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LICHTBLICK/195: Gesundheitsschädliche Folgen des Knasts und miserable Krankenfürsorge


der lichtblick - Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Heft Nr. 352 - 3/2012

Knast macht krank -

Gesundheitsschädliche Folgen des Knasts und miserable Krankenfürsorge im humanen Strafvollzug in Deutschland, oder wie aus einstigen Tätern Opfer werden.

Ein subjektiver Bericht von Dieter Wurm



Einleitung

Die Institution Gefängnis ist eine beabsichtigte Bestrafung und schlimme Übelzuführung, gewollt von unserer Gesellschaft, angeordnet von unseren Gerichten und vollzogen von Vater Staat.

Auch jede Straftat eines Täters ist eine bewusste und beabsichtigte Übelzuführung, sowohl an der gesamten Gesellschaft, als auch an jedem einzelnen Bürger, nur die wenigsten sind unzurechnungsfähig und unschuldig in Haft.

"Strafe muss sein", sprach schon mein Vater, wenn er auf mich eindrosch, denn er wollte mich zu einem anständigen Menschen erziehen. "Strafe muss schon sein", so auch die Meinung in unserer Gesellschaft und deshalb lässt sie auch Menschen in Gefängnissen wegsperren. Aus Kindern sollen in Zukunft schließlich anständige Erwachsene und aus verurteilten Straftätern vernünftige Menschen werden.

Eine Haftanstalt soll somit sowohl zur Besserung der Täter dienen, aber auch gleichzeitig die Bürger eines jeden Landes vor Straftätern schützen.

Das Problem dieser Art der Bestrafungen: Das Kind wurde für das ganze Leben geschädigt, der Knacki wird krank und an Körper und Geist geschädigt entlassen. Es stellt sich die Frage: Wer ist Täter und wer Opfer?! Die Gefangenenbehandlung in deutschen Justizvollzugsanstalten ist institutionalisiert und die Justizbehörde, und nicht beispielsweise ein Krankenhaus, bestimmt über das Wohl und Wehe der Gefangenen.

Am starren Beamtenwesen, an strikter Ordnung und an unzähligen sinnlosen Knastvorschriften soll das Böse in einem Menschen genesen - so die antiquierte Grundidee des Strafens.

Der Knast raubt dem Individuum seine soziale Funktion und Integrität, seine Menschenwürde und reduziert ihn fast auf ein Minimum an Selbstbestimmung, vergleichbar mit dem Niveau eines Kleinkindes. Alles wird kontrolliert, jede Bewegung gelenkt und zugelassen, jegliche soziale Interaktion genehmigt oder verboten. Der Mensch ist im Knast gefangen, er entscheidet nicht mehr über sich selbst, wann er schläft, an die Luft geht, Nahrung zu sich nimmt oder wo er sich aufhält. Das entscheiden andere.

Eine tief greifende, beabsichtigte und institutionelle Übelzuführung mit nur einem Ziel: Kriminelle Persönlichkeiten zu demontieren und im Sinne der Gesellschaft umzuformen, um schließlich einen neuen Menschen zu kreieren. Der folgsame Bürger soll entstehen. Fachleute nennen das die Resozialisierung, die Knackis schlichtweg Knast.

Dieses Erlebnis, die Erduldung der Bestrafung ist nicht nur krankmachend, sondern erlernt und fördert eine extreme Hilflosigkeit, die sich dann oft in Resignation und einer Gleichgültigkeit widerspiegelt. Unselbstständigkeit, Lethargie, Depressionen und Mutlosigkeit führen gerade unter Häftlingen unwiederbringlich in den Hospitalismus. Alltägliche Haftbelastungen wie Bewegungs- und Reizarmut, Unterforderung, Arbeitsausbeutung, Schmutz, Lärm, Depressionen, Passivität und Fremdbestimmung, gepaart mit Sexlosigkeit und dem Fehlen menschlicher Nähe, ergeben eine Art Flucht in die Psychosomatik eine Flut an ernsthaften Krankheiten. Der Gesetzgeber fordert eigentlich im Strafvollzugsgesetz das Gegenteil, im Paragrafen 3 heißt es wörtlich: ,,Den schädlichen Folgen des Strafvollzuges ist entgegen zu wirken." Wenn der Knast krankmacht, sollte man nach dem 'Warum' fragen und schauen, was man dagegen machen kann?


Die Realität unserer Knastwelt

Die Untersuchungshaft und der Strafvollzug bilden eine ganz besondere Form der 'Knastmedizin'. Als Inhaftierter kann man schnell den Eindruck gewinnen, als habe der Strafcharakter und die daraus resultierende Sicherheit und Ordnung in der Strafvollstreckung einen Vorrang vor Krankenpflege, Fürsorge und Behandlung.

Als häufigste Krankheit im Strafvollzug werden verschiedene Substanzmittelabhängigkeiten wie Alkohol, Nikotin, Benzodiazepine, Heroin, Kokain, Cannabis benannt; hinzu kommen Infektionskrankheiten wie Hepatitis und HIV, Geschlechtskrankheiten, grippale Infektionen, Allergien und Pilzbefall; dazu Herz- und Kreislauferkrankungen, gefolgt von Persönlichkeitsstörungen, Hauterkrankungen, Übergewicht sowie allerlei psychosomatische Beschwerden.

Nebenher erzeugt der Knast nicht selten Selbstmorde, deren Versuche und Selbstbeschädigungen. Gerade um diese zu verhindern, reagiert der Justizvollzug oft nur mit Beruhigungstabletten oder, besonders rustikal, durch Absonderungsmaßnahmen in Beobachtungszellen mit Kameras. Eine ärztliche Behandlung oder intensivere Betreuung durch Psychologen fehlt. Hier rettet manchmal nur die Verlegung in die APP das Leben. Der Anstaltsarzt ist nicht nur der 'Medizinmann', sondern auch die Autorität, die Haft- und Bunkerfähigkeit bescheinigt und gegebenenfalls auch Zwangsmaßnahmen anordnet, oder zumindest legitimiert.


Gesundheitsversorgung am Beispiel Berlin

Die Krankenbehandlung hier im Berliner Strafvollzug findet in der Regel in den Arztgeschäftsstellen der einzelnen Teilanstalten der Knäste statt. Mindestens einmal in der Woche halten die Anstaltsärzte eine Sprechstunde ab und entscheiden ggf. über Kostformen, Medikation oder die Überweisung an andere Fachärzte (Zahn-, Augen-, Hautarzt, dazu Psychiater, Psycho- und Physiotherapeuten sowie Therapeuten für Herzkranke). Der Krankenpflegedienst erscheint in der Regel mehrmals pro Tag, für wenige Minuten morgens und dann wieder nachmittags, meist nach dem Arbeitereinrücken, um die aktuelle Medikamentenbehandlung oder Anordnungen des Arztes zu erfüllen. Nebenbei werden noch Urinkontrollen überwacht und durchgeführt, um den Drogenmissbrauch einzugrenzen. Dazu erfüllt der Sanitätsdienst die Aufgabe, Erstrettungsmaßnahmen bei Unfällen, Herzinfarkten oder anderen akuten Notfällen durchzuführen. In der JVA Tegel sind zudem Behandlungsräume zur Physiotherapie mit den entsprechenden Fachdiensten zur Behandlung und Massagen zu finden. Jeder arbeitende Gefangene wird in der Regel einmal im Jahr beim Betriebsarzt vorgeführt, der seine allgemeine Arbeitsfähigkeit festzustellen hat und der Arbeitsverwaltung danach Bericht zu erstatten hat. Hierbei werden die gesetzlichen Vorgaben aus dem StVollzG erfüllt, demnach dem Gefangenen nur Arbeit zugewiesen werden darf, wenn diese seinen gesundheitlichen Fähigkeiten entspricht.

Das Land Berlin, wie auch alle anderen Bundesländer, verfügen über ein Justizvollzugskrankenhaus (JVKB). In dem neu erbauten Krankenhaus können, bis auf große Operationen, alle medizinischen Erfordernisse erbracht werden. Dieses Krankenhaus verfügt über 116 Betten für die Innere- und chirurgische Versorgung. Das Krankenhaus verfügt über eine Abteilung zur Behandlung von Geisteserkrankungen (APP), hier finden stationäre, psychiatrisch-therapeutische Behandlungen statt. Zur ambulanten Behandlung von Geisteserkrankungen werden wöchentlich oder alle zwei Wochen die Gefangenen in Berlin innerhalb der Haftanstalten aufgesucht.

Viele Notwendigkeiten des Gesundheitsschutzes werden im Strafvollzug unter immensen Kosten für den Steuerzahler, nach Ansicht der Verantwortlichen, allumfassend erfüllt. Selbst notwendige Operationen, die der Mensch draußen verschleppt hat, können und müssen im Strafvollzug durchgeführt werden, wenn ein Bedarf nachgewiesen wird. Positiv zu erwähnen ist hier die allumfassende Versorgung mit Medikamenten, die kostenlos an Gefangene ausgegeben werden, natürlich immer aus dem Aspekt der Wirtschaftlichkeit.


Kritische Haltung der Gefangenen zum Thema Gesundheitsversorgung und Hygiene

Viele Insassen sind der Meinung, dass eine freie Arztwahl auch im Strafvollzug gewährleistet sein sollte. Insbesondere wird auch beklagt, dass den Gefangenen der Zugang zum Kauf freier Medikamente verwehrt wird.

Außerdem wird häufig behauptet, Anstaltsärzte sehen im Knast nicht den kranken Patienten, sondern immer nur den Straftäter, denn der menschliche Umgang lässt oftmals zu wünschen übrig.

Auch die langen Wartezeiten zwecks eines Arztbesuches nach Antragstellung und das noch längere Warten auf Zahnarzttermine und den Zahnersatz halten die Betroffenen für beschämend.

Auf die immer wieder im Vollzug auftretenden Grippe- und Erkältungswellen wird oftmals hingewiesen, Schutzimpfungen werden kaum angeboten und nur die günstigsten Medikamente werden verteilt. Bis der Arzt auftaucht, bekommt der Knacki keine Hilfe außer Pillen und Salben und das nur in halbtags Rationen.

Die Gefangenen liegen oft mit schweren Erkältungen in ihren Zellen und niemand kümmert sich wirklich um sie, selbst bei Fieberschüben.

Auch das großzügige Verteilen von Kondomen wurde aus Kostengründen abgeschafft, jetzt muss der Gefangene erst sich als Homosexueller outen und persönlich beim Arzt erscheinen, um an Präservative ranzukommen.

Eine Ausgabe von Desinfektionsmittel für einen sterilen Drogenkonsum oder die Verteilung von Spritzbesteck wurde nach einer Testphase wieder abgeschafft. Reinigungsmittel werden nur, wenn überhaupt, knapp verteilt und somit herrscht in den meisten Anstalten ein desolater Hygienezustand, Putzmittel sind nur noch auf persönliche Kosten über den Gefangeneneinkauf zu beziehen.

Die Gesundheitsförderung von Inhaftierten mit Migrationshintergrund, das sind immerhin bis zu 40 Prozent der Gefangenen, scheitert nicht selten an der Sprachbarriere oder an ethnokulturellen Hemmnissen, wie der Schamgrenze oder Religion. Bei einem relativ hohen Ausländeranteil sollten auch sprachkundige Sanis und Schwestern vor Ort sein, um diese Probleme zu erkennen.

Todkranke Häftlinge werden offensichtlich nur zum Sterben vorzeitig rausgelassen. Gerade unter Langstrafer schürt diese konkrete Beobachtung immer wieder Ängste und Vorurteile.

Stark kritisiert wird auch die Probeverköstigung der Haftnahrung durch die Anstaltsärzte in den Küchen: ob man wirklich das Essen als gesund, nahrhaft bezeichnen kann oder ob es zumindest es den gesundheitlichen Vorgaben entspricht, muss stark angezweifelt werden. Mit einem Tagessatz unter 3,- EUR Euro pro Insassen für drei Mahlzeiten ist das auch ein unmögliches Vorhaben. Die auftretenden Vitamin- und Mineralienmangelerscheinungen bei den Gefangenen sprechen hier Bände. Dasselbe trifft auch auf die Versorgung mit Getränken zu: mit nur 30 Teebeuteln den Flüssigkeitsbedarf eines Monats abzudecken, ist schon dreist und verantwortungslos. Hier verlässt sich die Behörde unbenommen auf den Gefangeneneinkauf, der von Mineral- und Vitaminpräparaten bis zu den Getränken alles im überteuerten Angebot hat.

Frühzeitiger Einschluss zu Nachmittagsstunden auch bei Hitze und Rekordtemperaturen ist die Regel, Ausnahmen gibt es keine, bei Notfällen kommt halt der Notarzt.

Geduldet werden offensichtlich auch die unhygienischen Zustände in Spülküchen und Duschräumen der Hafthäuser, diese sind fast immer mit Fäkalien, Müll oder Schimmel zu bestaunen, um diese Gemeinschaftsräume kümmert sich weder der Arzt noch der Desinfektor, obwohl sich Insassen immer wieder an die Ärzte wenden.

Nicht, dass die Gefangenen meinen, nur sie werden durch den Knast krank, auch die Vollzugsbediensteten trifft es. Wie der Bundesverband der Betriebskrankenkassen, und das Institut der deutschen Wirtschaft gemeinsam der Presse mitteilte, sind die Deutschen im Schnitt 15 Tage krank, Justizvollzugsbeamte kommen jedoch im Schnitt auf 32,4 Krankentage.

Die überwiegende Mehrheit der Insassen und der Experten ist der Meinung, dass offensichtlich Geisteskranke, Menschen mit Behinderungen oder akut drogensüchtige Gefangene nicht in den geschlossenen Strafvollzug gehören. Es muss die Notwendigkeit anerkannt werden, dass die APP um mindestens 25 Plätze erweitert werden muss.

Teure Operationen oder auch aufwendige Zahnsanierungen nach der Länge der Haftstrafe auszurichten, ist nicht im Sinne des Gesetzgebers, aber gängige Praxis. So setzt sich diese 'Betriebsblindheit' fort, wenn jegliche Haftschäden von Depressionen bis Drogensucht oder bis zum geistigen oder körperlichen Verfall schlichtweg ignoriert werden.

Der Krankenpflegedienst und die Ärzteschaft im Vollzug gleichen im Idealfall der Feuerwehr, die aber nur dann kommt, wenn es brennt, dann aber nur mit einer Feuerpatsche gegen einen Großbrand anrückt.

Meine jetzige Erkenntnis: oft kommt es zu Pleiten, Pech und Pannen! Wer Glück hat, in aller Öffentlichkeit umzufallen, bei der Arbeit, in den Gängen und Fluren oder in der Freistunde, der hat die besten Chancen, schnell und professionell gerettet zu werden. Fällt er allerdings nachts oder unter Verschluss um, so kann man ihn manchmal durchaus als Kollateralschaden des Strafvollzuges bezeichnen. Die Rettung ist dann ein Glückspiel. Demnach leidet das System an verbesserungsfähigen Mängeln.


Mein Fazit

Knast macht den Kopf kaputt und krank. So angeschlagen und mit dem Müllsack in den Händen bei der Entlassung draußen ein besseres Leben beginnen zu müssen, ist kontraproduktiv!

Niemand sollte sich im Knast noch die Gesundheit ruinieren (Drogenkonsum u.Ä.) und zumindest dann nicht kaputter rausgehen, als er eingeliefert wurde.

Dass die Justizverwaltung in einem Rechtstaat gesetzlich gehalten ist, die Gesundheitsversorgung innerhalb der Gefängnisse zu organisieren und aufrecht zu erhalten, ist demnach klar vorgeschrieben, trotzdem ist im System der Wurm drin.

Denn Knast macht mehr oder weniger krank, unbestritten, uns und auch die Bediensteten.

Meine Vorschläge: Alle Möglichkeiten der Gesundheitsversorgung nutzen, sich möglichst gesund ernähren, alle Sportmöglichkeiten nutzen, und alle Freistunden wahrnehmen. Bei seelischen Problemen, alle Therapiemöglichkeiten wahrnehmen und konsequent einfordern. Auf Drogenkonsum verzichten. Tattoos und Piercings sollte man im Knast sowieso vermeiden. Sicherer Sex nur mit Kondomen. Hier ist jeder gefordert, sich um sich selbst zu kümmern und den Knast als Chance zu nutzen und Erfordernisse gegebenenfalls durchzukämpfen! Von den Drogen wegzukommen, den Suff besiegen, die verkorkste Gesundheit sanieren oder sich psychisch zu stabilisieren, immer einen Schritt voran und fünf Schritte zurück, da die Verhältnisse eben genau so sind, wie sie sind.

Jedermann soll und muss etwas für sich tun, um diesen krankmachenden Knast unbeschadet zu überstehen.

*

INTERVIEW
 
mit Lorenz Goedecke, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie im Justizvollzugskrankenhaus Berlin


lichtblick: Was heißt eigentlich APP und was geschieht dort. Viele Insassen haben davon gehört, dass sich die APP im JVKB befindet und man dort landet, wenn man durchdreht oder geisteskrank erscheint?

Lorenz Goedecke: Die APP ist die Abkürzung zur Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie. Psychiatrie, was bedeutet das? 'Psych' bedeutet griechisch Seele, 'iatros' Arzt. Die Seele wird also vom Seelenarzt behandelt; er ist zuständig, wenn die Seele weh tut. Die APP verfügt über 24 Betten und behandelt ihre seelenkranken (psychisch kranken) Patienten medikamentös und gesprächstherapeutisch vollstationär im Krankenhaus. Spezialtherapien, z.B. Ergotherapie, Sporttherapie, Musiktherapie, Kunsttherapie und Gruppen zu bestimmten Themen wie Sucht u.a. kommen hinzu. Dazu gibt es ambulante Behandlungsmöglichkeiten innerhalb der Berliner Haftanstalten. Diese finden in den psychiatrischen Sprechstunden statt. Der Leiter der APP ist Prof. Dr. Norbert Konrad, der seine besondere Aufgabe in der Vorbeugung von Selbstmorden sieht.

lichtblick: Die seelischen Belastungen eines Inhaftierten werden als besonders hoch bezeichnet, ist dies ein Irrglaube oder können Sie dieses bestätigen?

Lorenz Goedecke: Ja, natürlich sind die seelischen Belastungen aufgrund der Inhaftierung groß. Selbst das Strafvollzugsgesetz im § 3 weist an, dass schädlichen Folgen des Strafvollzuges entgegen zu wirken ist. Daraus schlussfolgernd ist der Strafvollzug unter Umständen auch schädlich. Eventuelle Gründe sind hier die Zwangsgemeinschaft auf engem Raum, die eingeschränkte freie Lebens- und Alltagsgestaltung, keine Ausweichmöglichkeiten, Dauerstress und zu enger Rahmen für eigene Wünsche und persönliche Entfaltung. Von Angriffen und Drangsalierungen der Gefangenen untereinander will ich gar nicht erst anfangen.

lichtblick: Welche Behandlungserfordernisse sieht hier der Fachmann?

Lorenz Goedecke: Auch die ambulante Versorgung muss gewährleistet werden. Das bedeutet, die medikamentöse Versorgung bei Schlafstörungen, Depressionen, Psychosen und die Nachbetreuung nach stationärer Therapie muss gesichert werden. Bei der stationären Behandlung in der APP sind nur 24 Plätze vorhanden, diese müssen für den Bedarf genügen, was nicht der Fall ist.

lichtblick: Welche Behandlungsmöglichkeiten sind Ihnen hier im Vollzug gegeben?

Lorenz Goedecke: Entweder die ambulante oder die stationäre Behandlung. Der Patient wird in der APP untergebracht, behandelt und wieder in den Vollzug entlassen. Bei Notwendigkeit erfolgt eine Nachsorgebehandlung auf einer Nachsorgestation in Tegel, oder während der Sprechstunden in der Haftanstalt.

lichtblick: Sie suchen die JVA Tegel regelmäßig auf, um Gefangene ambulant zu behandeln. Wie kommt man als Gefangener zu einer Behandlung? Reichen hier Depressionen aus?

Lorenz Goedecke: Natürlich reichen Depressionen aus, das kann eine sehr ernste Krankheit sein! Die ambulante Behandlung erfolgt einmal wöchentlich. Die Behandlung muss über den Anstaltsarzt eingeleitet werden.

lichtblick: Gleicht Ihre Arbeit nicht mehr einer Sisyphosarbeit; was Sie positiv erreichen, macht die Knastrealität immer wieder kaputt?

Lorenz Goedecke: Nein, unsere Arbeit ist nicht sinnlos. Wir erreichen viel und haben viele ernsthafte Krankheiten erfolgreich behandelt. Es gibt im Haftverlauf zuweilen schwere Rückschläge hinzunehmen. Folge können psychische Zusammenbrüche sein. In der Neuerarbeitung von lebbaren Perspektiven waren wir schon häufig sehr erfolgreich. Das nur als Beispiel.

lichtblick: Diese unsäglichen Zeiten: Knastpsychiatrie als Disziplinierungsmittel, Stichwort: Psychiatrische Neurologische Abteilung (PN) in der Justizvollzugsanstalt Tegel. Diese Haloperidolabspritzungen (Betonspritzen) waren im Deutschen Strafvollzug gerüchteweise ja einmal an der Tagesordnung. Sind diese Zeiten vorbei?

Lorenz Goedecke: 'Betonspritzen' sind in Deutschland nicht im Einsatz. Haldol, mit dem Wirkstoff Haloperidol, ist ein Neuroleptikum, modern 'Antipsychotikum' genannt und ein hochwirksames Medikament gegen Psychosen. Kranke Psychotiker wünschen sich dieses hochwirksame Präparat, anstatt ihren Psychoseschub auszuleben. Gleichwohl können die Nebenwirkungen gravierend sein, weshalb die dauerhafte Behandlung mit Haldol heute selten ist, und meistens auch nur dann, wenn es der Patient gut verträgt. Wir haben heute gegen Psychosen weitaus moderne Medikamente, die viel weniger Nebenwirkungen haben. Von diesen Medikamenten haben wir einige Alternativen, so dass wir ein oder mehrere Medikamente ermitteln können, mit denen der Patient zurecht kommt.

lichtblick: Stimmt die These, Knast macht krank, Real oder psychosomatisch? Was kann ein Gefangener tun, um nicht noch kränker zu werden?

Lorenz Goedecke: Er kann sich Hilfe suchen, initiativ sein und Einfluss auf sein Schicksal nehmen. Für sich Nischen zu finden, vom Sport bis Hobby, von Bildung bis Geselligkeit. Arbeit als Spaß und Erfolgserlebnis kann helfen. Sich dazu Tagesstrukturen geben und konstruktive Aktivitäten suchen. Das Wichtigste dürfte sein, dass der/die Gefangene unter auch diesen Umständen wieder die Initiative in seinem Leben übernimmt. Beispiele sehe ich hier bei manchen Gefangenen in Engagement am Arbeitsplatz, oder auch in der Theatergruppe, bei der Schulausbildung oder ähnlichem, bei dem man sich voll engagieren kann und sich nicht nur treiben lässt.

lichtblick: Herr Goedecke, wir bedanken uns über dieses, für uns und unsere Leser, sehr informative Gespräch!

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INTERVIEW
 
mit Kai Abraham, Referent für den Justizvollzug in der Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz des Landes Berlin


lichtblick: Herr Abraham, können Sie unseren Lesern bitte etwas über Ihre Aufgaben in der Senatsverwaltung für Justiz erzählen, für welchen Bereich sind Sie konkret zuständig?

Kai Abraham: Mein Tätigkeitsbereich ist recht umfangreich. Ich bin seit 2000 als Sozialpädagoge bei der Berliner Justiz und habe bis Anfang dieses Jahres in der Jugendstrafanstalt als Bereichsleiter der Drogenfachabteilung gearbeitet. Jetzt bin ich in der Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz in der Abteilung für den Justizvollzug. Ein Schwerpunkt meiner Arbeit umfasst unter anderem die Suizidprophylaxe, d.h. wir beobachten die Situation in den Haftanstalten und arbeiten an Strategien, um Inhaftierte vor dem Suizid zu schützen und Suizidversuche zu verringern. Leider können wir oft nur reagieren statt zu agieren. Es existieren nur wenige hilfreiche Frühwarnsysteme. Neben der Sicherheit und Ordnung muss es im Vollzug eine ausreichende psychologische und seelsorgerische Betreuung für Insassen in Krisensituationen geben. Um Todesfälle zu vermeiden, müssen alle im Vollzug aufmerksam bleiben. Hier ist jeder Vollzugsbedienstete, jeder Angehörige und natürlich auch jeder Insasse in der Pflicht, bei den kleinsten Anzeichen und Andeutungen, tätig zu werden und die entsprechende Hilfe zu holen. Oftmals sind Angehörige und Mitinhaftierte näher dran als die Bediensteten im Vollzug, deshalb kann man nur appellieren: Lass den Einzelnen nicht allein mit seiner Situation!

Zu meinen weiteren Aufgaben gehört das Thema Religion und Weltanschauungen in den Berliner Vollzugsanstalten. Jeder Gefangene hat natürlich auch im Gefängnis einen Anspruch auf freie Religionsausübung, d.h. die Seelsorge und die hohen religiösen Feiertage sind ein ganz wichtiger Bestandteil für einen befriedeten Strafvollzug. Ähnliches trifft auf die Betreuung der ausländischen Inhaftierten durch ihre Konsulate zu, hier bin ich Ansprechpartner für die Vertretungen der einzelnen Staaten.

Auch die Bereiche Freizeit, Kultur und Sport und die Betreuung der Anstaltsbeiräte fallen in meinen Aufgabenbereich. Ein großer Schwerpunkt ist natürlich das Thema Drogen und Sucht in Haft.

lichtblick: Halten Sie die Behandlungsmöglichkeiten für Alkohol- und Drogenabhängige im Berliner Vollzug für ausreichend?

Kai Abraham: Prinzipiell ja. Die Substitution im Erwachsenenvollzug funktioniert wieder recht gut. Im Jugendvollzug wurde bisher auf Substitutionsbehandlungen verzichtet. Hier muss die Entwicklung der drogenabhängigen Insassen genau beobachtet werden und ggf. auch im Jugendvollzug im Einzelfall substituiert werden. Drogen- und Alkoholentzug ist im Strafvollzug eine schmerzhafte und schwere zusätzliche Belastung für den Betroffenen aber auch für den medizinischen Dienst und die Vollzugsbediensteten eine tägliche verantwortungsvolle Herausforderung.

lichtblick: Viele Insassen und Betroffene sind der Meinung, der Vollzug tut nichts und sperre Drogenkranke offensichtlich lieber nur ein, als sie intensiv zu behandeln oder zu betreuen. Was denken Sie, stimmt das?

Kai Abraham: vom Substitutionsprogramm über die Zusammenarbeit mit den Drogenberatungen, bis hin zur umfassenden medizinischen Versorgung. Es wird wirklich sehr viel getan und viel investiert, in speziellen Drogenfachbereichen ist eine hohe Intensität an Betreuung und Beobachtung möglich. Auch das Vollzugspersonal ist in diesen Bereichen sensibilisiert und arbeitet aktiv für eine angemessene Betreuung drogenabhängiger Inhaftierter unter den besonderen Bedingungen der Haft. Hinzu kommen die Möglichkeiten, die der § 35 des Betäubungsmittelgesetzes bietet. Jeder Insasse, der die Bereitschaft für einen konsequenten Drogenverzicht mitbringt, kann sich unterstützen lassen.

lichtblick: Drogen stellen im Vollzug ein großes Problem dar und zerstören neben Menschen auch das Behandlungsklima, wie kann man diesen gordischen Knoten Ihrer Ansicht nach zerschlagen?

Kai Abraham: Machen wir uns nichts vor, es ist leider nicht ausgeschlossen, dass in den Haftanstalten Drogen konsumiert werden. Es war schon immer so und wird wohl auch so bleiben. Man kann die Situation nur eindämmen aber kaum verhindern. Vor allem der Drogenhandel führt zu schweren Störungen im Vollzug. Einzelne bereichern sich auf Kosten der Abhängigen und verstricken diese in einen Kreislauf von Schulden und weiteren Abhängigkeiten. Es ist auch im Strafvollzug ein Straftatbestand und nicht zu tolerieren.

lichtblick: Was können Gefangene tun, um nicht in ein "Frustkonsum" zu verfallen, wie lässt sich so etwas verhindern?

Kai Abraham: Es ist schwierig dem Drogenkonsum oder auch den Suizidversuchen effektiv etwas entgegenzusetzen. Hier müssen alternative Wege angeboten werden und von den Betroffenen auch wahrgenommen werden. Aussichtslosigkeit ist eine Sackgasse. Drogen bieten nicht den Ausweg, sondern überbrücken für kurze Zeit die Realität, um dann langfristig zusätzliche Probleme zu schaffen. Es muss uns gelingen, Perspektiven anzubieten und den Inhaftierten muss es gelingen, diese zu erkennen und anzunehmen. Unser Gesetzesauftrag, die Resozialisierung und Wiedereingliederung des Inhaftierten, sollte auch ein Gesetzesauftrag für den Inhaftierten sein. Dann könnte es gelingen.

Jeder Inhaftierte, der ernsthaft eine Veränderung für sich anstrebt, sollte sich kleine, aber entscheidende Ziele für die Vollzugszeit setzen. Natürlich müssen dafür die Angebote von beruflicher und schulischer Qualifikation, von Freizeit, Schuldenregulierung bis hin zur therapeutischen Behandlung immer an den Bedürfnissen der Gefangenen ausgerichtet sein und überprüft werden. Die Möglichkeiten sind gegeben. Stillstand sollte immer vermieden werden.

lichtblick: Herr Abraham, wir bedanken uns für Ihren Besuch und für das informative und motivierende Gespräch.

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Quelle:
der lichtblick, 45. Jahrgang, Heft Nr. 352, 3/2012, Seite 4-9
Unzensiertes Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Herausgeber: Insassen der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. November 2012