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MARXISTISCHE BLÄTTER/386: Abenteuer Quantenphysik - Teil 2


Marxistische Blätter Heft 1-09

Abenteuer Quantenphysik II

Von Rolf Jüngermann


Im ersten Teil (*) wurde versucht, an den Beispielen Quantensuperposition, Quantenverschränkung und Komplementaritätsprinzip ein erstes Verständnis für die Quantenwelt und für die damit verbundene erkenntnistheoretische Problematik zu entwickeln, gefolgt von einigen allgemeinen Bemerkungen zum Verhältnis zwischen Quantenphysik und Marxismus - an die wir hier anschließen.


III. Quantenphysik und Marxismus (Fortsetzung)

Vom Klassengegner wurde und wird gerade die Quantenphysik und ihre philosophischen, vor allem ihre erkenntnistheoretischen Implikationen - neben der Chaos-Theorie, der Evolutionsbiologie und der Hirnforschung gerne benutzt, um Angriffe gegen den dialektischen Materialismus zu führen. (Dies sicher auch wegen der weitgehend akzeptierten wissenschaftstheoretischen Vorbildfunktion der Physik.) Insbesondere dienen dazu die Behauptungen, die Quantenphysik sei ein Beleg dafür,

a) dass in der Welt der Elementarteilchen das fundamentale Prinzip der Kausalität nicht mehr gelte, dass es dort stattdessen irgendwie mystisch und undurchschaubar zugehe und

b) dass die Vorstellung von der Welt als einer an sich und unabhängig vom menschlichen Bewusstsein real existierenden nicht mehr aufrecht zu halten sei - Behauptungen, die, wären sie zutreffend, die dialektisch-materialistische Grundposition von der Erkennbarkeit der Welt im Kern erschüttern würden.

Der Diskussionszusammenhang um die Quantenphysik trägt daher hochpolitischen Charakter, auch wenn das nicht gleich auf den ersten Blick erkennbar sein mag. Dieser Frontabschnitt des ideologischen Klassenkampfes war daher nicht zufällig schon immer hart umkämpft und wird es noch lange bleiben. Heute ist dabei mehr denn je nicht die offene Auseinandersetzung angesagt, sondern die Methode des Verschweigens und der Denkverbote. Es ist bürgerlichen Physikern und Philosophen offensichtlich heute in aller Regel nicht gestattet, den dialektischen Materialismus auch nur zu erwähnen, geschweige denn zu Rate zu ziehen oder gar sich offen darauf zu berufen. Anstatt sich im offenen Disput mit seinen Vertretern auseinander zu setzen, greifen sie in verdeckter Form seine Kernbestandteile an, unter Ausnutzung der von der interessierten Öffentlichkeit - und von ihnen selbst - oft nicht ernst genommenen erkenntnistheoretischen Zusammenhänge dieses Sachgebietes. Mystifizierung, Chaotisierung, das kaleidoskopartige Spiel mit schillernden Begriffen und Analogien sind die am häufigsten anzutreffenden Methoden - "anything goes", die Postmoderne lässt grüßen. Die Wirkung ist beträchtlich, vor allem wenn bürgerliche Ideologen unter Missbrauch ihrer Autorität und ihres öffentlichen Renommees als Physiker die erkenntnistheoretischen Implikationen der Physik vernachlässigen, was durchaus nicht immer als bewusster und gezielter individueller Akt zu geschehen braucht, oft eher das Ergebnis von Wissenschaftspolitik denn von Wissenschaft ist. Umso wichtiger ist es, diesen Vorstößen mit der Strenge der dialektisch-materialistischen Analyse der erkenntnistheoretischen Aspekte der Naturwissenschaften - speziell der Quantentheorie - zu begegnen. Dieser Aufgabe hat man sich gerade auch in der DDR intensiv gewidmet und die Ergebnisse sind weiterhin leicht zugänglich (M. Buhr, H. Hörz, U. Röseberg u.a.). In den Jahren nach 1989 ist die Arbeit mit umfassenden Untersuchungen (Wahsner 1989-2006) weiter vorangetrieben worden, an die ich mich im folgenden weitgehend anlehne.


IV. Der Weg der Erkenntnis

Der lange Weg der Erkenntnis, der uns von der "Welt an sich" über die Wissenschaften - darunter auch die Philosophie - schließlich zum Weltbild, zur Weltanschauung führt, ist nicht nur verschlungen und kompliziert, er ist ein mehrfach gebrochener. Die Übergänge von einem Wegabschnitt der Erkenntnisgewinnung zum nächsten bedeuten nicht nur Erkenntnisfortschritt, sondern immer auch einen mehr oder weniger scharfen Schnitt, wo das Gesamtspektrum der vorhandenen Informationen und möglichen Erkenntnisse mehr oder weniger stark gefiltert, verfremdet, eingefärbt, verzerrt, vergröbert wird, jedenfalls nicht unbeeinflusst passieren kann. Dieser Weg hat seinen Anfang in der unendlichen Vielfalt der Objekte, Phänomene und deren Wechselwirkungen in der realen Welt, der - vom menschlichen Bewusstsein unabhängigen - realen und konkreten "Welt an sich", der auch die menschliche Gattung als ein Objekt unter unendlich vielen zugehört.

Der erste Schnitt auf dem Wege der Erkenntnis liegt am Übergang von der "Welt an sich" in die "Welt für uns". Schon der allererste Zugriff der Spezies Mensch auf die "Welt an sich", mit dem der Mensch sich zum Handelnden, zum Subjekt erhebt, ist nicht neutral und absichtslos, geschieht - auch als Zugriff der Erkenntnis - stets aus Überlebensinteresse und erfasst daher die "Welt an sich" nicht in ihrer Totalität, sondern - zumindest vorwiegend - in ihrem Aspekt als "Welt für uns". Alle Erkenntnis beruht von Anfang an auf interessegeleiteter und daher selektiver Wahrnehmung. Auch ist zu beachten, dass unser Zugriff auf die "Welt an sich" stark eingeengt ist durch die Tatsache, dass wir nur einen sowohl zeitlich als auch räumlich winzigen Ausschnitt der Welt besiedeln, leben wir doch "seit 5 Sekunden" wenn man das Bestehen der Menschheit mit dem Bestehen der Erde vergleicht und das Bestehen der Erde mit 4,5 Milliarden Jahren an den 24 Stunden des Tages festmacht. Auf einem winzigen Staubkorn irgendwo am Rande einer der 100 Milliarden Galaxien des Universums. Andererseits ist die "Welt für uns" von der Art, dass wir ihren Anteil an der "Welt an sich" ständig ausweiten, ist Homo sapiens sapiens doch dabei, seinen Erkenntnishorizont und seine Erkenntnismittel unaufhörlich zu erweitern, ein Vorgang, der zudem seit dem Beginn der industriellen Revolution ständig enorm an Tempo zunimmt.


1. Der Zuständigkeitsbereich der Physik

Der Übergang zum nächsten Abschnitt auf dem Wege der Erkenntnis führt uns in den Bereich der Wissenschaften - im Rahmen dieses Artikels in den Bereich, wo die Physik zuständig ist. Auch mit diesem Übergang ist wiederum ein Schnitt mit weitreichenden Konsequenzen verbunden. Die Physik ist eine empirische, mathematisierte, eine messende und rechnende Wissenschaft. Physikalisch real ist was messbar ist. Nicht die wirklichen Naturgegenstände in ihren unendlich vielfältigen gegenseitigen Zusammenhängen sondern die Messgrößen sind die Objekte der Physik. Sie trifft ihre Aussagen nicht unmittelbar über die wirklichen Gegenstände und deren wirkliches Verhalten, sondern über Größen und deren Beziehungen. Das Messen erfordert somit, sich zu einer idealen Welt zu erheben. Und das heißt: Eine jede messende Wissenschaft, nicht nur die Physik, macht Aussagen nur über das ideale Verhalten idealer Gegenstände respektive über messtheoretisch bestimmte Verstandesgegenstände und deren Beziehungen (nicht über konkrete Gegenstände in ihrem konkreten Zusammenhang). Doch die sogenannten Verstandesgegenstände sind selbstredend nicht an sich vorhanden oder in der Vorstellung gegeben. Sie müssen gebildet werden." (Wahsner 1991 S. 186), müssen durch Vergleichsarbeit mühsam erzeugt werden; sie sind auf der Basis real vorhandener Gleichheiten konstruierte Gedankendinge, ("physikalische Verstandesgegenstände") (Wahsner 1989 S. 99), mit deren Hilfe man das eigentliche Erkenntnisobjekt, die konkreten Naturgegenstände in ihren Zusammenhängen erkennt. Die Größen sind die Objekte der Physik, erkenntnistheoretisch gesehen sind sie jedoch Erkenntnismittel." (Wahsner 1995 S. 39)

"Damit ein sinnlich wahrnehmbarer Prozess ein physikalisches Experiment sein kann, muss man die aufeinander einwirkenden Gegenstände und die Umstände, unter denen sie das tun, in spezieller Weise präparieren (Herstellung eines Vakuums, idealer Kugeln, idealer Ebenen usw.), damit man die, aber auch nur die Wirkung provoziert, die gerade interessiert." (Wahsner 1992 S. 10) "Als Plausibilitätsbeispiel sei die Notwendigkeit genannt, zwei Körper, deren Masse man mittels einer Balkenwaage miteinander vergleichen will, realiter derart voneinander zu trennen, das sie nicht miteinander wechselwirken. Gelingt diese Trennung nicht (z. B. weil sie magnetisch sind), so ist die genannte Messung nicht möglich." (Wahsner 1995 Fußnote S. 43)

"Nebenbei sei bemerkt: Wie man von den physikalischen Größen, die Verstandesgegenstände sind, wieder zu den wirklichen, den konkreten Gegenständen in ihren gegenseitigen Zusammenhängen kommt, ist ein Problem, aber ein philosophisches; es ist das Problem des Überganges von der Naturwissenschaft zur Philosophie bzw. von dem Alltagsbewusstsein und der Alltagserfahrung zur Naturwissenschaft." (Wahsner 1989, Fußnote S. 132)


2. Die Eigentümlichkeiten der Quantenphysik

Um nun die besonderen Eigentümlichkeiten der Quantenphysik angemessen einordnen zu können, müssen wir den "Bereich der Physik" genauer betrachten. Hinsichtlich der erkenntnistheoretischen Qualitäten sind fünf verschiedene Räume zu unterscheiden:

a) der quantenphysikalische Ereignisraum - der Raum der (physikalischen) Erkenntnisobjekte, wo die vorab ausgewählten und präparierten (Quanten)-objekte der Messung/ dem Experiment unterzogen werden. Dieser Raum ist wirklicher, konkreter, real-objektiver Ereignisraum, der in vollem Umfang den Gesetzen der Quantenphysik unterliegt.

b) der Messraum. Hier sind die am Experiment/an der Messung beteiligten Erkenntnismittel in Form der (theoretischen und gegenständlichen) Messmittel angesiedelt. Diese - und die von den Instrumenten angezeigten Werte - gehören nicht dem quantenphysikalischen Ereignisraum an, gehören vielmehr in den Bereich der klassischen Physik.

c) der mathematische Interpretationsraum, wo die Mathematik herangezogen wird, um die Messergebnisse korrekt und verlustfrei zu erfassen, zu beschreiben und als in mathematische Gleichungen gefasste Naturgesetze für den Forschungsfortschritt zu verwerten (allerdings erst nachdem nachgewiesen ist, dass es sich bei den Messwerten nicht um Fehlfunktionen der Messgeräte handelt - was im Einzelfall ausgesprochen schwierig sein kann).

d) der Raum der physikalischen Theoriebildung, wo auf der mathematischen Basis (physikalische) Modelle und Theorien formuliert werden, um die (physikalische) Bedeutung der Messergebnisse in eine Form zu bringen, die es den Physikern erlaubt, sie angemessen sprachlich zu handhaben, zu interpretieren, zu deuten und auf dieser Basis neue Experimente zu planen. Dieser Bereich ragt dann teilweise bereits hinüber in den ...

e) ... Mitteilungsraum, wo die quantenphysikalischen Forschungsergebnisse und Theorien - "um auch den Philosophen verständlich zu bleiben" (Marx) - der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden und welcher eindeutig nicht mehr allein dem Zuständigkeitsbereich der Physik, sehr wohl aber zunehmend dem der Physiker angehört.

Es ist offensichtlich, dass es zwischen den hier unterschiedenen Räumen innerhalb des Bereichs der Physik mehrere Schnitte gibt, "wo das Gesamtspektrum der vorhandenen Informationen und möglichen Erkenntnisse mehr oder weniger stark gefiltert, verfremdet, eingefärbt, verzerrt, vergröbert wird, jedenfalls nicht unbeeinflusst passieren kann". Da ist zum einen der Schnitt zwischen dem "vieldimensionalen Konfigurations- oder Darstellungsraum", dem mathematischen Interpretationsraum, einerseits und dem Raum der physikalischen Theoriebildung - sozusagen der sprachlichen Interpretation - andererseits. Letzterer verfügt zwar über eine hochentwickelte Fachsprache, bleibt jedoch aus naheliegenden Gründen weiterhin in erheblichem Maße auch auf die Alltagssprache angewiesen, welche für die meisten der zur Diskussion stehenden quantenphysikalischen/mathematischen Phänomene keine wirklich adäquaten Entsprechungen kennt.

Von besonderer Bedeutung jedoch ist der Schnitt zwischen dem quantenphysikalischen Ereignisraum und dem den Gesetzen und Grenzen der klassischen Physik unterliegenden Messraum, also der Schnitt zwischen (physikalischem) Erkenntnisobjekt und (physikalischem) Erkenntnismittel. Schon Heisenberg hat darauf aufmerksam gemacht, dass man in der Quantenmechanik einen Schnitt zieht zwischen den Messgeräten, die als Untersuchungsmittel benutzt werden, und den physikalischen Systemen, die untersucht werden sollen. Die Einsicht in den kategorialen Unterschied zwischen diesen beiden Räumen ist das eigentlich Neue, das die Quantenphysik mit sich gebracht hat. Denn exakt an dieser Stelle stoßen wir auf den Ursprung des zentralen Problems der Quantenphysik, dass nämlich einerseits die physikalische Realität der Quantenwelt grundverschieden ist von der Welt der klassischen Physik, dass zugleich aber die physikalische Messung nur solche Eigenschaften anzeigen kann, die der klassischen Physik angehören. Anders ausgedrückt: Die (theoretischen und gegenständlichen) Messmittel entstammen nicht der Quantenwelt, sind der Komplexität der Objekte und Wechselwirkungen in der Quantenwelt, die sie messen sollen, nicht wirklich angemessen, nicht wirklich gewachsen. Sie sollen also etwas leisten, was eigentlich unmöglich ist, eine Tatsache, die sich u. a. auch darin zeigt, dass gewisse Messungen in der Tat gar nicht möglich sind (zum Beispiel die gleichzeitige Messung des Orts und des Impulses des gleichen Teilchens). Ähnliches gilt - wie gesagt - für die Sprache der Quanten-Theorie, in der die Messungen sprachlich zusammengefasst, verarbeitet, diskutiert und gedeutet werden müssen und die notgedrungen eher den Charakter eines verschmierten Wortgemäldes als den einer eindeutigen wissenschaftlichen Begriffswelt aufweist.

Hier - und nicht in der Winzigkeit der Objekte an sich und einer angeblichen evolutionsbedingten makroskopischen Struktur des Menschen, die dem untersuchten mikroskopischen Objekt nicht angemessen sei - liegt der eigentliche Ursprung der Mehrzahl der mit der Quantenmechanik verbundenen Irritationen. Noch im "mathematischen Interpretationsraum" sind viele dieser Irritationen - insbesondere auch die Indeterminiertheit - gar nicht vorhanden. Die Determiniertheit der Schrödinger-Gleichung wird zur Probabilistik [Wahrscheinlichkeitsauffassung] erst dann, wenn sie außerhalb des mathematischen Interpretationsraumes formuliert werden muss. Anders gesagt: "In der Quantenmechanik sind die Naturgesetze Strukturen abstrakterer 'Dinge' und ihrer 'Zustände', ... deren Verknüpfung mit der Wahrnehmung über den Begriff der Wahrscheinlichkeit führt." (v. Weizsäcker S. 239) "Einsteins bekannte Unzufriedenheit mit der Quantenmechanik resultierte daher auch nicht daraus, dass er diese physikalische Theorie für zu indeterministisch hielt." (Wahsner 1989 S. 86) "Wir sind also weit, sehr weit entfernt von der Ungewissheit, mit der man die Quantenmechanik immer noch in Zusammenhang bringt." (Weisskopf S. 47) Und was die Größe der Quantenobjekte angeht: "Es gibt aber keinen Grund anzunehmen, warum Quantenphänomene nicht in absehbarer Zeit für Objekte gezeigt werden können, die [so groß sind dass] man [sie] sogar in einem Mikroskop sehen kann. Dann wird es noch offenkundiger, dass die Frage, ob sich ein Objekt klassisch oder quantenphysikalisch verhält, nicht eine Frage der Größe des Systems ist, sondern ausschließlich der Art des Experiments, das wir durchführen." (Zeilinger 2006)

Insofern bedeutet die eigentlich Aufsehen erregende Entdeckung der Quantenmechanik, "der Skandal, der die Physiker, und zwar die tiefsinnigen, sich entsetzen ließ" (Wahsner 1989 S. 102) die Einsicht, dass zwischen Erkenntnisobjekt (im "quantenphysikalischen Ereignisraum") und Erkenntnismittel (im "Messraum") kategorial unterschieden werden muss. In der klassischen Mechanik lag (und liegt) der besondere Fall vor, dass man beide straflos gleichsetzen kann, da die Grundgleichungen der klassischen Mechanik in demselben Raum wie die Messtheorie formuliert werden können - eine Sichtweise, die erst für die Quantenmechanik sichtlich unhaltbar wird. Solange nicht deutlich wurde, dass die beiden genannten Räume nicht identisch sind, konnte man eben annehmen, es gäbe zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt ohne ein vermittelndes Drittes eine klare Trennung. "Mit der Quantenmechanik wird ... endgültig deutlich, dass die Physik eines Erkenntnismittels bedarf, welches in seiner Funktion mitgedacht werden muss, um den Inhalt der jeweils diskutierten physikalischen Theorie zu begreifen." (Wahsner 1992 S. 73)

Wenn aber gilt, dass in der Physik nicht mehr uneingeschränkt von einer klaren Trennung zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt gesprochen werden kann, wenn die Messtätigkeit des Physikers "mitgedacht werden muss, um den Inhalt der jeweils diskutierten physikalischen Theorie zu begreifen", weil durch den Vorgang der Messung die Art der Messergebnisse maßgeblich beeinflusst wird, dann haben wir erkenntnistheoretisch eine ziemlich neue Lage. "Die heutige Physik zwingt den Physiker zur Besinnung auf sich selbst als Subjekt." (v. Weizsäcker S. 174) Etwas lax ausgedrückt sind die Physiker im Verlauf ihrer quantenphysikalischen Untersuchungen in gewisser Weise "sich selbst begegnet" (Heisenberg) und das an einer Stelle, wo dies nach dem Selbstverständnis der Physik als einer objektiven Wissenschaft auf gar keinen Fall hätte sein dürfen. Das Entsetzen war groß und klingt noch heute nach, denn: "Die eigentliche Grundlage des Verständnisses der Quantenmechanik (bzw. des Unterschieds von klassischer und Quantenmechanik) besteht darin, diese Einsicht als wesentlich für das Verständnis jeder physikalischen Disziplin, auch das der klassischen Mechanik, anzusehen, und sie nicht als eine nur die Eigenart der Quantenmechanik betreffende herauszustellen." (Wahsner 1992 S. 73)


Exkurs: Komplementarität und Dialektik

Mit dem Komplementaritätsprinzips (s. o.) hat Niels Bohr, hat die Physik ein methodologisches Prinzip der Erkenntnis gefunden, mit dem Schnitt zwischen dem quantenphysikalischen Ereignisraum und dem den Gesetzen und Grenzen der klassischen Physik unterliegenden Messraum umzugehen. Die Sichtweise, dass es sich beim Komplementaritätsprinzip zumindest um eine Keimform/Parallelform der philosophischen Dialektik handelt, drängt sich auf, auch wenn bekanntlich Physik nicht selbst schon Philosophie ist und von daher naturwissenschaftliches Denken und (philosophische) Dialektik nicht gleichgesetzt werden dürfen (Wahsner; siehe dazu aber auch: Röseberg 1984, S. 235ff). An dieser Stelle deutet sich m. E. Diskussionsbedarf und vor allem Dynamik und Entwicklungspotential für zukünftiges Vorgehen an, betrachtet man zum Beispiel die Aussagen von Lucien Sève:

"Die zeitgenössische Naturwissenschaft ist philosophisch hyperaktiv. Sie produziert unaufhörlich kategorial Neues, für das in diesem Jahrhundert ein bedeutendes Beispiel die Komplementarität ist, eine spezifische Form der Dialektik, die jeglicher Erkenntnis innewohnt. Aus naturwissenschaftlichen Antworten hervorgegangen, stellen diese Kategorien ihrerseits gute philosophische Fragen, zum Beispiel: Welcher Art ist, als Widerspruch gesehen, die genaue logische Struktur der Komplementarität? Da diese Kategorien die konfliktgeladene Einheit, ja sogar die gegenseitige Umwandlung zwischen Naturwissenschaft und Philosophie konkretisieren, stellen sie den denkbar klarsten Aufruf zu deren Zusammenarbeit dar." (Sève S. 51)

Und: "In der Wissenschaftlergemeinschaft verbreitet sich das Bewusstsein, dass man sich nicht zum Philosophen improvisieren kann" [ebenso wenig wie "mit dem fleißigen Studium populärwissenschaftlicher Literatur" zum Physiker (d. V.)] und dass, wenn ein wenig an philosophischen Studien oft von der Naturwissenschaft abbringt, viel davon wieder zu ihr hinführt. Hier und da nimmt eine "theoretische Naturwissenschaft" Gestalt an, in dem vollen Sinne, den Engels diesem Ausdruck gab - eine Naturwissenschaft, die nicht nur ihre Theorie denkt, sondern darauf abzielt, sich die Theorie des Denkens selbst anzueignen. Was sich vielleicht in dieser Weise ankündigt, ist nichts Geringeres als ein Ereignis in der Geschichte der intellektuellen Arbeitsteilung. Kommt man nicht durch vielfachen Gedankenaustausch bei Kolloquien, ja durch die Praxis einer wirklichen Zusammenarbeit zwischen Naturwissenschaftlern und Philosophen hier und da zu erweiterten theoretischen Kompetenzen, die den verknöcherten Dualismus der zwei "Kulturen" ins Wanken bringen und zum Abbau der Trennwände der Bildung, die man zunächst hatte, der institutionellen Strukturen, der mentalen Schemata, innerhalb einer neuen Stadt des Wissens auffordern, in der endlich Gramscis Idee Gestalt annimmt: Jeder Mensch ist Philosoph. (Gramsci 1975, Vol. II, S. 1342) (Sève S. 44)


3. Physik und Wahrheit

Es drängt sich abschließend natürlich die Frage auf, ob angesichts der Vielzahl von Schnitten im Verlauf des Weges der Erkenntnis am Ende überhaupt noch eine adäquate Widerspiegelung der wirklichen Naturgegenstände in ihren wirklichen gegenseitigen Zusammenhängen vorliegt, ob die Aussagen der Physik wahr sind. In einer ersten Annäherung wird man sagen, dass die Probe auf den Wahrheitsgehalt physikalischer Erkenntnisse durch ihre Überprüfung im Experiment und durch ihre erfolgreiche technische Nutzung möglich ist. Die Frage nach der Wahrheit von Erkenntnis der "Welt an sich" in einem erweiterten Sinne kann jedoch die Physik nicht allein beantworten, auch nicht durch die erfolgreiche Anwendung ihrer Ergebnisse. Sie kann ihren epistemologischen [erkenntnistheoretischen] Status nicht selbst begreifen (sehr wohl jedoch der eine oder andere Physiker), kann die Rolle des Menschen mit seinen individuellen und sozial organisierten Interessen in dem Gesamtprozess der Erkenntnis nicht angemessen ins Kalkül ziehen. ... "Alles naturwissenschaftliche Wissen ist unter Verwendung bestimmter (geistiger und gegenständlicher) [Erkenntnis-] Mittel erzeugt. Und so man das begreift, wird man auch einsehen müssen, das es [den Naturwissenschaften] überhaupt nicht möglich ist zu erkennen, wie die Natur an sich, völlig unabhängig vom Erkenntnissubjekt beschaffen ist, wie das Gesetz der Welt lautet." (Wahsner 2006 S. 155) Nicht zufällig sind daher die physikalischen Begriffe Raum, Zeit, Materie bzw. Masse eben nicht identisch mit dem philosophischen Raum-, Zeit- und dem philosophischen Materiebegriff. Daher kann es keine rein naturwissenschaftliche Darstellung des Weltganzen, der Totalität geben - wie übrigens auch die Philosophie ohne die Tätigkeit der anderen Wissenschaften inhaltslos würde. Erkenntnis der "Welt an sich" ist erst in gemeinsamer Anstrengung der Naturwissenschaften, der Philosophie und der einzelnen Geistes- und Sozialwissenschaften möglich, wird allerdings mit jeder Antwort, die gefunden wird, unvermeidlich auf immer neue Fragen und Probleme stoßen.


Rolf Jüngermann, Gelsenkirchen, MB-Redaktion



Anmerkungen

(1)
Jedoch darf bekanntlich auch die - gerade von Marxisten immer wieder gerne herangezogene - Aussage, das Kriterium für die Wahrheit sei letztendlich "die Praxis", keineswegs so unreflektiert zur Anwendung gelangen, wie das manchmal geschieht. So war zum Beispiel die Genauigkeit der Bahnvorhersagen von Himmelskörpern - also etwa auch der Vorhersagen von Sonnen- und Mondfinsternissen - die auf der Basis des Weltmodells des Ptolemäus erfolgten (das bekanntlich noch die Erde als Mittelpunkt des Weltalls ansah), noch lange Zeit deutlich größer als die Genauigkeit der Bahnvorhersagen auf der Basis des heliozentrischen Weltbildes des Nikolaus Kopernikus. "Die Praxis" hat also durchaus noch lange Zeit für Ptolemäus und gegen Kopernikus gesprochen.


Zitierte Literatur

Jürgen Audretsch, Verschränkte Systeme, Weinheim 2005
Gramsci 1975, Vol. II, S. 1342: "Posto il principio che tutti gli uomini sono 'filosofi', che cioè tra i filosofi professionali o 'tecnici' e gli altri uomini non c'è differenza 'qualitativa' ma solo 'quantitativa' [...]".
Robert Havemann, Dialektik ohne Dogma?, Berlin 1990
Herbert Hörz, Heinz Liebscher, Rolf Löther, Ernst Schmutzer, Siegfried Wollgast (Hrsg.), Philosophie und Naturwissenschaften, Wörterbuch, Bonn 2001
W. I. Lenin, Philosophische Hefte, in: Werke, Bd. 38, Berlin 1968
Ulrich Röseberg, Szenarium einer Revolution, Berlin 1984
Lucien Sève, Dialektik der Natur und Natur der Dialektik - Neue Gesichtspunkte, in: Dialektik 1992/1 S. 35-56
Renate Wahsner (2006), Der Widerstreit von Mechanismus und Organismus, Stuttgart 2006
Renate Wahsner (2002/1), Naturwissenschaft, Bielefeld 2002
Renate Wahsner (2002/2), Ermöglicht die Einheit der Vernunft eine Vielfalt der Realitätstypen? in: Topos 20, 2002, S. 25-48
Renate Wahsner, Zur Kritik der Hegelschen Naturphilosophie, Frankfurt a/M ... 1996
Renate Wahsner (1995), Was bleibt von Engels' Konzept einer Dialektik der Natur? in: Marxistische Blätter 4-95, S. 37-43
Renate Wahsner (1992), Horst-Heino von Borzeszkowski, Die Wirklichkeit der Physik, Frankfurt a/M ... 1992
Renate Wahsner (1991), Horst-Heino von Borzeszkowski, Die Wirklichkeit der Physik, in: Dialektik 1991/1, S. 179-190
Horst-Heino von Borzeszkowski, Renate Wahsner (1989), Physikalischer Dualismus und dialektischer Widerspruch, Darmstadt 1989
Victor Weisskopf, Die Jahrhundertentdeckung: Quantentheorie, Frankfurt a.M. 1992
Carl Friedrich von Weizsäcker, Zum Weltbild der Physik, Stuttgart 1976
Anton Zeilinger, Die Grenze zwischen Quantenwelt und klassischer Welt, in: Physik in unserer Zeit 1/2006, S. 3

(*) Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Den ersten Teil des Artikeles finden Sie im Schattenblick unter:
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MARXISTISCHE BLÄTTER/376: Abenteuer Quantenphysik - Teil 1


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 1-09, 47. Jahrgang, S. 86-92
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. März 2009