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MARXISTISCHE BLÄTTER/453: Endlich gibt es Arme in Europa?!


Marxistische Blätter Heft 4-10

Endlich gibt es Arme in Europa?!
Skizze zum sozialpolitischen Diskurs der EU zu "Armut und Ausgrenzung" und der De-Thematisierung von sozialen Kämpfen

Von Ellen Bareis


Vor einigen Jahren beschloss die EU-Kommission, das Jahr 2010 zum offiziellen Jahr "zur Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung" zu erklären. Als diese Öffentlichkeitskampagne verabschiedet wurde, war nicht abzusehen, dass die EU-Politik genau in diesem Jahr, 2010, Armut und Ausgrenzung in Europa exponentiell steigen lassen wird. Denn die aktuellen unter dem Diktum von Währungsstabilität und Finanzkrise einsetzenden Kürzungsarien schlagen sich in fast allen europäischen Ländern vor allem als Kürzungen in den Bereichen soziale Infrastruktur und Sozialleistungen nieder. Aktuell produzieren die Regierungen somit neue soziale Spaltungen in einem außerordentlichen Ausmaß. Das "Jahr zur Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung" und das Jahr ihrer durch politische Entscheidungen motivierten Ausweitung fallen in eins.

Zunächst fragt dieser skizzenhafte, eher kursorische Beitrag etwas provokant, ob der aktuelle Diskurs um und die reale Politik in Europa das Ende des "Projekts Europa" einläutet. Anschließend soll gezeigt werden, welche Rolle die Diskurse um "Solidarität" und "Bürger" im Europäischen Jahr gegen Armut und Ausgrenzung spielen. Am Ende stellt sich die Frage, welche Perspektive einer emanzipatorischen, linken Perspektive bleibt.


1. Das Ende von Europa?

Ende Mai 2010 publizierten The Guardian einen Kommentar des marxistischen Philosophen Étienne Balibar und die Internetseite EuroAlter eine längere Fassung seiner Thesen (Balibar 2010a; 2010b). Balibar weist mit großer Dringlichkeit darauf hin, dass das "Projekt Europa" seiner finalen Krise entgegen steuere. Innerhalb eines einzigen Monats, so fasst Balibar die Ereignisse in der Europäischen Union von Mitte April bis Mitte Mai dieses Jahres zusammen, sei in etwa folgendes passiert: Der griechische Premierminister Papandreou kündigte die Zahlungsunfähigkeit seines Landes an, eine europäische Rettungsbürgschaft wurde Griechenland zu Bedingungen angeboten, die niederschmetternde Budgetkürzungen in den öffentlichen Haushalten beinhalteten, es folgte ein Abwärts-Rating der portugiesischen und spanischen Staatsschulden und es folgte die Gefährdung des Werts des Euros und die Infragestellung seiner Existenz. Daraufhin wurde ein Sicherheitsfonds in der Höhe von 750 Mrd. Euro eingerichtet und die Europäische Zentralbank entschied sich, gegen ihre eigenen Regeln zu handeln und nationale Schulden im Notfall auszugleichen. Eine weitere direkte Folge dieser Dynamik war die Ankündigung von Sparhaushalten in verschiedenen europäischen Staaten. Die Bevölkerung in Griechenland, so Balibar weiter, ist zwar das erste Opfer einer Politik der "Rettung der europäischen Währung", aber sie werde kaum das letzte sein. Und Europa werde in der jetzigen Form diese Krise, die nur der Anfang weiterer Krisen sei, nicht überleben. Europa in der jetzigen Form habe keine Vorstellung von Solidarität.

Europa "in der jetzigen Form" steht bei Balibar für ein politisches Projekt, das ausschließlich durch die Regierungsapparate und die Bürokratie betrieben wird und im Kern neoliberal ausgerichtet ist. Ein Europa, das eher den Zusammenbruch von Banken verhindert als die Bevölkerung zu stützen, eher Sachzwangentscheidungen trifft als demokratische Entscheidungsprozesse zuzulassen. In diesem Europa nehmen die Antagonismen zwischen den Nationen Europas zu. Es entfache sich ein neuer Wettbewerb um Exportquoten und Lohnquoten zwischen den Mitgliedsländern der EU, der das "Projekt Europa" zu seinem Ende führe. Denn jenes Europa müsste ein radikal demokratisches Projekt sein, das sich postnational und solidarisch versteht und das in der Dynamik der Globalisierung seinen Bewohnern einen neuen politischen und sozialen Raum eröffnet und damit zugleich in die Dynamik der Globalisierung neue Impulse sendet.

Bei den Sparhaushalten der Mitgliedsländer der EU handelt es sich faktisch um eine Re-Organisation und Minimalisierung von Sozialpolitik. Diese wird aber auf EU-Ebene, wie die von Balibar angeführte Dynamik eines einzigen Monats drastisch verdeutlicht, mit dem Instrument Währungsrettungspolitik gesteuert. Aus einer kritischen sozialpolitischen Perspektive ist dies zwar eine aktuelle Dynamik, aber keine neue Entwicklung: Sowohl Teile der sozialen Bewegungen in Europa als auch Teile der linken Parteien haben immer wieder darauf hin gearbeitet, eine gemeinsame Verabschiedung von social rights auf europäischer Ebene zu erreichen. Doch alle Diskussionen in den letzten Jahrzehnten, zu einer gemeinsamen Sozialpolitik auf EU-Ebene zu kommen, wurden zum Scheitern gebracht. Das Scheitern des Versuchs, gemeinsame soziale Standards in der Asylpolitik zu verabschieden, am massiven Widerstand Deutschlands verdeutlicht dies aktuell. Nach wie vor gilt in der EU für die Gesundheits- und Sozialpolitik das Subsidiaritätsprinzip. Verantwortlich sind damit die politischen Institutionen auf den räumlichen Ebenen "unterhalb" der EU, also von der Sozialgesetzgebung der Nationalstaaten bis hin zu kommunalen Arrangements. Dem nationalen Gesundheitswesen wie den einzelnen Kommunen wird damit das aufgebürdet, was nur noch als "Last" definiert wird: Die Last des Sozialen. Eine emanzipatorische Antwort auf diese Situation kann sicher nicht in einer Forderung nach mehr europäischem Zentralismus und noch mehr Bürokratie - diesmal auf EU-Ebene - liegen. Die Antwort sollte sich vielmehr aus dem Gesellschaftlichen selbst heraus artikulieren.

Denn trotz des Subsidiaritätsprinzips wird zugleich seit vielen Jahren durch die real existierende EU-Politik eine zunehmend ausschließende und gesellschaftlich polarisierende Sozial- und Gesundheitspolitik durchgesetzt. Dies geschieht durch die europäischen Homogenisierungen in anderen Feldern: der Arbeitsmarktpolitik, der EU-Grenzpolitik, der Wirtschafts- und Finanzpolitik (jüngst Währungsstabilisierungspolitik) und der Bildungspolitik (Bologna-Prozess). Étienne Balibar setzt aber mit seiner Argumentation an einem weiteren Punkt ein: Es sind nicht nur die Sozial- und Gesundheitspolitik, die hier en passant anderen Politikfeldern untergeordnet und zunehmend geopfert werden, um sich auf dem Weltmarkt zu bewähren und die "Währung zu retten". Ein zweites zentrales Feld, das in der "europäischen Integration" unter den Tisch fällt, ist die Frage der politischen Partizipation, also die Frage der Demokratie. Europa legte Griechenland mit dem sogenannten Rettungspaket die Zwangsregeln des IWF auf. Die IWF-Politik wurde bereits vielfach kritisiert, da sie in den Ländern des Südens, denen sie im Zuge von Schuldenverhandlungen bislang ihre Regeln oktroyieren konnte, unermesslichen Schaden angerichtet hat. Die IWF-Regeln schränken nicht nur die Möglichkeit der öffentlichen Haushalte ein, in soziale Infrastruktur zu investieren. Sie verhindern viel genereller eine demokratische Debatte darüber, für was staatliche Gelder ausgegeben werden sollen. Die Möglichkeiten der politischen Mitbestimmung werden immer weiter eingeschränkt, die IWF-Regeln sind somit als Zwangsregeln entdemokratisierend. Mit der Entscheidung der EU, die europäische Rettungsbürgschaft für Griechenland mit diesen Regeln zu verbinden, ist die IWF-Politik mit ihren entdemokratisierenden Effekten mitten in Europa angekommen.Da sich viele Linke in Europa gegen die Europäische Union stellen, könnte ein mögliches Scheitern des "Projekts Europa" auch politisch begrüßt werden. Mit Balibar halte ich diese Entwicklung jedoch für fatal. Im dritten Teil dieser Skizze möchte ich darauf zurück kommen.


2. Das europäische Jahr 2010

Es ist mit den vorherigen Ausführungen deutlich geworden, dass die Ausrufung eines gemeinsamen Jahres "zur Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung" durch die EU keine sozialpolitische Fundierung haben kann, da es keine europäische Sozial- und Gesundheitspolitik gibt. Folgerichtig wird die Thematisierung der neuen sozialen Frage, die in allen Mitgliedsstaaten an politischer Dringlichkeit gewinnt, in der EU-Kampagne 2010 als "Öffentlichkeitsfrage" behandelt. Dies illustriert der offizielle Ankündigungstext. Der Titel lautet "Europa geht vereint gegen Armut und soziale Ausgrenzung vor".

"In Europa sind derzeit fast 84 Millionen Menschen akut armutsgefährdet. Für die Betroffenen bedeutet dies eine Existenz in ständiger Unsicherheit und ein Leben ohne die Dinge, die für die große Mehrheit oft selbstverständlich sind.

Ein Leben in Armut bringt eine Vielzahl von Problemen mit sich. Oft haben die Betroffenen nicht genug Geld für Lebensmittel, Kleidung oder adäquate Wohnungen, und nicht selten führen die finanziellen Probleme in die Obdachlosigkeit. Armutsgefährdete Menschen können sich nur einen sehr einfachen Lebensstil leisten, was zu ihrer sozialen Ausgrenzung führen kann.

In Anlehnung an ihren Leitgrundsatz der Solidarität hat die Europäische Union das Jahr 2010 in Übereinstimmung mit den Mitgliedstaaten zum Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung ausgerufen. Das Jahr soll das öffentliche Bewusstsein für die Situation der von Armut betroffenen Menschen schärfen und dem politischen Engagement der EU und der Mitgliedstaaten im Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung neuen Schwung verleihen.

Zu den wesentlichen Zielsetzungen des Europäischen Jahres 2010 gehört ferner, den Anliegen von in Armut lebenden Menschen Gehör zu verschaffen und die europäischen Bürger sowie andere Akteure und Interessenträger für die Armutsproblematik zu sensibilisieren.

Das Jahr soll außerdem einen Beitrag zur Bekämpfung von Stereotypen leisten und die kollektiven Wahrnehmungen von Armut hinterfragen. Unter Berufung auf ihre Leitprinzipien der Solidarität und Partnerschaft ruft die EU im Jahr 2010 dazu auf, die Ursachen von Armut direkt und effektiv zu bekämpfen und damit allen Bürgern eine volle und aktive Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Während des gesamten Jahres führen zivilgesellschaftliche Organisationen und die Sozialpartner in Zusammenarbeit mit den teilnehmenden Ländern und der Europäischen Kommission eine Vielzahl von Aktivitäten durch." (Europäisches Jahr 2010; Hervorhebungen i.O.)

Die Kampagne will also einer - bislang aus dem politischen Diskurs verdrängten - Armutsrealität in Europa eine öffentliche Bühne eröffnen. Daher kommt der Titel für diese Skizze: "Endlich gibt es Arme in Europa?!" Tatsächlich ist es zu begrüßen, dass die' Realität von Armut innerhalb Europas offiziell zur Kenntnis genommen wird. Und doch werden zwar die europäischen Leitprinzipien "Solidarität" und "Partnerschaft" angerufen und zugleich die Verantwortlichkeiten in der Kampagne nicht an die EU-politische Ebene übergeben. Verantwortlich soll sich eine europäische Zivilgesellschaft erklären, die gehalten ist, ein anderes Bild von Armut zu entwickeln. Der Aufruf klammert die reale und ausschließende Sozial- und Gesundheitspolitik der Mitgliedsstaaten der EU aus, die Frage nach den strukturellen Ursachen in einer Europapolitik, die auf eine Konsolidierung von Währung und Wirtschaft setzt, und den langen Kampf um gemeinsame politische und soziale Richtlinien. Denn natürlich sind es genau die sozialstrukturellen Momente jener Politikformen, wie der Wohnungsbaupolitik oder der Bildungspolitik, die eine Bearbeitung von Armutssituationen im Alltag so erschweren - also alles was die Fragen einer öffentlichen sozialen Infrastruktur betrifft. Übergeben wird die Verantwortung vielmehr an eine zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit und an kleine lokale Träger, an die "europäischen Bürger". Die Zuwendungen für Projekte im Rahmen des Europäischen Jahrs bewegen sich in einer Größenordnung von 5 bis 10.000 Euro, von denen, so eine der Vergaberichtlinien, mindestens die Hälfte für Öffentlichkeitsarbeit verwendet werden muss. Zuwendungen erhielten in Deutschland Projekte ungefähr im Spannungsbogen zwischen "Gesund essen ohne Geld" und einer gemeinsamen Hüpfburg für arme und nicht-arme Kinder. Sozialpolitische Fragen werden in dieser Kampagne ebenso dethematisiert wie die alltäglichen Subsistenzstrategien und die politischen Kämpfe der Menschen in Armutssituationen oder in prekären Lebenslagen.


3. Emanzipatorische, linke Perspektiven und ihr aktuelles Scheitern

Diesem Aufruf zum Europäischen Jahr stehen jene europäischen Netzwerke gegenüber, die seit den 1990er Jahren basisgewerkschaftlich, feministisch und antirassistisch die Forderungen nach social rights oder einem "Recht auf Rechte" auf mindestens europäischem Niveau formulieren. Sei es der "Euromayday" als europäische Vernetzung der Prekären, sei es das Frassanito-Netzwerk als europäische Vernetzung einer antirassistischen und migrantischen Politik von unten, seien es feministisch-migrantische Zusammenschlüsse und Organisierungen der Papierlosen, die Europa aus einer Perspektive der sozialen Bewegungen, der sozialen Kämpfe und des prekären Alltags kritisieren und konzipieren. Das Europäische Sozialforum in Paris 2003, bei dem ca. 60.000 Menschen zusammen kamen, war etwa eine Gelegenheit, einen Sinn dafür zu entwickeln, was Europa aus einer Perspektive von unten auf einer breiteren Basis bedeuten könnte. Integraler Bestandteil einer solchen Perspektive sind soziale Rechte, die nicht über politische Rechte vordeterminiert sind. Soziale Rechte gelten demnach für alle, ob sie Staatsbürger sind oder nicht, ob sie über eine Aufenthaltsgenehmigung verfügen oder nicht. Europa "von unten" zu denken heißt also, Europa aus der Perspektive der Migration, des Rassismus und des Feminismus zu denken, aus der Perspektive der Armut und der Prekarität und insbesondere als permanent in Frage gestellte Teilnahme an gesellschaftlichen Prozessen zu entwerfen. Die Debatte um den Europäischen Vertrag und die Volksabstimmungen in Frankreich, den Niederlanden und Irland im Jahr 2005 haben diese grundlegenden Perspektiven und Fragen einerseits ins Zentrum gestellt. Und zugleich wurde andererseits mit dem "Nein" in Frankreich eine emanzipatorische Debatte um das, was ein Europa "von unten" sein mag, ausgebremst und wieder stillgestellt.

"Ist das der Anfang vom Ende der EU, einer Konstruktion, die vor 50 Jahren auf der Basis einer uralten Utopie begann und sich nun als unfähig erweist, ihre Versprechen einzulösen?" fragt Étienne Balibar in seinem Text. Die Antwort sei unglücklicherweise: ja. Jede wohlfahrtsstaatliche Politik, die wir bislang vor dem Hintergrund des Keynesianismus kennen, so lässt sich Balibar weiter folgen, basiert auf den Pfeilern einer stabilen Währung, eines rationalen Steuersystems und einer Sozialpolitik, die auf Vollbeschäftigung und Massenkonsum zielt. Die aktuelle EU-Politik hat nicht nur massive Schwierigkeiten, die ersten beiden Pfeiler stabil zu halten, sondern versäumt insbesondere, jenen letzten, sozialpolitischen, Pfeiler zu stützen. Und die Linke innerhalb Europas versäumt, so lässt sich hinzufügen, diesen Pfeiler neu zu konzipieren. Dabei waren die Grundlagen dafür schon sehr deutlich: Eine schon längst notwendige Neudefinition des Arbeitsbegriffs, eine Auseinandersetzung um soziale Rechte als Rechte, die im Alltag erwirkt und nicht von Staaten gewährt werden, die Entkoppelung von sozialen und politischen Rechten auf EU-Ebene als Forderung der Bewegungen.

Die Diskussion für und gegen den EU-Vertrag 2005 war für die europäisch vernetzte Linke augenscheinlich wenig produktiv. Bereits formulierte Positionierungen gingen verloren oder finden zumindest derzeit kaum Gehör. Stattdessen manifestieren sich die aktuellen Proteste gegen die Armuts- und Ausgrenzungspolitik im Jahr 2010, die im Kern eine europäische Politik ist, auf nationaler Ebene wieder und verbinden sich kaum. Die Aussichten sind düster: Es wird sich in den nächsten Jahren zeigen, dass sich die Währung nur zu einem Preis stabilisieren lässt, der die Re-Organisation und Minimalisierung von Sozialpolitik weiter treibt, dass sich die nationale Konkurrenz innerhalb Europas verschärft und sich die sozialen Spaltungen mittels der derzeit betriebenen Europapolitik (einschließlich ihrer nationalen Politiken der "starken" und "schwachen" Staaten in Europa) weiter exponential verstärken werden. Der emanzipatorische Diskurs über Solidarität und Gleichheit in Europa und aller Menschen, die hier leben, seien sie Staatsbürger oder nicht, verschwindet in dieser Dynamik.

Balibar plädiert dafür, in dieser Situation die Entscheidungsprozesse an "die Leute" zurück zu geben und einer unbedingten Demokratisierung Europas zuzuarbeiten. Eine solche Perspektive könnte den sozialen Bewegungen neuen Raum eröffnen. Die Forderungen wären dann nicht eine "bessere" staatliche Sozialpolitik und eine Rückkehr zum Keynesianismus. Vielmehr ginge es darum, die Legitimität jenes "Europa der Experten", die die Währung retten, die Banken stabilisieren und den europäischen Raum "von oben" zu sichern versuchen, in Frage zu stellen und die Krise Europas als eine Krise der Demokratie und der politischen Teilnahme zum Thema zu machen. Das aktuelle Europa schließt aus, überwacht militärisch seine Grenzen nach außen und setzt nun nach innen seine Mitgliedsstaaten unter den Druck der IWF-Regeln. Zudem sind Rassismus und Ethnozentrismus tief im Lebensalltag wie auch in den Legitimationsdiskursen verankert. Dieses reaktionäre Europa lässt sich derzeit möglicherweise in seinem Verfall beobachten. Doch das emanzipatorische Europa haben wir damit noch gar nicht zur Kenntnis genommen. Was wird passieren, wenn die Krise in ihre nächste Phase eintritt? Wenn nationale Politiken zunehmend repressiv werden und ihre sozialen Alibis verlieren? Sicherlich wird es zu weiteren Protesten und sozialen Erhebungen kommen. Doch welche Form nehmen diese Proteste und Erhebungen an? Werden sie sich neo-national, rassistisch und reaktionär artikulieren oder sich emanzipatorisch bestimmen lassen? Ein emanzipatorisches Europa der sozialen Bewegungen hatte grundlegende Linien bereits gedacht: Eine gesellschaftliche Neudefinition des Arbeitsbegriffs, der sich von der Vorstellung von Arbeit als bezahlter Arbeit lossagt und sich bereits in den Bewegungen der Prekären und in den basisgewerkschaftlichen Initiativen formuliert; eine Auseinandersetzung um soziale Rechte als Rechte, die im Alltag erwirkt und nicht von Staaten gewährt werden, die das Interesse darauf fokussiert, wie Menschen ihren Alltag organisieren und nicht darauf, was juristische, administrative und soziale Institutionen dazu denken; die Entkoppelung von sozialen und politischen Rechten auf globaler Ebene, globale soziale Rechte, die im politischen Raum Europas als. Fluchtlinie einer "Politik von unten" dienen.


Ellen Bareis, Dr., Offenbach, Gesellschaftswissenschaftlerin


Quellen:

Balibar, Étienne (2010 a): Europe is a dead political project.
http://www.guardian.co.uk/commentisfree/2O10/may/25/eu-crisis-catastrophic-consequences
(zuletzt geprüft am 20.06.2010)

Balibar, Étienne (2010 b): Europe: final crisis?
http://www.euroalter.com/2010/finalcrisis/
(zuletzt geprüft am 20.06.2010)

Europäisches Jahr (2010):

http://www.2010againstpoverty.eu/about/?langid=de
(zuletzt geprüft am 20.06.2010)


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 4-10, 48. Jahrgang, S. 42-46
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. September 2010