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MARXISTISCHE BLÄTTER/475: Wahl in Afghanistan im Herbst 2010 - Same procedure as every year


Marxistische Blätter Heft 1-11

Same procedure as every year

Von Matin Baraki


Am 18. September 2010 sollte zum zweiten Mal nach der Besetzung Afghanistans durch die NATO ein Parlament gewählt werden. So steht es auf dem Papier. Aber die aus dem Umfeld des Kabuler Präsidenten Abdul Hamid Karsai rekrutierte und von ihm ernannte sogenannte unabhängige Wahlkommission kann jederzeit das Datum verschieben, wenn "die Sicherheitslage" es erfordert, so die üblich Begründung. Karsai hat per Dekret das Wahlgesetz so geändert, dass in der Wahlbeobachterkommission Vertreter der Vereinten Nationen (UNO) keine Mehrheit haben. Das ist die Rache Karsais an der UNO, weil der damalige Stellvertreter des UN-Sonderbeauftragten für Afghanistan den Wahlbetrug entdeckt und öffentlich gemacht hatte, sodass über eine Million Stimmen für das Karsai-Lager für ungültig erklärt werden mussten. Nun hat Karsai Rahmenbedingungen geschaffen für die Durchsetzung gewünschter und die Ablehnung unerwünschter Kandidaten. Damit will er "die Macht seines Familienclans durch Klientel-Strukturen ausbauen" sowie ein ihm bedingungslos folgendes Unterhaus schaffen "und hat deshalb gemeinsam mit seinen Verbündeten in den Provinzen gezielt Kandidaten aufgebaut und finanziell unterstützt".

Da der unter den Taliban subsummierte Widerstand inzwischen 70 Prozent des Landes kontrolliert und im Rest Afghanistans Wahlfälschung programmiert ist, wird die ganze Sache von der Bevölkerung als ein billiges Puppentheater Karsais angesehen. "Man kann die Wahlurnen nur noch in die Provinz- und Distrikthauptstädte bringen. Leute von außerhalb werden dort nicht hinkommen", sagte Mullah Malang, einer der bekanntesten Mudjahedin-Kommandanten, der noch im Parlament sitzt. Der selbst ernannte Mullah berichtete, dass in seiner westafghanischen Provinz (Badghis) etwa 400.000 Menschen als wahlberechtigt aufgelistet seien, aber nur "maximal 20.000 werden wählen". Damit sind der Fälschung Tür und Tor geöffnet. In den 34 Provinzen traten für 249 Sitze im Unterhaus fast 2.600 Kandidaten, darunter 406 Frauen an. Aber eigentlich möchte diese Frauen keiner im Parlament haben, davon ausgenommen sind nur die Ameriko- und Euro-Afghanninen, die von mächtigen Hintermännern protegiert werden. Die für derzeitige afghanische Verhältnisse relativ unabhängigen Kandidatinnen und ihre Helfer wurden mit dem Tode bedroht, wie im Fall der Kandidatin Frau Fauzia Gilani aus Herat, deren fünf Mitarbeiter getötet wurden. Es gibt selbst ernannte Mullahs, "die explizit fordern, nicht für Frauen zu stimmen", sogar in relativ liberalen Provinzen, wie im nordafghanischen Badachschan. Viele Kandidatinnen konnten sieh nicht einmal in ihren Wahllokalen zeigen. Sie bezahlten Geld an Wahlhelfer, wie Frau Roshanak Wardak, die 1000 Euro hinblätterte, um ihre Wahlplakate kleben zu lassen. Sie empfingen die Stammesführer ihrer Ortschaften in Kabul, beschenkten sie in der Hoffnung, deren Stimme zu bekommen. "Meine Wähler von damals, die Leute aus meinem Dorf, meine Verwandten, die sind heute alle Taliban", sagte Roshanak Wardak.

In der Provinz Kabul kämpften 660 Kandidaten um nur 33 Sitze. "Eine Reihe von Bewerbern tritt nur an, um wieder zurückzutreten - und von ihnen gesammelte Wählerausweise weiterzuveräußern." Selbst in Kabul wurden gefälschte Stimmen für 25 US-Dollar gehandelt. Der Kandidatin Malalai Ishaqzai wurden Tausende Stimmen gegen bares Geld angeboten. Andere Kandidaten, wie Drogenbarone und ehemalige und derzeitige Kriegsfürsten, wollten ins Parlament, "um ihren Einfluss und ihr Geld zu mehren", sagte Prof. Nasrullah Stanekzai von der Universität Kabul, Chef der juristischen Beratergruppe von Karsai. Auf dem "Wahlbasar" waren zwischen 17 und 18 Millionen Wählerausweise in Umlauf, dazu kamen noch 400.000 neue Ausweise für angebliche Erstwähler. Selbst nach den Angaben der "Unabhängigen Wahlkommission" existieren nur knapp 12,6 Millionen Wähler. D. h. für etwa sechs Millionen Wählerausweise gibt es überhaupt keine dazugehörigen Personen. Hier ergab sich noch einmal, wie 2009, die Möglichkeit zur Fälschung. Diese Betrügereien und Wahlfälschungen zehren den Menschen in Afghanistan an den Nerven, hob "Daily Outlook" aus Kabul hervor. Nur der liebe Gott weiß vielleicht, wie viele Wahlberechtigte es tatsächlich in Afghanistan gibt. Hinzu kam noch die allgemeine Unsicherheit im ganzen Land, die von Erpressung bis Entführung reichte. "Unter den Taliban hätte es das nicht gegeben", ein im Lande weit verbreiteter deprimierender Satz, eine Mischung aus Wut, Enttäuschung und Verzweiflung. Ganze 1019 von insgesamt 6835 Wahllokalen blieben geschlossen. Auch im deutschen Sektor Kundus konnte nicht mehr als jedes fünfte Wahllokal geöffnet werden. Wahlbeobachter wurden dort keine hingeschickt, was wiederum die Bedingungen für die Entstehung von "Geister-Wahllokalen" ebnete. Viele Menschen sehen auch keinen Sinn darin, überhaupt wählen zu gehen. "Die Resultate stehen doch schon fest", sagte verbittert ein Mann in der afghanischen Hauptstadt. Wie er redeten viele Kabulis während der Vorwahltage. Auch der Leiter der "Free and Fair Election Foundation of Afghanistan" (FEFA), Jandad Spinghar, wies auf die Enttäuschung vieler Bürger über Regierung und Parlament hin, angesichts der Erfahrungen aus den vergangenen Jahren. Eine geringe Wahlbeteiligung wäre die Folge. Durch massiven Betrug bei den Präsidentschaftswahlen 2009 haben die Menschen in Afghanistan ihre letzten Hoffnungen auf auch nur annähernd faire Wahlen verloren. Selbst die größten Optimisten glauben nicht mehr daran. Nach einer kurz vor der Wahl durchgeführten Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung zusammen mit dem National Center for Policy Research ist die Mehrheit der Afghanen von unfairen Wahlen überzeugt. Während nur 36 Prozent der Befragten an annähernd transparente Wahlen glauben, gehen 64 Prozent von einem manipulierten Vorgang aus.

In vielen Provinzen ist abwaschbare Tinte zur Markierung der Finger verteilt worden. Es wurde von 2950 Wahllokalen berichtet, in denen abwaschbare Tinte verwendet wurde. Selbst nach Angaben der FEFA betraf das mehr als 50 % der Wahllokale. Der Chef der FEFA, Ahmad Nader Nadery, sprach von "erheblichen Unregelmäßigkeiten". Seine Mitarbeiter berichteten von schweren Betrugsfällen. In manchen Wahllokalen fehlten Stimmzettel, andere wurden zu früh geschlossen oder erst gar nicht geöffnet. Außerdem seien Wähler von Beamten und Kandidaten eingeschüchtert worden, beklagte Nadery.

Durch die abwaschbare Tinte konnten die Wähler nicht nur mehrfach wählen, sondern dafür auch entsprechend mehrfach honoriert werden. Selbst in Kabul meldeten sich Bekannte einer Kandidatin stolz bei ihr: "Wir haben mehrmals für dich abgestimmt." In verschiedenen Stadtteilen von Kabul wurden gruppenweise junge Männer von einem Wahllokal zum anderen geschickt, wo sie jeweils wählen konnten. Selbst wenn Menschen mit gefälschten Wahlkarten erwischt wurden, passierte ihnen nichts. Sie konnten einfach nach Hause gehen, schimpfte der Kandidat Saeed Niaz in Kabul.

Da Karsai sich auch mit dieser Wahl ein "Ja-Parlament" zu schaffen beabsichtigt, haben die Afghanen von dem Parlament an sich eine sehr geringe Meinung. "Das Verhältnis zwischen dem Präsidenten und dem Parlament ist das Verhältnis zwischen zwei Geschäftsleuten. [...] Es gibt einen Handel zwischen Karsai und dem Parlament: Wie viel gibst du mir für meine Stimme", so der ehemalige Planungsminister und Franko-Afghane Ramazan Bashardust, der noch im Parlament sitzt. Das Land am Hindukusch hat sich seit 2001 unter der Regie der freien und demokratischen Welt zu einer "Fassadendemokratie" par excellence mit einer diktatorischen Exekutive in den Händen von Karsai und seiner Clique gegenüber einem schwachen Pseudo-Parlament entwickelt. Auch die Bedingungen für die Parlamentwahlen im Vergleich zu denen von 2005 verbesserten sich nicht. Von einem Aufbau demokratischer Institutionen reden nur noch die Apologeten des Kabuler Regimes und seiner internationalen Mentoren. Faktisch sind "Kriegs- und drogenökonomische sowie Klientel-Strukturen" das Fundament des politischen Systems in Afghanistan. Die Parlamentswahlen bestätigten dies erneut: Gewählt wird der "Grundbesitzer oder der von ihm benannte Kandidat - egal ob Drogenbaron oder Ehrenmann. Die Machtverhältnisse bleiben die alten, logischerweise auch im Parlament", so das Fazit einer deutschen Zeitung. Da das politische System inzwischen völlig desavouiert ist, schickten zahlreiche der früheren diehadistischen Kommandeure, Drogenhändler und Kriegsverbrecher zusätzlich ihre jungen Angehörigen ins Rennen. Sie alle versprachen natürlich, den Menschen dienen zu wollen. "Aber hinter diesen großen Worten stecken nicht selten Eigeninteressen", konstatierte Qazi S. M. Sama, der Chef der Menschenrechtskommission in Nordafghanistan. Einer dieser jungen Kandidaten ist z. B. Ahmad Nawid Barat, der in Mazare-Scharif antrat. Sein Vater hat in kurzer Zeit mehrere Firmen aufgebaut. Die Einheimischen wissen von "undurchsichtigen Geschäfte" seiner Familie, die auf Drogenhandel hindeuten. Für seinen Wahlkampf investierte Kandidat A. N. Barat läppische 180.000 Dollar. Mohammad, der 18-jährige Schuler des Habibia-Gymnasiums in Kabul, wählte einen Kandidaten, von dem er sich einen Studienplatz an der Universität Kabul erhofft. Die Menschen stehen den Drogenhändlern, islamistischen Warlords und Kriegsverbrechern so ablehnend gegenüber, dass nicht wenige die Kandidatin Anarkali Honaryar aus der kleinen Minderheit der Sikh wählen wollen. "Was haben uns die Muslime in diesem Land schon gebracht?", fragte sich ein Taxifahrer in Kabul. "Warum sollte ich wählen gehen", war die in ganz Afghanistan am meisten gehörte Äußerung. Bei 12,5 Millionen wahlberechtigten Menschen haben nach Meldungen aus 90 Prozent der Wahllokale nur 3,6 Millionen ihre Stimmen abgegeben. Daher rechnet auch niemand am Hindukusch damit, dass dieses Parlament jemals den Willen des Volkes widerspiegeln wird. Eher sind die Menschen in Afghanistan der Überzeugung, dass die neue importierte Elite es sich "in einem Selbstbedienungsladen gemütlich gemacht hat".

Die sogenannte internationale Gemeinschaft war genauso wie viele Afghanen davon überzeugt, dass die Wahlen von massiven Manipulationen gekennzeichnet sein würden. Deswegen hatten erstmals weder die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) noch die Europäische Union Wahlbeobachter nach Afghanistan entsandt.

Eigentlich hätten die Endergebnisse der Wahlen spätestens am 8. Oktober 2010 vorliegen müssen. Dieser Termin wurde bis Ende Oktober verschoben. Der Leiter der Wahlkommission Fazel Ahmad Manawi hat am 21. Oktober lediglich die 249 vorläufigen Wahlgewinner, darunter 69 Frauen, bekanntgegeben. Damit ist der Wahlbetrug in Afghanistan amtlich, bilanzierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Seit dem formalen Ende der Parlamentswahlen waren bis Mitte Oktober schon 4 600 und bis Mitte November stolze 6000 Berichte bei der Beschwerdekommission eingegangen. Davon sind 2500 Vorkommnisse dermaßen schwerwiegend, dass sie den Ausgang in den betroffenen Wahlkreisen beeinflussen, meldeten die Presseagenturen. Es mussten Stimmzettel aus 130 Wahllokalen für ungültig erklärt werden. Deswegen standen die Wahlbehörden unter solchem Druck, dass sie "1,3 Millionen der 5,6 Millionen abgegebenen Stimmen wegen Betruges für ungültig erklärt" haben. Es sollen angeblich gegen 224 "verdächtige" Kandidaten wegen Betruges Untersuchungen eingeleitet werden.

Am 20. November wurden 19 Kandidaten und am 24. November 2010 weitere fünf Kandidaten disqualifiziert. "Unter den 24 Betroffenen befinden sich einige Anhänger von Karsai, unter anderem ein Cousin des Präsidenten."

Auch gegen den Warlord und ehemaligen Gouverneur der westafghanischen Provinz Herat und amtierenden Minister für Wasserkraft und Energie, Mohammad Ismael Chan, soll eine Untersuchung eingeleitet werden. Seine Telefongespräche waren abgehört worden, in denen er die Wahlhelfer zur Fälschung aufgefordert hatte. Hier geht es im Prinzip nicht darum, die Wahrheit zur Geltung zu bringen, sondern Karsai will ihm nicht genehme und der Opposition zuzurechnende Kandidaten aussortieren.

Erst Ende November wurde dann ein vorläufiges Endergebnis bekanntgegeben, allerdings immer noch unvollständig, ohne die Resultate aus der Provinz Ghazni.

Während "The Australian" aus Sydney und die britische "Independent" aus London in ihren Kommentaren am 20. September 2010 die Parlamentwahlen schön geredet hatten, waren sie von den "Salzburger Nachrichten" schon gleich als "Farce" bezeichnet worden.

"It is not the strongest of the species that survives, nor the most intelligent that survives. It is the one that ist the most adaptable to change." Schon der Naturforscher Charles Darwin wusste, wer sich nicht ändert, wird auf Dauer nicht lebensfähig sein. Demnach ist auch das starre System Karsai zum Untergang verurteilt. So gnadenlos sind die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklungen.


Matin Baraki, Dr., Marburg, Lehrbeauftragter


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 1-11, 49. Jahrgang, S. 31-34
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. April 2011