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MARXISTISCHE BLÄTTER/424: Zur Interpretation des Gesetzes vom Profitratenverfall


Marxistische Blätter Heft 6-09

Nicht säkularer Trend, sondern zyklische Erscheinung
Zur Interpretation des Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate

Von Lucas Zeise


In den Analysen zur aktuellen großen Weltwirtschaftskrise nehmen auch marxistische Ökonomen selten explizit Bezug auf das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate. Dieses von Marx im 3. Band des Kapitals formulierte Gesetz stand lange im Zentrum der Krisentheorie der marxistischen politischen Ökonomie. Zugleich wurde um seine Gültigkeit und richtige Interpretation heftig gerungen. Wenn man sich in diese Schlachten von neuem begibt, mag das wie die sinnlose Tollkühnheit eines Don Quijote erscheinen. Mir scheint allerdings, dass mit der von der Wirklichkeit produzierten Aktualität der Krisentheorie der Streit über die Gültigkeit und Bedeutung des Gesetzes ohnehin neu entbrennen muss.

Das einzig Schöne am Streit um das Gesetz besteht darin, dass er quer zu den sonst üblichen ideologischen Auseinandersetzungen verlaufen ist und noch verläuft. Die klassische kommunistische Linke etwa der DDR und der BRD ist sehr unterschiedlich damit umgegangen. Der in der Imperialismus-Forschung in der DDR nicht unbedeutende Peter Hess hielt das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate für "das für den Kapitalismus vom Standpunkt seiner historischen Entwicklung wichtigste Gesetz"(1). Die zeitgleich mit dieser Aussage erschienen Ökonomie-Lehrbücher der DDR, einschließlich derer, die aus dem Russischen übersetzt sind, verzichten in ihren Analysen der Entstehung von Krisen im Kapitalismus weitgehend darauf, das Gesetz des tendenziellen Falls miteinzubeziehen, sondern reden lieber von der Unterkonsumption der Massen und der Disproportionalität der verschiedenen Bereiche der gesellschaftlichen Produktion. Weniger erstaunlich ist, dass sie auch die anderen Marxisten alles andere als einig waren bei der Behandlung der Krisentheorie. Michael Heinrich etwa meint, "dass sich bereits 'das Gesetz als solches' nicht halten lässt"(2). Auf der anderen Seite bezieht sich Winfried Wolf, der bei Ernest Mandel in die Lehre gegangen ist, in seinem neuen Buch zur aktuellen Krise(3) ausdrücklich auf den tendenziellen Fall der Profitrate, setzt also dieses Gesetz als gültig voraus.

Vom Standpunkt eines Kritikers des Kapitalismus, wie Marxisten es nun einmal sind, ist das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate attraktiv. Schließlich ist der Profit das treibende Moment im Kapitalismus. Die Profitrate zu erhöhen, also die Verwertung seiner selbst zu erhöhen, ist das Bemühen des Kapitals oder auch der Kapitaleigentümer. Das Gesetz, wenn es denn gilt, baut sozusagen im Zentrum der Produktionsweise den eigenen Widerspruch zum Kapitalverwertungsprozess auf. Attraktiv ist die Theorie vom tendenziellen Fall auch deswegen, weil sie nicht auf außerhalb der Produktionsweise liegende oder gar außerökonomische Ursachen rekurriert, sondern sich vielmehr aus den Bewegungsgesetzen der Produktionsweise selbst ergibt. Schließlich ist die Theorie auch geeignet, um sie in den Mittelpunkt der Krisenanalyse zu stellen. Die typische kapitalistische Krise geht mit einem steilen Abrutschen der Profitrate einher. Niedrige oder gar fallende Profitraten treiben das Kapital zur Flucht, sie lassen Investitionen nicht zu, sie bringen die kapitalistische Reproduktion zum Stocken. Gilt das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate, lässt sich mit wenig Aufwand die Zwangsläufigkeit von Krisen nachweisen.

Das Gesetz aber hat den zusätzlichen Vorzug, dass es normalerweise als über die Krisenzyklen hinweg als gültig vorausgesetzt wird. Henryk Grossmann (1881 - 1950) gebührt das Verdienst, das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate in den Mittelpunkt der Analyse der kapitalistischen Entwicklung gestellt zu haben. In seinem kurz vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1929 veröffentlichten Hauptwerk wendet sich Grossmann scharf gegen den Revisionismus der deutschen Sozialdemokratie, insbesondere den späten Kautsky und Otto Bauer.(4) Der Kern der Aussagen Grossmanns ist klar: die Verwertungsbedingungen des Kapitals verschlechtern sich aufgrund des Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate. Die Folge sind Wirtschaftskrisen, die von Mal zu Mal schärfer werden und schließlich in der Dauerkrise oder Stagnation münden. Das System ist dann ökonomisch nicht mehr entwicklungsfähig.

Wenn man das Gesetz so versteht wie Grossmann das tut und wie es vermutlich Marx auch verstanden wissen wollte, wird man Schwierigkeiten haben, einen Rückgang der Profitrate über längere Zeiträume hinweg unbedingt auch zu erwarten oder beobachten zu können. Es ist vielmehr durchaus möglich oder sogar wahrscheinlich, dass die Tendenz zum Profitratenfall durchaus wirksam ist, aber durch andere Entwicklungen (den "entgegenwirkenden Ursachen" etwa, wie Marx sie nennt) überdeckt wird. Jedenfalls ist es eher unwahrscheinlich, dass man die fallende Profitrate des Kapitals empirisch nachweisen kann. Man wird höchstens Wirkungen der fallenden Tendenz beobachten können, was wiederum eine Theorie darüber voraussetzt, wie sich das Gesetz in welcher Weise durchsetzt.

Die Auseinandersetzung darüber, ob es ein solches Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate gibt und wie es gegebenenfalls die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise beeinflusst, wird man theoretisch-logisch führen müssen. Zunächst also so kurz wie irgend möglich Marx' Argumente, wie sie sich in den Kapiteln 13 bis 15 im 3. Band des Kapitals finden.


Marx' Darstellung des Gesetzes

Marx geht naturgemäß von seiner Bestimmung der Profitrate aus. Sie ist zunächst nicht anders definiert als in der bürgerlichen Ökonomie, welcher Richtung auch immer. Die Profitrate ist der Profit, bezogen auf das eingesetzte Kapital. Es geht dabei um die Profitrate der gesamten kapitalistischen Gesellschaft, nicht nur um die des Einzelkapitals. Der Profit erscheint als Gesamtprofit. Der Ausgleich der Profitraten hat stattgefunden. Obwohl die Zusammensetzung der Einzelkapitale nach konstantem Kapital (Produktionsmittel C) und variablem Kapital (Arbeitskraft V) unterschiedlich ist, ist der Gesamtprofit des Kapitals gleich dem gesamten Mehrwert. Auch hierüber und die Frage, ob Marx' Ableitung dieser Identität stimmig ist, gibt es lebhafte Diskussion. Hier soll daraus nur geschlussfolgert werden, dass die Marx' Argumentation ganz auf der Wertebene stattfindet.

Die Profitrate r ist damit definiert als Mehrwert M, geteilt durch den Wert des eingesetzten konstanten plus des variablen Kapitals, also r = M/C+V. Dividiert man den Bruch durch V, erscheint im Zähler die Mehrwertrate M/V, im Nenner das Verhältnis von konstantem zu variablen Kapital C/V plus 1, r=M/V//C/V+1.

Die Profitrate ist also abhängig einerseits von der Mehrwertrate, andererseits vom Verhältnis des konstanten zum variablen Kapital. Sie steigt mit steigender Mehrwertrate und sinkt mit steigendem Verhältnis von C/V. Oder in Marx' Worten: "Die Profitrate wird also bestimmt durch zwei Hauptfaktoren: die Rate des Mehrwerts und die Zusammensetzung des Kapitals."(5) Dementsprechend haben sich in der Kritik an Marx' Begründung der Tendenz der fallenden Profitrate zwei Hauptstoßrichtungen entwickelt. Sie entsprechen übrigens auch den beiden wichtigsten, von Marx selbst genannten und erörterten "entgegenwirkenden Ursachen" gegen die von ihm postulierte Tendenz.

Die eigentliche Ursache für den tendenziellen Fall der Profitrate ist bei Marx die steigende (organische) Zusammensetzung des Kapitals, also jenes Verhältnis von konstantem zu variablen Kapital, das in der obigen Gleichung im Nenner erscheint und dessen Steigen deshalb die Profitrate vermindert. Marx konstatiert, dass im Laufe der kapitalistischen Entwicklung das Verhältnis von konstantem Kapital (oder auch Wert der Produktionsmittel) zum variablen Kapital (oder Wert der Arbeitskraft) zunimmt und damit die Profitrate entsprechend senkt. Die Kernfrage ist also, ob die Zusammensetzung des Kapitals C/V tatsächlich tendenziell steigt.

Allerdings ergibt sich zusätzlich die Frage, ob und wie weit die Steigerung der Mehrwertrate einen durch das Steigen von C/V verursachten Fall der Profitrate hemmen oder vollständig kompensieren kann. Diese Frage soll hier zunächst erörtert werden, einfach weil sie leichter zu beantworten scheint.

Aus der oben dargestellten Gleichung lässt sich allein eine klare Antwort darauf nicht ableiten. Es müsste gezeigt werden, so verlangt beispielsweise Michael Heinrich, "dass die Wertzusammensetzung C/V auf Dauer schneller steigt als die Mehrwertrate M/V".(6) Einen solchen Nachweis liefert Marx nicht. Er formuliert vielmehr einen Zusammenhang zwischen steigender Zusammensetzung des Kapitals und steigender Mehrwertrate: Sie "sind nur besondre Formen, worin sich wachsende Produktivität der Arbeit kapitalistisch ausdrückt", schreibt er(7). Das Ansteigen der Produktivität, oder steigende Produktion je Arbeitsstunde, führt zu einer Minimierung der notwendigen Arbeit V, der Anstieg der Mehrwertrate M/V ist eng verknüpft mit dem Anstieg der Kapitalzusammensetzung C/V. Die Behauptung ist: Sinkt der Anteil der lebendigen Arbeit (also V+M) zur vergegenständlichten Arbeit C, so wird der Spielraum für eine weitere Erhöhung von M auf Kosten von V immer geringer.

Am extremen Beispiel wird das besonders deutlich. Wenn M/V und C/V in der Ausgangsgleichung mit gleicher Rate wachsen, während V abnimmt, so ergibt sich zunächst eine leicht steigende Profitrate r = M/C+V. Geht aber V gegen 0, so wird die Profitrate zu r = M/C, und jede weitere Erhöhung der vergegenständlichten Arbeit C führt zwangsläufig zu einer Senkung der Profitrate. Das Kompensieren einer drohenden Senkung der Profitrate durch die Erhöhung der Mehrwertrate hat also bestimmte Grenzen, die nicht überschritten werden können und die natürlich lange vor dem oben angegebenen Punkt erreicht sind.

Die Marx'schen Aussagen über das Verhältnis zwischen Mehrwert- und Profitrate beruhen alle auf seinem Verständnis des Profits, dessen Quelle die lebendige Arbeit ist. Verringert sich demnach der Anteil der lebendigen Arbeit (V+M) in der Produktion, so wird auch die Basis für die Schaffung von Mehrwert immer geringer.

Bisher wurde als gegeben vorausgesetzt, was Grundlage für die Diskussion des tendenziellen Falls der Profitrate ist: die steigende "organische Zusammensetzung des Kapitals". Bevor erörtert werden kann, ob ein solches Steigen theoretisch zu begründen ist, muss erst der Zusammenhang zwischen den Begriffen "technische Zusammensetzung", "organische Zusammensetzung", "Wertzusammensetzung" und dem Anwachsen der Arbeitsproduktivität geklärt werden." Technische Zusammensetzung des Kapitals ist das Verhältnis der Masse der angewandten Produktionsmittel und der zu ihrer Anwendung erforderlichen Arbeitsmenge. Wertzusammensetzung des Kapitals ist das Verhältnis von konstantem zu variablen Kapital C/V. Marx nennt die Wertzusammensetzung, soweit sie durch die technische Zusammensetzung bestimmt ist und deren Veränderung ausdrückt, organische Zusammensetzung des Kapitals." So weit die Marx entsprechende Definition aus einem in der DDR erschienenen Lehrbuch.(8)

Es ist klar, dass in der Profitratendefinition r = M/C+V die Wertzusammensetzung interessiert. Marx allerdings begründet den tendenziellen Fall der Profitrate mit dem Steigen der organischen Zusammensetzung, womit er sagen will, dass dieser Fall auf die Veränderung der technischen Zusammensetzung zurückzuführen ist, dass andere Veränderungen der Wertzusammensetzung, z. B. ein Steigen des Wertes der Ware Arbeitskraft durch Kämpfe der Arbeiterklasse, hier unberücksichtigt bleiben sollen. Der Begriff organische Zusammensetzung ist also in diesem Fall die Methode von Marx, mit der in der bürgerlichen Ökonomie üblichen ceteris-paribus-Klausel zu argumentieren, wonach alle übrigen Einflussgrößen der Einfachheit halber als konstant angenommen werden.

Im Abschnitt zuvor hat sich ergeben, dass für die Begründung des tendenziellen Falls der Profitrate das Verhältnis von vergegenständlichter zu lebendiger Arbeit C/N entscheidend ist, wobei N als V+M definiert ist. Soweit dieses Verhältnis von der technischen Zusammensetzung des Kapitals beeinflusst wird, ist es die entscheidende Größe für die Begründung des Marx'schen Gesetzes, weil - wie oben gezeigt wurde - Veränderungen der Mehrwertrate, also Verschiebungen zwischen dem bezahlten und dem unbezahlten Teil der lebendigen Arbeit auf Dauer ein Fallen der Profitrate nicht aufhalten können, sofern nur C/N steigt. Das Arbeiten mit dieser Größe entspricht der Marx'schen Argumentation.(9) Es hat darüber hinaus den Vorteil, dass ein Missverständnis im Zusammenhang mit der Verbilligung (in Marx' Terminologie Verwohlfeilerung) durch Produktivitätssteigerung nicht auftritt.


Organische Zusammensetzung und Verwohlfeilerung

Es ist unstrittig, dass sich im Zuge der kapitalistischen Entwicklung die technische Zusammensetzung des Kapitals erhöht. Das heißt, von einer zwar wachsenden Arbeiterschaft werden mit fortschreitender Produktivität relativ mehr und aufwändigere Produktionsmittel angewendet. Pro Arbeitsstunde werden auch immer mehr Gebrauchswerte erzeugt. Kurz, es findet technischer Fortschritt statt. Umstritten ist dagegen, inwieweit sich diese Entwicklung auch in der Wertzusammensetzung widerspiegelt; und zwar deshalb, weil aufgrund der höheren Produktivität die Warenwerte ganz allgemein, also auch die Werte der Produktionsmittel, sinken. Marx behandelt diesen Zusammenhang als eine dem tendenziellen Fall entgegenwirkende Ursache: "... dieselbe Entwicklung, die die Masse des konstanten Kapitals steigert im Verhältnis zum variablen, vermindert, infolge der gesteigerten Produktivkraft der Arbeit, den Wert seiner Elemente und verhindert daher, dass der Wert des konstanten Kapitals, obgleich beständig wachsend, im selben Verhältnis wachse wie sein materieller Umfang ..."(10) Das Zitat, wie auch viele andere, zeigt, dass sich Marx der Zweideutigkeit dieser Bewegung bewusst war. Man kann aber wohl sagen, dass er nie schlüssig geklärt hat, welches relative Gewicht diese beiden gegenläufigen Tendenzen haben und warum per saldo doch ein Ansteigen des konstanten Kapitals relativ zum Einsatz an lebendiger Arbeit konstatiert werden kann.

Es ist zur Begründung angeführt worden, die Verbilligung beziehe sich nicht nur auf die Elemente des konstanten Kapitals, sondern ebenso auch auf die Konsumptionsmittel der Arbeiter. Einer sinkenden Tendenz bei C stehe demzufolge in gleicher Weise eine Senkung von V gegenüber, die Verwohlfeilerungstendenzen auf beiden Seiten könnten sich also plausiblerweise kompensieren und die steigende technische Zusammensetzung sich doch voll auf die Wertzusammensetzung C/V auswirken. Diese Art der Argumentation geht allerdings noch hinter Ricardo zurück, der von Marx zustimmend mit folgender Aussage zitiert wird: "Der Wert einer Ware oder die Quantität einer anderen Ware, gegen die sie ausgetauscht wird, hängt ab von der verhältnismäßigen Menge an Arbeit, die zur ihrer Produktion notwendig ist, nicht aber von dem höheren oder geringeren Entgelt, das für diese Arbeit gezahlt wird." Interessant ist also die lebendige Arbeit als Wert schaffende Potenz, nicht aber der Preis, zu dem sie erstanden wird, ihre relative Wohlfeilheit. Wenn die Ware Arbeitskraft billiger wird, nimmt damit nicht auch die lebendige Arbeit oder auch nur der Anteil der lebendigen Arbeit in der kapitalistischen wert- und Warenproduktion ab.

Eine steigende organische Zusammensetzung lässt sich also auch so nicht schlüssig begründen. Marx hätte die Werttheorie auf den Kopf stellen müssen, wäre er so vorgegangen. Es hängt vielmehr alles davon ab, wie man den technischen Fortschritt, die steigende Produktivität der Arbeit begreift und wie sie objektiv stattfindet. Er soll schließlich die Ursache für das Steigen des Verhältnisses von C/N sein.

Unter der Annahme, dass im Zuge der Kapitalakkumulation technischer Fortschritt stattfindet, sind drei theoretische Fälle gleichermaßen denkbar: 1. Der Anteil der lebendigen Arbeit am Gesamtwert der Produktion steigt, 2. er sinkt oder, 3. er bleibt konstant. Welcher der drei Fälle eintritt, hängt einerseits vom Ausmaß ab, mit dem sich die Waren verbilligen, d. h. wie viel weniger Gesamtarbeit in ihnen steckt, andererseits vom Wachstum der technischen Zusammensetzung. Ließe sich eine bestimmte funktionale Beziehung zwischen ihnen entdecken, wäre das Problem gelöst. So aber lässt sich, ohne sich in die Empirie zu begeben, nur sagen, dass es von vornherein kein Wachstum der technischen Zusammensetzung gibt derart, dass die Fälle 2 und 3 wegen eines zu geringen Absinkens des Wertes der Produktionsmittel ausgeschlossen werden können. Andererseits kann auch kein so starkes Absinken der Warenwerte der Produktionsmittel angegeben werden, dass es verhindern würde, dass durch die Erhöhung der technischen Zusammensetzung doch die Fälle 1 oder 2 auftreten. Das aber heißt, die Frage, ob die organische Zusammensetzung in der Entwicklung des Kapitalismus steigt, ist nicht schon dadurch geklärt, dass im Zuge des technischen Fortschritts mehr dingliche Arbeitsmittel eingesetzt werden. Es bleibt vielmehr offen, ob die Verbilligung der Produktionsmittel die Erhöhung der technischen Zusammensetzung des Kapitals ausgleicht, nicht ausgleicht oder vielleicht sogar überkompensiert. Damit hängt die Frage, ob es zu einer Erhöhung der organischen Zusammensetzung kommt, nicht nur von der Tatsache des technischen Fortschritts und seines Ausmaßes ab, sondern vielmehr von der Art und Weise seines Zustandekommens.

An dieser Stelle lässt sich eine Zwischenbilanz ziehen: Die Tendenz zu einer langfristig steigenden organischen Zusammensetzung im Kapitalismus kann nicht als gesicherte Erkenntnis angenommen werden. Die Marx'sche Begründung für den tendenziellen Fall der Profitrate ist demnach unzureichend. Somit kann das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate nicht zum Ausgangspunkt für die Analyse längerfristiger kapitalistischer Entwicklung gemacht werden.

Dennoch erweist sich der von Marx dargestellte Zusammenhang zwischen steigender organischer Zusammensetzung und Druck auf die Profitrate als hilfreicher Gesichtspunkt bei der Analyse der kapitalistischen, zyklischen Krise. In der Boom-Phase des konjunkturellen Zyklus greift das Kapital zu Investitionen in den technischen Fortschritt, die den Einsatz lebendiger Arbeit minimieren. Wenn also in der Hochkonjunktur die Ware Arbeitskraft knapp und für den Einzelkapitalisten relativ teuer wird, er seine Akkumulationsgeschwindigkeit nicht unter die seiner Konkurrenten sinken lassen will, so ist er veranlasst oder sogar gezwungen, das Schwergewicht des Wachstums auf den konstanten Kapitalteil zu legen. Die organische Zusammensetzung erhöht sich. Nicht weil der technische Fortschritt per se das bewirkt, sondern weil die Kapitalisten in einer spezifischen konjunkturellen Situation um der hohen Profite willen möglichst wenig zusätzliche Arbeitskraft einsetzen wollen. Dass gerade diese Strategie über die damit steigende organische Zusammensetzung die Profitrate unter Druck setzt, erweist sich als kapitalismus-typische ironische Wendung.


Vom Faustkeil zur Chipfabrik

Das passt dann sehr gut zu der eingangs erwähnten Feststellung, dass kapitalistische Krisen von einem Einbruch der Profitraten begleitet oder gar eingeleitet werden. Umgekehrt gilt aber auch, dass der Wirtschaftsaufschwung nach der Krise in der Regel von einem steilen Anstieg der Profitraten gekennzeichnet ist. Dem ist allerdings die bereinigende Kapitalvernichtung und -entwertung in der Krise vorangegangen. Die Entwertung des Kapitals dürfte dann aber auch die hohe Wertzusammensetzung des Kapitals wieder rückgängig gemacht haben.

Dem Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate liegt die Überlegung zugrunde, dass der Kapitalismus im Laufe seiner Geschichte immer unproduktiver wird. Die den Profitratenfall letztlich verursachende, als säkularer Trend interpretierte steigende organische Zusammensetzung würde damit die Basis der Mehrwertproduktion immer stärker einengen. Die Tendenz setzt damit im Kapitalismus fort, was dem Anschein nach seit Menschheitsbeginn die Entwicklung der Arbeit, sozusagen vom Faustkeil bis zu Chipfabrik charakterisiert. Zur lebendigen Arbeit treten immer mehr und kompliziertere Arbeitsmittel. Es scheint so, als habe Marx sich von dieser technisch und stofflich evidenten Tendenz blenden lassen und den Effekt unterschätzt, dass in den komplexen Arbeitsmitteln heute nicht mehr Arbeitsaufwand enthalten sein muss als in den primitiven früherer Jahrhunderte oder Jahrtausende.

Eine zyklische Interpretation vom Profitratenverfall, wie sie hier kurz vorgeschlagen wurde, hat deutlich weniger Durchschlagskraft. Als Argument für das notwendige Ende des Kapitalismus taugt sie nicht mehr. Wenn man die wachsende organische Zusammensetzung nicht als Ergebnis des technischen Fortschritts schlechthin begreift sondern als spezifisch kapitalistische Methode. der begrenzten Zufuhr an Wert schaffender Arbeitskraft zu entgehen, wird der (tendenzielle) Fall der Profitrate lediglich, aber auch immerhin zu einem wesentlichen Bestimmungsmoment für die ganz gewöhnliche kapitalistische Krise.


Anmerkungen:
(1) Peter. Hess, in Zeitschrift "Wirtschaftswissenschaft", Feb. 1974, S. 194
(2) Michael Heinrich. Monetäre Werttheorie, in Prokla, 2001, Heft 2, S. 168
(3) Winfried Wolf, Sieben Krisen ein Crash, Wien, 2009
(4) Henryk Grossmann. Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems. Nachdruck Frankfurt 1970
(5) MEW 25, S. 223
(6) M. Heinrich, a.a.O.. Seile 168
(7) MEW 25, S. 250
(8) Autorenkollektiv. Politische Ökonomie des Kapitalismus und des Sozialismus. Berlin. 1974. S. 143
(9) vgl. z.B. MEW 25. S. 223
(10) MEW 25. S. 246


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 6-09, 47. Jahrgang, S. 86-91
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Januar 2010