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LICHTBLICK/213: Psychologische Begutachtung, Therapeutische Maßnahme, Straftatauseinandersetzung...


der lichtblick - Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Heft Nr. 367 - 2/2016

Psychologische Begutachtung, Therapeutische Maßnahme, Straftatauseinandersetzung...


Im Strafvollzug sind das Schlagwörter, die Schauer über den Rücken vieler Inhaftierter jagen. Sie entscheiden über Strafe, Haftzeit, weiteres Leben. Für jede Kategorie Gefangener gibt es hier verschiedene Vorgehensweisen. Was aber tut die Psychologie in der Justiz? Sollten Verbrecher nicht eher dankbar für diese Chance sein? Was bringt die Psychologie dem Gefangenen, was der Strafanstalt, der Polizei oder den Gerichten?


Psychologie fängt wo an?

Eine Straftat geschieht. Jemand wird von der Polizei festgenommen. Er sitzt vor Gericht, wird verurteilt und dann verschwindet er im Gefängnis. Die Polizei und der Richter haben hart durchgegriffen, die Gesellschaft vor der Gefahr beschützt und Rache geübt.

Davor, dazwischen und danach geschieht jedoch sehr viel, was die ganze Geschichte eigentlich ausmacht, das was an der Oberfläche auftaucht, ist nur von formeller Bedeutung. Überall dort, in der Tiefe, hat sich die forensische/ klinische/kriminologische Psychologie etabliert.

Schon wenn der Polizist vor dem kürzlich Gefangenen sitzt und Fragen stellt, üblicherweise bevor ein Strafverteidiger eintrifft oder der Gefangene die Möglichkeit hat sich zu sammeln, nimmt die Kriminalpsychologie ihren ersten Einfluss. Es wird vom geschulten Vernehmungsbeamten versucht Nutzen aus der unter Umständen vorliegenden psychischen Ausnahmesituation des Gefangenen zu ziehen und wahlweise eine Möglichkeit der seelischen Entlastung oder weiteren Abwehrdruck des unter Stress stehenden zu kreieren, eine Aussageatmosphäre zu erzeugen.

Es ist unter allen Umständen davon abzuraten sich hier zu äußern, unabhängig davon wie wenig schuldig sich der Verhaftete fühlt oder welche Aussagepunkte er zu seiner Entlastung vortragen möchte, dies ist nicht der rechte Zeitpunkt. Der Vernehmende wird mit hoher Wahrscheinlichkeit, auch entgegen des Anscheins, das Ziel verfolgen den Haftbefehl aufrecht zu erhalten und dem Verhörten möglichst zahlreiche Zweideutigkeiten zu entlocken, die von dem/der ebenfalls geschulten Protokollanten/ in auf möglichst verfängliche Art und Weise schriftlich niedergelegt werden. Hier wird oft schon in der Perspektive auf ein folgendes Strafverfahren und im Zuge des Ermittelns großzügig "gesammelt". Um sich zu entlasten, sei ein späterer Zeitpunkt, nach Rücksprache mit einem vertrauenswürdigen Strafverteidiger empfohlen. Unschuldige oder Geständige sind einfach nicht das Kerngeschäft eines Vernehmungsbeamten oder eines Haftrichters.

Diese Art der Psychologie ist jedoch nicht das hauptsächliche Thema dieses Artikels. Es soll nur verdeutlichen: Sobald man mit den Behörden der Strafverfolgung in Kontakt kommt, hat man es mit Psychologie zu tun und wird sie ab diesem Zeitpunkt nicht mehr los. Sie ist ein übergeordnet wichtiges Instrument der amtlichen Seite und wird ab der Inhaftierung eines Menschen für nahezu jeden weiteren Vorgang Verwendung finden.


Psychologie im Kommen

Die Funktion der forensischen Psychologie in der Justiz soll vor allem eine wissensbasierte Vorgehensweise beinhalten. Man holt sich hier eine wissenschaftliche Beurteilung ein, um einen Sachverhalt nicht rein subjektiv, also aus eigenen Ansichten heraus, beurteilen zu müssen. Das Paradigma ist also, dass es sich bei der klinischen Psychologie und ihren Methoden um eine Wissenschaft handelt und diese den persönlichen Eindrücken einer Einzelperson oder eines Apparates ebenbürtig oder gar vorzuziehen sind.

Der Gedanke ist nachvollziehbar und hat sich pauschal ab den siebziger Jahren in Deutschland im Zuge des Bestrebens einen sachlicheren und wissensbasierten, modernen Justizapparat zu erreichen manifestiert. Die Gesetzgebung der damaligen Zeit scheute teilweise nicht vor anspruchsvollen Reformen zurück, nachdem in den Nachkriegsjahren der Nachhall eines ehemaligen Unrechtsstaates auf justizialer Ebene noch deutlich vernehmbar war. Die Aufarbeitung eben dieser Zeit fand auf der Justizbühne statt und wurde stark durch die Gesetzgebung der alliierten Besatzer geprägt. Gerade im Westen Deutschlands war der Einfluss der US-amerikanischen Gerichtsmethoden nicht gering, auch vor dem Hintergrund, dass die Einbestellung Sachverständiger vor Gericht in Deutschland, jenseits technischer Fragestellungen, keine allzu ausgeprägte Tradition hatte. Das Bild des knorrigen deutschen Richters, der in Personalunion Ankläger, Verteidiger und Sachverständiger war, ist nicht ganz unzutreffend und stellte die deutsche Gerichtsbarkeit noch bis weit in die Zeit der vorgenannten Reformen des Strafrechts vor Herausforderungen, während die sog. procedural justice (Gerechtigkeitsforschung) schon weit vorauseilte. Vor allem durch US-amerikanische Forscher wurden die Konzepte der "procedural fairness" in den siebziger Jahren vorangetrieben und in die deutschen Rechtswissenschaften importiert.

Über die Rechtswissenschaften fand die Objektivierung der Gerichte durch psychologische Mitwirkung zunehmend Eingang in die deutsche Rechtsprechung. Generell wurde ab den Achzigern auf allen Feldern der Psychologie, von der Polizeipsychologie über die Gerichtspsychologie, bis hin zur Straftäterbehandlung, zunehmend intensiv geforscht, und die sich ergebenden Erkenntnisse in das System integriert. Dreißig Jahre später sind sie aus dem Legalsystem nicht mehr wegzudenken. Ein Verfahren wegen schwerer Gewaltverbrechen ist ohne eingehende psychologische Begutachtung gar nicht mehr haltbar. Wo in den 80ern noch ein paar Dutzend dieser Gutachten in Auftrag gegeben wurden, waren es allein im vergangenen Jahr hunderte.


Auch im Vollzug

Bekannterweise wurde 1977 ein reformiertes Bundesstrafvollzugsgesetz verabschiedet und zog mit seiner Schwerpunktverlagerung von Strafe hin zur Resozialisierung die Einrichtung diverser Behandlungsmaßnahmen nach sich, nicht zuletzt den konzeptionellen Ausbau von Sozialtherapeutischen Anstalten und Psychologischen Diensten innerhalb der Vollzugsanstalten. Man begann allerorten zu diagnostizieren, zu behandeln und zu prognostizieren. Ein Jahrzehnt später waren angestellte Psychologen im Strafvollzug eine Selbstverständlichkeit und man hatte die Nützlichkeit dieser Mitarbeiter und dessen was sich aus ihrem Einsatz ergab innerhalb der Gefängnismauern erkannt.

Ein Psychologe, der in einem Gefängnis mit einem Kriminellen arbeitet, der ihn behandelt , "resozialisiert" und seine Akte um so wichtige Schriftstücke wie Gefährlichkeitsprognosen ergänzt, ist für die Justiz eine eierlegende Wollmilchsau. Läuft es gut, kann man ihn und seinen Probanden als Vorzeigeobjekte für die eigenen gelungenen Bemühungen nutzen, wenn nicht, kann man über ihn einen Gefangenen in Grund und Boden schreiben, ohne jede weitere Rechtfertigung. Außer eventuell einer oft lapidaren Bescheidung durch die ebenfalls 1977 eigens zu diesem Zweck eingerichteten Strafvollstreckungskammern.

Nur logisch, dass eine Führungsperson in Anstalt oder Senat unter diesen Umständen am liebsten alle Gefangenen in der Obhut eines Behandlers wissen will. Und da es utopisch ist davon auszugehen, man könne hierzu Armeen von diplomierten Psychologen heranziehen (Anekdote: in Deutschland wurde der erste Diplomstudiengang für Psychologen erst 1941 unter dem NS-Regime eingerichtet), ist es auch folgerichtig, dass bald auch alle in Hafthäusern tätigen Sozialarbeiter dazu angehalten wurden nach der erfolgreichen Methode vorzugehen. Die psychologische Geschwulst des Strafvollzuges, die Straftataufarbeitung unter Anleitung eines Sozialarbeiters war geboren.

Diese ist in gängiger Praxis gut genug, um alle geringeren Delikte und kürzere Zeitstrafen bis hin zu teilvollstreckten Langstrafen insofern abzudecken, als dass ein solcher, mittlerweile zum Gruppenleiter umbenannter Sozialarbeiter dem betreffenden Inhaftierten einfach eine mangelnde Auseinandersetzung mit der Straftat vorwerfen kann, um jede weiterführende Maßnahme zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu unterlassen. So können in großem Maßstab bürokratisch und personell aufwändige Maßnahmen sowie risikobehaftete Entscheidungen anstaltsintern vermieden werden. Das, was sich einst als Behandlung durch einen Diplompsychologen innovativ hervortat und Gesellschaft und Delinquenten neue Möglichkeiten eröffnen sollte, hat sich dem nach unten hin angeglichen.

Daraus ist im neuen Jahrtausend längst eine verfestigte Kultur geworden, im Vollzug ist es einem Gruppenleiter mittlerweile möglich in solch komplexen Strukturen auf den Nebenmann zu zeigen, dass man wieder dort ankommt wo alles anfing. Alle Finger zeigen dann auf den Inhaftierten.

Den Anfang im vollzugsplanerischen Sinn bildet hier die Diagnostik. Auch hierfür wurde als Anpassung an die neue Methodik eine Instanz innerhalb des Vollzuges geschaffen - die Einweisungsabteilung. Noch mehr Psychologen oder psychologisch Geschulte, die noch mehr Schreibtische besetzen, an denen in Blitz-Fallanalysen eine erste und nicht selten taktgebende Richtung für den frisch Verurteilten erstellt wird. Die hier gegebenen Hinweise auf eine mögliche Behandlung zum Zwecke der Wiedereingliederung in die Gesellschaft, sind nur insoweit bindend, wie es der im folgenden zuständigen Behörde oder Anstalt zupass kommt. In der Praxis wird so aus diesem Einweisungsgutachten nur ein möglicher Eintrag in das Lastenheft des Inhaftierten. Eine Pflichtübung die zu absolvieren ist, will man nicht ein für alle mal auf dem Abstellgleis der Resozialisierung, in dem Verwahrvollzug landen.


Gutachterkultur

Nicht ohne Grund ist die Prognosegutachterei als unschönes Geschöpf von forensischen und klinischen Psychologen geschaffen worden. Sie soll teilweise den Strafvollstreckungskammern zuarbeiten und Entscheidungen objektivierbar machen. Oder auch dem Inhaftierten, der ja aus der Resozialisierungsklausel teilweise rechtliche Ansprüche auf einen angemessenen Fortschritt der ihm angedachten Maßnahmen ableitet, einfach für's Erste den Garaus machen.

Denkt man einen Moment darüber nach, ist dies oft die einzige sich ergebende Handlungsmöglichkeit für einen Prognosegutachter. Er kann nur zwei entscheidende Faktoren in seine persönlichen Überlegungen einbeziehen. Welches Risiko gehe ich mit der Befürwortung des Anliegens des Inhaftierten (Lockerung, Entlassung) ein? Was spricht dafür dieses Risiko einzugehen? Die erste Antwort ist: das Risiko einen Wiederholungstäter zu befreien, die zweite Antwort: nichts, außer die Vorgabe nicht alle der möglichen Kandidaten abzulehnen, da dies eine rechtliche Grundlage für Klagen gäbe.

Es wird also eher ein außerordentlich harmlos wirkender und stark bemaßnahmter Quotengefangener durchgewunken, nicht ohne ein gewisses Restrisiko zu attestieren und Gericht, Senat oder Anstalt somit wieder den schwarzen Peter zuzuschieben, falls doch etwas schiefgeht. In der derzeitigen Strafpsychologie ist sich demnach jeder selbst der Nächste, der Gefangene steht jedoch dabei sehr deutlich am Rand, mit einem exorbitanten psychologischen Malus, mit dem ihm gegenüber oft abstruse Einschätzungen und konstruierte Bedenken gerechtfertigt werden. Bei weitem nicht jeder Gefangene eignet sich als Vorzeigeobjekt, das wird vor allem dann klar, wenn Straftäter eine Strafe haben, die zur Entlassung oder deren Vorbereitung ein psychologisches Gutachten erfordert.

Nach dieser Bestandsaufnahme bleibt festzustellen, dass sich die Resozialisierung mittels der Psychologie offensichtlich zunehmend selbst abschafft. Dies ist auch dem kürzlich verabschiedeten Ländergesetz Berlins zu entnehmen. Darin wird der Offene als Regelvollzug abgeschafft, der Ausbau der Eingangsdiagnostik und die Ausweitung Therapeutischer Maßnahmen, insbesondere für Gewaltdelikte festgelegt sowie die Prognosegutachterei für jeden vollzugsplanerischen Fortschritt gesetzlich festgeschrieben. Ermessensspielräume haben scheinbar auf keiner Ebene bestand, man will viel eher ein wissensbasiert anmutendes Sicherungspaket festzurren, in dem keinem, außer dem Inhaftierten, noch etwas negativ ausgelegt werden kann.


Wie wird man den Psychoterror los?

Kurz gefasst: Als Inhaftierter gar nicht. Solange man sich im Strafsystem bewegt, wird man ständig weiter (pseudo)psychologisch bewertet, ob gewollt oder nicht. Auch ein Totalverweigerer befindet sich bis zum Hals in diesem System, es ist unerheblich, dass er nicht versucht Einfluss auf diese Vorgänge zu nehmen.

Und wo sich jeder selbst der Nächste ist und mit Scheinargumenten hantiert wird, wird der Inhaftierte nicht lange nachstehen. Anpassungsverhalten und eine Kultur der gegenseitigen Heuchelei ist der Preis. Wo eine solches Taktieren vorherrscht, ist weder der einen noch der anderen Seite zu trauen, da sich kaum einer aus Überzeugung auf so leicht durchschaubare Possenspiele einlässt. So sind tatsächlichen Fortschritten bei einer Straftatbearbeitung oder Behandlung von Strafgefangenen früh Grenzen gesetzt, da das Misstrauen tief verwurzelt und durchaus begründet ist.

Dies führt neben anderen Aspekten dazu, dass die forensische/intramurale Psychologie keinen ernstzunehmenden Stellenwert mehr in der wissenschaftlichen Forschung und Entwicklung innehat und dementsprechend häufig weniger spezialisierte und innovationsfreudige Kräfte die mäßig bezahlten und zweckmäßig zusammengestrichenen Stellen innerhalb des Strafvollzuges besetzen. Nur die Gutachter stellen Rechnungen aus, die sie ins Verhältnis zum Balanceakt stellen, den sie dort betreiben. Fürstlich.

Jedoch wird auch die Begutachtung eines Gefangenen unter diesen Vorzeichen weniger häufig befürwortend ausfallen. Die Befürchtung, einem jahrelang in Vorspiegelung geübten Gefangenen aufzusitzen, ist Systemimmanent.

Also, wie soll sich eine solche Kopfgeburt, ein solcher bürokratischer Selbstläufer wieder etwas Gehaltvollem nähern, wenn niemand willens oder in der Lage ist Entscheidungen zu tragen, die der Wirklichkeit gerecht werden und tatsächlich Chancen für Straftäter und Gesellschaft bieten? Es darf nicht nur von Risikofreudigkeit, Humanismus, Bürgerrecht und dergleichen gefaselt werden, wenn es darum geht Alternativen zur aktuellen Psychokratie im Justizsystem zu entwickeln. Vielmehr ist diese als Symptom des grundsätzlich rückständigen Strafvollzuges zu sehen und zu verstehen. Eine neue Sachlichkeit gehört an die Stelle überkommener Straf- und Behandlungskonzepte, die die allgemeine Sicherheit während der Inhaftierung für die allgemeine Sicherheit nach der Inhaftierung eintauschen.

Eine nach außen dargestellte Pose der Kontrolle muss überholt werden. Wenn man so will, muss unsere Gesellschaft ihren letzten Aberglauben aufgeben, nach dem das Gestörte der Menschheit eine exklusive Sache ist. Und dass es reicht, wenn man diesen Bereich Experten überlässt, die mit ihrer psychologischen Ausbildung eine esoterische Hellsichtigkeit zugesprochen bekommen und dennoch nur in einem derart entscheidungshemmenden Rahmen agieren können.    MS

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Quelle:
der lichtblick, 48. Jahrgang, Heft Nr. 367, 2/2016, Seite 12-15
Unzensiertes Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Herausgeber: Redaktionsgemeinschaft der lichtblick
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. August 2016

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