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LICHTBLICK/224: Ist die Gerechtigkeit eine Frage der Geografie geworden?


der lichtblick - Gefangenenzeitung der JVA Berlin-Tegel
Heft Nr. 373 - 4/2017

Ist die Gerechtigkeit eine Frage der Geografie geworden?

Ist der Vollzug in Berlin besser oder schlechter als in anderen Bundesländern?


Wie mit Häftlingen umgegangen wird, hängt von deren Wohnort ab, denn die Verantwortung für den Strafvollzug liegt bei den Ländern. Haft ist nicht gleich Haft in Deutschland. Die Haftbedingungen sind je nach Bundesland sehr verschieden. Jedes Bundesland hat sein eigenes Strafvollzugsgesetz. Nur ein kleines Beispiel dazu. In Bayern und Baden-Württemberg hat der Gefangene nur Anspruch auf eine Stunde Besuch im Monat, in den anderen wie Brandenburg bis zu 4 Stunden. In Berlin sind es 2 Stunden. Zusätzlich besteht in Berlin die Möglichkeit für einen Langzeitbesuch.

In Ausnahmefällen kann man auch beim Pfarrer eine Sprechstunde bekommen. In einem Bundesland wird der offene Vollzug - also derjenige, bei dem die Gefangenen tagsüber zum Arbeiten nach draußen dürfen gefördert, in anderen ist er verpönt. In einem Bundesland gibt es viel Hafturlaub, im anderen sehr wenig. In Berlin ist nun der Regelvollzug nach dem neuen Gesetz dem geschlossenen Vollzug gleichgestellt. Ein Strafverteidiger, der Mandanten in der ganzen Bundesrepublik einsitzen hat, braucht heute einen ganzen Schrank für Landesstrafvollzugsgesetze.

Der Wohnsitz eines Verurteilten entscheidet darüber, in welchem Bundesland der Inhaftierte einsitzen muss. Straftäter sollten also ihren Wohnsitz sorgfältig wählen. Das ist ausschlaggebend dafür, wie in der Haft mit ihnen umgegangen wird - ob die Resozialisierung oberstes Vollzugsziel ist oder die Sicherheit der Allgemeinheit. Wie kam es zu dieser "neuen Unübersichtlichkeit", die nach Meinung von Johannes Feest, emeritierter Strafrechtsprofessor, eine Landplage ist? Als vor elf Jahren in Deutschland der Föderalismus eingeführt wurde und die Kompetenzen von Bund und Ländern im Grundgesetz hin- und hergeschoben wurden, passierte etwas, was einem heute niemand erklären kann.

Die Zuständigkeit für den Strafvollzug wurde mit Wirkung vom 1. Sep. 2006 dem Bund weggenommen und den Ländern übertragen. Eine offizielle Begründung dafür gab es nie. Inoffiziell hört man: Da können die Parteien ihre sicherheitspolitischen Vorstellungen besser durchsetzen; und sparen können sie außerdem auch. Das erste haben sie erreicht, das Zweite nicht ganz so heftig, wie vor elf Jahren befürchtet. Der damals von den Kriminologen und Strafrechtlern vorhergesagte "Wettlauf der Schäbigkeit" ist nicht eingetreten. Aber die Tendenzen, die es bei der Auslegung des alten Bundesrechts gab, haben sich nun mit der Geltung der Landesgesetze verschärft.

Der Vollzug, so lautete die gesetzliche Forderung in ganz Deutschland bis 2006, ist vor allem "danach auszurichten, dass er den Gefangenen hilft, sich dem Leben in Freiheit einzugliedern". Auffallend war aber schon vor der Föderalismusreform, dass das Echo auf diese Sätze im Süden ganz anders war als im Norden. Der Strafvollzug im Süden war weniger resozialisierungsbedingt, sondern stärker an Sicherheit und Abschreckung orientiert; Alle neuen Gesetze haben den Empfang von Paketen stark eingeschränkt, Lebensmittel dürfen gar nicht mehr ins Gefängnis geschickt werden; die Kontrolle sei zu aufwendig. Der Kriminologe Christoph Thiele in Greifswald kritisiert das: So ein selbst gepacktes Paket eines Familienangehörigen habe emotionalen Wert "als Zeichen der Verbundenheit", es lasse sich also nicht einfach durch einen Einkauf ersetzen. Nachdem alle 16 Bundesländer ein eigenes Landesstrafvollzugsgesetz in Kraft gesetzt haben, findet das Strafvollzugsgesetz des Bundes von 1976 noch Anwendung in Belangen, die in den Landesgesetzen nicht oder unzureichend geregelt sind.

Das alte StVollzG ist war in seinen grundsätzlichen Festlegungen liberaler als die meisten heutigen Landesgesetze. Der Bundesjustizminister war damals Hans-Jochen Vogel (SPD). Sein Gesetz stammt aus einer Zeit, in der der Strafvollzug ein großes gesellschaftliches Thema war. Der Geist der 68er rüttelte an den Gittern, oft wurde von den "Unterprivilegierten" gesprochen und über die fehlende Kommunikation "von draußen nach drinnen". Bundespräsident Gustav Heinemann sprach vom Staatsbürger hinter Gittern". Ein neues Bild vom Gefangenen entstand: Künftig ein Leben, ohne Straftaten zu führen, so dachten die Reformer vor vierzig Jahren, das lernt einer nicht als entmündigter Häftling - sondern durch Ausbildung, Umschulung, Therapie; Ausgang und Urlaub könnten helfen.

Über die Reform legte sich bald die Bekämpfung des RAF-Terrorismus: Seit Ende der Siebziger wurden Geld und politische Ideen primär für mehr Sicherheit ausgegeben. Reform, das hieß jetzt Verschärfung der Haftbedingungen. Viele neue Landesgesetze folgen nun auch explizit einem neuen konservativen Trend und gewichten die Vollzugsziele neu: Der Schutz der Allgemeinheit wird stärker in den Vordergrund gerückt als bisher. Die gesetzgeberische Grundentscheidung für Resozialisierung hat sehr konkrete Auswirkungen, wenn es um Vollzugslockerungen geht, um die Möglichkeit des offenen Vollzugs oder um Entlassungsvorbereitung. In Bayern, dem Land also, wo die Sicherheit besonders groß geschrieben wird, legt der Anteil der Gefangenen, die tagsüber außerhalb der Haftanstalt arbeiten dürfen, bei nur sieben Prozent, im Bundesdurchschnitt liegt er bei 15 Prozent, in einigen Bundesländern bei gut zwanzig.

Dieser offene Vollzug gilt als sehr resozialisierungsfreundlich, weil er den Gefangenen die Nähe zum Leben in Freiheit ermöglicht; die Rückfallquote von entlassenen Gefangenen, die im offenen Vollzug waren, ist deutlich geringer als die Quote im geschlossenen Vollzug. Weniger als ein Prozent der Inhaftierten missbraucht die Lockerungen.

In den einen Bundesländern gibt es viele Vollzugslockerungen; in den anderen sehr wenig. In einigen Ländern gibt es gravierende Einschränkungen beim Hafturlaub, in den anderen Ländern nicht. In einigen Ländern stehen der offene und der geschlossene Vollzug gleichrangig nebeneinander; in den anderen gibt es klare Prioritäten. Selbst im Bundesland Berlin gibt es unterschiedliche Haftbedingungen. Ist die JVA Heidering ein Neubau mit Zellentelefonie so ist die JVA Tegel mit seinem Haus 2 über 100 Jahre alt. Hier gibt es keine Zellentelefonie.

Selbst die Einschlusszeiten sind in den Häusern der JVA Tegel unterschiedlich. Im offenen Vollzug in Berlin sind laut Belegungsstatistik vom 25.10.2017 nur zu 70% belegt. Die JVA Moabit platzt aus allen Nähten. Bei 917 Haftplätzen ist sie mit 943 überbelegt. Die JVA Heidering ist zu 98 % belegt. Die "Wohnklosiedlung" in Tegel stößt mit 938 Gefangenen an die Grenzen ihrer Kapazitäten. Die JVA Plötzensee ist zu 100 % ausgelastet. In den Frauenanstalten sieht es ähnlich aus. Es wäre also möglich wesentlich mehr Inhaftierte in den offenen Vollzug zu verlegen. Die Frage lautet: Ist das gerecht? Kann man es als rationalen Strafvollzug bezeichnen, wenn der Vollzug parteibuchabhängig ist. Solange für den Strafvollzug ein Bundesgesetz galt, wurde über Reformen bundesweit diskutiert. Resozialisierung war ein Wort, mit dem die Öffentlichkeit etwas anfangen konnte. Über die Details wurde viel gestritten, oft in ganzseitigen Artikeln in den Feuilletons. Das ist nun Vergangenheit.

Der Strafvollzug in Deutschland ist zerbröselt und die Debatten über seine Reform sind es auch.

J. R.

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Quelle:
der lichtblick, 49. Jahrgang, Heft Nr. 373 - 4/2017, Seite 16-17
Unzensierte Gefangenenzeitung der JVA Berlin-Tegel
Herausgeber: Redaktionsgemeinschaft der lichtblick
(Insassen der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Februar 2018

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