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LICHTBLICK/175: Tegel verabschiedet sich von seiner progressiven Vorbildfunktion


der lichtblick - Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Heft Nr. 345 - 4/2010

Die JVA Tegel verabschiedet sich von fortschrittlichen Aufschlusszeiten
Tegel verabschiedet sich vom Wohngruppenvollzug
Tegel verabschiedet sich von Sommerfreistunden
und
von Freistunden für Rentner + Arbeitspflichtbefreite
Tegel verabschiedet sich von großzügiger Besuchspraxis
Tegel verabschiedet sich von seiner progressiven Vorbildfunktion


Bereits über 1.300 Inhaftierte der Justizvollzugsanstalt Tegel protestieren - namentlich auf einer Unterschriftensammlung - gegen die geplanten Veränderungen.

Von Andreas Werner


Die Senatsverwaltung für Justiz teilt in einem internen Schreiben mit:

"..., dass in der JVA Tegel zum 1. Januar 2011 ein neuer Tagesablauf in Kraft treten wird, der zu erheblichen Effizienzgewinnen beim Einsatz des Vollzugspersonals, zu einer deutlich größeren Betreuungsdichte für die Gefangenen und nicht zuletzt auch zu einer Ausweitung der Aufschlusszeiten und der Freistunden für einen Großteil der in der JVA Tegel untergebrachten Gefangenen führen wird. Zudem wird der veränderte Tagesablauf dazu führen, dass die Gefangenen zur Mittagszeit nicht mehr von den Arbeitsplätzen in die Unterbringungsbereiche geführt werden müssen. Da sie ihre kalte Pausenverpflegung am Arbeitsplatz einnehmen können und nach der Arbeit mit einer warmen Mahlzeit in der Teilanstalt verpflegt werden, wird es hier zu erheblichen Effizienzsteigerungen beim Personaleinsatz und zur Erhöhung der effektiven Arbeitszeit kommen."

Geht man zur Geburtsstunde des nun neuen Rahmenkonzepts zurück und liest nach in den "Grundgedanken des zukünftigen Organisationsmodells - Rahmenkonzept für den geschlossenen Männerstrafvollzug in Berlin", das Ergebnis einer Arbeitsgruppe der Abt. III der Senatsverwaltung für Justiz von Oktober 2009, dann steht da gleich zu Beginn auf Seite 2:

Warum wird eine Rahmenkonzeption für den geschlossenen Männervollzug benötigt?
Antwort 1: Strukturell organisatorische Herausforderungen und
Antwort 2: Überbelegung

Zu 1: Strukturell organisatorische Herausforderungen - umschreibt u.a. den latenten Personalmangel. Laut Aussage der Anstaltsleitung ist man sich aber jetzt schon sicher, mit dem neuen Rahmenkonzept kein Personal einsparen zu können, angeblich sei das auch vom Senat gar nicht geplant. Die angekündigte bessere Betreuungsdichte, die suggerierte Ausweitung der Aufschlusszeiten, der Wegfall der Warmverpflegung zur Mittagszeit in den Häusern und die gepriesenen besseren Besuchszeitenregelungen entpuppen sich bei genauerer Betrachtung als Mogelpackungen.

Zu 2: Eine Überbelegung gibt es seit geraumer Zeit nicht mehr. 2009 lag die Überbelegung in Tegel bei rd. 1 %; aktuell haben wir sogar eine Unterbelegung von rd. 9% (10.11.2010) bei weiter abnehmenden Gefangenenzahlen.

Die Punkte, die ein neues Rahmenkonzept rechtfertigen sollen, sind also gar nicht mehr akut. Probleme, die es gar nicht mehr gibt, bedürfen keiner Lösung - folglich braucht man das dafür ausgearbeitete Rahmenkonzept nicht mehr. Zumal all die geplanten Maßnahmen keinen Effizienzgewinn bringen. Auf den folgenden Seiten werden wir aufzeigen, dass die angegebenen Verbesserungen fast nur Verschlechterungen bedeuten, sowohl für die Inhaftierten als auch für die Beamten.

Und das kann nur eine Konsequenz haben: STOPPT DEN WAHNSINN!

Die lichtblick-Redaktion wurde von der Anstaltsleitung über die Veränderungen informiert. Man nannte uns unglaublich gut klingende Zahlen über die künftigen Aufschlusszeiten und Freistundenangebote, die sich für eine Mehrzahl der Inhaftierten verbessern sollen.

Und fürwahr, als wir uns die neuen Tagesabläufe, die künftigen Schließzeiten, die Tabellen zu vermehrten Aufschlusszeiten und erhöhten Freistunden anschauten, konnten wir auf den ersten Blick nur Verbesserungen erkennen.

Doch dann hat der lichtblick genauer hingeschaut. Und auf den zweiten Blick mussten wir erkennen: Wir sind an Teppichhändler geraten, vergleichbar einer Verkaufsveranstaltung für Senioren, die man zum Kauf von supertollen, effizienten Rheumadecken überreden will. Und denen hinter verschlossenen Türen nichts anderes übrigbleibt, als sich ihrem Schicksal zu ergeben. Und wir gewannen den Eindruck, dass man die ersten Kritiker mit dieser Mogelpackung bereits zum Schweigen bringen konnte.

Der lichtblick warnt vor Teppichverkäufern dieses Genres. Auch wenn die Tabellen in absoluten Zahlen richtig sein mögen, so sind sie doch ganz offensichtlich an einem Schreibtisch erdacht worden, weit weg von der JVA, weit weg von der Praxis.

Sehen wir uns die angebotenen Teppiche genauer an:


Teppich 1 - Das verlockend gute Angebot:

Durch das neue Rahmenkonzept will man das bisherige Vollzugsgefälle in Tegel abschaffen. Wegen fehlender freier Haftplätze soll kein Gefangener mehr auf die Verlegung in für ihn günstigere Bereiche warten müssen. Eingewiesene Gefangene kommen künftig sofort in eine Teilanstalt, in der gerade ein Haftplatz frei ist, und jede Teilanstalt soll in der Lage sein, jedem Gefangenen die für ihn erforderlichen Behandlungsmaßnahmen zukommen zu lassen.

Die 1. Täuschung: Bessere Resozialisierung und bessere Behandlung sind das Ziel - eine schöne Vorstellung. Aufgrund des reduzierten Personalbestandes waren aber schon beim alten Konzept die für bestimmte Behandlungsmaßnahmen spezialisierten Teilanstalten nicht in der Lage, entsprechend der konzeptionellen Vorgaben mit den Inhaftierten zu arbeiten. Seit Jahren schreiben und zeigen wir auf: Resozialisierung oder nachhaltige Behandlungsmaßnahmen werden äußerst spärlich angeboten, Gefangene nach Jahren demoralisierender Haft mit dem blauen Müllsack vorm Anstaltstor ausgesetzt.

Wenn schon bis heute die auf bestimmte Behandlungsmaßnahmen spezialisierten Teilanstalten ihrer Aufgabe nicht gerecht werden, wie sollen sie dann effizient, gar effizienter arbeiten, wenn sie nun die ganze Behandlungspalette - vom Antigewalttraining, der Alkohol-Suchttherapie, der Schuldnerberatung bis hin zu entlassungsvorbereitenden Maßnahmen - anbieten müssen?

Die 2. Täuschung: So vorbehaltlos gleich wie im neuen Rahmenkonzept angekündigt, werden nun doch nicht alle Inhaftierte behandelt. Zwar werden neu in der JVA Tegel aufgenommene Gefangene in der Teilanstalt untergebracht, in der gerade ein Platz frei ist, jedoch unterteilt man künftig in zwei Gruppen: in "gute" und "schlechte" Gefangene - offiziell, politisch korrekt betitelt als: "vereinbarungsfähige Gefangene" (Gruppe A-Gefangene) und solche "deren Mitarbeit noch zu wecken ist" (Gruppe B-Gefangene).

Hier wird also ganz offiziell eine neue Vollzugsstufe eingeführt: Die Guten und die Schlechten. Ich persönlich finde das menschenverachtend und diskriminierend. (Lesen Sie dazu auch unseren Artikel im lichtblick 4-2010, S. 14 "Die Würde des Strafgefangenen ist antastbar".)

Und politisch korrekt ist es schon gar nicht, sondern willkürlich. Denn laut Aussage der Anstaltsleitung werden ab dem 01.01.2011 alle Gefangenen auf den Flügeln A+C der TA II und alle Insassen der Flügel B+C der TA III zu Gefangenen der Gruppe B, sprich zu "schlechten", degradiert. Die Gefangenen der anderen Flügel und aller anderen TAs sind - vorerst - Gruppe-A-Gefangene, sprich "gute".

Hält die Anstalt an dieser Belegungsstruktur fest, dann müssten die neu eingelieferten Gruppe-B-Gefangenen entweder in die TA II auf die Flügel A + C, oder in die TA III auf die Flügel B + C.

Die Gruppe-A-Gefangenen kommen entweder in die TA II auf den B Flügel, oder in die TA III auf die Flügel A+D, in die TA V oder TA VI und die Sicherungsverwahrten sowieso ins Haus V auf eine SVer-Station. Und wie bisher auch ist die Anstalt wohl bemüht, die Lebenslänglichen weiterhin im Haus V unterzubringen.

Absurd wird es aber, wenn ein Gruppe-A-Gefangener zum Gruppe-B-Gefangenen wird und umgekehrt. Nach dem Willen des Konzepts - in jedem Haus würden für jeden Inhaftierten sämtliche Vollzugstufen angeboten -, müssten künftig "gute" und "schlechte" in dem ihnen anfänglich zugewiesenen Haus verbleiben. Die gemischte Unterbringung wird schon allein wegen der unterschiedlichen Einschlusszeiten für "gute" und "schlechte" Gefangene zu einem erheblichen Mehraufwand für die Beamten in allen Häusern führen. Diese vorgenommene Unterteilung in "gute" und "schlechte" Gefangene läuft dem Konzept voll entgegen.

Würde man Neuankömmlinge in Tegel statt im Haus I einfach da unterbringen, wo gerade Platz ist, und sie später in ein für sie konzeptionell passendes Haus verlegen, wäre alles gut. Aber so haben wir ein neues Rahmenkonzept, das - am Schreibtisch ausgedacht - in der Praxis gar nicht oder nur durch Mehraufwand realisierbar ist.


Teppich 2 - Effizienzgewinn durch Schließung des Wohngruppenvollzugs:

Das vom Senat erstellte Rahmenkonzept bedeutet: Verabschiedung vom Wohngruppenvollzug.

Die 3. Täuschung: Der Wohngruppenvollzug, der zurzeit in der gesamten TA V praktiziert wird, ist die wohl fortschrittlichste und zukunftsweisendste Errungenschaft der letzten Jahre. Der Wohngruppenvollzug ist der ruhigste und aggressionsfreieste Bereich in ganz Tegel, ein Bereich, der mit dem geringsten Personalbedarf auskommt. Wird er zurückgefahren oder gar eingestampft, dann gibt es auch dort künftig einen höheren Personalbedarf und mehr Zwischenfälle und Reibereien. Am Schreibtisch ausgedacht, bewirkt der Wegfall des Wohngruppenvollzugs in der Praxis genau das Gegenteil - weniger Effizienz, weniger Resozialisierung, mehr Personalbedarf. Wer hat sich das nur ausgedacht?


Teppich 3 - Die günstigeren Aufschlusszeiten:

Tatsächlich werden die Aufschlusszeiten erhöht - könnte
man meinen.

Die 4. Täuschung: Die Aufschlusszeiten werden erhöht - gut, aber nur für die Insassen der TA II und der bisher einschränkend geführten Flügel der Häuser II und III, wenn sie zu den Gefangenen der Gruppe A gehören, also zu den "guten". Schlecht für alle anderen, denn in den übrigen Flügeln und Häusern verschlechtern sich die Aufschlusszeiten ganz erheblich. Einige der Gefangenen in den Häusern II und III gewinnen bis zu 22 Stunden pro Woche, während im Haus V - durch den Wegfall des Wohngruppenvollzugs - den Gefangenen bis zu 42 Stunden Aufschluss pro Woche gestrichen werden.

Eine der härtesten Einschränkungen betrifft alle Gefangenen: der Nachtverschluss am Wochenende. Samstags und sonntags werden in ganz Tegel die Inhaftierten um 16.45 Uhr in ihre Zellen eingeschlossen und diese erst morgens um 9.05 wieder aufgeschlossen. Somit bleiben alle Gefangenen an zwei aufeinanderfolgenden Tagen jeweils 16 Stunden und 20 Minuten am Stück unter Verschluss.

Für die "schlechten" Gefangenen kommt es noch schlimmer: Sie werden künftig wochentags schon um 19.30 Uhr unter Verschluss genommen, die "guten" dürfen sich 2 Stunden länger auf den Fluren der verschlossenen Etagen bewegen. Die schon in den meisten Häusern bestehende Unterteilung in arbeitende und nicht arbeitende Gefangene wird auf ganz Tegel ausgeweitet. Eine bestehende Ungerechtigkeit - gibt es doch in der JVA Tegel nur für schätzungsweise 60 % der Inhaftierten überhaupt Arbeitsplätze - wird durch Angleichung nach unten nicht gerechter. Rund 600 Häftlinge sind also ohne eigenes Verschulden schon mal schlechter gestellt. Nicht nur, dass der Inhaftierte seine finanzielle Situation nicht verbessern kann, zusätzlich wird er durch vermehrten Zellenverschluss bestraft - für etwas bestraft, an dem er nicht schuld ist.

Von 7.45 bis 14.40 und von 19.30 bis 7.00 mit sich alleine auf einer 6-10 qm großen Zelle - gewinnt man so einen besseren Menschen? Wieso setzt man das durchaus fortschrittliche Strafvollzugsgesetz nicht um?


Teppich 4: Der zeitliche Umfang der Freistunden wird in ganz Tegel einheitlich geregelt und an jedem Tag zusätzlich um rund eine Stunde verlängert.

Die 5. Täuschung: Auch das ist in absoluten Zahlen korrekt, und für Haus II und Teile von Haus III auch ein wirklicher Gewinn. Unter den Teppich gekehrt wird aber, dass künftig alle Sommerfreistunden wegfallen. Auch wird es keine Freistunden für Rentner und Arbeitspflichtbefreite geben. Alle Gefangenen, die bisher solche Freistunden in Anspruch nehmen konnten, verschlechtern sich spürbar. Und das sind nicht wenige, denn davon sind alle Gefangenen der Häuser V und VI und alle vom A+D-Flügel des Hauses III betroffen. Die Anpassung der Freistundenzeiten erfolgt nicht an die bisher günstigsten Zeiten in Tegel, sondern an die schlechteren. Eine echte Mogelpackung ist das.


Teppich 5: Die Besuchsmöglichkeiten, insbesondere Meetings und Langzeitsprecher, sollen künftig von allen Gefangenen in Anspruch genommen werden können.

Die Justizsenatorin schreibt:

"Grundlegend werden sich die Besuchsregelungen für die Gefangenen ändern - und zwar ebenfalls überwiegend zum Besseren. Zukünftig ist für die Gewährung von Langzeitsprechstunden nicht mehr Voraussetzung, dass der Gefangene in der Teilanstalt V oder VI untergebracht ist. Langzeitsprechstunden stehen zukünftig allen Gefangenen zu, sofern sie die bislang geltenden persönlichen Voraussetzungen erfüllen. Dies ist ein sehr wertvoller Mehrgewinn für die Gefangenen, die bislang schon die notwendige Vereinbarungsfähigkeit an den Tag gelegt haben, aber aufgrund der Unterbringungsbedingungen keine Chance hatten, von Langzeitsprecherstunden zu profitieren. ... Eine weitere Neuerung ... ist das nunmehr mit Ausnahme der TA I flächendeckende Angebot der Meetings ... "

Die 6. Täuschung - Betrifft Meetings: Das klingt gut. Tatsächlich aber wurde die Anzahl der Meeting-Sprechzeiten in den letzten Jahren von anfänglich 12 Terminen auf zurzeit 4 Stück reduziert - ohne dass sie für andere Gefangene eingeführt worden wären. Nun erfolgt eine weitere Reduzierung auf nur noch drei Termine.

Diese noch reduziertere Variante wird nun auf alle Gefangenen angewendet und als Änderung zum Besseren gelobt. Jahrelang erzählt man uns, wie wichtig diese Meetings für unseren Vollzugsverlauf seien - und von einem Tag auf den anderen beschließt die Senatorin mit ihrem Fachpersonal am Schreibtisch: Ab heute reichen drei Termine im Jahr. Wenn sich jetzt alle bisher ausgeschlossenen Inhaftierten auf Meetings freuen, dann mögen sie warten, bis sie am 01.01.2011 die Realität einholt, denn für alle Gefangenen soll es wohl doch nicht gelten.

Die 7. Täuschung - Betrifft Langzeitsprecher: Die nächste propagandistische Äußerung, nun können alle Inhaftierten Langzeitsprecher in Anspruch nehmen, dafür müsse aber die bisherige Besuchszeit von 5 auf 3 Stunden reduziert werden, entpuppt sich bei genauer Betrachtung als geschickter Schachzug. Denn es wurde bereits von der Anstaltsleitung angemerkt: Natürlich bleiben die Auswahlkriterien für die Zulassung zum Langzeitsprecher wie bisher bestehen, nicht jeder sei geeignet. Ich selbst habe über 5 Jahre gewartet, bis ich alle Kriterien erfüllte und zum Langzeitsprecher zugelassen wurde.

Viele Gefangene werden ihren ablehnenden Bescheid zum Langzeitsprecher nicht verstehen: Mehr Klagen gegen und größerer Unmut über die Anstalt sind zu erwarten. Der Großteil der Inhaftierten wird auch weiterhin nur die gesetzlich zugesicherten Besuchszeiten in Anspruch nehmen können. Und für diejenigen, die bisher 5 Stunden mit ihren Familienangehörigen zusammen sein durften, wird die Zeit auf mickrige 3 Stunden reduziert.

Die 8. Täuschung - Betrifft gesetzlich garantierte Sprechstunde: Aber es geht noch böser, und wieder betrifft es alle Inhaftierten. Bisher hatten wir in Tegel eine ausgesprochen lobenswerte Besuchszeitregelung im Sprechzentrum. Obwohl uns laut Gesetz monatlich nur eine Stunde (2 x ½Stunde) zusteht, ließ man die Inhaftierten regelmäßig länger mit dem Besuch zusammensitzen, durchschnittlich eine knappe Stunde und das bis zu vier Mal im Monat. Die großzügige Besuchszeitbemessung war deshalb möglich, weil die Termine im Stundentakt vergeben wurden und immer erst nach einer verstrichenen Stunde die nächste Welle von Besuchern kam.

Das hat in der Praxis hervorragend funktioniert, sogar zu Zeiten, als wir mit zeitweise über 1.800 Inhaftierten noch unter einer Überbelegung zu leiden hatten. Jetzt aktuell unterbelegt, mit nur noch rund 1.500 Gefangenen, gibt es keinen Handlungsbedarf. Trotzdem hat der Senat beschlossen, dass ab dem 01.01.2011 die Besucher in kürzeren Abständen eintreffen. Das heißt in der Praxis: Der Besucher, gleich ob Freund oder die eigene Mutter, braucht in der Regel, nachdem er im Besuchszentrum Platz genommen hat, etwa eine Viertelstunde, um die Aufregung abzustreifen, die durch die absonderliche Gefängnisatmosphäre hervorgerufen wird. Doch kaum beginnen sich ein Gespräch und Vertrautheit aufzubauen, wird aufgefordert: "Bitte beenden Sie das Gespräch." Wen wundertenn dann Ehen und Beziehungen noch schneller in die Brüche gehen, geht doch das Unwohlsein zu Beginn der Besuchszeit nahtlos in das Unwohlsein des dann folgenden Verabschiedens über.

Liebe Senatsverwaltung, auch wir sind Menschen - was soll aus uns werden, wenn Ihr uns auch noch den letzten Kontakt zu unserem sozialen Umfeld, den letzten dünnen Faden zur Gesellschaft kappt?


Teppich 6: Neuer Tagesablauf und neue Schließzeiten bringen erheblichen Effizienzgewinn beim Einsatz des Vollzugspersonals. Die Senatorin schreibt:

"Der Justizvollzug darf sich nicht vorrangig um die mitarbeitenden Gefangenen kümmern. Er muss seine Ressourcen auch auf die Gefangenengruppe erstrecken, deren Mitarbeitsbereitschaft am Vollzugziel erst noch zu wecken und zu fördern ist. Denn gerade von diesen Gruppen geht häufig das größte Risiko für die Gesellschaft im Falle einer Haftentlassung aus. Diese Grundproblematik hat die JVA Tegel in den vergangenen Monaten intensiv analysiert und hat darauf aufbauend ein neues Tagesablaufsystem unter Beteiligung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entwickelt. Dieses führt nicht nur zu einer deutlichen Verbesserung der Behandlungs- und Betreuungsdichte, sondern trägt ebenfalls auch dafür Sorge, dass die durchgehende Besetzung der Stationen auch zukünftig weiter gewährleistet werden kann. (...) Die dargestellten Veränderungen in der JVA Tegel sind ein wichtiger Schritt, um den Berliner Strafvollzug auch zukünftig auf hohem Niveau leistungsfähig zu halten."

Die 9. Täuschung: Das ist das Ziel dieser Neuordnung: weniger Schließaufwand, mehr Betreuungszeit für alle. Doch wer kümmerte sich bis jetzt vorrangig um die mitarbeitenden Gefangenen? Diese Gefangenen im Haus V unterzubringen, den Bereich dann Wohngruppenvollzug zu taufen und die Insassen zwar etwas freier, aber sich selbst zu überlassen - ist das mit "sich drum kümmern" gemeint? Die Ressourcen auf Gefangene erstrecken zu wollen, deren Mitarbeitsbereitschaft noch zu wecken ist ...

Welche Ressourcen?

Die vorhandenen reichen schon jetzt nicht, und neue werden durch das Konzept kaum geschaffen. Der Personalbestand wird nicht nur seit 20 Jahren immer weiter reduziert, Tegel hat auch den höchsten Krankenstand (vier Mal so hoch als in der freien Wirtschaft). Kein Wunder - diese Haftbedingungen machen beide Seiten krank, die Inhaftierten und die Vollzugsbediensteten.

Die Senatorin schreibt von der Beteiligung der Mitarbeiter an den Tagesabläufen. Die Mitarbeiter der Anstalt, die ich sprach, konnten das nicht bestätigen. Im Gegenteil, stinksauer sind sie, denn alles sei über ihren Kopf entschieden worden.

Das neue Konzept verspricht die deutliche Verbesserung der Behandlungs- und Betreuungsdichte. Doch womit soll dieses Ziel erreicht werden? Etwa mit den Mitarbeitern, die künftig aufgrund der neuen Schließzeiten nur noch von Etage zu Etage, von Haftraum zu Haftraum hetzen müssen, um einzelne Gefangene aus ihren Zellen rein und raus zu schließen? Das ist doch das Effiziente am Wohngruppenvollzug: Den ganzen Tag stehen die Zellentüren der Inhaftierten offen. Ob zur Schule, zur Hauskammer, zum Arzt, zum Besuch, zum Anwalt, zum Urkundenbeamten, zur Zahlstelle, zur Antigewaltgruppe oder zum Gruppenleitergespräch - die Zentrale braucht nur den betreffenden Gefangenen über die Gegensprechanlage auszurufen und er kommt von ganz allein. Künftig wird jedes Mal ein Beamter loslaufen müssen, ihn aus der Zelle herausschließen und anschließend wieder wegschließen. Was für ein unnützer zusätzlicher Arbeitsaufwand.

Wahrlich ein Schreibtischtäter, der dies erdacht hat; ein Teppichhändler, der dies auch noch als effizient zu verkaufen versucht. Die Beamten müssen jetzt auch noch zaubern können und sich künftig vierteilen, wenn sie an der vermehrten und besseren Behandlung der Inhaftierten, die überwiegend weggeschlossen sind, mitwirken sollen.


Gefängnisstrafe bedeutet "Entzug der Freiheit"

Der Entzug der Freiheit beginnt, wenn sich das
große Tor der JVA Tegel hinter einem schließt.

Dann ist man seiner Freiheit entzogen,
weggeschlossen von der Gesellschaft,
so, wie es das Gesetzt vorschreibt.


Hier in der JVA Tegel sind die Inhaftierten aber gleich 4-fach eingesperrt:

1. in der JVA Tegel selbst, einem 113.000 qm großen - und mit Mauern, Schießtürmen und Sicherheitszaunanlagen begrenzten - Areal.

2. in der jeweiligen Teilanstalt, dem Gefängnis im Gefängnis.

3. auf geschlossenen Ebenen und Etagen, bzw. Flügeln innerhalb einer Teilanstalt, und

4. schlussendlich gänzlich weggesperrt in kleinen Hafträumen von 6-10 qm Größe.

Im Haftraum eingeschlossen, schaut der Delinquent durchs vergitterte Fenster, auf die Einfriedung seiner Teilanstalt, in der er untergebracht ist, auf den dahinter liegenden Sicherheitszaun mit NATO-Drahtkrone und am Ende auf die Beton-Anstaltsmauer mit den Schießtürmen, die wiederum alle Teilanstalten und somit das gesamte Gefängnisareal umschließen.

Eingesperrt - eingesperrt - eingesperrt und noch mal: eingesperrt!

Bereits die 1. Einsperrung wird der Freiheitsstrafe = Entzug der Freiheit vollumfänglich gerecht! "Die Freiheitsstrafe ist allein durch den Entzug der Freiheit eine Strafe an sich. Deshalb dürfen Haftbedingungen und Vollzugsformen die damit zwangsläufig verbundenen Leiden nicht verstärken, es sei denn, die Aufrechterhaltung der Disziplin oder eine gerechtfertigte Absonderung erfordert dies" (Europäische Strafvollzugsgrundsätze Nr. 64).

Warum werden mit dem neuen Rahmenkonzept, das alles
zum Positiven verändern soll, gleichzeitig bestehende
Errungenschaften ohne Skrupel einfach abgeschafft?

Warum muss sich die JVA Tegel nach unten anpassen, sich verschlechtern? Welche Gesinnung steckt hinter diesem vermehrten Wegsperren, diesem mehrfach geschachtelten Freiheitsentzug, dem permanenten zusätzlichen Bestrafen?

Ist es "nur" das, was unser Anstaltsleiter, Herr Adam, in dem Informationsschreiben an alle Inhaftierten der JVA Tegel, ganz am Ende schreibt:

"Sie (die Maßnahmen) sind darüber hinaus unter den bestehenden personellen, finanziellen und räumlichen Bedingungen auch notwendig und alternativlos."

Kein Personal, kein Geld, kein Platz - und eine gute Gelegenheit, die bisherige fortschrittliche Umsetzung des Strafvollzuggesetzes vom März 1976 zurückzufahren?


Aufruf:

Deshalb rufen wir alle für den Strafvollzug Verantwortlichen, die Tegeler Anstaltsleitung, die sozialen Politiker aller Parteien, das Parlament und den Berliner Vollzugsbeirat auf, ihre Stimmen gegen die in der JVA Tegel geplanten Strukturänderungen des Justizsenats zu erheben, Einspruch einzulegen, damit die bisherigen Errungenschaften in der JVA Tegel nicht einer restriktiven Justizpolitik zum Opfer fallen, Gutes nicht abgeschafft wird, dass die JVA Tegel künftig nicht als abschreckendes Beispiel in die Schlagzeilen gerät.

Wir Inhaftierte in Tegel haben den Eindruck, auf einer Zeitreise in die Vergangenheit zu sein. Die Gefangenen sprechen vom Vollzug der Schäbigkeit. Über 1.300 Insassen der JVA Tegel haben mit ihrer Unterschrift ein Protestschreiben gegen die geplanten Verschlechterungen bei der Justizsenatorin, der Anstaltsleitung, dem Abgeordnetenhaus und dem Berliner Vollzugsbeirat abgegeben.

Die Inhaftierten wollen sich nicht einwickeln lassen, nicht alles hinnehmen. Der Unmut ist groß.

Es tut nicht weh, in die andere Richtung zu denken. Man
kann den Strafvollzug auch nach oben, nach dem schon
Erreichten ausrichten: Aufschlusszeiten, Besuchszeiten
und Behandlungsangebote derart verbessern, dass niemand
Schaden nimmt.

Man muss es nur wollen.

Wehret den Anfängen.

STOPPT DEN WAHNSINN!


*


Quelle:
der lichtblick, 42. Jahrgang, Heft Nr. 345, 4/2010, Seite 23-27
Unzensiertes Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Herausgeber: Insassen der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Dezember 2010