedenken, noch einem elementaren Selbsterhaltungstrieb Gehör zu schenken. Und wieder mussten dieselben bolschewistischen Übeltäter das beinahe auseinandergebrochene Land zusammen sammeln - im Grunde dauerte das etwa fünf Jahre.

Die antikommunistischen Patrioten wissen darauf nichts zu entgegnen, sie ziehen es vor, sich am besten überhaupt nicht daran zu erinnern oder diesen Umstand den Intrigen von jüdisch-freimaurerischen oder anderen Widersachern zuzuschreiben. Und was kostet es schon, Lenin das Auseinanderbrechen Russlands in Unionsrepubliken in die Schuhe zuschieben, obwohl unter seiner Führung nur diejenigen einen solchen Status hatten, die sich de facto schon vor dem Oktober 1917 losgelöst hatten - wer hat hier das Land zum Zerfall gebracht und wer hat es vereinigt?

Die "Demokraten" könnten darauf antworten: Sehen Sie, wir hatten doch recht, Russland war in vieler Hinsicht ein barbarisches Land, denn es musste unter dem Joch des orientalischen Despotismus leiden; hätte es sich dagegen der führenden westlichen Zivilisation zugewandt, so hätte es sich mit Siebenmeilenstiefeln vorwärts bewegt, doch das verhinderten die Bolschewiki - und verhindern die Kommunisten bis heute. Das klingt scheinbar einleuchtend, und heute glauben sogar eine Menge Leute daran, besonders die so genannten Intellektuellen.

Nun, was immer man davon halten mag: Eine Hinwendung zur westlichen Zivilisation - und zwar keine eingebildete, sondern eine tatsächliche - hatte es im vorrevolutionären Russland mehr als genug gegeben.

Im Oktober 1917 haben wir eines der abhängigsten Länder Europas verloren. Wir haben ein Land verloren, wo mindestens die Hälfte des Bankkapitals in französischen, englischen und deutschen Händen lag. Wenn man nur die größten Banken nimmt, die in der russischen Wirtschaft die eigentlichen Herren im Hause waren, so erweist sich die Kontrolle durch das Ausland als total. Die Kapitalien dieser Bankmonopole wurden in riesige Industrie-Syndikate investiert, wie z.B. "Prodamet" und "Produgol"; letzteres wurde sogar aus Paris dirigiert und sein Statut war auf Französisch verfasst. Ausländischen Monopolen gehörte zu mehr als die Hälfte die Donezker Kohle, der Erdöl von Baku und das Gold von der Lena.

Seit den Zeiten Alexanders III., des Abgotts unserer Nationalpatrioten, schlingerte Russland immer stärker in die Schuldenfalle hinein, so dass es zum Jahre 1917 zweimal mehr Zinsen zu bedienen hatte, als die wichtigsten Grundfonds seiner Industrie wert waren. (Erinnert Sie das nicht an etwas, verehrter Leser?) Man bezahlte nicht nur mit Geld, sondern auch mit dem Blut russischer Soldaten und Offiziere: Russland führte jetzt Kriege, die den westlichen Kreditgebern nützlich waren - von der Teilnahme an der schändlichen Strafaktion in China bis zur Katastrophe des Ersten Weltkrieges. Die wichtigsten Kreditgeber wechselten: Bis 1914 war es Frankreich, danach Großbritannien, und der Provisorischen Regierung saßen schon die USA im Nacken.

Keineswegs verändert hatte sich dagegen der "gleichberechtigte" Charakter ihrer Beziehungen mit Russland. Die Franzosen hatten eine besondere Bank gegründet, um die "Kooperation" auf industriellem Gebiet anzuleiten. An deren Spitze standen Unternehmer, die in afrikanischen Kolonien gewirtschaftet hatten. Die Engländer zwangen das Petersburger Kabinett, die russische Handelsflotte der britischen Admiralität zu unterstellen, und begannen selbst zu entscheiden, was, wo und zu welchem Preis Russland importieren wird. Sie nutzten ihrerseits die Zerrüttung im verbündeten Land aus, um billig russische Gold- und Platingruben aufzukaufen, Eisen-, Kupfer-, Asbest-, Manganvorkommen sowie die Quellen von Osmium und Iridium auszubeuten. Engländer, Franzosen und Belgier gemeinsam schufen - auf staatlicher Ebene - eine der ersten transnationalen Korporationen für den Aufkauf von russischem Wald und Flachs. Englische und französische Banken boten Russland eine Anleihe an, um sich das Recht zum Verkauf von Streichhölzern in ganz Russland für 10 bis 20 Jahre zu sichern. Amerikaner beschlossen, die russischen Eisenbahnlinien unter Kontrolle zu nehmen und hatten dafür bereits ein bewaffnetes Fachleute-Kontingent entsandt.

Nicht weniger eindrucksvoll ist die selbst zu Sowjetzeiten selten erinnerte Geschichte vom russischen Getreideexport an die westlichen Verbündeten. Sie hatten die Möglichkeit, Getreide aus den vom Krieg nicht betroffenen USA, aus Kanada, Australien oder Argentinien zu beziehen; doch die engsten Freunde von Nikolai II. zogen es vor, ihre Forderungen nach Getreideeinfuhren aus Russland immer weiter zu erhöhen, das in deren Interesse große Opfer zu bringen hatte. Für 1917 hatten London und Paris die Lieferung von nicht mehr und nicht weniger als 50 Millionen Pud Getreide gefordert, natürlich zu Preisen, die niedriger als auf dem Weltmarkt waren, und nicht gegen Valuta, sondern als Zinstilgung ... (übrigens hatte das verbündete Frankreich das in seinen Banken befindliche russische Gold sequestriert).

Das alles wurde gefordert von einem hungernden Land, in dessen Städten sich schon lange Schlangen nach Brot gebildet hatten und an dessen Fronten der Lebensmittelvorrat auf einige Tage zusammengeschrumpft war. Das forderte man - und bekam die volle Zustimmung des Zaren, und später der Provisorischen Regierung.

Am meisten aber erstaunt nicht so sehr die Rücksichtslosigkeit der imperialistischen Zivilisationsbringer, sondern das Verhältnis der russischen"Partner" ihnen gegenüber. Im Namen der "Vaterlandsverteidigung"schickten die Regenten halbverhungerte Soldaten zur Eroberung von Konstantinopel aus, um von dort aus ohne Hindernisse das Korn nach Westen exportieren zu können - für nichts anderes brauchte Russland diese Stadt! Selbst hatte sie dieses Land buchstäblich ausverkauft, indem sie alle erwähnten und viele analoge drückende Vereinbarungen sanktioniert hatten. Keinerlei Versuche gab es, ernsthaft für die Souveränität des Landes einzustehen, für dessen Herren sie sich hielten, bestenfalls ein zögerliches Aushandeln von Kleingeld, häufiger ein beiläufiges Geschäft nach dem Prinzip "Was immer Sie wünschen!" Unsere heutigen Nomenklatur-Wendehälse und ähnliche "Neue Russen" besaßen würdige Vorläufer, nicht von ungefähr beten sie heute die Flaggen-Attribute - Dreifarbigkeit und Doppelkopfadler - an.

Längst nicht in jedem Land, nicht einmal in jedem halbkolonialen Land, haben die herrschenden Klassen so viel Schande auf sich gezogen. In Griechenland, das von den Truppen der Entente okkupiert wurde, mussten die Engländer zweimal den König stürzen, übrigens einen Verwandten von Nikolai I., der das Land nicht ihrem Diktat unterwerfen wollte. Im rückständigen Persien brauchte man nur dem Schah das Tabakmonopol einer englischen Firma zuspielen, die es dem nationalen Kapital weggenommen hatte, um die Bourgeoisie und die Geistlichkeit zur Organisation eines Boykott des Monopoltabaks zu bringen, bis es am Ende zu einem echten Aufstand mit Sturm auf den Schah-Palast kam, woraufhin das Monopol wieder zurückgenommen werden musste, und der Hauptmonopolist sich durch Flucht rettete. In Korea mussten die Japaner, um das Land beherrschen zu können, die Königin ermorden. Und wie antinational sich auch die mandschurische Dynastie in China gab, so führte doch auch dort die Kaiserin wenigstens formell den antiimperialistischen Aufstand an.

Und "unsere" Kaiser und Kaiserinnen, Großfürsten und Minister, nationale Unternehmer und orthodoxe Hierarchen? Wenn die für das Land tödlichen Getreideexporte nicht in vollem Umfang ausgeführt wurden, so geschah das nicht dank ihnen. Schon nach dem Februar 1917 fanden sich an vielen Orten vernünftige Leute unter Zivilisten wie Militärs, die Getreidetransporte auf eigenes Risiko in Richtung hungernder Bevölkerung und Armee umlenkten. Die damalige "Elite" hingegen, stand, wenn überhaupt jemandem, in ihrer Dienstbeflissenheit nur "unserer" liberalen Intelligenzija zurück, die sich in der Partei der Kadetten gefunden hatte. Ihr Organ, die Zeitung "Die Rede", beleuchtete im Dezember 1916 ein Bankett mit dem englischen Botschafter und versuchte die Leser davon zu überzeugen, dass man das Auslandskapital brauche, dass das englische Kapital viel kulturvoller in seinen Methoden sei als das deutsche, und vor allem, keinerlei politischen Einfluss beabsichtige. "Gerüchte darüber, dass das englische Kapital angeblich Russland versklaven wolle, zeugten entweder von Unwissenheit oder Bösartigkeit". Zur gleichen Zeit gab der englische Konsul den lokalen Behörden in Omsk zu verstehen, dass die Errichtung einer Fabrik für Landwirtschaftstechnik in Tomsk überflüssig sei, da der sibirische Markt mit Maschinen und Ausrüstungen aus England beliefert werden würde. Kurz davor hatte die Londoner "Times" aufrichtig konstatiert: "Wir sind ein Industrieland Wir stellen uns das Ziel, insbesondere Industriegüter nach Russland im Austausch gegen seine Rohstoffe zu liefern, und die Entwicklung der russischen verarbeitenden Industrie kann, das ist ganz offensichtlich, unseren Interessen zum Nachteil gereichen, so wie auch den Interessen Deutschlands."

Natürlich ist weder hier noch dort die Rede von politischer Einflussnahme, es handelt sich selbstredend nur um reine (oder nicht ganz reine) Ökonomie ...

Wie auch immer, ein "Sieg" im Weltkrieg verhieß dem ausgebluteten Land nichts außer Abhängigkeit von den "Verbündeten" - wahrscheinlich sogar einer schlechteren, als man im Falle der Niederlage von Seiten Deutschlands aufgezwungen bekäme. Den Verrat begingen nicht diejenigen, die einen Austritt aus einem solchen Krieg, einen Bruch mit derartigen "Verbündeten" und den Sturz eines solchen Regimes -und sei es um den Preis seiner Niederlage - betrieben, sondern diejenigen, die das Volk gezwungen hatten, koste es so viel Blut, wie es wolle, bis zum (für wen?) "siegreichen" Ende auszuhalten.

Um das aber rechtzeitig zu verstehen, musste man Marxist und folglich Internationalist sein.

Im 20. und erst recht nicht im 21. Jahrhundert kann ein engstirniger Nationalist kein echter Patriot sein, er ist nur noch blindes Werkzeug in den Händen der Feinde seiner Heimat.

Genauso ist es bestellt um die bürgerlichen Reformen, die der von Stolypin ähneln, mit der sich die Nationalpatrioten so schwer tun. Für deren Erfolg hatte Stolypin - bei wem eigentlich? beim lieben Herrgott? - um "20 friedliche Jahre" gebeten. Die Geschichte gab sie ihm nicht und konnte sie ihm nicht geben. Selbst wenn es durch irgendein Wunder gelungen wäre, den Kriegsausbruch hinaus zu zögern, hätte eine Weltwirtschaftskrise gedreht - dieselbe, die den Krieg hinauszögerte und, wie angenommen wird, im Oktober 1929 mit dem "Schwarzen Dienstag" an der New Yorker Börse begann. In Wirklichkeit hatte sie ein Jahr zuvor in den landwirtschaftlichen Exportnationen von Mittel- und Südosteuropa begonnen. Ohne Krieg wäre die Krise viel früher eingetreten und vom Fortschritt Stolypins wären nur noch die Fetzen geflogen ... Die Landwirtschaft Lateinamerikas, die auf ähnlichem Wege vorangekommen war, wie ihn Stolypin für Russland geplant hatte, erholte sich bis in die 1960er Jahre hinein nicht von dieser Krise.

Und zu gleicher Zeit nahte auch noch eine weltweite sozialpolitische, revolutionäre Krise, die keineswegs von den Bolschewiki hervorgebracht werden war. Revolutionäre Ereignisse begannen nicht im Russischen Reich, sondern im Britischen Weltreich, als 1916 der Dubliner Aufstand ausbrach, und sie waren noch am Vorabend des Krieges herangereift. Der Versuch die sozialen Spannungen auf ein anderes Ziel zu lenken, hatte in bedeutendem Maße die imperialistischen Mächte zum Krieg verleitet. Dennoch brach die Krise aus und erfasste bald die ganze Welt.

Stellen wir uns aber einmal vor, dass es das alles nicht gegeben hätte - keinen Krieg, keine Wirtschaftskrise, keine politische Krise. Denken wir einmal darüber nach, wie viele "starke Männer", auf die Pjotr Arkadjewitsch Stolypin baute, in "Großrussland" übrig geblieben wären, das zu 80 % ein bäuerliches Land war. Ein Sechstel? Ein Fünftel? Und wohin mit den anderen? In Lateinamerika füllen sie die Favelas, in Afrika die Bidonvilles, unser Klima aber ist dafür nicht ganz so günstig.

Da haben Sie die "großen Erschütterungen". Nicht alle kann ein solcher Fortschritt zufriedenstellen, in dessen Dienst die Hälfte der Bevölkerung einen Hungertod sterben muss.

Vielleicht aber hätte ja die russische oder die ausländische Bourgeoisie den russischen Bauern Grund und Boden zur Verfügung gestellt, wie es von ihr Marxisten von menschewistischer Neigung erwartet hatten? Doch das ist gerade das Pech, jene verstand ihr unmittelbares Interesse viel besser als diese. Ein großer Teil des Grundbesitzes Russlands war bei jenen Banken verpfändet, die durch das englische und französische Kapital und seine russischen Partner kontrolliert wurden. Um eine Agrarreform durchzuführen, hätten die einen wie die anderen sich selbst enteignen müssen, was sie selbstredend nicht wünschen konnten. Und daher konnte keine andere Partei als die der Bolschewiki den Bauern Land geben - und den Völkern Frieden.

Oder nehmen wir die ausländischen Investitionen, von denen viele erwarteten - und heute noch erwarten -, dass sie "moderne" Wirtschaftsmethoden, ein besseres Leben für die Werktätigen, eine "zivilisierte"Konfliktlösung mit sich bringen würden. Warum aber geht das Kapital dorthin, wo die Reallöhne um so viel niedriger sind als in den Metropolen? Es benötigt solche Löhne, die unter unseren natürlichen Bedingungen, wo man ohne ein warmes Quartier, Winterkleidung und eine gehaltvolle Ernährung nicht überlebt, nicht nur einfach gering sind, sondern sehr gering, am Existenzminimum oder darunter. Kann man auf demokratische Methoden verzichten, wenn man die Leute zwingen muss, nicht zu leben, sondern zu überleben (oder zu sterben)?

Auch im vorrevolutionären Russland hatte das ausländische Kapital den Arbeitern keinesfalls ein besseres Leben oder den Klassenfrieden beschert. Erinnern wir uns nur an das Blutbad an der Lena von 1912 und das Vorbild der lateinamerikanischen "Todesschwadronen" auf den Ölplattformen von Baku. Das ist kein Zufall und auch nicht das Ergebnis der Unterentwicklung des russischen Kapitalismus, sondern sein Wesenszug.

Die Länder Lateinamerikas entwickeln bei sich schon mindestens zweihundert Jahre lang den Kapitalismus, aber die Kluft zwischen ihnen und den Metropolen vertieft sich immer weiter. In einem beliebigen Land, das nicht spätestens im 19. Jahrhundert in den engen Kreis der Metropolen vorgestoßen war, konnte sich der Kapitalismus nur noch auf dem Wege der Abhängigkeit entwickeln. Das aber bedeutet, dass er dort immer von einer Massenarmut begleitet sein wird, dass er an der Volksbildung und der medizinischen Versorgung spart und dass er der nationalen und konfessionellen Zwistigkeiten bedarf. Das alles ist vollkommen gesetzmäßig und nichts anderes kann erwartet werden, solange man auf dem kapitalistischen Pfad verbleibt. Und so kehren wir jetzt zu einem Russland zurück, das wir verloren hatten, allerdings sieht es doch ganz anders aus, als es Goworuchin suggerierte.

Wie man sich auch dreht - es geht nur eins von beiden: Entweder wird das Land zu all dem verdammt sein, was es 1917 verlor und jetzt wieder erwirbt, indem es sich vom Weg des Sozialismus abwendet - oder das werktätige Volk findet in sich die Kraft, mit seinen Ausbeutern abzurechnen und seinen eigenen Staat zu errichten. "Untergehen oder mit Volldampf vorwärts stürmen. So wird die Frage von der Geschichte gestellt." So stand die Frage, Lenin zufolge, vor 100 Jahren. Und so und nicht anders wird sie morgen stehen.


An die Leser im Jahre 2017

Dieser Artikel wurde zu großen Teilen vor 20 Jahren verfasst. Zum Unglück nicht nur für mich selbst, sondern, wie ich denke, auch für die moderne marxistische Geschichtswissenschaft, ist seine Hauptautorin, Jelena Charlamenko, schon 9 Jahre lang nicht mehr bei uns.

Bei der erneuten Durchsicht unseres gemeinsamen Artikels überzeugte ich mich davon, dass buchstäblich nicht eine einzige Zeile davon heute überholt ist.

Mit dem Recht des Koautors und des am nächsten stehenden Wegegefährten habe ich mich dazu entschlossen, den Artikel mit geringfügigen Korrekturen dem heutigen Leser vorzulegen. Möge er als Gabe verstanden werden - in Erinnerung an Jelena und an die Helden aller russischen Revolutionen. Gleichsam symbolisch fällt das heutige Datum mit dem Sieg des bewaffneten Aufstands der Arbeiter und Soldaten Petrograds als der entscheidenden Kraft in der Februarrevolution vor 100 Jahren zusammen, die unsere erbärmlichen Patrioten von heute auf eine Palastrevolution reduzieren wollen. Aus wissenschaftlicher Sicht kann man sie jedoch mit vollem Recht als erste Etappe der Großen Sowjetrevolution betrachten, die das Antlitz der Welt des 20. Jahrhunderts verändert hat.

Alexander Charlamenko, 12. März 2017.


Jelena und Alexander Charlamenko, Historiker und Autoren des Buches "Revolution und Konterrevolution in Russland", Neue Impulse Verlag, 2001

Übersetzt von Gudrun Havemann


Anmerkungen

(1) Anspielung auf ein berühmtes Gedicht von Nikolaj Nekrassow.

(2) 1846-1903, russischer Geologe und Geograph, der als Vater der modernen Bodenkunde gilt.

(3) Semstwos - lokale Selbstverwaltungseinheiten auf der Ebene von Kreisen und Gouvernements.

(4) Ein finno-ugrisches Volk im Ural.

(5) Letzterer wurde 1911 fälschlich beschuldigt, einen Ritualmord an einem zwölfjährigen Jungen aus Kiew verübt zu haben.

(6) Anspielung auf die türkischen Massaker gegen die Armenier 1894-1896, die der Entscheidung des Sultans zugeschrieben werden und denen ca. 300.000 Menschen zum Opfer fielen.

(7) Diese tragen Verantwortung für den Völkermord an den Armeniern 1915.

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 3-17, 55. Jahrgang, S. 24-33
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Januar 2018

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