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LICHTBLICK/239: Nähe und Distanz im Justizvollzug


der lichtblick - Gefangenenzeitung der JVA Berlin-Tegel
Heft Nr. 377 - 4/2018

Nähe und Distanz im Justizvollzug

Das sind die Oberbegriffe, die der Justiz erklären wollen, wie die Menschen im Vollzug miteinander zu tun haben. Nähe und Distanz ist aber auch zu einem Seismografen für das Anstaltsklima geworden.


Ein humaner und an Wiedereingliederung orientierter Vollzug kann nicht auf zwischenmenschliche Kälte aufbauen und ein bestimmtes Maß an Vertrauen und Öffnung verlangen. Aber klar ist ebenfalls, dass bei Grenzüberschreitungen die Gefahr besteht, dass die Rollenklarheit verloren gehen kann.

Im Forum Strafvollzug war "Nähe und Distanz" das Hauptthema, das man sich auf die Fahne schrieb. Grund genug für den lichtblick sich der Thematik, vornehmlich aus dem Blickwinkel der Inhaftierten, anzunehmen und sich unter allen Beteiligten umzuhören. Die Redaktion hat sich mit der professionellen Ausgestaltung und der Arbeitsbeziehung zu den Gefangenen auseinandergesetzt und viele Interviews mit Insassen zu diesem Problem geführt. Es lag uns fern den Bediensteten ein Zeugnis auszustellen oder irgendwelche Verhaltensregeln nahe zu bringen, aber sicherlich spielen eine gereifte Persönlichkeit und Achtung gegenüber dem Inhaftierten eine wichtige Rolle bei dieser Thematik.

Insbesondere bei der sozialen Arbeit ist zu klären, ob das richtige Maß zwischen den Bezugspersonen gefunden werden kann und hierbei sind die Gruppenleiter genauso gemeint wie der allgemeine Vollzugsdienst (AVD), denn beide Berufsgruppen sind sehr nah an den Inhaftierten. Ist zuviel Nähe vorhanden, leidet natürlich die Distanz darunter. Ein Zuviel an Distanz zeigt sich bei Phänomenen, wie Gleichgültigkeit und Desinteresse gegenüber den Insassen. Selbstverständlich sind die Bediensteten im AVD dabei besonderen Herausforderungen ausgesetzt und angesichts der Sicherheitsrisiken müssen sie sehen, dass ihre Steuerungsfähigkeit nicht verloren geht. Auf gut deutsch: Sich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen, damit der Vollzugsalltag reibungslos abläuft.

Nähe wird immer mit Argwohn betrachtet. Wie aber steht es mit dem Bediensteten, der mit den Inhaftierten Tischtennis spielt? Wir meinen ein Paradebeispiel für ein gelungenes Miteinander. Andere mögen das vielleicht differenzierter sehen. Gerade im Vollzug ist es schwierig, die Balance zwischen Nähe und Distanz zu finden. Eines der Werkzeuge hierbei sind: Vertrauen. Das führt natürlich unweigerlich zu der These: Kann man einen straffälligen Menschen überhaupt vertrauen? Ein Grundmisstrauen gegenüber Gefangenen erschwert aber die Entwicklung notwendiger und angemessener Nähe. Mitunter bedarf es auch einer gestandenen Persönlichkeit und eines gewissen Mutes des Beamten, sich auf den Inhaftierten einzulassen. Leichter zu handhaben ist dagegen einen aggressiven Insassen mit Verweigerungspotenzial "zu bändigen". Die naheliegende Lösung wird in "Einschluss bis Klärung" münden und gut ist. Sicherlich haben auch einige Bedienstete schlechte Erfahrungen gemacht und aufgrund dessen verhalten sie sich sehr zugeknöpft und ausweichend.

Schwierige soziale Situationen, die konfliktbehaftet sind (z.B. Tod eines Angehörigen) erfordern aber eine ganz andere Art der Zuwendung beim Gefangenen. Häufig wird Nähe als Gutmütigkeit oder persönliche Schwäche des Bediensteten ausgelegt, die im Einzelfall oftmals nicht begründet ist. Auf der anderen Seite entstehen bei den stark reglementierten Abläufen in einer Anstalt, auch Verstöße gegen die Hausordnung, die dann wiederum konsequent mit Disziplinarmaßnahmen verfolgt werden. Folglich ergeben sich Fehler aufgrund von individuellen Versagens bei den Beamten, die versuchen keine "beweisbaren Fehler" zu machen, damit die nächste Beförderung nicht in Gefahr gerät. Hieraus könnte der Insasse jetzt ableiten, dass sich die Beamten permanent auf dünnem Eis bewegen und sich gar nichts mehr trauen.

Jede Kleinigkeit wird zu einem vollzuglichen Wagnis. Alles scheint durchgetaktet und vorausschaubar. Jetzt greift wieder der alte Knacki-Satz:

"Ich bin ja nur eine Buch-Nr. mehr nicht".

Sicherheit ist zu einem zentralen Tagesordnungspunkt von Politik und Alltag geworden. Mit dem Argument "Sicherheit" kann heute scheinbar alles legitimiert werden, egal wie absurd die Dinge auch sein mögen. So wird bei Durchsagen in Zügen das Rauchverbot manchmal mit "Sicherheit" begründet, ganz so, als seien früher Waggons reihenweise in Flammen aufgegangen, weil geraucht wurde. Sicherheit erscheint alternativlos und niemand kann für Unsicherheit sein. In einem Gefängnis hat die ganze Sache noch einen speziellen Charakter, denn die Verantwortlichen haben jederzeit die Sicherheitsaspekte im Blickwinkel und handeln dementsprechend.

Zurück zum Schwerpunktthema "Nähe und Distanz" und welche Auswirkungen sie auf den jeweiligen Inhaftierten und letztlich auf seine Behandlung im Vollzug haben. Experten meinen hierzu, dass die helfende Arbeit mit Menschen ohne Beziehungswagnis, keine positive Verhaltensänderung ermöglicht. Die gegenseitige Beziehungsgestaltung hält bei den verdichteten Lebensverhältnissen im Knast auch Risiken parat.

Für diese Risiken (Manipulations- Erpressungsversuche, Bedrohungen und auch Gewaltausübung) und Beziehungswagnisse gibt es keine Alternativen und keine Rezepte. Insofern ist der entsprechende Umgang mit Unsicherheiten, Ängsten und Zweifeln in der Beziehungsgestaltung nicht als Ausnahme, sondern als charakteristisch anzusehen. Die gegenseitige Kultur der Wertschätzung bei der notwendigen Kontaktaufnahme zum Inhaftierten erfordert eine gute Ausgewogenheit, die die Bediensteten sich mit vielen Dienstjahren erwerben. Man könnte sich aber auch gegenseitig kollegial auf Missstände aufmerksam machen, und eigenes Fehlverhalten ohne Scheu offen ansprechen, damit eine sogenannte Risikoanalyse zur Prävention umzusetzen ist. In allen Fällen ist es wichtig, eine Regelmäßigkeit festzulegen, weil sich kein nachlässiger Umgang mit diesem Thema einschleichen soll.

Wir gehen davon aus, dass die Anwärter*innen schon früh in ihrer Ausbildung mit dem Thema "Nähe und Distanz" sensibilisiert werden, ihre eigenen Erfahrungen machen, um die Bedeutung der eigenen Verhaltensweisen zu stärken. Unsere weitreichenden Befürchtungen (gespeist aus vielen Gesprächen) müssen wir an dieser Stelle nicht ausführen, aber die "Metamorphose zum Robocop" ist latent vorhanden. So können langjährig Inhaftierte ein Lied davon singen, wenn einstmals hoffnungsvolle und ausgeglichene Bedienstete sich von Kollegen vereinnahmen lassen und dann einen "stringenten Kurs" fahren.

Der Teamzusammenhalt wird sicherlich nicht bröckeln, wenn ein angemessener und freundlicher Ton an den Tag gelegt wird. Teilweise besteht das Gefühl, dass ein gewisser Verhaltenskodex vom Vorgesetzten erwartet wird. Das ist schade, denn es drückt auf die Stimmung, wenn die Wahrnehmungen und Vorstellungen vom Vollzugsalltag, so unterschiedlich sind. Dabei sind die Parameter für ein gedeihliches Klima sehr überschaubar und begreiflich. Unwiderlegbar ist hierbei ein gutes Gespür für die richtigen Worte - gilt für Bedienstete und Inhaftierte - dennoch sollte aber auch bedacht werden, dass nicht jeder Inhaftierte ein hohes Maß an Vertrauen hat. Motto:

Wem erzähle ich was und wie kommt es an.

In einer geschlossenen Einheit wie dem Gefängnis besteht die Gefahr, dass sich Grenzen verschieben oder sich die Distanz auflöst. Wenn von einer Auflösung der Distanz gesprochen wird, denkt man sofort an herausragende Fälle, wie z.B. organisierter Handyschmuggel oder andere Gefälligkeiten (z.B. sexuelle Verhältnisse). Wie viel Nähe ist notwendig, um einen begegnungsorientierten Vollzug zu realisieren und andererseits wie viel Distanz ist erforderlich, um sicherheitsrelevante Maßnahmen durchzuführen und nicht angreifbar zu sein und den Respekt der Gefangenen nicht zu verlieren.

Es gibt genügend Beispiele in anderen Berufen, wo bewusst eine Nähe aufgebaut wird. Erzieher/Kinder, Lehrer/Schüler, Therapeut/Klient, Journalist/Politiker sind nur ein paar Verhältnisse, aber der Vollzug ist ein besonders schwieriges Arbeitsumfeld für die Alltagskommunikation und zur Vermeidung von Missverständnissen. Eben noch ein "hübscher Plausch" in der Stationsküche und am nächsten Tag die Kontrollfunktion mit der Haftraumdurchsuchung. Das ist normaler Haftalltag, so wie wir ihn kennen.

Bei Beziehungen in Zwangsbedingungen sind die persönlichen Spielräume sehr eingeschränkt, denn es ist ein großer Unterschied zwischen einer vertrauten Person aus dem persönlichen Umfeld oder dem professionellen Interaktionspartner im Vollzug. Es ist schwierig in dieser vollzuglichen Situation einen Gesprächspartner zu finden, der keine Erwartungen an einen heranträgt. Dem Inhaftierten wurde der komplette Alltag, fast der gesamte Besitz und viele Beziehungen für Jahre entzogen. Faktisch ist häufig vieles davon für immer verloren. Damit muss er erstmal klar kommen. Aber für die Chance auf einen Neubeginn nach Verbüßung der Strafe sind das keine guten Voraussetzungen.

Fazit: Eine Definition von "Nähe und Distanz" kann es nicht geben, denn als Mensch, der mit Menschen arbeitet, wird man niemals auf dieselbe Situation treffen und immer vor neuen Anforderungen stehen. Eine zu große Nähe baut sich meistens schleichend auf und trübt den Blick für das Wesentliche. Professionalität bedeutet zwingend ein ausgewogenes Nähe-Distanz-Verhältnis zu allen Inhaftierten, damit die Vorbildfunktion erhalten bleibt.

Der Vollzug als Raum, in dem Leben stattfindet, kann schon mächtig dunkel sein. Trotzdem muss ich keine Nahtoderfahrung gemacht haben, um mich halbwegs trittsicher in der Welt zu bewegen. Konstruktive Diskussionen zwischen Bediensteten und Inhaftierten sollten immer im Vordergrund stehen, damit das Klima nicht frostig wird. Jeder kann dazu beitragen, denn es ist unser beidseitiger, temporärer Lebensraum.

N. K.

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Quelle:
der lichtblick, 50. Jahrgang, Heft Nr. 377 - 4/2018, Seite 42-43
Unzensierte Gefangenenzeitung der JVA Berlin-Tegel
Herausgeber: Redaktionsgemeinschaft der lichtblick
(Insassen der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. April 2019

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