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MARXISTISCHE BLÄTTER/621: Krise der Demokratie - Demokratie in der Krise


Marxistische Blätter Heft 4-16

Krise der Demokratie - Demokratie in der Krise

Von Andreas Fisahn


Begriff der Demokratie

Die Krise oder der Niedergang der Demokratie wird nicht erst diskutiert, seitdem die EU die griechische Pasok-Regierung zunächst abgesetzt und der Syriza-Regierung anschließend den sozial- und wirtschaftspolitischen Kurs diktiert hat. Die Krise der Demokratie wird in der BRD spätestens seit Agnolis und Brückners "Transformation der Demokratie" (1967) und - indirekt - mit Habermas' "Strukturwandel der Öffentlichkeit" (1962) immer wieder in neuen Variationen diskutiert. Wassermann etwa diagnostizierte die Existenz einer "Zuschauerdemokratie" (1986), die bei Bofinger, Habermas und Nida-Rümelin zur "Fassadendemokratie" (2012) mutierte. Dabei kamen kritische Töne durchaus auch von rechts und gerieten zum Vorwurf, der Parlamentarismus sei eine Bereicherungsveranstaltung unfähiger Politiker, so dass von Arnim "Vom schönen Schein der Demokratie" (2000) spricht. Nichts Neues also? Selbstverständlich gab es Veränderungen und Verschiebungen im Arrangement der demokratischen Institutionen. Um von einer Krise, einem Verfall oder Niedergang der Demokratie zu sprechen, braucht es allerdings eines Maßstabes, denn das Weniger oder Schlechter muss an einem besseren Zustand gemessen werden. Der Maßstab kann ein normativer oder ein empirischer sein -in vielen Diagnosen wird ein normativer Maßstab angelegt, aber nicht explizit benannt. Versuchen wir es also zunächst mit dem normativen Maßstab.

Ein emphatischer, emanzipatorischer Begriff der Demokratie versteht sie als Rückbindung allgemein wirkender Entscheidungen an die Adressaten dieser Entscheidung. Das ist mehr als in einer oft verwendeten Begriffsbestimmung angelegt ist, welche Demokratie als Rückbindung allgemein verbindlicher Entscheidungen an die Adressaten dieser Entscheidungen versteht. Aber auch dieser Begriff geht schon über bestehende Verhältnisse hinaus, verlangt man doch, dass auch allgemein verbindliche Entscheidungen unterhalb des Rechtssatzes, des Gesetzes, also administrative Entscheidungen Gegenstand demokratischer Prozesse sein sollten. Demokratie bezieht sich nach diesem Verständnis nicht nur auf die Gesetzgebung, sondern - innerhalb des politischen Systems - auch auf Verwaltung, d.h. administrative Entscheidungen. Versteht man Demokratie als Rückbindung allgemein wirkender Entscheidungen auf die Rezipienten dieser Entscheidung, sind auch Ökonomische Entscheidungen, die oft weitreichende gesellschaftliche Folgen zeitigen, diesem normativen Begriff der Demokratie zu subsumieren, so dass auch ökonomische Entscheidungen, etwa Investitions- oder Verlagerungsentscheidungen einem demokratischen, partizipativen Verfahren zu unterwerfen sind. Man kann dies auch als Selbstgesetzgebung beschreiben, verstanden als Autonomie gegenüber heteronom Gesetztem. Natürlich kann sich die Forderung nach Autonomie in der Gesetzgebung nur auf gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten beziehen, nicht etwa auf Naturgesetze. Dann aber meint sie auch Autonomie gegenüber ökonomischen Gesetzen, was man üblicherweise als Primat der Politik gegenüber der Ökonomie bezeichnet.

Demokratie und Kapitalismus

Nimmt man diesen emphatischen Begriff der Demokratie als Maßstab, gab es in der Bundesrepublik oder in den kapitalistischen Demokratien nie wirkliche Demokratie. Anders gesagt: Demokratie in diesem Sinne und Kapitalismus sind unvereinbar, weil im Kapitalismus das Wirtschaften, die Ökonomie der Sphäre des Privaten zugeordnet wird und von der Sphäre des Politischen getrennt bleiben muss - hebt man diese Trennung auf, handelt es sich nicht mehr um eine bürgerliche Gesellschaft. Das heißt: Demokratie bleibt in der bürgerlichen Gesellschaft deren zentralen Strukturmerkmalen unterworfen, nämlich der Trennung von Privatem und Politischem und/oder der Trennung von ökonomischer und politischer Macht. Diese Differentia Specifica der bürgerlichen Gesellschaft führt zu den spezifischen Ambivalenzen und Restriktionen der Demokratie in dieser Gesellschaft. Im historischen Prozess des Übergangs vom Feudalismus zur bürgerlichen Gesellschaft hat sich die ökonomische von der politischen Macht formal getrennt. Hegel begriff sie zuerst und Marx hat sie aufgegriffen, die "Besonderung des Staates" in der bürgerlichen Gesellschaft. Die formale Trennung muss dazu führen, dass die ökonomische Macht Beteiligung an politischen Entscheidungen einfordert, was durch Repräsentation der in sich pluralen und differenzierten ökonomischen Machtelite funktionieren kann. Die ökonomische Macht definiert sich über den Markt, wo sich freie und gleiche Marktteilnehmer begegnen, was Privilegien, insbesondere den privilegierten Zugang zu politischen Entscheidungen ausschließt. Die Freiheit und Gleichheit der Marktteilnehmer lässt sich schließlich nicht auf die Eliten begrenzen. Die Gleichheit und Freiheit der Marktteilnehmer, auch der Arbeitskraftbesitzer, weist über sich hinaus auch auf die Sphäre des Politischen, so dass am Ende die allgemeine Repräsentation der Bevölkerung in Parlamenten als eine Organisationsform der bürgerlichen Gesellschaft erscheint. Da die allgemeine Repräsentation, das allgemeine und gleiche Wahlrecht, aber die subalternen Klassen in die Lage versetzen (könnte), die politische Macht zu erobern, bleibt die demokratische Repräsentation fragil, bleibt es bei einer autoritären Latenz. Diese findet ihre Basis auch in der Struktur der kapitalistischen Ökonomie, die auf die (Selbst-) Disziplinierung des Besitzers der Ware Arbeitskraft angewiesen und angelegt ist. Die Beziehung zwischen Demokratie und kapitalistischer Ökonomie beliebt instabil und ist ambivalent. Sie wird letztlich bestimmt durch konkrete gesellschaftliche Kräfteverhältnisse.(1) Geht man von einem ambivalenten und instabilen Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus aus, bleibt als Maßstab für eine Verfallsdiagnose ein empirischer Ausgangspunkt, also der Vergleich gegenwärtiger mit historischen Formen der konkreten Ausgestaltung und des Arrangements der Demokratie.

"Goldenes Zeitalter der Demokratie"?

Dabei muss man sich offenbar hüten, die Vergangenheit zu verklären, etwa ein "goldenes Zeitalter" der Demokratie - aus deutscher Perspektive - in die Anfänge der Bundesrepublik zu projizieren, die als fordistische Periode bezeichnet wird. KPD-Verbot (1956) und die anschließenden politischen Prozesse, die Strafbarkeit von Homosexualität unter erwachsenen Männern sowie die Rechtsprechung zum Kuppeleiverbot (bis 1972) oder der sog. Radikalenerlass (1972) der Brandt-Regierung zeugen beispielhaft in sehr unterschiedlicher Weise von einer problematischen demokratischen und gesellschaftlichen Offenheit und Liberalität. Mit Blick auf Minderheitenrechte, politische und gesellschaftliche Liberalität erscheint die genannte Periode im Vergleich mit der gegenwärtigen Situation - trotz Ausbau der Sicherheitsapparate und Überwachungspotenziale - keineswegs als goldenes Zeitalter der Demokratie.

Anders gesagt: Die Sicherung der Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaft, ihre Absicherung gegen eine emanzipatorische Umgestaltung oder Überwindung hat sich verändert, andere Formen angenommen. An die Stelle der repressiven Absicherung und sozialen Integration im Fordismus trat die neokonstitutionelle Festschreibung einer neoliberalen Wirtschaftsordnung. Das ist erklärungsbedürftig. Die fordistische Periode lässt sich mit Blick auf die demokratische Beteiligung als plurale, aber asymmetrische Kooperation charakterisieren. Der fordistische Pluralismus organisierte eine asymmetrische Kooperation durch Teilhabe unterschiedlicher sozialer Kräfte in den verschiedenen staatlichen und halbstaatlichen Gremien. Diese Form pluralistischer Beteiligung war nur beschränkt demokratisch, weil nach geschätzter sozialer Macht, nicht nach Anzahl der organisierten Mitglieder mitbestimmt werden durfte. Im pluralistischen Rundfunkrat sitzen etwa Gewerkschaften und Unternehmerverbände in gleicher Anzahl, obwohl die Anzahl der Mitglieder sehr unterschiedlich ist. Beispielgebend für diese Form der demokratischen Teilhabe ist sicher die konzertierte Aktion, die 1967 im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz sogar gesetzlich verankert wurde. Noch heute heißt es in §3 Abs. 1 des Gesetzes, dass "die Bundesregierung Orientierungsdaten für ein gleichzeitiges aufeinander abgestimmtes Verhalten (konzertierte Aktion) der Gebietskörperschaften, Gewerkschaften und Unternehmensverbände zur Erreichung der Ziele" eines ausgeglichenen Wirtschaftswachstums zur Verfügung stellt. In der Praxis ist das jedoch irrelevant geworden.

Trotz der Asymmetrie handelte es sich um demokratische Teilhabe auch neben der parlamentarischen Repräsentation, deren materielle Konsequenzen sich im Ausbau des Sozialstaates, der Verbesserung des Zugangs zu Bildung und Beteiligung am materiellen Wohlstand manifestierten. Die Abstimmung von Staat, Kapital und Arbeit stabilisierte gleichzeitig den gesellschaftlichen Kompromiss, der die Auseinandersetzung um materielle Verteilung und die Form der Wirtschafts- und Sozialpolitik offen ließ. Alternativen schienen möglich und in diesem Sinne blieb der demokratische Prozess offen.

Formalisierung des Informellen

Im neoliberalen Kapitalismus hat sich diese Form der Kooperation durch asymmetrische Beteiligung der "Tarifpartner" weitgehend erledigt. Entscheidungsstrukturen im weiteren Umfeld des Staates werden so umgebaut, dass die sozialen Eliten unter sich bleiben. Das kann man ablesen an ganz unterschiedlichen Bereichen wie den Hochschulräten, in denen Gewerkschafter höchst selten zu finden sind, sog. Business Improvement Districts, in denen die ansässigen Eigentümer die Stadtteilpolitik z. T. an Stelle der gewählten Gremien bestimmen oder in sog. Normierungsgremien, in denen wesentlich die Interessen der "betroffenen" Industrien artikuliert werden. Damit werden formale Entscheidungskompetenzen der gewählten Volksvertretungen in oligarchisch strukturierte Gremien verlagert, die teilweise faktisch und teilweise sogar rechtlich verbindliche Entscheidungen vergeben. Die Expertengremien und Kommissionen neben dem Parlament verdrängen auch die gefilterte Meinungsbildung, die über Parteien und Wahlen an öffentliche Diskurse zurückgebunden sind. Die legitimierten Gremien beschließen formal, treffen aber keine Entscheidungen, da diese von ökonomischen und politischen Eliten vorher getroffen werden oder Strukturen geschaffen wurden, die keine Alternativen offenlassen.

Auf EU-Ebene erfolgt ebenfalls eine Koordination der Eliten: Vor dem Lissaboner Vertrag (2010) wurden sekundäre Rechtsakte(2) im sog. Komitologieverfahren getroffen, bei dem Experten aus den Nationalstaaten, was eine Umschreibung für Lobbyisten ist, die Kommission beraten haben und teilweise auch an der Entscheidung beteiligt waren. Im Lissaboner Vertrag haben sich die vertraglichen Grundlagen für das Sekundärrecht geändert. Abgeleitete Rechtsakte, d.h. administrative Verordnungen, haben eine größere Bedeutung erlangt. Diese Form der Rechtssetzung verstärkt den Einfluss der Lobbys. Ein Lobbyist der Zuckerindustrie schätzt, dass 96% der europäischen Regelungen als abgeleitete Rechtsakte, d.h. aufgrund einer Ermächtigung an die Kommission, verabschiedet wurden. So funktionieren im neuen Arrangement pluralistischer "Eliten" die Repräsentativorgane formal weiter, aber faktisch wird Macht auf legale, elitär besetzte Gremien übertragen, die durch eine Überrepräsentanz der Ökonomisch mächtigen Gruppen gekennzeichnet sind.

Diese Eliten bilden allerdings keineswegs einen monolithischen Block, sondern sind in sich pluralistisch und dieser Pluralismus wird auch akzeptiert, nicht etwa repressiv oder autoritär "gleich geschaltet", d.h. die unterschiedlichen Interessen innerhalb der "Eliten", die Fraktionen innerhalb der ökonomisch Mächtigen bleiben bestehen und können ihren Einfluss geltend machen. Auch in der asymmetrischen Kooperation war der Zugang zu politischen Entscheidungen ungleich und Ökonomische Macht konnte über informelle Kanäle in politische Entscheidungen konvertiert werden. Das neue Arrangement zeichnet sich demgegenüber durch eine Formalisierung des Informellen aus, der ungleiche Zugang wird institutionell abgesichert.

Neoliberaler Konstitutionalismus der EU

Mit der europäischen Wirtschaftsverfassung, die mit dem Maastricht-Vertrag von 1993 ihre Ausprägung erlangte, wurden soziale Auseinandersetzungen in der EU und in den Nationalstaaten um die richtige Wirtschafts- und Sozialpolitik weitgehend stillgelegt. Die Europäischen Verträge sind auf eine bestimmte, nämlich eine neoliberale Wirtschafts- und Sozialordnung festgelegt, die im demokratischen Prozess nicht mehr zur Disposition steht. Die Verfassungen von Gesellschaften sind zu verstehen als normative Fixierung eines Kräfteverhältnisses, welches die Spielregeln der sozialen Auseinandersetzung im oben erörterten fragilen Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus bestimmt. Mit den Verträgen der EU hat sich dieser Kompromiss verschoben und damit die Demokratie entkernt. Die Verschiebung lässt sich daran ablesen, dass das Grundgesetz als wirtschaftspolitisch neutral verstanden wird und so konzipiert wurde: Es garantiert sowohl den Schutz des Eigentums (Art. 14) wie es die Vergesellschaftung von Schlüsselindustrien erlaubt (Art. 15). Dagegen ist die europäische Verfassung, also die EU Verträge, wirtschaftspolitisch festgelegt auf eine "offene Marktwirtschaft". Diese wird detailliert durchdekliniert: vom generellen Subventionsverbot über die Festlegung der EZB auf den Vorrang der Preisstabilität, über die Marktöffnung der Infrastruktur bis zu den vier Grundfreiheiten, die als Wirtschaftsfreiheiten zu charakterisieren sind. Die Europäische Grundrechtecharta normiert etwas, was - allen europäischen - vorherigen Verfassungen unbekannt war, nämlich ein "Grundrecht auf unternehmerische Freiheit" (Art. 16).

Die Verfassungsordnung des Grundgesetzes normiert die Spielregeln für den demokratischen Streit um die richtige Wirtschaftspolitik, indem Voraussetzungen für eine "faire" Auseinandersetzung geschaffen werden. Die Spielregeln sollen es der Minderheit erlauben, zur Mehrheit zu werden und ihre - bis dahin dissidente - wirtschaftspolitische Konzeption durchzusetzen. In der EU ist die demokratische Auseinandersetzung um die richtige Wirtschafts- und Sozialpolitik weitgehend stillgelegt, weil in der europäischen Verfassung die entscheidenden Eckdaten selbst festgelegt wurden.

Gleichzeitig produzieren die EU-Verträge einen Wettlauf der Mitgliedstaaten um niedrige Sozialkosten und niedrige Unternehmenssteuern, weil ausgerechnet diese Bereiche nicht europäisch harmonisiert werden. In den Verträgen ist strukturell ein race to the bottom bei den Sozialleistungen und bei den Unternehmenssteuern angelegt, wobei Letzteres zu Finanzierungsschwierigkeiten der Nationalstaaten führen muss und zusätzlich Druck auf die sekundäre Verteilung, also den Sozialstaat, ausübt.

Die "Alternativlosigkeit" der Wirtschaftsordnung und das institutionelle Demokratiedefizit führen dazu, dass die EU insgesamt entpolitisiert wird. Die Europäischen Verträge begründen einen Vorrang der Administration vor der Volksvertretung. Eine demokratische Auseinandersetzung um die Richtung europäischer Politik gibt es schon deshalb nicht, weil es kein einheitliches Wahlsystem gibt und nationale Parteien sich zur Wahl stellen. Die Öffentlichkeit ist mit Blick auf die Europapolitik entpolitisiert oder schlimmer: es gibt keine europäische Öffentlichkeit, in der eine europäische Willensbildung stattfinden könnte. Das Problem ist ein strukturelles: Weil der Rat nationalstaatliche Interessen vertritt und die Regierungen die Verhandlungen im Rat als Vertretung nationalstaatlicher Interessen kommunizieren, bleibt kein Raum für eine europäische Öffentlichkeit - sie bleibt gespalten in nationalstaatliche Öffentlichkeiten. Das bedeutet: Nach dem materiellen und prozeduralen Gehalt genügt die europäische Konstitution demokratischen Anforderungen nicht. Das neoliberale Dogma des unbeschränkten Wettbewerbs wurde Teil der europäischen Verfassung. Die Demokratie wird entkernt, weil die Richtungsentscheidungen längst getroffen wurden. CETA und TTIP sind geeignet, diese Form der Absicherung neoliberaler Wirtschaftspolitik auf einer weiteren Stufe zu vertiefen und zu festigen.

Autoritäre Wirtschaftsregierung

Die Finanz- und Wirtschaftskrise nach 2008 führte zu einer neuen Konfiguration der Institutionen und Kräfteverhältnisse innerhalb der Europäischen Union. Alles bewegt sich in Richtung auf eine zentralistische, europäische Kontrolle der nationalen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die nationalen Parlamente würden endgültig auf das Abnicken der europäischen Vorgaben reduziert. Mit dem neuen Regime wird direkt von der EU in Politik- und Regelungsfelder eingegriffen, die bisher den Mitgliedstaaten und den Sozialvertragsparteien vorbehalten waren.(3) An die Stelle des strukturell indizierten race to the bottom im Bereich Sozialleistungen und Unternehmenssteuer soll dieser nun zentral von der EU gesteuert werden mit dem Ziel, Wettbewerbsfähigkeit durch niedrige Löhne und Abgaben herzustellen.

Eine zentralistische Kontrolle der nationalen Wirtschafts- und Sozialpolitik wurde für die Euro-Schuldnerstaaten etabliert. Im Gegenzug zu unterschiedlichen Formen der Kreditvergabe seitens der Euro-Staaten(4) und dem Aufkauf von Staatsanleihen durch die EZB mussten sich die Schuldnerprogramme verpflichten, ein Memorandum of Understanding (MoU) mit der Troika abzuschließen. Diese M0U enthielten detaillierte Kürzungsprogramme für den jeweiligen Nationalstaat und betrafen neben dem Sozialsystem und öffentlichem Dienst auch tarifliche Lohnhöhen und Renten. Den Schuldnerstaaten wurde zentral eine Austeritätspolitik diktiert. Die Entdemokratisierung der Politik wurde hier greifbar. "Falsche" Ergebnisse führen zu Neuwahlen. Die Troika hält sich ein Parlament, das die Vorgaben getreu umsetzt. Die Bevölkerung hat keinen Einfluss und muss die Folgen der Politik erleiden.(5) Von einem demokratischen Prozess lässt sich nicht mehr sprechen.

Im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik wurde ein europäischer Maßnahmestaat institutionalisiert, der sich dadurch auszeichnet, dass abstrakt allgemeine gesetzliche Regelungen durch konkrete Anordnungen, individuelle Befehle, die dann nur für einzelne Staaten Geltung haben, ersetzt werden. Deshalb lässt sich dieses System als autoritäre Wirtschaftsregierung bezeichnen. Die Staaten und die Union werden damit nicht autoritäre Staaten im bisher bekannten Sinne, also wie Diktaturen in Südamerika oder die griechische Obristendiktatur, weil im Übrigen, neben den Troika-Maßnahmen, das Rechtssystem weitgehend funktioniert und auch Grundrechte im Großen und Ganzen respektiert werden - jedenfalls noch, was zu diskutieren ist.

Neuere Vorschläge, von denen es verschiedene, aber sehr ähnliche gibt und die jüngeren Restrukturierungen des institutionellen Arrangements der EU - wie beispielsweise Fiskalpakt und europäisches Semester - weisen die Richtung der Weiterentwicklung der EU. Es geht in Richtung einer Zentralisierung der Haushaltspolitik, d. h. in Richtung einer Überwachung der nationalen Haushalte durch eine europäische Administration in welcher Form auch immer. Das bedeutet aber letztlich eine weitgehende Entmachtung der nationalen Parlamente. Das Steuerungsmedium Geld soll von der EU kontrolliert werden und nicht etwa von Parlamenten, sondern administrativ, nach feststehenden Regeln, die politische Auseinandersetzung und damit den demokratischen Prozess um den Einsatz des Steuerungsmediums ausschalten.

Nationalchauvinistische Identitätspolitik

Die Implementation der Wettbewerbsordnung in der Europäischen Union war aus der Sicht ihrer Apologeten vergleichsweise erfolgreich. Der strukturell induzierte Wettlauf zwischen den Staaten um niedrige Unternehmenssteuern und um niedrige Sozialkosten für das Kapital führten zu einer Umverteilung von unten nach oben. Deren Existenz muss nicht mehr bewiesen und diskutiert werden, empirische Belege dafür gibt es zuhauf.(6) Mit dem Wechsel zur autoritären Wirtschaftsregierung und dem Diktat der Austeritätspolitik wurde die Umverteilung nach oben offen zur politischen Maxime der EU.

Interessant ist nun die subjektive Verarbeitung dieser Entwicklung. Das Fehlen von Entscheidungsmöglichkeiten, die strukturelle Entpolitisierung und Benachteiligung "subalterner" Schichten und Gruppen hat sich in einer Abstinenz von Wahlen bemerkbar gemacht. Insbesondere bei Europawahlen sowie den Landtags- und Kommunalwahlen gab es eine Tendenz zur Wahlenthaltung, die manchmal nahe an der 50%-Marke lag. Mit den Europawahlen 2014 und den Landtagswahlen 2016 stieg die Wahlbeteiligung in Deutschland, weil die AfD am rechten Rand viele Wähler mobilisieren konnte. Die Wahlerfolge der AfD bedeuten in einer schlechten Weise die Anpassung an die europäische Normalität, die ihrerseits auch eine Wirkung der neoliberalen Wirtschafts- und Sozialordnung in Europa ist.

In ganz Europa haben sich als Reaktion auf den marktradikalen Umbau der Gesellschaft sozialdarwinistische Bewegungen oder Parteien bilden und etablieren können. Die prekärer werdende oder so empfundene soziale Situation wird neoliberal verarbeitet, das heißt individualistisch, nicht kollektiv - und egoistisch, nicht solidarisch. Der neoliberale Konsens ist den Individuen in Mark und Bein gefahren, wurde "erfolgreich" internalisiert und wird in der Krise keineswegs infrage gestellt, die Interpretation der Entwicklung nur leicht verschoben. Das neoliberal sozialisierte Individuum stellt nicht den marktkonformen Individualismus infrage, sondern fordert "faire Wettbewerbsbedingungen" gegenüber den zugewanderten Dumpinglöhnern, wobei es keinen Unterschied macht, ob sie aus Mitteleuropa aufgrund der europäischen Freizügigkeitsregeln oder als politisch Verfolgte und Kriegsflüchtlinge einwandern. So ergibt sich ein fürchterliches Amalgam aus neoliberalem Individualismus und sozialdarwinistischem Nationalchauvinismus.

Im Ergebnis untergräbt die EU so durch ihren Marktradikalismus zunächst ihre eigenen Voraussetzungen. Der Neoliberalismus musste in Europa politischen Liberalismus, d.h. die Akzeptanz des Anderen als gleich und die Anerkennung von Menschenrechten, einschließlich religiöser und politischer Toleranz, verbinden mit marktliberalen Vorstellungen. Das Erstarken nationalchauvinistischer Bewegungen und Parteien, die mit dem politischen Liberalismus über Kreuz liegen, was sich auf nationaler Ebene durch Ressentiments und Ausgrenzung von Minderheiten artikuliert, untergräbt zunächst die politische Liberalität als Voraussetzung einer europäischen Integration. Folge sind Absetzbewegungen von der EU. Zweitens wird aber auch die politische Liberalität als Voraussetzung der Demokratie in den Nationalstaaten unterminiert, denn der identitäre Anspruch, Volkes Stimme zu artikulieren, wobei das Volk als Einheit unterstellt wird, ist mit der Anerkennung eines demokratischen Pluralismus unvereinbar. So entsteht zumindest ein Druck auf liberale Errungenschaften, die immer auch Voraussetzung einer Kultur demokratischer Meinungs- und Willensbildung sind.

Die neoliberale Konstitutionalisierung entkernt zunächst die Demokratie, weil sie zu einer weitgehenden Stilllegung der demokratischen Auseinandersetzung um die Form der Wirtschafts- und Sozialpolitik geführt hat. Sie vergrößerte die Anfälligkeit für Ökonomische Krisen, in deren Folge sich eine spezifisch europäische Form einer autoritären Wirtschaftsregierung durchsetzt. Schließlich untergräbt sie die eigenen, liberalen Voraussetzungen der europäischen Einigung und mit ihnen den politischen Liberalismus als Voraussetzung demokratischer Auseinandersetzungen in einer heterogenen Gesellschaftsordnung.


Andreas Fisahn, Prof. Dr., Bielefeld, Rechtswissenschaftler


Anmerkungen

(1) Dazu ausführlich Fisahn, Die Saat des Kadmos - Staat, Demokratie und Kapitalismus, (im Erscheinen) Kap. E.

(2) Sekundäre Rechtsakte betreffen Durchführungsbestimmungen der Kommission. Im AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) wird zwischen delegierten Rechtsakten (Art. 290) und Durchführungsrechtsakten unterschieden, für die jeweils die Kommission zuständig ist.

(3) Lemb, W./Urban H.-J., Ist die Demokratie in Europa noch zu retten? Plädoyer für einen radikalen Pfadwechsel in der Europapolitik und der Europäischen Union, in: Buntenbach/Bsirske u.a., Ist Europa noch zu retten? S. 43.

(4) Zunächst wurden bilaterale Kredite an Griechenland vergeben, dann über völkerrechtliche Verträge "Rettungsschirme" gespannt, zunächst der vorläufige EFSF und darauf aufbauend der auf Dauer gestellte ESM.

(5) Ausführlich: Fisahn, A., Grenzen der E28 in der Krise und die Grundlagen der Europäischen Union, Rosa-Luxemburg-Stiftung, 2014, S. 44ff.

(6) Breit rezipiert wurde vor allem: Piketty, Das Kapital (München 2015), passim.

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 4-16, 54. Jahrgang, S. 39-47
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. November 2016

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