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LICHTBLICK/203: Offener Vollzug - Interview mit Oberstaatsanwalt Ralph Knispel


der lichtblick - Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Heft Nr. 355 - 2/2013

Interview mit Oberstaatsanwalt Ralph Knispel,
Vorsitzender der Vereinigung Berliner Staatsanwälte,
über Lockerungen, Vollzugskonzepte, den Offenen Vollzug und mehr.



Unheilschwangeres Tuten schallt mir aus dem Hörer entgegen - täusche ich mich, oder tutet es bei Polizei und Staatsanwalt anders: dumpfer, verhängnisvoll und finster? Es knackt zweimal in der Leitung (aha - Mithörer?), dann wird abgehoben: "Ralph Knispel" - meldet sich Oberstaatsanwalt Ralph Knispel, Mitarbeiter des Ermittlungsbeauftragten des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag, Vorsitzender der Vereinigung Berliner Staatsanwälte. Mit belegter Stimme stelle ich mich vor: "Knacki mein Name - Redaktionsmitglied der Gefangenenzeitung" und schildere unser Anliegen ... und das Anliegen wird im Laufe des Telefonates tatsächlich zu unserem gemeinsamen Anliegen: Freundlich nimmt Ralph Knispel unsere Intervieweinladung an und schon geraten wir ins Fachsimpeln über Vollzugslockerungen und Offenen Vollzug, das Thema, über das wir mit ihm sprechen wollen. Am anderen Ende der Leitung ist ein Staatsanwalt, der seine Aufgaben ernst nimmt und rechtstaatlich wahrnimmt: und für ihn gehört dazu erstens, Straftaten zu ermitteln und in Prozessen den Strafanspruch des Staates - getreu den Gesetzen - gewissenhaft zu vertreten, und zweitens, weil die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft eben nicht mit dem Urteil endet und er als Pfleger des Rechts größtes Interesse daran hat, dass der Strafvollzug sein Ziel erreicht!

Der telefonisch gewonnene Eindruck bestätigt sich mit einem netten Abend, einer Begegnung auf Augenhöhe, einem Habermas'schen Diskurs, einem herzlichen Kontakt. Und der Freistoß von Ronny war genial!

Häh? Und hat er uns eingewickelt? Kennen wir alle Staatsanwälte nicht eher als harter Hund, die verbissen für Knast, Knast und noch mehr Knast plädieren? Ja - aber kennen Staatsanwälte uns nicht auch alle als Gesetzesbrecher, die anderen weh getan haben, die sich Fremdes aneigneten und sich dann beklagen, dass sie erwischt wurden. Ja. Und genau diese stereotypen Vorurteile haben wir an unserem Abend durchbrechen können, beziehungsweise relativieren können: denn Aufgabe der Staatsanwälte ist es, Ermittlung zu führen und gegebenenfalls Anklage zu erheben und demokratischen Gesetzen zur Geltung zu verhelfen - dafür sind sie eingesetzt und dafür werden sie bezahlt. Daraus sollten wir Staatsanwälten nicht nur keinen Vorwurf machen - sondern sind nicht auch wir froh, dass unsere Frauen und Kinder in Deutschland frei leben können, unser Eigentum sicher ist und Grundrechte uns schützen? Natürlich.

Vice versa aber: Straftäter sind nicht per se böse Menschen, die marodierend durch die Gassen ziehen - sondern allzu oft sind Straftäter Menschen und Mitbürger, die vielleicht nicht die besten Chancen im Leben hatten, die Schwächen und Fehler haben, die sie in die Kriminalität geführt haben, sie zumindest aber begünstigt haben.

Und im Wissen um genau diese Sachverhalte stellt Ralph Knispel als Vorsitzender der Vereinigung Berliner Staatsanwälte auf deren Webseite fest:


Gespräch mit Betroffenen

Am 11. Februar 2013 hatte der Vorsitzende Gelegenheit zu einem Gespräch mit dem Redaktionsteam der Gefangenenzeitung "DER LICHTBLICK", in dem offen und konstruktiv sowie in überaus freundlicher Atmosphäre das Thema "Offener Vollzug" im Besonderen, aber auch "Vollzug" im Allgemeinen diskutiert wurde.

In dem ausführlichen Gespräch wiesen die Redakteure mit beachtlich selbstkritischem Blick auf die aus ihrer Sicht bestehenden Missstände sowie drängenden Probleme im Vollzug hin. Da unsere Verantwortlichkeit nicht mit der Hauptverhandlung enden und erst mit der Reststrafenaussetzung oder -ablehnung wieder aufleben, sondern ein gleichermaßen sinnvoller wie möglichst erfolgreicher Vollzug auch uns interessieren sollte, haben wir verabredet, ihre Zeitung zu verlinken; auf der Homepage www.lichtblick-zeitung.de besteht deshalb die Möglichkeit, sich einen Überblick zu verschaffen und die Zeitung "DER LICHTBLICK" zu lesen.

Das geführte Interview soll in der nächsten Ausgabe erscheinen.

Hier ist es:

lichtblick: Herr Knispel! Immer wieder verbreiten die Medien - und nicht nur Revolverblätter, die in Angst-sells-Manier Auflage vor objektiver Information stellen - Schreckensszenarien über Gefangene, die "viel zu früh gelockert" wurden, beziehungsweise im Offenen Vollzug ihre Strafe verbüßen. Wir verstehen diese Panikmache nicht - wir haben ein Gesetz; und zu Recht verlangen auch Sie, dass wir uns an Gesetze halten sollen. Das Gesetz aber nun schreibt dem Vollzug ganz deutlich ins Lastenheft, uns zu lockern, unsere Strafe im Offenen Vollzug zu vollziehen, sofern nicht konkrete Missbrauchs- und Fluchtgründe dem entgegenstehen. Wieso also die populistische Aufregung?

Ralph Knispel: Wir sind nicht aufgeregt! Und ich will es ganz deutlich sagen: Der Offene Vollzug gehört zum Strafvollzug, er ist sinnvoll und wir sind Fürsprecher des Offenen Vollzuges und von Vollzugslockerungen.

lichtblick: Diese ganzen reißerischen Schlagzeilen sind also Kokolores ...

Ralph Knispel: Natürlich! Es ist im Interesse der Gesellschaft, dass geeignete Gefangene frühzeitig gelockert und im Offenen Vollzug untergebracht werden. Wir fordern jedoch, dass der Eignungsbegriff eingehend geprüft wird -

lichtblick: Herr Knispel - man kann auch totprüfen; so lange prüfen, bis sich ein Bedenkenträger findet, der irgendwelche Gefahren irgendwo verortet - und dann eben nicht gelockert wird. Genau das erleben wir im Geschlossenen Vollzug allzu häufig - einmal drinne, geht's oft erst am TE (der Endstrafe) mit einem blauen Müllsack wieder raus - oder gefesselt ausgeführt, zwei Wochen vor'm TE, zum Angucken und Anmelden bei der Obdachlosenunterkunft.

Ralph Knispel: Das darf nicht sein! Auch wenn es ein hehres Ziel ist, das sicher nicht immer zu erreichen ist: Straftäter sollen besser aus dem Knast kommen, als sie einfuhren. Nicht sein darf, dass verschlimmbessert wird. Und deshalb ist meines Erachtens eine ordentliche Entlassungsvorbereitung unabdingbar.

lichtblick: Das Vollzugsziel ist die Entlassung - also die Vorbereitung auf ein Leben in sozialer Verantwortung ohne Straftaten, und dazu gehört unseres Erachtens nicht nur eine Entlassungsvorbereitung! Die Entwürfe der Landestrafvollzugsgesetze sehen es vor: Behandlung vom ersten Tag an - und die Bezüge nach draußen sind zu erhalten! Den GAU nämlich hat der lichtblick-Redakteur Andreas Werner eindrucksvoll literarisch beschrieben (der lichtblick, Ausgabe 3|2010, S. 46ff.): "Zum Ende der Haftzeit, das ist der Zeitpunkt, an dem der eigene Wortschatz auf 500 Worte geschrumpft, die Ehe geschieden und der letzte Freund unbekannt verzogen ist, wenn das Jobcenter einem nur noch zwei Alternativen bieten kann, Parkplatzwächter oder Flaschensortierer, einige es hier nur noch mit Psychopharmaka ertragen und die einzige regelmäßige Korrespondenz nur noch mit Inkassofirmen besteht - genau dann (...)" lässt man dem in Kürze zu Entlassenden die ein oder andere Behandlungsmaßnahme beziehungsweise Lockerung zukommen.

Ralph Knispel: Auf Entscheidungen der Strafvollzugsbehörden und Justizvollzugsanstalten haben wir keinen Einfluss - ich aber verstehe das Gesetz so, dass, wenn keine konkreten Gefahren bestehen, der Inhaftierte Behandlungsmaßnahmen wie Lockerungen und eine Verlegung in den Offenen Vollzug zu erhalten hat! Hierauf hat er nicht nur einen Rechtsanspruch, sondern nur das macht Sinn, ist wissenschaftlichen Erkenntnissen geschuldet und sozial- und rechtsstaatlich geboten.

lichtblick: Wir loben immer wieder, dass in Berlin ein gutes Drittel der Inhaftierten im Offenen Vollzug untergebracht ist; andererseits ist es für Gefangene im Geschlossenen Vollzug schwer, Lockerungen zu erhalten - und die Misere der §-57-Entlassungen zeigt deutlich, dass im Berliner Vollzug einiges im Argen ist.

Ralph Knispel: Wir haben heute eine Vollstreckungshauptabteilung - d.h., dass meine Kollegen dort die Vollstreckungssachen bearbeiten und die Staatsanwälte, die mit dem Verurteilten im Rahmen des Prozesses befasst waren, seinen Werdegang im Vollzug leider nicht mehr begleiten und so beispielsweise positive Entwicklungen nicht registrieren können.

lichtblick: Leider ist das selbst im Vollzug so! In Berlins Gefängnissen ist ein Gruppenleiter für 30-50 Gefangenen zuständig - d.h.: maximal ein Gespräch pro Monat hat ein Gefangener mit seinem Sozialarbeiter; und diese Gespräche gelten als Königsweg der Behandlung, sind die Behandlung. Was sonst soll Behandlung sein: das Einsperren in der Zelle, wo dann die Erkenntnis und Läuterung den Gefangenen in den Kopf schießt?

Ralph Knispel: Tatsächlich sind diese Zahlen erschreckend! Für mich ist es einsichtig, dass nur Menschen behandeln können - die intrinsische Motivation ist sicher Voraussetzung für Behandlungserfolge - fordern & fördern -, aber der Vollzug muss sich bemühen, Gefangene zu bessern, das ist sein gesetzlicher Auftrag!

lichtblick: Genau deshalb fordern auch wir mehr Personal!

Ralph Knispel: Sicher führt der Strafvollzug in der öffentlichen Haushaltsdebatte ein stiefmütterliches Dasein - fehlt Geld für Kindergärten und Schulen, zeigen sich Politiker bei der Forderung nach mehr Geld für den Strafvollzug ungerne; anstatt den Bürgern zu vermitteln, dass dieses Geld das beste Investment in eine sichere Gesellschaft ist. Nur mit mehr Personal wird die Qualitätssteigerung möglich sein, die wir qua unserer Verfassung auch den Mitbürgern schulden, die inhaftiert sind.

lichtblick: Auch Ihre Behörde ist von Einsparmaßnahmen betroffen, oder?

Ralph Knispel: Leider richtig - auch bei uns sollen bis 2016 fast ein Drittel der Stellen abgebaut werden; dass das zu Lasten der Qualität gehen muss, ist einsichtig - denn es ist nicht abzusehen, dass wir weniger Arbeit bekommen.

lichtblick: Eine Tragödie!

Ralph Knispel: Ein Desaster.

lichtblick: Ja - denn zurückkommend auf den Strafvollzug ist es leider so, dass nach ihrer Verurteilung nicht wenige Straftäter beeindruckt sind, sich die Verurteilung zu Herzen nehmen - wirklich aufrichtig bereuen ... und dann aber in jahrelanger Strafhaft prisonisiert werden, also lebensuntüchtig, demotiviert, frustriert - und schlimmstenfalls noch krimineller. Helfen könnten Helfer - und natürlich behandlerische Interventionen wie Lockerungen. Bei denen übrigens nur sehr selten etwas schief geht - nur 0,1 % beträgt die Missbrauchsquote, und hierunter fallen auch Missbräuche wie Alkoholkonsum.

Ralph Knispel: Es geht uns nicht um die Quantität, sondern um die Qualität: Ohne hier auf Einzelfälle eingehen zu wollen - es kann nicht sein, dass zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilte Täter, die dem kriminellen Milieu nach wie vor verhaftet scheinen, aus der Untersuchungshaft in den Offenen Vollzug verlegt werden und dort zügig wieder straffällig werden.

lichtblick: Doch das kann sein - weil im Leben Risiken nicht auszuschließen sind. (Anmerkung: in unserem Interview scherzten wir an dieser Stelle darüber, dass uns morgen ein Meteorit auf den Kopf fallen könnte - und tatsächlich schlug eine Woche später ein solcher in Russland ein ...) - dem Leben sind Risiken immanent - sie alle ausschalten ist schlechthinnig unmöglich und schon der Versuch einer Minimierung hieße: Willkommen Diktatur!

Ralph Knispel: Nochmal - wir sind heilfroh, wenn wir verurteilte Straftäter nicht im Gericht wiedersehen - und dies wird dann (eher) gelingen, wenn der Strafvollzug gute Arbeit leistet und dazu gehört der Offene Vollzug. Aber die Eignung für diese Maßnahme muss sorgfältig geprüft werden. Und wenn ich tagtäglich mitbekomme, dass Verurteilte sich einen Wohnsitz in Berlin nehmen, weil sie dann ihren Strafantritt bei uns im Offenen Vollzug haben, muss die Justizbehörde diese Einweisungspraxis überprüfen!

lichtblick: Leider ist genau das das Ergebnis des Wettbewerbs der Schäbigkeit - die Föderalismusreform hat Deutschland regional sehr unterschiedlichen Strafvollzug beschert; wir können es unseren Mitgefangenen nicht verübeln, dass sie ihre Strafe im Offenen Vollzug verbüßen wollen. Auf der anderen Seite darf es tatsächlich nicht sein, dass Verurteilte aus anderen Bundesländern nach Berlin pendeln, die Plätze im Offenen Vollzug belegen und Berliner Knackis aus dem Geschlossenen Vollzug deshalb schwerer Lockerungen bekommen! Da sind wir ganz dicht beieinander: genau hingucken wünschen auch wir uns! Aber bei Eignung muss dann auch die Lockerungsmaßnahme vollzogen werden.

Ralph Knispel: Unbedingt. Im Strafverfahren gilt das Schuldprinzip, im Vollzug aber müssen Maßnahmen der positiven Spezialprävention angewendet werden: nicht Sühne und Vergeltung, sondern mittels behandlerischer Interventionen sollen Täter gebessert werden. Das ist der beste Dienst, den wir unserer Gesellschaft leisten können.


Und so war unser Gespräch mit Ralph Knispel wie das zu gleicher Zeit stattfindende Fußball-Lokalderby "Hertha : Union", die 2:2 spielten: es gab zwei Gewinner. Ralph Knispel bleibt uns in Erinnerung als erfahrener Staatsanwalt, der vor allen Dingen eines ist: Mensch und Mitbürger! Und wir bemühen uns, auch wieder gute Mitbürger zu werden und hoffen auf Hilfe, wenn wir es alleine (noch) nicht schaffen. Danke!

*

Quelle:
der lichtblick, 46. Jahrgang, Heft Nr. 355, 2/2013, Seite 10-12
Unzensiertes Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Herausgeber: Insassen der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juli 2013