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MARXISTISCHE BLÄTTER/611: Die "Flüchtlingskrise" und der globale Kapitalismus


Marxistische Blätter Heft 1-16

Die "Flüchtlingskrise" und der globale Kapitalismus
Wer meint "Deutschland schafft das nicht", muss den Kapitalismus abschaffen

Von Ingar Solty


Über euer Scheiß-Mittelmeer
Käm ich, wenn ich ein Turnschuh wär'.
Oder als Flachbild-Scheiß'
Ich hätte wenigstens ein' Preis.

(Die Goldenen Zitronen) 


Das Jahr 2015 war nicht nur das Jahr, in dem die Griechenlandkrise offenbarte, dass es im Rahmen der bestehenden Europäischen Institutionen keine Alternative zum neoliberalen Europa geben darf; es war auch das Jahr der "europäischen Flüchtlingskrise". Dabei werden auch die kommenden Jahre politisch in ihrem Zeichen stehen, denn selbst wenn, was nicht zu erwarten ist, die Zahl der weltweit flüchtenden Menschen abnimmt, steht die Politik vor der großen Herausforderung, die Menschen, die politisches Asyl genießen, zu integrieren.

Die Flüchtlingskrise birgt dabei enorme politische Sprengkraft. Sie polarisierte rasch die Bevölkerung und die politische Landschaft zwischen "Willkommenskultur"-Rhetorik und bemerkenswertem zivilgesellschaftlichem Engagement einerseits und "Das-Boot-ist-voll"-Rhetorik im rechten politischen Spektrum andererseits. Die CSU, eine stark nach rechts verschobene AfD (mitsamt der AfD-nahen Bürgerbewegung "Pegida") und die NPD bereiteten so den Nährboden für den neuen "rechten Terror" gegen Flüchtlinge und Flüchtlingsunterkünfte.(1)

Für die Linke ist diese Entwicklung eine große Herausforderung: Denn vor dem Hintergrund der allgemeinen Prekarisierungsprozesse und des Zerfalls der öffentlichen Infrastruktur im Allgemeinen und der neuen Welle der Rationalisierung/Deregulierung (Industrie 4.0) bildet die Kombination aus tiefsitzender Islamfeindlichkeit, Zuwanderung vor allem aus muslimischen Ländern, kriegerischer westlicher Interessenspolitik und islamistischer Terroranschläge (begründet als Vergeltung für die Politik des "Westens" im Irak und in Syrien) ein gefährliches Gemisch, das die radikale Rechte europaweit nach vorne bringt. Der Wahlerfolg der Front National in Frankreich knapp einen Monat nach den terroristischen Anschlägen von Paris vom 13. November 2015 ist Vorbote einer möglichen zukünftigen Entwicklung.

Vor dem Hintergrund des (Wieder-)Aufstiegs der zunehmend völkisch-nationalistisch argumentierenden, rechtspopulistischen "Alternative für Deutschland" manifestiert sich dieses Sprengpotenzial in Gestalt der starken Spannungen in der politischen Klasse allgemein und im bürgerlich-konservativen Lager im Besonderen.

"Flüchtlingskrise" in Europa: Die Fakten

Die Zunahme an Menschen, die sich weltweit auf der Flucht befinden, hat auch in Deutschland und der Europäischen Union zu einem deutlichen Anstieg der Asylanträge geführt, von denen die meisten Erstanträge sind. So ging die Zahl der Asylanträge in der Europäischen Union nach einem Hoch in den 1990er Jahren bis zum Vorabend der globalen Krise 2006 auf 21.030 in Deutschland und 197.410 in der EU zurück. Im Zuge der Krise und der Zunahme von Krisenkriegen ist jedoch ein sprunghafter Anstieg festzustellen. 2014 lag die Zahl der Asylanträge in Deutschland bei 202.645 und in der EU bei 626.960. 2015 hat sich diese Dynamik weiter beschleunigt: Nach den neuesten Zahlen der EU-Statistikbehörde Eurostat vom 9. Dezember stellten in den ersten drei Quartalen 2015 862.980 Menschen einen Asylantrag in der Europäischen Union, davon 288.740 Menschen in Deutschland.

Die Zahlen für das vierte Quartal sind noch unvollständig; klar ist aber jetzt schon, dass bis Ende Oktober 2015 die Millionengrenze in der EU überschritten worden ist (in Deutschland waren es bis Ende Oktober 343.610).

Da die Europäische Union sich über das Grenzregime "Frontex" stark gegen Flüchtlinge abgeschottet hat, kommen die meisten von ihnen mithilfe von Schlepperbanden über äußerst gefährliche Fluchtrouten in die Europäischen Union. Die EU-Grenzbehörde "Frontex" zählt hierzu vier: (1.) Die Westafrika-Kanaren-Route, (2.) die westliche Mittelmeerroute über Marroko-Südspanien, (3.) die zentrale Mittelmeerroute von Libyen nach Lampedusa/Malta bzw. von der Türkei und Ägypten nach Italien und (4.) die östliche Mittelmeerroute von Ägypten, Jordanien, Libanon, Syrien und der Türkei nach Griechenland.

Die Zunahme der Asylanträge in der EU ist auf die dramatische Zunahme der globalen Flüchtlingszahlen zurückzuführen. So stieg nach Angaben der UN-Flüchtlingsbehörde (UNHCR) die Zahl der Menschen, die sich weltweit auf der Flucht befinden, in weniger als einem Jahrzehnt von 37,5 Millionen im Jahre 2005 auf 59,5 Millionen Ende 2014 an. Das ist die höchste Zahl seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Global gesehen ist heute jeder 122. Mensch ein Binnenvertriebener oder Auslandsflüchtling; und wären alle Flüchtlinge Staatsbürgerinnen und Staatsbürger eines einzigen Landes, so wäre dieses Land das 24-größte der Welt.

Trotz der steigenden Flüchtlingszahlen in der Europäischen Union ist deshalb zunächst einmal festzuhalten, dass sich die "Flüchtlingskrise"vor allem jenseits der deutschen und EU-Außengrenzen abspielt. Mit 38,2 Millionen ist die große Mehrzahl der Menschen auf der Flucht Binnenflüchtling. Mit 19,5 Millionen Auslandsflüchtlingen schaffen es weitaus weniger, ihr Land zu verlassen. Die weitaus größte Last bei deren Unterbringung und Versorgung tragen nach Angaben des UNHCR wiederum mit 86 % die Entwicklungsländer. Die meisten Flüchtlinge waren Ende 2014 in der Türkei (1,59 Mio.), Pakistan (1,51 Mio.), Libanon (1,15), Iran (0,98), Äthiopien (0,66) und Jordanien (0,65) untergebracht. Gemessen am Anteil der Bevölkerung trug der Libanon die größte Last (232 Flüchtlinge auf 1.000 Einwohner), gefolgt von Jordanien (87/1000) und Nauru (39/1000).

So befinden sich nach Angaben des UNHCR 1,9 Millionen Auslandsflüchtlinge in der benachbarten Türkei, 1,5 Millionen in Pakistan, 1,4 Millionen in Jordanien (einem Land mit nur rund acht Millionen Einwohnern), 1,2 Millionen im Libanon (einem Land mit nur 5,9 Millionen Einwohnern), 0,98 Millionen im Iran, 0,66 Millionen in Äthiopien sowie rund 250.000 im Irak und 134.000 in Ägypten. Die 2,7 Millionen Flüchtlinge (14 %), die es in die reichen entwickelten kapitalistischen Staaten geschafft haben, sind fast ausschließlich Menschen aus den Mittel- und Oberklassen, die sich die teure Flucht leisten können. Sie machen Menschenschmuggel beziehungsweise Fluchthilfe zu einem Milliardengeschäft.

Fluchtursache Krieg

Wie erklärt sich diese dramatische Zunahme der Flüchtlingszahlen? Was sind die Fluchtursachen? Die Migrationsforschung unterscheidet zwischen den Push- und den Pull-Faktoren. Klar ist, kein Mensch flieht und verlässt sein bekanntes Umfeld ohne Grund und gefährdet sein Leben, indem er sich den Schlepperbanden ausliefert, wenn dieses Leben nicht schon dort gefährdet ist, woher man kommt.

Dieser Zusammenhang lässt sich schon allein anhand der Tatsache erkennen, dass der größte Push-Faktor, der für die dramatische Zunahme der Flüchtlingszahlen verantwortlich ist, der Krieg ist. Bis 2014 war Afghanistan, wo seit 38 Jahren Krieg herrscht, das Hauptherkunftsland von Flüchtlingen und sein Nachbarland Pakistan ist seit mehr als einem Jahrzehnt das Hauptzielland der afghanischen Auslandsflüchtlinge vor den Taliban und der westlichen Besatzungspolitik. Und auch als Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre die Zahl der Flüchtlinge in die Europäische Union deutlich zunahm und auf dem Höhepunkt 1992 mit 672.075 Menschen über dem Stand von 2014 lag, war Krieg die zentrale Ursache: die meisten Flüchtlinge kamen aus Ex-Jugoslawien.

Auch heute kommt die große Mehrzahl der Flüchtlinge aus den (bürger- und stellvertreter-)kriegsverheerten Ländern. An erster Stelle steht mit allein fast zwölf Millionen Flüchtlingen Syrien. Von den 22 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern dieses Landes sind 7,6 Millionen - vor allem die ärmeren Bevölkerungsschichten - innerhalb des Landes auf der Flucht, 4,3 Millionen flohen ins Ausland. Damit ist der syrische (Bürger- und) Stellvertreterkrieg maßgeblich für die Zunahme an Flüchtlingen verantwortlich. In wenigstens sieben der 13 Länder mit den meisten Asylanträgen in den EU-28-Staaten herrscht (Bürger-)Krieg: Syrien, Afghanistan, Irak, Nigeria, Somalia, Ukraine, Mali. 2014 gingen allein auf diese Länder 39,6 Prozent aller Asylanträge.(2)

Den Kontext bilden die dramatische Destabilisierung und die Staatszerfallsprozesse in den arabischen Staaten zwischen Nordafrika und Mittlerem Osten. Die Außenpolitik der USA und ihrer Verbündeten im "Westen" ist hierfür entscheidend verantwortlich. Die bittere Wahrheit ist: Die Flüchtlinge, die jetzt nach Europa kommen, fliehen vor den Ergebnissen der Außenpolitik des "Westens". Aus diesem Grund lassen sich auch die Forderungen von Oskar Lafontaine oder der gerade neugewählten LINKEN-Bundestagsfraktionsspitze aus Dietmar Bartsch und Sahra Wagenknecht, die Bundesregierung müsse die USA, die - wie Lafontaine am 23. September auf seiner Internetseite schrieb - "den Nahen Osten in Brand gesetzt" hätten, dazu drängen, endlich Verantwortung für die flüchtenden Menschen aus Syrien übernehmen, nur schwer - wie von der bürgerlichen Presse teilweise versucht - einfach als "populistisch" oder gar "antiamerikanisch" abtun. Dass die dramatische Zunahme der weltweiten Flüchtlingszahlen in einem engen Zusammenhang steht mit den Kriegen und neuen Konflikten im Mittleren Osten und Nordafrika, liegt - zieht man die wichtigsten Herkunftsländer der Flüchtenden (Syrien, Irak, Afghanistan, Mali, Libyen und dazu aber auch Eritrea und Kosovo) heran - auf der Hand. Und man ist auch kein Freund der unterdrückerischen Regimes von Saddam Hussein, Bashir al-Assad oder Gaddafi, wenn man nüchtern feststellt, dass das Leben der Menschen in diesen Ländern sich durch die westlichen Kriege dramatisch verschlechtert hat und in Syrien, das nun von der halben Welt bombardiert wird (neben den NATO-Ländern USA, Kanada, Frankreich, Großbritannien und Türkei auch von Russland, Katar, Saudi-Arabien, Bahrain, Jordanien und den Vereinigten Arabischen Emiraten), weiter verschlechtert. Nicht nur herrscht in diesen Ländern heute Krieg und Gewalt statt Frieden und (relativer) Sicherheit - mit direkt kriegsbedingten Todesopfern, die mit bis zu 249.000 im NATO-besetzten Afghanistan, bis zu 1,3 Millionen während der US-Besatzung im Irak, bis zu 30.000 in Folge des NATO-Bombardements, anschließenden Zerfalls und neuen Bürgerkriegs in Libyen und bis zu 330.080 in Syrien mittlerweile in die Millionen gehen. Auch die soziale Versorgung und die letzten Reste der alten arabisch-nationalistischen Wohlfahrtsstaaten sind weitgehend zusammengebrochen. Nach Angaben des einschlägigen United Nations Development Report, der die globale Entwicklung der Lebensqualität misst, sind heute - um nur ein Beispiel zu nennen - nur noch 44 % aller Iraker Teil des Arbeitsmarktes, sehen 75 % aller Iraker in der "Bekämpfung der Armut die wichtigste Notwendigkeit", halten in einem der energiereichsten Länder der Erde mit einer täglichen Ölproduktion von 2,6 Millionen Barrel ernsthaft 35% aller Haushalte die Gewährleistung der Elektrizitätsversorgung für das dringendste Problem öffentlicher Versorgung und leben dazu 1,6 aller 33,8 Millionen Iraker mit Verletzungen und Beeinträchtigungen in Folge von Landminen und nichtexplodierten Sprengsätzen.

Kriegsursache (globaler) Kapitalismus

Tatsache ist, dass die Zahl der Flüchtlinge und Binnenvertriebenen schon seit den 1980er Jahren und auch in den 1990er Jahren, als noch viel von der "Friedensdividende" nach Ende des Kalten Kriegs die Rede war, mehr oder weniger kontinuierlich zugenommen hat. Außerdem gab es für den "Arabischen Frühling" in der Region auch innere Gründe. Wie erklärt sich also die Häufung der Bürgerkriege und Staatszerfallsprozesse? Und wie erklären sich also die Fluchtbewegungen aus Nicht-(Bürger-)Kriegsländern? Was sind hier die Fluchtursachen?

Die eigentlichen Gründe für die Zunahme von sozialen Revolten und Staatskrisen ist im Zusammenhang mit der internationalen politischen Ökonomie der letzten dreißig, vierzig Jahre zu sehen, d. h. mit der Globalisierung des Kapitalismus im Allgemeinen und der globalen Krise im Besonderen. Diese "Globalisierung" lässt sich mit Leo Panitch definieren als "die Ausbreitung kapitalistischer Sozialbeziehungen in jeden Winkel dieses Planeten und jede Facette unseres Lebens".(3) Die Globalisierung ist jedoch kein Naturereignis, sondern war und ist ein von gesellschaftlichen Interessen geleiteter, politischer Prozess. Sie ist das historische Ergebnis der politisch eingeleiteten, neoliberalen Wende in den 1970er Jahren. Im Kontext der Profitklemmenkrise in den 1970er Jahren zielte sie als "Klassenprojekt" auf die Wiederherstellung der Klassenmacht des Kapitals(4) durch die Disziplinierung der Arbeiterklasse? Die geldpolitische Zäsur des Volcker-Schocks in den USA (1979) schuf hierfür die Voraussetzung, weil sie nach innen Massenarbeitslosigkeit zur Folge hatte, die die gewerkschaftliche Tarifverhandlungsposition schwächte, und nach außen über den Hebel der Schuldenkrise im globalen Süden (v. a. in Afrika und Lateinamerika) Marktöffnung erzwang.

Dieses Weltwirtschaftsprojekt war das einer "flachen Welt", in der im Rahmen der WTO für das global mobile Kapital allerorten die gleichen Regeln gelten.(6) Dazu gehören auch die Investitionsschutzabkommen wie TTIP, TPP und CETA, welche die transnationalen Konzerne vor demokratischen Entscheidungen, die ihre Profite einschränken, wirtschaftsverfassungsrechtlich schützen.(7) Dieses Projekt hat global jedoch dramatische Verheerungen hervorgerufen. Die globale Kapitalmobilität und Forcierung von Weltmarktzwängen hat die Nationalstaaten der Welt in eine erbarmungslose Standortkonkurrenz gebracht. Sie erlaubt es dem Kapital, die Nationalstaaten gegeneinander auszuspielen und damit zu Deregulierung von Arbeitsmärkten und Umweltauflagen sowie - mit Kapitalverlagerungsandrohungen - zu Beschäftigten-Zugeständnissen und öffentlichen Subventionen zu zwingen. Damit geraten die Staaten jedoch unter enormen Druck, weil sie nicht zuletzt durch Steuereinbußen immer weniger in der Lage sind, sozial integrativ zu handeln. Die Staatszerfallsprozesse und "Neuen Kriege" sind Folge dieser Problematik.

Grundsätzlich gilt, dass die Weltmarktintegration und die Transnationalisierung der Produktion in den vom Kapital durchdrungenen Ländern dramatische gesellschaftliche Umwälzungen hervorgerufen hat. Unumstritten ist, dass zu dieser dramatischen Umwälzung ein Prozess der Verwandlung von vormals unabhängigen Subsistenz- und Kleinbauern in lohnabhängige ArbeiterInnen gehört.

So hat sich seit der neoliberalen Wende die Zahl der Lohnabhängigen weltweit fast verdoppelt. Von 1,9 Mrd. (1980) stieg sie über 2,8 Mrd. (2000) und 3,1 Mrd. (2007) auf 3,5 Mrd. (2015). Diese annähernde Verdopplung ist dabei nur zum Teil das Ergebnis des globalen Bevölkerungswachstums, weil sie überproportional zum Anstieg der Weltbevölkerung stattgefunden hat. Mittlerweile gehört knapp die Hälfte der Weltbevölkerung zur Klasse der Lohnabhängigen. Dabei wuchs der Anteil des globalen Südens an der Industriearbeiterklasse weltweit (Bergbau, Industrieproduktion, utilities [Elektrizität Öl und Gas, Wasser], Bauindustrie) von 51% (1980) auf 73% (2008). 73% des Wachstums fanden zwischen 1980 und 2000 in den Entwicklungsländern statt (40% davon allein in Indien und China).(8) Deshalb wird heute von einer "Weltarbeiterklasse" gesprochen.(9) Das Zentrum des Kapital-Arbeit-Konflikts (und damit der Weltgeschichte) verlagert sich in die frühere (Semi-)Peripherie, insbesondere nach Asien.(10)

Mit dem Wachstum der Klasse der globalen Lohnabhängigen ist ein globaler Massenmigrationsprozess historischen Ausmaßes verknüpft. Die Migration findet hier vor allem als Binnenmigration statt: Abwanderung der Landbevölkerung in die Städte, Urbanisierung. Noch 1950 lebten nur 16 Prozent der Drittweltbevölkerungen (und 29 Prozent der Weltbevölkerung) in Städten.(11) Mit der Weltmarktintegration hat seit den späten 1970er und 1980er Jahren im globalen Süden jedoch ein Prozess der "Überurbanisierung" eingesetzt. Seit der Jahrtausendwende lebt die Mehrheit der Weltbevölkerung in Städten und mittlerweile beschränkt sich aller Bevölkerungswachstum auf die urbanen Räume.(12) Bis 2050 sollen 64 % aller Menschen in den Entwicklungsländern und 86 % in den entwickelten Ländern in urbanen Regionen leben.

Die Klassenideologie behauptet, dass Freihandelsabkommen und die Schaffung des globalen Kapitalismus zu einer Angleichung von globalem Norden und Süden führen. Die Modernisierung würde auf dem Weg der Handelsliberalisierung, Deregulierung und Privatisierung von öffentlichem Eigentum stattfinden. Marktorientierte Entwicklungsstrategien wären effizienter als staatsorientierte. Manche Länder des globalen Südens beschritten diesen Weg unter Rechtsregierungen freiwillig. Oft genug kamen diese Abkommen jedoch durch offenen Zwang der kapitalistischen Kernstaaten des "Westens" zustande, die dabei im Interesse des transnationalisierten Kapitals operierten. So wurden in der Schuldenkrise des globalen Südens in den 1970er und 1980er Jahren vom afrikanischen Kontinent bis Mexiko die Märkte aufgebrochen. Der Hebel hierzu waren die Strukturanpassungsprogramme seitens des Internationalen Weltwährungsfonds (IWF) und der Weltbank. Ähnlich wie in Griechenland in der "Eurokrise" wurden notwendige Kredite nur gegen Marktöffnung und Zwangsprivatisierung gewährt. Dieser Schuldenimperialismus operierte also mit dem Mittel des Finanzkriegs.(13)

Die Folge für die Länder des globalen Südens wälzte die traditionellen Gesellschaften in weniger als ein bis zwei Generationen fast vollständig um: Unter den neuen Zwängen der erbarmungslosen Weltmarktkonkurrenz gerieten die Staaten unter doppelten Druck. Dies zwang sie zur drastischen Reduzierung der öffentlichen Ausgaben. Die Folge waren die Privatisierung von Staatsbetrieben, Massenentlassungen von Beschäftigten im öffentlichen Sektor und die Reduktion von staatlichen Ausgaben zur (Industrie- und Agrar-)Wirtschaftsmodernisierung.

Die einfache Bevölkerung ist auf dem Arbeitsmarkt unter doppeltem Druck: Kein Zugang zu den (landwirtschaftlichen) Produktionsmitteln und Auskommen durch landwirtschaftliche Arbeit, aber zugleich keine Beschäftigungsmöglichkeiten im öffentlichen Sektor. Die Folge ist eine Zunahme der Arbeit im (unproduktiven) informellen Sektor oder in der illegalen Schattenglobalisierung.(14)

Entstanden ist eine "globale Reservearmee der Arbeiterklasse", und der "neue Imperialismus" betreibt ihr gegenüber letztlich eine Kontrollfunktion.(15)

Für die Linke war diese Entwicklung zu begrüßen - als Voraussetzung für den Sozialismus. Lenin: "Der Kapitalismus hat eine besondere Art der Völkerwanderung entwickelt. Die sich industriell rasch entwickelnden Ländern, die mehr Maschinen anwenden und die zurückgebliebenen Länder vom Weltmarkt verdrängen, erhöhen die Arbeitslöhne über den Durchschnitt und locken die Lohnarbeiter aus den zurückgebliebenen Ländern an. Hunderttausende von Arbeitern werden auf diese Weise Hunderte und Tausende Werst weit verschlagen. [...] Es besteht kein Zweifel, dass nur äußerstes Elend die Menschen veranlaßt, die Heimat zu verlassen, und daß die Kapitalisten die eingewanderten Arbeiter in gewissenlosester Weise ausbeuten. Doch nur Reaktionäre können vor der fortschrittlichen Bedeutung dieser modernen Völkerwanderung die Augen verschließen. Eine Erlösung vom Joch des Kapitals ohne weitere Entwicklung des Kapitalismus, ohne den auf dieser Basis geführten Klassenkampf gibt es nicht und kann es nicht geben. Und gerade in diesen Kampf zieht der Kapitalismus die Werktätigen Massen der ganzen Welt hinein, indem er die Muffigkeit und Zurückgebliebenheit des lokalen Lebens durchbricht, die nationalen Schranken und Vorurteile zerstört und Arbeiter aller Länder in den großen Fabriken und Gruben Amerikas, Deutschlands usw. miteinander vereinigt."(16)

Fazit

So lässt sich abschließend festhalten: Die Fluchtursache Nr. 1 ist und bleibt der Krieg; aber die Kriegsursache Nr. 1 ist und bleibt der globale Kapitalismus. Die USA und der "Westen" sind für die Flüchtlingskrise verantwortlich, weil sie imperial(istisch)e Besatzungs-, Luft- und Stell-Vertreter-Kriege führen; aber sie führen diese Kriege oft und "müssen" sie führen, weil sie zuvor die Globalisierung des Kapitalismus forciert haben. Ihre Kriege sind oft genug nicht Kriege zur lokalen Durchsetzung globalkapitalistischer Verhältnisse, sondern die lokalen Kriege werden nach ihrer Durchsetzung zur Behebung der selbstgeschaffenen gesellschaftlichen Widersprüche im Sinne eines Managements des globalen Kapitalismus notwendig. Der direkte Zwang (Krieg) ist oft bloß die Reaktion auf den Erfolg des indirekten, scheinbar gewaltlosen, strukturellen Zwangs (schuldenimperialistische Freihandelsabkommen etc.). Der kapitalistische Staat legt sich damit aber selbst die Flächenbrände, die er als imperial(istisch)er Staat vergeblich zu löschen versucht. Seine scheinbare Inkompetenz bei den Feuerlöschaktionen resultiert dabei daraus, dass seine Kapazitäten als Feuerlöscher seine Kapazitäten als Brandstifter bei weitem überschreiten.

Im Hinblick auf die rotgrünen Liberalen, die schwarzgelben Konservativen und die AfD-Rechtspopulisten kann die Linke entsprechend entgegenhalten: Wer vom Kapitalismus nicht reden will, der soll auch über Flüchtlinge und Integrationspolitik schweigen. Die Fluchtursache ist der globale Kapitalismus. Wer also glaubt, Deutschland schafft das nicht, der muss den Kapitalismus abschaffen. Aber auch für die Linke ergibt sich ein Arbeitsprogramm: Ihre Aufgabe besteht darin, stets auf die Kriegsursache Kapitalismus hinzuweisen, und zugleich die doppelte Dummheit zu vermeiden, hinter jedem Bürgerkrieg mit lokalen, inneren gesellschaftlichen Dynamiken das Wirken allmächtiger westlicher Verschwörungen zu wittern und hinter jedem westlichen imperialistischen Krieg schlichte (Öl-, Gas- etc.) Raubinteressen zu vermuten.


Ingar Solty, Toronto, Politikwissenschaftler, Politikredakteur der Zeitschrift "Das Argument"


Fußnoten

(1) Wiegel, Gerd: Rassismus, Fluchtabwehr, rechter Aufstieg, in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 104, Dezember 2015, S. 8-16, hier S. 8-10.

(2) 38 Jahre Besatzungs-, Bürger- und Besatzungs-Krieg in Afghanistan, 36 Jahre (Stellvertreter-)Krieg, Bombardierungen und Sanktionen im Irak, Fünf Jahre NATO- und Bürgerkrieg in Libyen, Fünf Jahre Bürger- und Stellvertreterkrieg in Syrien, Zwei Jahre Bürgerkrieg in der Ukraine, Wirtschaftskrise und Boko Haram in Nigeria, Mali, Somalia, Eritrea.

(3) Panitch, Leo: Der 11. September und seine Nachwirkungen aus der Klassenperspektive, in: Bischoff, Joachim u.a. (Hg.): Klassen und soziale Bewegungen, Hamburg 2003, S. 194-218, hier S. 194.

(4) Harvey, David: A Brief History of Neoliberalism, Oxford et al. 2007, S. 142-151.

(5) Gill, Stephen/Solty, Ingar: Die organischen Krisen des Kapitalismus und die Demokratiefrage, in: Juridikum, H. 1/2013, S. 51-65.

(6) Vgl. Solty, Ingar: Weltkapitalismusverfassung: 20 Jahre WTO, in: junge Welt, 31.12.2014 und 2.1.2015, jeweils S. 12-13.

(7) Vgl. Solty, Ingar: Diktatur des Kapitals: Die vier größten Mythen von TTIP, in: junge Welt, 10.10.2015, S. 12-13.

(8) Foster, John Bellamy/McChesney, Robert W./Jonna, R. Jamil: The Global Reserve Army of Labor and the New lmperialism, in: Monthly Review, 63. Jg., Nr. 6/2011.

(9) Van der Linden, Marcel: Plädoyer für eine historische Neubestimmung der Weltarbeiterklasse, in: Sozial.Geschichte. Zeitschrift für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts, 20. Jg., H. 3/2005, S. 7-28.

(10) Silver, Beverly: Forces of Labor, Cambridge et al. 2003.

(11) Araghi, Farshad A.: Global Depeasantization, 1945-1990, in: The Sociological Quarterly, 36. Jg., Nr. 2/1995, S. 337-68, hier S. 338.

(12) Davis, Mike: Planet of Slums, London/New York 2006.

(13) Deppe, Frank/Salomon, David/Solty, Ingar: Imperialismus, Köln 2011.

(14) Altvater, Elmar/Mahnkopf, Birgit: Globalisierung der Unsicherheit, Münster 2002, S. 81-163.

(15) Foster/McChesney/Jonna: The Global Reserve Army of Labor and the New ImperiaIism, a. a. O.

(16) LW Band 19, S. 447.

*

Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 1-16, 54. Jahrgang, S. 39-47
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juni 2016

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