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MARXISTISCHE BLÄTTER/551: "Freiwillige" Gratisarbeit für alle?


Marxistische Blätter Heft 3-13

"Freiwillige" Gratisarbeit für alle?

von Gisela Notz



PolitikerInnen, WissenschaftlerInnen und Wohlfahrtsverbände denken weiter über innovative und unkonventionelle Lösungen nach, um die "gewaltigen Herausforderungen", die der Abbau des Sozialstaats - verstärkt durch den demographischen Wandel und die veränderten Bedürfnisse der Frauen - mit sich bringt, zu bewältigen. Vor allem geht es um die Nutzung neuer Potenziale. In den letzten Jahren ist zu beobachten, dass die Nutzbarmachung "ehrenamtlichen" Engagements nicht nur vom Staat begrüßt und von NGOs beworben wird, sondern dass dies immer mehr auch durch "Freiwillige" selbst geschieht. Der Wert einer "freiwilligen" Tätigkeit wird zunehmend mehr von ihrer Verwertbarkeit bestimmt. Es geht nicht mehr um ein besseres Leben, das durch "freiwilliges" Engagement ermöglicht wird, sondern mitunter um eine kalkulierte Investition in Freizeit. "Freiwilligenarbeit" wird zunehmend mehr zu einem Faktor der Employability. Das gilt besonders für jüngere Menschen und Erwerbslose. Erwerbslosigkeit gefährdet nicht nur die materielle Sicherheit im Alter, sondern das gesamte soziale Sicherungssystem. Während der Anspruch auf Sozialleistungen durch Erwerbslosigkeit und Armut zunimmt, führt sie zu sinkenden Einnahmen der sozialen Sicherungssysteme. Diese Entwicklung wird durch die Arbeit in prekären, nicht sozial versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen, die Beschäftigten im Niedriglohnsektor und die "working poor", die selbst von Vollzeitarbeit nicht mehr leben können, verstärkt. Wegen der Beitragsabhängigkeit sind die sozialen Sicherungssysteme auf eine hohe Anzahl von Erwerbstätigen Beitragszahlern angewiesen, um funktionsfähig zu bleiben. Die entstehenden Lücken in der Versorgung der Bedürftigen sollen durch "Ehrenamtliche" gestopft werden, denn sie arbeiten zum Nulltarif.


Die aktuelle sozialpolitische Debatte
In der aktuellen sozialpolitischen Debatte hat die Diskussion um den "aktivierenden" Staat, die Zivilgesellschaft, um Selbsthilfe, Bürgersinn und Gemeinsinn wieder einmal Konjunktur. Soziale, gesundheitliche und kulturelle Versorgung - Bereiche, in denen überdurchschnittliche viele Frauen erwerbstätig sind - werden großflächig reprivatisiert. Staatlichen Kürzungen zum Opfer fallende soziale Einrichtungen werden der Wohlfahrt überantwortet bzw. der "freiwilligen" Arbeit und Selbsthilfe übergeben. Und all dies wird mit dem ideologischen Mäntelchen des Vorteils menschlicher Wärme in kleinen sozialen Netzwerken im Vergleich zur Kälte der professionellen Hilfeexperten in den Betreuungseinrichtungen gnädig zugedeckt.

Wenig problematisiert wird, dass der Bereich unbezahlter Pflege- und Sorgearbeiten in "Ehrenamt" ebenso wie in der Familie und in anderen Zusammenlebensformen durch die Dezimierung sozialstaatlich bereitgestellter Mittel ständig wachsender Belastung ausgesetzt ist. Bestehende primäre und sekundäre Netzwerke werden dadurch hoffnungslos überlastet. Und dieser Überlastung sind Grenzen gesetzt, nicht zuletzt, weil durch die "steigende Erwerbsneigung" der Frauen (West) und die "ungebrochene Erwerbsneigung" der Frauen (Ost) nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dass Frauen diese Arbeiten weiterhin kostenlos und aus Liebe (in den Familien) bzw. aus Nächstenliebe (in Ehrenamt und Selbsthilfe) übernehmen. Denn es sind heute nicht nur die "ehrenwerten" Damen, die in die Hütten der Armen kommen, sondern viele andere sollen helfen, die Not zu lindern. Nicht zuletzt sollen die Armen, Zukurzgekommenen und die Erwerbslosen selbst angehalten werden, sich mit "freiwilliger" Arbeit zu beschäftigen.

Das institutionelle Hilfesystem wird dabei immer mehr zurückgefahren. Die Verantwortung für gesellschaftliche Risiken wie Krankheit, Erwerbslosigkeit und Armut wird in den Zuständigkeitsbereich von Individuen, der primären Netzwerke und der karitativen Hilfe für die Nächsten verlagert. PolitikerInnen und auch PolitikwissenschaftlerInnen verweisen immer wieder darauf, dass soziale Kontakte und Teilhabe, die die Gratisarbeit bietet, wichtiger seien als Geld. Damit wird die sowieso schon bestehende Benachteiligung von Frauen gegenüber Männern in fast allen Lebensbereichen fortgeschrieben. Freiwilligenarbeit soll glücklich, gesund und zufrieden machen, weil man aktiv das eigene Lebensumfeld mitgestalten kann, Verantwortung übernimmt für das große Ganze oder einfach, indem man Hilfsbedürftigen zur Seite steht. Durch die in erschreckendem Umfang zunehmende ökonomische und soziale Unsicherheit, Erwerbslosigkeit und Armut wächst auch die Zahl der Hilfsbedürftigen. Es finden sich immer wieder Argumente wie die folgenden: Soll die gesamte soziale oder kulturelle Arbeit von professionellen HelferInnen erbracht werden, ist sie nicht mehr bezahlbar; deshalb ist ergänzend zum institutionell und professionell organisierten Hilfesystem "ehrenamtliches" Engagement erforderlich.

"Ehrenamt" wird als Ressource benutzt, die im hauptamtlichen Bereich eingesparten Stellen kostengünstig zu füllen. Hauptamtliche können sich aus den alltäglichen Zusammenhängen zurückziehen. Die operativen Arbeiten übernehmen nun die "Freiwilligen". Während die Hauptamtlichen ihre Tätigkeit auf den supervidierenden Bereich verlagern und sich den Tätigkeiten Beratung, Fortbildung, Begleitung widmen. Ob das immer in ihrem Interesse ist, sei dahingestellt.

ExpertInnen sehen eine solche Funktionalisierung der Freiwilligenarbeit zum Stopfen staatlicher Haushaltslöcher eher negativ, weil so versucht wird, vorhandene Strukturen und Leistungsangebote mit Hilfe der Freiwilligen (vorübergehend) zu stützen zu bewahren, nicht aber sie langfristig neu zu strukturieren.

Dabei ist es eine Binsenweisheit: "Freiwilligenarbeit" kann erst dann effektiv eingesetzt werden, wenn die professionelle Versorgung von Hilfe-, Versorgungs- und Betreuungsbedürftigen sichergestellt ist und wenn die Arbeiten wirklich freiwillig und aus Liebe verrichtet werden können, das heißt, wenn die eigenständige Existenzsicherung der Helfenden und Versorgenden gewährleistet ist. Für die "Freiwilligen" heißt das, dass sie über ausreichende Einkommen aus Erwerbsarbeit und Ältere über ausreichende Renten abgesichert sein müssen. Das ist bei vielen "Freiwilligen", vor allem bei vielen Frauen nicht der Fall.

Viele soziale Projekte und Einrichtungen im Sozial-, Gesundheits- und Kulturbereich bestünden ohnehin nicht mehr, wenn "freiwillige" Gratisarbeiterinnen nicht für ihr Fortbestehen sorgen würden. Ohne "Freiwilligenarbeit" würden das System der sozialen Dienste, und der gesundheitlichen Versorgung, auch der Umweltschutz, die Soziokultur und ein großer Teil der Kulturarbeit zusammenbrechen. Damit blieben viele, die Hilfe und Unterstützung brauchen, unversorgt und Kultur würde (wieder) zum teuren Gut werden, das sich nur wenige leisten können. Damit das nicht geschieht, will die Bundesregierung die bürgerschaftliche Gratisarbeit weiter fördern und die Rahmenbedingungen verbessern.

Wenn von der Verbesserung der Rahmenbedingungen oder von "Engagementförderung" gesprochen wird, ist es wichtig, zu berücksichtigen, dass verschiedene Engagementbereiche unterschiedliche Rahmenbedingungen und unterschiedliche Unterstützung benötigen, das wird in den aktuellen Diskussionen zu wenig beachtet. Für alle Bereiche gilt jedoch: Sie brauchen Raum, Zeit und Ressourcen.


Das Ausmaß der "Freiwilligenarbeit"
Mitte der 1990er Jahre hat eine Studie über "ehrenamtliche" Arbeit (sog. Volunteering) in Europa Aufsehen erregt. Sie zeigte das Ergebnis, dass die Bundesrepublik Deutschland keinesfalls an der Spitze liegt, wenn es um unbezahlte "ehrenamtliche" Arbeit geht. Und die BRD möchte doch gerne an der Spitze liegen. Beim "Volunteering", so geht es aus der Studie hervor, kommt ihr nur der drittletzte Platz unter den zehn untersuchten Ländern zu. Spitzenreiter sind Niederlande, Schweden, Belgien, Dänemark, Großbritannien und Irland. Schweden und Dänemark sind Länder mit hohen Standards, wenn es um die sozialstaatlichen Leistungen geht. Hieraus wird deutlich, dass "freiwillige" Arbeit nicht durch einen Rückzug des Sozialstaates erleichtert wird, wie es konservative Politiker immer wieder diskutieren.

In der folgenden Zeit wurde vor allem versucht nachzuweisen, dass "die Deutschen" gar nicht so wenig engagiert sind und durchaus im internationalen Vergleich mithalten könnten. Es ging aber auch darum, "verschüttete" Potenziale aufzuspüren und für die "freiwillige" Arbeit im Gemeinwesen zu gewinnen. Alle Kampagnen zeigten, dass zusätzliche Gratisarbeiterinnen schwer zu finden sind. Daher werden immer neue Studien finanziert und immer neue Programme aufgelegt, um die Mobilisierung von "Freiwilligen", die heute nicht mehr nur zum Nulltarif arbeiten müssen, sondern für die, da alle Werbekampagnen den gewünschten Erfolg verfehlten, nun ein neuer Niedrigstlohnsektor geschaffen worden ist, voranzutreiben.

Für den Bereich des "freiwilligen", bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland gibt es mittlerweile verschiedene empirische Erhebungen, die Auskunft über den aktuellen Stand der Beteiligung von Frauen und Männern geben. Die bisher umfangreichsten Untersuchungen zum freiwilligen Engagement stellt der bereits erwähnte Freiwilligensurvey dar. Die Studie räumt auf mit den Klagen, dass Ehrenamtlichkeit und Selbsthilfe in der Bundesrepublik vorläufig sind. Um nicht nur traditionelle Formen des "Ehrenamts" zu erfassen, liegt der Studie ein breites Verständnis freiwilligen Engagements zu Grunde.

Der dritte Freiwilligensurvey von 2009, der auch einen Vergleich mit den ersten beiden Survey enthält, zeigt das Ergebnis, dass sich 36 Prozent aller bundesdeutschen Menschen über 14 Jahre, also mehr als jede dritte BürgerIn, "freiwillig" und unentgeltlich oder gegen eine geringe Aufwandsentschädigung engagieren. 37 Prozent der in Westdeutschland lebenden BürgerInnen und 31 Prozent der in Ostdeutschland lebenden. Bundesministerin Kristina Schröder freut sich darüber. Im Vorwort zum Hauptbericht von 2009 schreibt sie: "Die Anzahl der Engagierten ist seit zehn Jahren auf hohem Niveau stabil." Auch im europäischen Vergleich kann Deutschland nun durchaus mithalten: Nach einer im Mai 2010 durchgeführten Umfrage engagieren sich drei von zehn EuropäerInnen.

Erstaunlich erscheint nach dem bundesdeutschen Survey zunächst, dass mehr Männer als Frauen aktiv sind: 40 Prozent der Männer engagieren sich gegenüber 32 Prozent der Frauen. Das Ergebnis ist allerdings nicht verwunderlich, da ehrenamtliche Arbeit und bürgerschaftliches Engagement bei den Gewerkschaften, im Sport, bei Rettungsdiensten, freiwilliger Feuerwehr, Politik bzw. politische und berufliche Interessenvertretung mitgezählt werden. Das sind Engagementbereiche, in denen mehrheitlich Männer engagiert sind. Das zeigt auch die Studie des Wissenschaftszentrums von 2009. Die AutorInnen des Freiwilligensurveys 2006 führen das insgesamt etwas geringere Engagement von Frauen vor allem auf die für sie stärkeren Vereinbarkeitsprobleme der drei Bereiche Beruf, Familie und "Freiwilligenarbeit" zurück. Bei Frauen, die in Paarhaushalten mit Kindern leben, sinke der zeitliche Umfang für bürgerschaftliche Aktivitäten, wenn ihre wöchentlichen Arbeitsstunden in der bezahlten Arbeit steigen; bei Männern sei es genau umgekehrt. Teilzeitbeschäftigte Frauen haben laut Freiwilligensurvey höhere Engagementquoten, während bei Männern hohe Engagementquoten mit Vollzeitbeschäftigung einhergehen. Männer sind demnach eher in der Lage, Berufsarbeit, ehrenamtliches Engagement und Familie unter einen Hut zu bringen. Dies lässt den Schluss zu, dass die traditionelle Verantwortlichkeit von Frauen für Pflege- und Sorgearbeit nicht nur zu ihrer Benachteiligung auf dem bezahlten Arbeitsmarkt beiträgt, sondern auch die ungleiche Verteilung im "Ehrenamt" verstärkt. Frauen brauchen auch für die "freiwillige" Arbeit eine bessere frühpädagogische sowie schulische und soziale Infrastruktur, um sich mehr und häufiger in bestimmten, vor allem auch politischen Bereichen engagieren zu können, ohne ihre Berufsarbeit infrage zu stellen. Denn eigenständige Existenzsicherung ist der Übernahme eines Ehrenamtes förderlicher, als die ökonomische Abhängigkeit von anderen bzw. ständige Existenznot: Wer finanziell mit dem Rücken zur Wand steht, für den hält sich der Jubel über den visionären Glanz des unbezahlten Engagements in Grenzen.


Das geschlechtsspezifische Gesicht der "freiwilligen Arbeit"
Bei genauerer Betrachtung zeigt sich das geschlechtsspezifische Gesicht des Ehrenamtes: In jenen Feldern, "die eine Nähe zum Sozialen und zur Familie aufweisen" - zu dem Ergebnis kommt wie schon vorher die Freiwilligensurveys aus den Jahren 2000 bzw. 2006 auch die Studie von 2009 -, sind Frauen nach wie vor überdurchschnittlich engagiert. In den Bereichen Soziales, Gesundheit und Pflege überwiegen sie auch 2009 mit etwa zwei Drittel gegenüber den Männern; Kinder und Jugend sowie Kirche und Religion sind ebenfalls überwiegend in Frauenhand. Das sind die Felder mit relativ hohen psychischen und physischen Anforderungen und Belastungen. Damit reproduzieren sich die traditionellen Rollenmuster auch im Ehrenamt. Wenn die Gesellschaft die "weiblichen Tugenden" braucht, um den Zusammenhalt zu gewährleisten, weil sich der Wohlfahrtsstaat zurückzieht, werden sie als kostenlose Ressource, wie bereits in früheren Krisenzeiten, hoch gelobt.

Demgegenüber sind nur wenige Männer in den Bereichen tätig, aus welchen sich der Sozialstaat verstärkt zurückzieht. Die männerdominierten Bereiche sind aber jene, in denen Entscheidungen bezüglich Arbeitsplatz, Gemeinwesen und Gesellschaft gefällt werden.

Die in den 1970er Jahren durch die westdeutsche Frauenbewegung kritisierte Trennung in eine öffentliche und eine als privat geltende Sphäre und die Zuweisung der Zuständigkeit an Frauen für den so genannten privaten Bereich manifestiert sich auch in der "freiwilligen Arbeit". Für die Einsatzbereiche wie Sport und Bewegung, die an erster Stelle des unbezahlten Engagements von Männern stehen, gilt: Für das Engagement wird seltener der Beruf aufgegeben, als für die frauendominierten Care-Arbeiten. Die männerdominierten Felder stellen zudem attraktivere, mit mehr Prestige und Einfluss versehene und besser mit Ressourcen ausgestattete Engagementbereiche dar als jene, die nach Ansicht von Engagementforschern nach "klassischem Sozialmief" riechen und in denen "Dilettantismus, Randständigkeit und aufgezwungene bzw. eingelebte Selbstbescheidung" überwiegen. Es sind aber auch die Arbeiten, ohne die - wenn sie nicht unentgeltlich geleistet würden, viele Menschen unversorgt blieben. Zugleich scheinen gerade die im Gesundheitsbereich Arbeitenden Grauen) sich - so die Befunde des ersten Freiwilligensurveys - am ehesten von der hier durch sie erbrachten Arbeit überfordert zu fühlen:

Immerhin 40 Prozent gaben 1999 an, dass sie von ihrer Arbeit "manchmal überfordert" sind. Die Übrigen fühlten sich ganz überwiegend ihren Aufgaben gewachsen. Da zu vermuten ist, dass Überforderungen besonders in den Bereichen auftreten, wo unmittelbar für und mit Hilfsbedürftigen gearbeitet wird, hat das nicht nur negative Auswirkungen auf die Engagierten selbst (meist Frauen), sondern auch auf die Qualität der übernommenen Aufgaben und damit auf die Betreuten. Das kann positiv erfahrene Aspekte der ehrenamtlichen Arbeit einschränken" und passt auf keinen Fall zu den mit viel Aufwand geführten Diskussionen um Qualitätsmanagement- und Qualitätskontrollen.

"Leitende Funktionen" werden nach der Studie des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) nach wie vor deutlich weniger von Frauen (25,7 %) als von Männern (42,1 %) übernommen. Besonders drastisch fallt die Diskrepanz in jenen Bereichen aus, in denen der Frauenanteil an den Engagierten insgesamt zwischen zwei Drittel und drei Viertel liegt. Dort sind nur 25,7 Prozent der engagierten Frauen mit Leitungs- oder Vorstandsfunktionen versehen. Von einer gleichberechtigten Teilnahme von Frauen an mit Einfluss verbundenen Positionen sind wir noch weit entfernt. Ebenso wie von einer ebenbürtigen Verteilung der helfenden und weit überwiegend weiblich konnotierten Tätigkeiten. Dies obwohl immer wieder betont wird, dass "gerade das bürgerschaftliche Engagement, das dem Gemeinwohl verpflichtet ist und bei dem ein Miteinander in den Vordergrund gestellt wird", als eine Lernwelt für Geschlechtergerechtigkeit anzusehen sei.

In einer Auswertung des ersten Freiwilligensurveys aus der "Genderperspektive" wurde bereits festgestellt: "Die Positionierung von freiwillig tätigen Frauen in ihren Tätigkeitsfeldern spiegelt die Positionierung im privaten, öffentlichen und erwerbsbezogenen Leben wider. Das gilt auch im Hinblick auf die horizontale und vertikale Segmentierung." Das heißt - zugespitzt formuliert: In der "ehrenamtlichen" Arbeit geht es zu, wie im "normalen" Leben auch. Offenbar hält sich die geschlechterhierarchische Arbeitsverteilung im "freiwilligen" Engagement sogar stabiler als in anderen Bereichen gesellschaftlicher Arbeit, wo sie zumindest problematisiert wird. Diskussionen darüber, was geschehen muss, damit Frauen verstärkt Zugang zu Leitungspositionen bekommen, werden vor allem von Frauen in Wohlfahrtsverbänden, Kirchen und anderen karitativen Institutionen geführt. Diskussionen darüber, was geschehen muss, um Männer verstärkt in die unbezahlten Sorge- und Pflegearbeiten zu integrieren, stehen noch weitestgehend aus. Die bloße Aufforderung, dass "darauf eingewirkt werden [muss], dass sich der Anteil der Männer in diesem Bereich erhöht", reicht allerdings nicht aus, solange sich Struktur und Form der jeweils zu verrichtenden Arbeit nicht ändern.


Potenziale, die noch nicht voll erschlossen sind
Für die Zukunft wird das "freiwillige" Potenzial nach Aussagen vieler PolitikerInnen nicht ausreichen. Immer neue Arbeitsfelder werden gefunden, für die neue Potenziale gewonnen werden sollen. Aktive BürgerInnen finden sich nicht umstandslos von selbst. Grundsätzlich wird durch zahlreiche Studien eine wesentlich höhere Bereitschaft unterstellt, sich für "freiwillige Arbeit" zu engagieren, wenn entsprechende Ermöglichungsstrukturen geschaffen würden. Meist ist davon die Rede, dass viele BürgerInnen mobilisiert und aktiviert werden könnten, wenn es gelänge, traditionelle Angebote und sich neu entwickelnde Nachfrage zusammenzubringen und "das 'schlafende' Engagementpotenzial nicht aus den Augen zu verlieren."

Im Zusammenhang mit aktuellen Kürzungsszenarien wird im Sozial- und Gesundheitsbereich, aber auch im Bereich von Kultur und Soziokultur große Hoffnung auf die "nachwachsende Seniorengeneration" und, wo es um Pflegen und Sorgen, geht, natürlich vor allem auf die Seniorinnen gesetzt. Ebenso gilt das "Potenzial" von "Menschen mit einem Migrationshintergrund" als "noch nicht voll erschlossen" obwohl Integration nach Meinung der Bundesregierung unbedingt bürgerschaftliches Engagement braucht. Eine relativ neue Gruppe stellen die Erwerbslosen und Armen dar. Sie haben erst nach der Wiedervereinigung Deutschlands an Bedeutung gewonnen. Zwar gab es auch im 19. Jahrhundert bereits Arbeitsbeschaffungsprogramme, um arbeitsfähige Erwerbslose in den Arbeitsprozess einzugliedern und gleichzeitig ihre Lebensführung zu kontrollieren, diese waren jedoch weniger im sozialen Bereich zu finden.


Die Entdeckung der Erwerbslosen für die "freiwillige Arbeit"
Die Eingliederung Erwerbsloser durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und "Freiwilligendienste" hat eine lange Tradition. Bis 2004 wurden sie in einigen Bundesländern zur gemeinnützigen zusätzlichen Arbeit (gzA) herangezogen. Der Freiwilligensurvey von 2009 stellt fest, dass "Arbeitslose, Menschen mit einfacher Sozial- und Bildungsstatur" weniger "freiwillig" aktiv sind, als der Durchschnitt der Bevölkerung. Andererseits erbringen "Arbeitslose einen besonders hohen Einsatz für ihr Engagement" (22 Stunden wöchentlich). Engagierte Erwerbslose würden die "freiwillige Arbeit" nutzen, um Kontakt zu anderen Menschen finden zu können. Das Engagementpotenzial sei hoch. Viele zeigen eine "bestimmte und eventuelle Bereitschaft zum freiwilligen Engagement". Allerdings wurde "mit der stärkeren Einbeziehung von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt im Zuge der Hartz-Reformen" das Zeitpotenzial für "freiwilliges" Engagement verringert, was auch Auswirkungen auf die Motivation habe. Besonders in Ostdeutschland seien die Übergänge zwischen "freiwilligem" Engagement und geringfügig bezahlten Tätigkeiten fließend. "Freiwillige" Arbeit würde von Erwerbslosen auch als Verdienstmöglichkeit oder als Sprungbrett für eine bezahlte Tätigkeit gesehen, wenigstens jedoch als sinnvolle Beschäftigung. Hier wird deutlich, was auch im Rahmen einer empirischen Untersuchung in ringen festgestellt wurde: Die Grenzen zwischen "freiwilliger" Arbeit und prekären Arbeitsverhältnissen sind vor allem in Ostdeutschland fließend. MitarbeiterInnen, die im Rahmen zeitlich befristeter Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen beschäftigt waren, arbeiteten in den gleichen Projekten und Organisationen nach Auslaufen der Fördermaßnahme als, "Freiwillige" weiter. Sie erhofften sich durch die vorübergehende "freiwillige Arbeit" ihre Initiative oder ihr Projekt am Leben zu erhalten und sich wieder einen bezahlten Arbeitsplatz zu schaffen. Andere Erwerbslose sahen die "freiwillige Arbeit" als Sprungbrett für den Aufsprung auf eine bezahlte Arbeitsstelle an.

Seit Mitte Juli 2010 läuft in der Bundesrepublik ein groß angelegter "Feldversuch" zur "Bürgerarbeit", den Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen mit finanziellen Mitteln der Europäischen Union gestartet hat. Erstmalig erschien dieses Konzept 1997 im Bericht der "Kommissionen für Zukunftsfragen in Bayern und Sachsen". Die Medien griffen es damals als Problemlöser für eine sozial auseinander driftende Gesellschaft begeistert auf. Der Münchener Soziologieprofessor Ulrich Beck, Mitglied der Kommission, empfahl "Bürgerarbeit" als Gegenferment zur schrumpfenden Erwerbsarbeit für "Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger, Jugendliche, neben und nach der Berufsausbildung, Mütter nach der Erziehungsphase, ältere Menschen im Übergang in den Ruhestand, Teilzeiterwerbstätige, vorübergehend aus der Erwerbsarbeit Ausgestiegene". Ihnen allen unterstellte Beck eine Motivation für "Bürgerarbeit", denn sie suchten nach "gezielten Einsatzfeldern für freiwilliges soziales Engagement". Durch das Erschließen nichtmarktgängiger, gemeinwohlorientierter Bürgerarbeit sollte der Arbeitsmarkt saniert und die soziale Versorgung - trotz Kürzungen an sozialstaatlichen Leistungen - sichergestellt werden. "Bürgerarbeiter" (!) sollten dem Gemeinwohl dienen - im Unterschied zu denjenigen, die ihre Freizeit mit individuellen Aktivitäten verbringen. "Bürgerarbeiter" sollten nicht entlohnt, sondern belohnt werden und zwar immateriell durch "Favor Credits", zum Beispiel durch kostenfreie Kindergartenplätze. Vor allem sollten sie durch "öffentliche Auszeichnungen und Ehrungen" gewürdigt werden, denn solche Anerkennung sei in unserer Gesellschaft, wo man alles kaufen könne, unschätzbar wertvoll. Dass "Bürgerarbeit" den Erwerb von Qualifikationen ermöglichen und Tätigkeitsfelder für lebenslanges Lernen eröffnen sollte, schien ihre Unbezahlbarkeit zu bestätigen. Als besonders attraktive Belohnung für junge Menschen wurden Pluspunkte im Numerus-Clausus-Verfahren wie auch Vorteile bei der Rückzahlung von BAFÖG-Darlehen vorgeschlagen. Nur sozial schwache Erwerbslose sollten "Bürgergeld" in der Höhe der damals aktuellen Sozialhilfe erhalten; freilich hätte die Sozialhilfe den aus der Erwerbsarbeit herausgefallen (bezeichnet als "Langsame, Schwache, Abweichende") ohnehin zugestanden. Den von verschärfter Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt bedrängten Frauen verhieß Beck, dass es in Zukunft nicht mehr heißen müsse: "Frauen zurück an den Herd!", sondern: "Vorwärts in die Bürgerarbeit!" Gerade für Frauen sollte der materielle Ertrag hinter der Sinnstiftung verschwinden: Noch gebraucht zu werden, baue die "erwerbslose Beiköchin der Dresdener Tafel" auf. Außerdem argumentierte Beck (und nicht nur er) mit dem höheren sozialen Status. "'Ich bin Bürgerarbeiter', das klingt doch besser als: 'Ich bin seit drei Jahren arbeitslos'".

Das Bestechende an dem Modell war, dass sich UnterstützungsempfängerInnen selbst umdefinieren konnten. Sie standen vor der Wahl, erwerbslos zu bleiben und langfristig Sozialhilfe zu beziehen oder als Freiwillige öffentlich und gemeinnützig tätig zu werden; sie sollten sich von Unterstützungs- in ZuwendungsempfängerInnen verwandeln. In dem Konzept der "Zukunftskommission" wurde betont, dass die "Bürgerarbeit" freiwillig sei; wenn jemand vorzog, sich weiter als Sozialhilfeempfängerln zu definieren, waren Sanktionen nicht vorgesehen. So entgingen die Konzeptmacher dem Vorwurf, die Arbeitspflicht einführen zu wollen. Ulrich Beck ist mit diesem Konzept populär geworden. Er hoffte damals auf einen Allparteien-Konsens. Der war schnell hergestellt, denn alle Gruppierungen suchten nach Lösungen, um Sozialkosten zu sparen und zugleich die Zahl der Erwerbslosen zu senken.

Heute ist das Konzept in mehreren Bundesländern, darunter Nordrhein-Westfalen, in sechs Gemeinden von Sachsen-Anhalt und drei bayerischen Modellstädten verwirklicht. Anders als bei den Ein-Euro-Jobs handelt es sich um sozialversicherungspflichtige Arbeit (ohne Arbeitslosenversicherung) mit einer Perspektive für drei Jahre. In Sachsen-Anhalt, Thüringen und in Bayern ging die Anzahl der registrierten Erwerbslosen in den beteiligten Kommunen um 50-60 Prozent zurück, obwohl da kaum mehr Erwerbslose in reguläre Erwerbsarbeit vermittelt wurden als anderswo. Kein Wunder: Die "Bürgerarbeiter" gelten nicht mehr als Erwerbslose, sondern als ArbeitnehmerInnen. Fragt man nach den Arbeiten, die sie verrichten, so kommt folgendes heraus: Begleiten von alten Menschen oder Behinderten bei Arztgängen, Kochen für Bedürftige, Säubern von Parks und Straßen, Vorlesen in Altenheimen und andere Hilfe bei "unerfüllten sozialen Bedürfnissen", die der Markt nicht regulär bezahlen will. Sieht man sich Photos von praktizierter Bürgerarbeit in vorhandenen Broschüren an, so stammen sie aus dem Bereich der Altenpflege. Dort ist bekanntlich der Bedarf an Arbeitskräften am größten. "Zwangsarbeit zu Niedriglöhnen!" schimpfen kritische PolitikerInnen und auch Betroffene.

Wer "Bürgerarbeit" ablehnt, verwirkt seinen Anspruch auf staatliche Unterstützung oder hat zumindest mit Kürzungen zu rechnen. Das Institut für Wirtschaftsforschung warnt vor dem gleitenden Übergang von regulärer zu staatlich finanzierter Tätigkeit. Es weist daraufhin, dass in den beteiligten Kommunen die Erwerbslosigkeit auch deshalb abnahm, weil sich viele bisher erwerbslos gemeldete HilfeempfängerInnen einfach abgemeldet haben. Was aus ihnen geworden ist, weiß niemand. "Bürgerarbeit" entlastet also die öffentlichen Kassen. Wer "Bürgerarbeit" leistet, kostet kaum mehr als ein Erwerbsloser, und wer lieber auf die Unterstützung verzichtet, als sich den Bedingungen zu beugen, kostet gar nichts mehr.

Kein Wunder, dass Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen das "Erfolgsmodell" zum bundesweiten Programm erhoben hat. Langzeiterwerbslose sollen "zusätzliche und im öffentlichen Interesse liegende Arbeiten" verrichten. Dafür erhalten sie einen Bruttolohn zwischen 600 Euro (bei 20 Stunden) und 900 Euro (bei 30 Stunden). 180 Euro bekommt der Arbeitgeber. Bleibt ein Niedrigstlohn von 720 Euro, rechnet man die selbst zu zahlende Sozialversicherung ab. Die Gewerkschaft ver.di ist der Meinung, dass die "Bürgerarbeit" unter den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst fällt. Das wollte das Bundesministerium vermeiden. Es fand den "Ausweg" indem es den Kommunen empfahl, die Bürgerarbeiter von Beschäftigungsgesellschaften auszuleihen und sie als LeiharbeiterInnen einsetzen. 160.000 "Hartz-IV"-EmpfängerInnen werden nun während einer sechsmonatigen "Aktivierungsphase" individuell getestet, um herauszubekommen, für welche Arbeitsplätze sie in Frage kommen. Von der Leyen ging davon aus, dass vier von fünf Erwerbslosen auf diese Weise in "Bürgerarbeit" vermittelt werden können oder "freiwillig" auf Regelleistungen verzichten. 34.000 Bürgerarbeiter sollten daraufhin "eingestellt" werden. Im April 2011 waren es allerdings erst 3000 Bürgerarbeiterinnen. "Bürgerarbeit" soll Sinn, Selbstbewusstsein und soziale Anerkennung bringen, wie nun auch die Bundesagentur für Arbeit ganz im Sinne des Erfinders Ulrich Beck verheißt. Die Bundesanstalt für Arbeit wird künftig niedrigere Erwerbslosenzahlen zu vermelden haben, ohne dass mehr Erwerbslose in reguläre Arbeit vermittelt worden wären. Sie unterliegen weiter dem Zugriff des Job-Centers, verschwinden aber aus der Statistik.


Mit freundlicher Genehmigung der Autorin aus: Gisela Notz, "Freiwilligendienste" für alle - Von der ehrenamtlichen Tätigkeit zur Prekarisierung der "freiwilligen" Arbeit. AG SPAK-Bücher 2012, 120 Selten, 10,- Euro

Dr. Gisela Notz, Berlin, Sozialwissenschaftlerin, Redaktion Lunapark 21

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 3-13, 51. Jahrgang, S. 42-48
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. August 2013