Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

MARXISTISCHE BLÄTTER/411: Ist das Menschenbild in der Krise?


Marxistische Blätter Heft 5-09

Ist das Menschenbild in der Krise?

Von Helga E. Hörz


Menschenbild oder Menschenbilder?

Offensichtlich gibt es nicht einmal in einer soziokulturellen Einheit, seien es ethnische Gruppen, Nationen oder Regionen, ein einheitliches Menschenbild. Stets treffen unterschiedliche Forderungen von Herrschenden, Ausbeutern und Reichen einerseits und Unterdrückten, Ausgebeuteten und Ausgegrenzten aufeinander. Hinzu kommen die durch unterschiedliche kulturelle Traditionen und Wertvorstellungen geprägten Menschenbilder, die sich oft widersprechen. So werden im aufgeklärten Europa Ehrenmorde strafrechtlich verfolgt. Steinigungen wegen Ehebruchs sind verboten. Jahrhundertelang bestimmte jedoch, trotz kultureller Unterschiede, das Mann-Sein auch hier das herrschende Menschenbild. Wir haben es also stets mit unterschiedlichen Menschenbildern zu tun, deren kulturelle Wurzeln ebenso zu beachten sind wie ihre Zielstellung im gesellschaftlichen Zusammenleben, das durch soziale Differenzierung, Arbeitsteilung und Machtansprüche bestimmt ist.

Menschenbilder theoretisch zu bestimmen und in ihrer praktischen Relevanz zu charakterisieren erweist sich so als kompliziert und vielschichtig. Die Bilder überlappen sich in bestimmten Bereichen. Sie können individuell und gesellschaftlich sehr verschieden sein. Manchmal sind sie idealisierend, wenn unterstellt wird, dass jeder Mensch gut ist. Sie sind völlig negativ, hemmen die Solidarität und orientieren auf egoistische Ziele, wenn jeder Mensch als Feind des anderen gesehen wird. Menschenbilder hängen so vom Stand der sozialen und wissenschaftlichen Entwicklung ab. Sie entsprechen oder widersprechen dem Zeitgeist und nehmen in jeder Gestalt Einfluss auf Orientierung und Normierung des Lebens jedes Menschen.

Insofern sind alle Aussagen über Menschenbilder in ihrer dialektischen Widersprüchlichkeit zu sehen. Jede Verabsolutierung bestimmter Aspekte wäre falsch. Generell gilt: Wenn Menschen durch die Umstände geformt werden, dann sind die Umstände menschlich zu formen. Jedes Menschenbild ist so Teil des Gesellschafts- und Weltbilds. Krisen von Menschenbildern sind deshalb immer Ausdruck von Gesellschaftskrisen. Die neoliberale Ausgestaltung des globalisierten Kapitalismus, der allein auf ungehinderten Kapitalfluss und ungezügelte Märkte setzt, was mit Sozialabbau, wachsender Kluft zwischen Armen und Reichen und sozialen Konflikten verbunden ist, hat zur globalen Finanz- und Wirtschaftskrise geführt. Das gepriesene Gesellschaftsbild der sozialen Marktwirtschaft wankt und damit sind die ihm entsprechenden Menschenbilder in der Krise. Diese ist nur zu überwinden, wenn man sich auf ein humanistisches Menschenbild in einer zu gestaltenden humanen Gesellschaft besinnt.

Schon im Altertum waren Philosophen bemüht, ein Menschenbild zu entwickeln, das den Menschen als natürlich entstandenes Wesen, das gesellschaftlich existiert, zu erfassen. Die naturwissenschaftliche Erforschung des Menschen, das Verständnis der in ihm ablaufenden physikalischen, chemischen, biotischen und physiologischen Prozesse, war stets mit dem Versuch verbunden, tiefer in das gesellschaftliche Wesen des Menschen einzudringen. In der Französischen Revolution ging es darum, für alle Menschen Gleichheit. Freiheit und Brüderlichkeit zu fordern. Philosophen, die die Ideale der aufstrebenden Bourgeoisie formulierten, bemühten sich, natürliche und gesellschaftliche Faktoren des menschlichen Wesens zu verbinden. In Auseinandersetzung mit Scholastik und feudaler Ideologie wurde von einigen Denkern das soziale Wesen des Menschen mit der Vorstellung verbunden, dass Menschen mit Hilfe eines Gesellschaftsvertrags zum vernünftigen Zusammenleben gelangen.

Manche Naturwissenschaftler und Mediziner greifen das in variierter Form auf, wenn sie zur Ergänzung technischer Fertigkeiten und naturwissenschaftlicher Erkenntnisse die Setzung ethischer Normen und moralische Erziehung fordern. Der Gesellschaftsvertrag hat nun die Gestalt eines Normenkodexes für Naturwissenschaftler, eines hippokratischen Eides für Mediziner oder einfach einer neuen Art von Seelsorge. Die Natur des Menschen wird auf das Individuum bezogen und das gesellschaftliche Wesen als Vertrag im Sinne moralischer Normenkataloge begriffen. Menschen sind als wissenschaftlich zu untersuchende Naturwesen zu begreifen, doch die Analyse ist bis zu den gesellschaftlichen Determinanten fortzuführen. Jede irrationale und übernatürliche Erklärung des Menschen ist abzulehnen, da sie nicht hilft, die irdischen Probleme zu lösen.

Menschenbilder existieren sowohl über einen langen historischen Zeitraum, doch sie erfahren auch Modifizierungen innerhalb einer kurzen Zeitspanne. Das bewirken unterschiedliche Interessen der in ihnen agierenden Kräfte, die, ausgerichtet auf bestimmte Ziele, sich für den Erhalt ihrer Macht oder als aufstrebende Klasse mit entgegenstehenden sozialen, ökonomischen, politischen, ideologischen kulturellen Zuständen auseinandersetzen, ihre Veränderung oder Überwindung anstrebten und anstreben. Von dem Menschenbild zu sprechen, ist daher wissenschaftlich einseitig, wenn damit ein bestimmtes soziales System, eine Region wie etwa Europa, ein Staat oder eine bestimmte Menschengruppe charakterisiert werden sollen. Ausgangspunkt jeder Betrachtung sollte sein: Welches Menschenbild herrscht vor und mit welchen Mitteln und Argumenten soll es als allgemein gültig festgeschrieben werden?


Menschenbild und Wesen des Menschen

Jedes Menschenbild ist mit Einsichten in das Wesen des Menschen verbunden. Doch nicht immer werden neue Erkenntnisse über das Mensch-Sein aufgegriffen, vor allem dann nicht, wenn sie Traditionen und Interessen widersprechen. Jahrhundertelang war beispielsweise bei der Bestimmung des menschlichen Wesens nur der Mann im Blick. Mann-Sein und Mensch-Sein wurden gleichgesetzt. Der Mann wurde niemals wegen seiner Geschlechtszugehörigkeit diffamiert, wie das bei den Frauen der Fall war und heute noch vorkommt. Man griff ihn eventuell an, weil er homosexuell war oder einer anderen Rasse angehörte, doch niemals für sein Mann-Sein. Frauen galten dagegen nicht als vollwertige Menschen. Rollenklischees zeigen das deutlich. Dem entsprachen dann mit patriarchalischer Macht durchgesetzte Normen und Werte im gesellschaftlichen Leben.

Bestimmte Filme und schöngeistige Literatur sind oft noch für ihre einseitige, Frauen diskriminierende Sicht verantwortlich. In Werbekatalogen gibt es überlebte Rollenklischees. Das abstrakte Menschenbild orientiert sich dabei auf das Mann-Sein. Ich habe schon in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts als Vertreterin der DDR in der UNO-Kommission "Zum Status der Frau" verlangt, Forderungen an die Medien festzuschreiben, die ein diskriminierendes Frauenbild als Sexobjekt, Dienerin des Mannes, "schönes Dummchen" usw. verhindern sollten. Leider bemerke ich, nach dem Fehlen von Korrektiven durch sozialistische Länder, eine Rückentwicklung. Es steht nicht mehr die selbstbewusste und berufstätige, gebildete und sich selbst verwirklichende Frau im Mittelpunkt der Medien. Mehr wird z. B. über Schönheitswettbewerbe, Modenschauen, das Küren von Models u. a. berichtet, was im Unterhaltungswert nicht unterschätzt werden soll, doch das Frauenbild einseitig macht und damit das Menschenbild verfälscht. In der philosophischen und psychologischen Literatur überwiegt oft noch die abstrakte Auffassung vom Menschen als vernünftig handelndes und emotionales Wesen. Wichtig ist es, Menschen, unabhängig vom Mann- und Frau-Sein, als bio-psycho-soziale Einheit zu erfassen. [1] Individualität ist zu berücksichtigen. Die Gleichheit des Menschseins erfordert zugleich die Beachtung spezifischer Unterschiede von Individuen in den Fähigkeiten und Fertigkeiten, in Charakter und Verhaltensweisen.

Menschen (Frauen und Männer) sind ihrem Wesen nach Ensemble konkret-historischer gesellschaftlicher Verhältnisse und globaler natürlicher Bedingungen in individueller Ausprägung, die sich als Einheit von natürlichen und gesellschaftlichen, materiellen und ideellen, rationalen und emotionalen, bewussten, unterbewussten und unbewussten Faktoren erweist, die ihre Existenzbedingungen bewusst immer effektiver und humaner gestalten wollen. Das gilt für beide Geschlechter und schließt ein: Frauen und Männer unterscheiden sich in anatomisch-physiologischen Merkmalen. Daraus resultieren eventuell psychische Unterschiede, wofür der wissenschaftliche Nachweis noch aussteht. Sie könnten ein Gewinn für das Zusammenleben der Geschlechter sein. Perspektivisch wäre etwa die Ausprägung von Gefühlsreichtum eine wichtige Aufgabe für Frau und Mann, um ihr gemeinsames Leben reicher und inhaltsvoller zu gestalten.

Frau und Mann stimmen in den Eigenschaften überein, die den Menschen als Gattungswesen auszeichnen, wie die bewusste gegenständliche Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit nach eigenen Zielsetzungen und die Einsicht in Gesetze ihres eigenen Erkennens und Verhaltens. Individuelle Verhaltensweisen sind nicht das Frau- und Mann-Sein. Für beide Geschlechter gilt gleichermaßen, dass genetisch-biotische Prädispositionen individuellen Verhaltens ein Möglichkeitsfeld darstellen, das unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen in der einen oder anderen Weise realisiert wird. Es existiert also kein genetischer Automatismus für das Verhalten einzelner Menschen, der Vorgeformtes nur einseitig ausprägt.

Auf dieser begründeten Einsicht in das Wesen der Menschen ist der Zusammenhang mit den Menschenrechten herzustellen. Menschenbilder haben die Gleichwertigkeit von Frau und Mann zu erfassen, wenn sie nicht antihuman oder unwissenschaftlich ausgerichtet sind. Es ist eine Abwertung der Frau in ihrem Mensch-Sein, wenn behauptet wird, dass die Frau nicht zu gleichen Verstandesleistungen wie der Mann fähig sei. Erst 2007 erregte das Buch von Louann Brizendine, einer Neuropsychiaterin aus San Francisco, über das weibliche Gehirn Aufsehen. [2] Es löste Anerkennung bei einigen Männern und Kritik von Sachkundigen beiderlei Geschlechts aus. [3] In "Nature" wird festgestellt: "Brizendine und die Sicht ihrer Bundesgenossen auf die frühe Prägung zu Weib und Mann ist eine 'pseudo-wissenschaftliche' Einteilung der Geschlechter in 'Denker und Fühlende'." Solche Deutungen seien, so heißt es "fundamental unbiologisch", denn sie "erklären nichts". [4] "Was genau unterscheidet die Frau im Kern vom Manne? Lange nicht so viel, wie alle immer denken, sagt Lutz Jäncke (Neuropsychologe von der Universität Zürich) -, und das klingt ziemlich lapidar angesichts der Tragweite dieses kleinen Halbsatzes. ... Die Forscher legen unter der dicken Makulatur der Stereotype ein neues Bild frei von Mann und Frau. Ihre Erkenntnis, inzwischen wissenschaftlich wohl belegt: Mann und Frau unterscheiden sich kaum. Dort, wo sich Andersartigkeit messen lässt, spielt sie entweder keine Rolle für den Lebensalltag oder ist unbedeutend klein. Vor allem aber gibt es gute Gründe, sie nicht als Ergebnis biologischer Bestimmung zu sehen." [5] Die entsprechenden Experten schlagen berechtigt den Bogen zum sozialen Wesen des Menschen, denn sie betonen die Rolle der Kultur für die Ausprägung von Verhaltensweisen. Hier gilt, wie schon betont, dass die genetisch-biotischen Prädispositionen nicht automatisch zu einer bestimmten Rolle der Persönlichkeit führen, sondern unter den konkret-historischen sozio-kulturellen Bedingungen unterschiedlich ausgeprägt werden. Es sind also stets sowohl die genetisch-biotischen Möglichkeiten als auch die soziokulturellen Realisierungsbedingungen zu beachten, wenn Mann- und Frau-Sein analysiert wird.

In politischen Forderungen, die vor allem in UNO-Dokumenten erhoben werden, sind Frauenrechte als Menschenrechte zum Haupttenor geworden. Die Pekinger Aktionsplattform, die Ziele für die Überwindung der Diskriminierung der Frau, ausgedrückt in unterschiedlichen Menschenbildern, als Forderungskatalog bis 2015 und weiter festschreibt, hebt hervor: "Solange die von den internationalen Menschenrechtsübereinkünften festgeschriebenen Menschenrechte der Frau im innerstaatlichen Recht wie auch in der innerstaatlichen Praxis nicht voll anerkannt und wirksam geschützt, angewandt, umgesetzt und durchgesetzt werden - im Familien-, Zivil-, Straf-, Arbeits- und Handelsrecht wie auch in Verwaltungsvorschriften -, werden diese Rechte nur auf dem Papier bestehen." [6] Deutschland ist nicht ausgenommen. Denken wir nur daran, dass Frauen immer noch 25 Prozent weniger Lohn als Männer erhalten, in Teilzeitbeschäftigung oder schneller in die Arbeitslosigkeit gedrängt werden. Ostdeutsche Frauen waren nach der Wiedervereinigung besonders stark von Arbeitslosigkeit betroffen. Altersarmut ist damit programmiert. In UNO-Dokumenten wird generell von der Feminisierung der Armut gesprochen.


Ideal und Leitbild

Vermittelt werden Menschenbilder über Ideal und Leitbild. Religiöse und nichtreligiöse Ideen gehen in Idealvorstellungen und Leitbilder ein, fordern auf spezifische Weise eine Gestaltung des Lebens von Menschengruppen und des Lebens einzelner Menschen. Denken wir z. B. an die christliche Moral und ihre Orientierung auf Ehe und Familie, die eine Verurteilung alleinstehender Mütter und ihrer unehelichen Kinder einschloss. Heute ist dieses Bild in westlichen Gesellschaften den neu entstandenen Formen, wie Lebensgemeinschaften mit und ohne Kind, gleichgeschlechtlichen Ehen, Lebensabschnittsgefährten u. a. anzupassen. Ob diese neuen Formen von Theologen und Gläubigen toleriert werden, ist nicht immer eindeutig feststellbar und variiert von Region zu Region stark. Ehrenmorde, Steinigung von Frauen in manchen islamischen Staaten wegen angeblichen Ehebruchs u. a. zeigen eine andere Form der Durchsetzung von Menschenbildern im Namen einer Religion und darauf basierender Lebensweise. Wir haben es mit ständigen Auseinandersetzungen zwischen Traditionalisten und Reformern zu tun. Es ist wichtig, hinter religiösen Auseinandersetzungen um Menschenbilder die kulturellen, ökonomischen und politischen Interessen zu analysieren, die zugleich, neben den oft vordergründigen Glaubensfragen, von bestimmten Gruppen verfolgt werden. In humanistischen Menschenbildern wird die moralische Verantwortung für das eigene Tun und Verhalten betont.

Über Ideale und Leitbilder wird also ein bestimmtes Menschenbild an Gruppen von Menschen und an den Einzelnen herangetragen. Dabei ist die Varianzbreite der Forderungen groß. Sie hängen von den spezifischen Interessen derer ab, die ein Menschenbild favorisieren und propagieren. Das führt zu einer Schwerpunktsetzung, die dem Einzelnen als Orientierung gegeben wird. Doch sie wechselt. So wird etwa in Konjunkturzeiten in hochindustrialisierten Ländern die Rolle bezahlter Arbeit in ihrer persönlichkeitsfördernden Komponente betont. Sie fördere Selbstachtung und sei deshalb als Ideal gesetzt. Davon können in diesen Zeiten selbst Frauen profitieren. In Krisenzeiten dagegen, in denen Arbeitslosigkeit zum Problem wird, appellieren die Besitzer von Produktionsmitteln an die Solidarität der Werte schaffenden Arbeiter und Angestellten und erwarten die Unterstützung durch Konsum. Einmal ist also vorwiegend der Produzent, zum anderen der Konsument das Ideal. Beim Konsumentenideal wird vor allem auf die Waren abnehmende Frau orientiert. Sie hält man für anfälliger, auf Produktwerbung zu reagieren. Das stimmt, wenn die Frau vorher in ihrem Leben nicht die Chance hatte, durch eigene Arbeit außerhalb ihrer Familie Stolz und Befriedigung durch sinnvolle Tätigkeit in einem Team kennen zu lernen.

Das Produzenten- oder Konsumentenideal erfasst nur etwas Erstrebenswertes in konkreten Situationen für bestimmte Menschen und drückt dabei Interessen aus. Der Idealbegriff ist jedoch umfangreicher. Er hat immer auch die Funktion, eine existierende Gesellschaft in ihren Grundzügen zu charakterisieren und dabei Reformen oder prinzipielle Veränderungen bei der effektiveren und humaneren Gestaltung der sozialen Verhältnisse vorzubereiten. Es verlangt eigentlich Vollkommenheit. Das ist jedoch konkret zu untersuchen. Was unter gegebenen Zuständen vollkommen zu sein scheint, ist unter anderen Umständen unvollkommen. Wenn in der heutigen Zeit Freiheit und Demokratie als existierendes Ideal beschworen werden, auch um den arbeitenden Menschen zum Verzicht auf Lohn, Kurzarbeit und möglichen Verlust des Arbeitsplatzes zu orientieren, dann müssen diese Bannerworte auf ihren konkreten Inhalt hinterfragt werden: Freiheit und Demokratie für wen?

Leitbilder fixieren auf anschauliche Weise das Ideal. Sie existieren für verschiedene Altersstufen, Gruppen, den Einzelnen. In der heutigen kapitalistischen Welt wird stark auf Flexibilität, Mobilität, Coolness (die Fähigkeit sich gut zu verkaufen) als Leitbild gesetzt. [7] Der grundlegende Wandel in der gesellschaftlichen Entwicklung wird so gesehen. Nicht mehr auf die Fähigkeiten und Fertigkeiten des Einzelnen wird orientiert, sondern wichtig ist, wie er sich "verkauft". Ein heute nicht nur in Deutschland feststellbarer Trend besteht darin, die behauptete Leistung, das angebotene Produkt, nämlich die in bestimmter Weise verpackte Leistungsfähigkeit, in den Vordergrund zu stellen. Selbstbewusstsein statt Bescheidenheit, Reklamewert statt wirklicher Leistung, In-Szene-setzen-Können statt sachlicher Darstellung dominieren. In Personalschulungen wird das vermittelt und als einzig Erfolg versprechende Verhaltensweise für einen Karriereschub eingeübt. "Die Konditionierung des Menschen für die Bedürfnisse des Marktes führt zu einer Verarmung des Eigenseins, der Eigenkräfte. Diese Kräfte sieht er vielmehr in den Waren, die er sich aneignen kann. Menschen erkennen sich in ihren Waren wieder." [8]

Solche Leitbilder kollidieren mit dem Menschenbild, das vielfach im Ausland noch über "die Deutschen" existiert. Nach Nationaleigenschaften Deutscher befragt, kommt in Antworten oft noch immer solide, ordentliche Arbeit, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit vor. Es werden also Fähigkeiten und Fertigkeiten benannt. Sicher zeichnen sich eine Reihe von Menschen noch dadurch aus. Doch die zur Zeit herrschende Finanzkrise lässt an Kompetenz und Sachkunde einiger Manager und Politiker zweifeln. Das eine Leitbild (sich gut zu verkaufen) wird also bewusst gesetzt, das in früheren Zeiten herrschende Leitbild (Betonung der Fähigkeiten und Fertigkeiten einzelner) nicht unbedingt bedient. Beide existieren im gesellschaftlichen Leben nebeneinander. Der vorherrschende, geförderte Trend fordert Flexibilität, Mobilität u. a. Worin sollen sich diese Verhaltensweisen manifestieren? Flexibilität bedeutet hierbei, nicht als Spezialist sein Wesen zum Ausdruck zu bringen, sondern viele Persönlichkeits-Rollen spielen zu können, für die es auf dem Markt eine Nachfrage gibt. Mobilität fordert die Bereitschaft heute im Süden, morgen im Norden zu arbeiten. Sicher trifft das nur für bestimmte Berufszweige voll zu, aber bestimmte Anforderungen, z. B. Führerschein, Computer-Bedienung, wechselnder Arbeitsrhythmus in verschiedenen Schichten, werden generell erhoben.

Dazu ist Anpassung erforderlich. Es geht um die Gewöhnung an existierende Bedingungen, Einflüsse und Personen, an neue Situationen und Tätigkeitsbezüge. Verhaltenspsychologisch ist Anpassung einmal die Änderung des Verhaltens von Individuen unter dem Druck äußerer Bedingungen, zum anderen die Bewältigung der objektiven gesellschaftlichen Anforderungen durch tätige Auseinandersetzung. Anpassung als Verhaltensänderung erfolgt entsprechend den vorherrschenden Verhaltenszielen infolge organismischer Informationsverarbeitung. Es ist also stets die Frage zu stellen, welche Anpassung an welche Bedingungen wird erwartet. Wird der arbeitende Mensch zum austauschbaren "Humankapital", dann dient seine Anpassung allein dem Maximalprofit der Unternehmen. Seine tätige Auseinandersetzung mit der Umwelt ist nur unter diesem Aspekt gefragt. Die Entfaltung seiner Talente ist behindert.

Die soziale Anpassung wird ebenfalls erwartet. "Unter sozialer Anpassung versteht man die Regulation speziell des sozialen Verhaltens, sie erfolgt durch Lernen von Verhaltensweisen, die der Aufrechterhaltung oder der Wiederherstellung des Gleichgewichts zwischen Individuum und sozialer Umwelt dienlich und zur Beherrschung gesellschaftlich-sozialer Prozesse durch den Menschen erforderlich sind." [9] Doch an welches soziale System mit welchen sozialen Zielstellungen hat man sich anzupassen? Der derzeitige Kapitalismus, der mental und physisch Menschen nicht zur Entfaltung kommen lässt, wenn das nicht seinen Interessen dient, fordert eine soziale Anpassung, die antihuman ist. Wer dem nicht entsprechen kann, fällt durch das soziale Netz. Das trifft oft auf Behinderte zu. Hier reicht nicht allein das Engagement einzelner Menschen, die dazu aufgerufen werden. Die gesamte Gesellschaft, einschließlich der Gesetzgeber, des öffentlichen Dienstes usw. tragen für die Einbeziehung dieser Menschengruppe Verantwortung. Es geht um eine human orientierte gesellschaftliche Strategie. Da für die weitere Entwicklung immer mehr die Technisierung des gesellschaftlichen Lebens charakteristisch sein wird, darf hierbei nichts unterbleiben, was die Integration dieser Menschen fördert.

Für Frauen sollten ebenfalls besondere Überlegungen angestellt werden. Wenn ein Arbeitsleben außerhalb der Familie als Leitbild anerkannt wird, weil es Frauen ökonomisch unabhängig vom Mann macht und so vor allem Selbstbestätigung für die Entwicklung ihrer Persönlichkeit bringt, dann hat der Staat die Hauptverantwortung für die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Mutterschaft. Die DDR war hierin beispielgebend. Diese Erfahrungen auszuwerten, wäre eine geringe Investition. Es ist daher unverständlich, wenn man nur die Praxis in anderen Ländern studiert. Trotzdem sind die Schritte des Frauen-Ministeriums, um diese Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Mutterschaft zu befördern, anerkennenswert. Der Weg, das Leitbild der Vereinbarkeit von Familie und Beruf im vereinten Deutschland durchzusetzen, ist dennoch dornenreich und langwierig. "Flexible Arbeitszeiten, globale Märkte in unterschiedlichen Zeitzonen stehen gegen feste Zubettgehzeiten der Kinder. Dieses Dilemma wird bleiben. [10]

In den Medien dominiert oft das Leitbild der Karrierefrau, alleinstehend und kinderlos. Ermutigend ist es, wenn einige junge Frauen beginnen, sich dagegen zu wehren und das Recht auf Familie und Kinder fordern. Sie setzen sich dabei der Kritik anderer Frauen aus, die sich dem Leitbild der Hausfrau und Mutter unterordnen. Sind werktätige Frauen Rabenmütter? Mit diesem Leitbild werden Frauen für auftretende Schwierigkeiten und Probleme verantwortlich gemacht, wo die öffentliche Hand gefordert ist. Männer haben ebenfalls Rollenklischees zu überwinden. Die Qualifizierung des Mannes zum Vater und aktiven Familienmenschen ist offensichtlich nicht immer im Blick. Sie ist aber ein gesellschaftliches Erfordernis. Das ist ein Ansatz, um zum Gefühlsreichtum als Menschengeschlecht zu gelangen. In Frankreich können Frauen beides haben, Kinder und Karriere, und niemand beschimpft sie als Rabenmütter.

Ich habe in der DDR ein erfülltes Berufs- und Familienleben praktizieren können. Am Ende der DDR waren 91.1 Prozent der Frauen im arbeitsfähigen Alter berufstätig, lernten oder studierten. 1988 verfügten 84 Prozent aller weiblichen Beschäftigten über eine abgeschlossene Ausbildung als Facharbeiter, Meister, Hoch- oder Fachschul-Abschluss. Um Frauen die Berufstätigkeit möglichst sorgenfrei zu ermöglichen, existierte ein leistungsfähiges System mit pädagogisch und medizinisch ausgebildeten Krippen- und Kindergartenerzieherinnen. Hauptträger der staatlichen Kindereinrichtungen waren Städte, Gemeinden und Betriebe. Desweiteren verfügten auch verschiedene Religionsgemeinschaften über Einrichtungen zur Kinderbetreuung. [11]

Die Wirkungen von Menschenbildern, umgesetzt in ideale und Leitbilder, sind so immer an Humankriterien messen. Zu ihnen gehören die Garantie einer sinnvollen Beschäftigung für jedes Glied der Gesellschaft in Abhängigkeit von den herauszubildenden Fähigkeiten und erworbenen Kompetenzen, eine persönlichkeitsfördernde Kommunikation, die individuell spürbare Erhöhung des Lebensniveaus für alle Glieder eines sozialen Systems und die garantierte und geförderte Entwicklung der Individualität, wenn Bildung, Arbeit, Obdach, Nahrung und Erholung gesichert sind. Hinzu kommt die Integration von Behinderten. [12]

Solchen Kriterien entsprechen, um ein Beispiel aus meinem Wirkungsbereich zu nehmen, halb- und einjährige Arbeitsverträge in wissenschaftlichen Einrichtungen keineswegs. Sie wirken kontraproduktiv auf die Ausbildung und Vertiefung von Spezialkenntnissen. Sie fördern Oberflächlichkeit, Populismus und letzten Endes Scheinerfolge. Für wissenschaftliche Forschungen sind diese Praktiken katastrophal.

Insgesamt können die charakterisierten Trend-Leitbilder des globalisierten Kapitalismus dazu führen, dass Menschen untereinander immer weniger Bindungen mit anderen Menschen suchen. Die Vereinzelung des Individuums wächst. Es wird austauschbar. Seine Identität geht verloren. Der gesellschaftlich bedingte Identitätsverlust, als eigenes Versagen registriert, führt u. a. zu Depressionen. Ärzte beziffern die Fälle, die der Behandlung bedürfen, auf ca. 4 Millionen Menschen in Deutschland. Gleichzeitig wird auf wachsenden Tablettenkonsum (Beruhigungspillen, Schlaf- und Schmerztabletten) hingewiesen.

Viele Menschen wollen damit eine Leistungssteigerung in der Arbeit erreichen, um unter Beweis zu stellen, dass sie nicht einfach austauschbar sind. Der gestiegene Tablettenkonsum stellt eine neue Form der Sucht dar. Er gesellt sich zu Alkoholismus und Drogenkonsum. Ein Ausweg aus dieser Situation kann nur durch neue Gesellschaftskonzepte erfolgen, die der weiteren technischen Entwicklung gerecht werden, Flexibilität und Mobilität zwar verlangen, doch arbeitende Menschen nicht zum Profitbringer degradieren, sondern verantwortlich Strategien für die praktische Tätigkeit und dementsprechende Normierung durch Wertsetzung entwickeln.


Weltbild und Menschenbild

Menschenbilder sind Teil der Weltbilder, die Gesellschaftsbilder umfassen. Das vorhandene Utopie-Defizit ist zu überwinden. Die Forderung nach Demokratie reicht nicht. "Demokratien sind zwar gegenüber allen bekannten Regierungsformen das kleinere Übel (Sir W. Churchill), aber auch bei ihnen ist nicht alles Gold, was glänzt. Ein gravierender Nachteil dieser Regierungsform ist die Unsicherheit für langfristige Vorhaben, weil man, stolz auf seinen Pragmatismus, meistens nur bis zur nächsten Wahl, d. h. bis zur Nasenspitze denkt." [13] Dem Autor geht es dabei u. a. um die Raumfahrt, weil er glaubt, dass ihr weiterer Ausbau zu unseren Zukunftsvisionen gehört. "In Bezug auf unser Weltbewusstsein hat uns die Raumfahrt gleich eine Reihe von Lektionen erteilt. Weder ist die Welt zum Zweck des Menschen da, wie die Kreationisten behaupten, noch ist der Mensch ein Irrläufer im Universum, eine Missbildung der Evolution, wie Nietzsche uns glauben machen wollte. Das Universum steht, wie schon Wernher von Braun diagnostizierte, dem Menschen weder freundlich noch feindlich gegenüber, sondern eher indifferent. Es hat nichts dagegen, wenn sich in ihm der Homo sapiens zum Homo spaciens weiterentwickelt, aber es bewahrt ihn auch nicht davor, sich selbst auszulöschen. Beides ist 'drin'." [14]

Zu den gesellschaftlichen Humankriterien gehören eben die Erhaltung der menschlichen Gattung und ihrer natürlichen Lebensbedingungen, die friedliche Lösung von Konflikten und die Erhöhung der Lebensqualität aller Glieder einer soziokulturellen Einheit. Dafür sind strategisch die vorhandenen Mittel einzusetzen, um alle Möglichkeiten zu nutzen, die sich bieten, um die Lebensqualität zu verbessern.

Die gesellschaftlich zu erbringende Leistung, Ziele für die zukünftige Gestaltung des Zusammenlebens von Menschen zu entwickeln, die Norm- und Wertorientierung enthalten und eine Umorientierung vom heutigen Trend-Leitbild darstellen, wurden bisher ungenügend als Aufgabe begriffen, einzelne "Rufer in der Wüste" als Utopisten abgetan, Utopie als gedanklicher Entwurf einer idealen Gesellschaft als Illusion abgewertet. Menschen haben aber in der gesamten Menschheitsentwicklung in gedanklichen Entwürfen, Träumen, Visionen und Idealen menschenwürdigere Verhältnisse vorweggenommen. Sie haben nie die Gesellschaft, in der sie gerade lebten und leben, als Ideal gesetzt. Leider gerieten und geraten Einzelne in die Hände von Wahrsagern, Mystikern und Esoterikern. Das führt weder zur persönlichen noch zur gesellschaftlichen Problemlösung. Notwendig wäre nicht nur die Vision einer humanen Gesellschaft, in der jeder Mensch seinen Platz finden kann, um entsprechend seinen individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten zum Gesamtwohl beizutragen, sondern orientierende und normierende Weltbilder. Dazu zählen die Verbannung von Kriegen als Mittel der Durchsetzung bestimmter Interessen (Öl, Rohstoffe, Absatzgebiete) aus dem Leben der Völker und der Verzicht darauf, eigene Menschenbilder als allgemeingültig weltweit durchzusetzen. Anerkennung anderer Kulturen, Traditionen und Lebensleistungen sind Bestandteil eines realen Welt- und Menschenbildes. Wir brauchen eine Assoziation freier Individuen mit sozialer Gerechtigkeit und ökologisch verträglichem Verhalten. Sie zu erreichen ist vielleicht unsere einzige Chance, um als Spezies zu überleben.

Nicht Menschenbilder allein sind deshalb in der Krise, sondern Menschen sollten in stärkerem Maße Verantwortung für das Leben auf unserem Planeten übernehmen, um den eigenen Untergang als menschliche Wesen, die solidarisch miteinander umgehen, zu verhindern. Humane Zukunftsvisionen zu entwickeln ist dafür unumgänglich.


Helga Hörz, Prof. Dr., Berlin, Philosophin

Anmerkungen

[1] Hans-Peter Brenner, Marxistische Persönlichkeitstheorie und die biopsychosoziale Einheit Mensch. Bonn: Pahl-Rugenstein Verlag 2002

[2] Louann Brizendine, Das weibliche Gehirn - Warum Frauen anders sind als Männer, Hamburg: Hoffmann und Lampe Verlag 2007

[3] Rafaela von Bredow. Das gleiche Geschlecht, in: Der Spiegel 6/2007, S. 142- 149

[4] Ebenda, S. 143

[5] Ebenda, S. 143

[6] UNO-Weltfrauenkonferenz 1995 (Beijing. 4.-15. September 1995), auszugsweise Übersetzung des Documents A/177/20 vom 17. Oktober 1995, Deutscher Übersetzungsdienst der Vereinten Nationen, Anlage II, Aktionsplattform

[7] Karl Lanius, Weltbilder. Eine Menschheitsgeschichte. Leipzig: Faber & Faber. S. 416 f.

[8] Ebenda, S. 419

[9] Clauß, Günter (Gesamtltg.), Wörterbuch der Psychologie, Leipzig: VEB Bibliographisches Institut 1978, S. 32

[10] Anke Dürr a. a., Der Familienkrach, in: Der Spiegel 9/2007, S. 72

[11] Helga E. Hörz, Frauenrechte sind Menschenrechte. Zur gesellschaftlichen Stellung der Frau in Deutschland. in: Gerhard Fischer u. a. (Hrsg.). Gegen den Zeitgeist. Zwei deutsche Staaten in der Geschichte. Schkeuditz: GNN Verlag 1999, S. 224 - 235

[12] Herbert Höre. Wahrheit, Glaube und Hoffnung. Philosophie als Brücke zwischen Wissenschaft und Weltanschauung. Berlin: trafo Verlag. S. 413 ff.

[13] Ernst R. Sandvoss, (2007). Weltbilder der Philosophie. Aufsätze und Vorträge. Hamburg: discorsi Verlag, S. 159

[14] Ebenda, S. 164 f.


*


Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 5-09, 47. Jahrgang, S. 27-35
Redaktion: Marxistische Blätter
Hoffnungstraße 18, 45127 Essen
Tel.: 0201/23 67 57, Fax: 0201/24 86 484
E-Mail: Redaktion@Marxistische-Blaetter.de
Internet: www.marxistische-blaetter.de

Marxistische Blätter erscheinen 6mal jährlich.
Einzelheft 8,50 Euro, Jahresabonnement 45,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Oktober 2009