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LICHTBLICK/153: Laßt die Gefängnisse in Würde aussterben


der lichtblick - Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Heft Nr. 338 - 1/2009

Lasst die Gefängnisse in Würde aussterben
Die posttraumatische Belastungsstörung im Spiegel der Haft

Von Klaus-Dieter Langer


Es häufen sich die Hinweise, dass kriegerische Gewalterfahrung und damit einhergehende "Traumata" bei einigen betroffenen Menschen zu kriminellem Handeln führt. In England z. B. füllen vermehrt ehemalige Soldaten die Knäste. Schuld daran seien immer häufiger die erlittenen Schocks: "Fast ein Zehntel aller Häftlinge", beklagt die großbritannische Justizgewerkschaft, "dienten als Soldaten im Irak oder Afghanistan." Gleiches verlautet auch aus anderen Ländern, die Kriegseinsätze führen.(1)


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Forensische Psychologen untersuchten, wie sich Misshandlungen und seelisch erlittene Schocks bei Kindern auswirken können: Als Jugendliche und Erwachsene betrügen, stehlen, rauben sie, werden süchtig oder handeln mit Drogen. Sowohl die Veteranen als auch die in ihrer Kindheit Geschädigten zeigen eine "posttraumatische Belastungsstörung".(2)

Man stelle sich vor, wie diese im familiären Umfeld - mal mehr, mal weniger - Misshandelten und auch die im Krieg gedienten Soldaten in Folge ihrer "posttraumatischen BeIastungsstörung" auf die schiefe Bahn gelangen, strafffällig werden und dann - durch die verhängten Haftstrafen - in ein Strafsystem geraten, welches wiederum traumatisiert. Hierdurch werden die zuvor erlittenen Traumata erneut belebt und oft entstehen sogar neue. Mit dieser Erkenntnis drängt sich die Frage auf: Wird mit dem zurzeit praktizierten Strafsystem ein besserer Mensch geschaffen? Wird so ein Inhaftierter befähigt, nach der Haftentlassung ein Leben ohne Straftaten zu führen?

Pädagogen haben sich gefragt: Was geschah in der Kindheit von Tätern, insbesondere der wegen Gewaltdelikten inhaftierten? Aus vielfältigen Berichten wird klar: die Kinder erlebten gegen sich eine Art kriegerische Gewalt. Sie wurden nicht nur körperlich sondern auch seelisch gezüchtigt, manche auf grausamste Weise, derart schlimm, dass Menschen, denen Derartiges nie widerfuhr, sich keine Vorstellungen von den erlittenen Leiden der Betroffenen machen können. Letztere erleben Hass, Neid und Gewalt zwischen den Eltern und auf sich bezogen inmitten ihres sozialen Umfeldes. Die Eltern oder Bezugspersonen brachten die Kinder um eine behütete Kindheit. Man ließ sie allein, sie erlebten elterliche Trennung, wurden "verraten", sexuell genötigt oder psychisch als Partnerersatz verwendet. Aus derartigen Umständen, insbesondere wenn mehrere auf die Betroffenen einwirken, erwachsen Traumata, die später zu einer posttraumatischen Störung werden können. Diese Erfahrungen und das Erlittene werden sie verinnerlichen und später weitergeben. Um sich vor solchen Grausamkeiten zu schützen, haben die Kinder sich ihren Gefühlen entfremdet, sie abgespalten (dissoziiert) oder sich mit ihren Aggressoren identifiziert, d.h. deren Auffassungen übernommen.(3)

Viele von ihnen erlitten eine "negative Erziehung", beispielweise die sogenannte "weiße Folter": Hierbei isoliert man die Kinder mit Stubenarrest. Auf Störungen werden die nicht erwünschten oder lästigen Kinder vor dem Femseher ruhiggestellt oder relativ rasch in ein Heim verbracht. Ein ehemals in ein Kinderheim Ausgesetzter sagt: "Als Kind war ich unerträglich, habe viel Mist gebaut, Prügel verdient." In den Heimen haben Kinder ein gleichwohl tragisches Leben. Noch bis in die 1970iger Jahre hinein waren in diversen Heimen drakonische Strafen, "Kloppe", Demütigung und "Entwürdigung von Schutzbefohlenen an der Tagesordnung".(4)


Sehr viele Inhaftierte waren ehemals "Heimkinder". Sie sind gebrandmarkt. Aber anders, als man denkt. Sie signalisieren meist negativ, dass alle Versuche, sie zu erziehen, misslungen sind. Als Nebeneffekt führt dieses destruktive Erziehen bei den Betroffenen oft auch noch zu Schul- und Arbeitsversagen, woraus sich weitere Benachteiligungen im späteren Leben anschließen. Zur Auswahl stehen später meist nur schlecht bezahlte, unbefriedigende Jobs. Das dadurch bei den derart Malträtierten (Gequälten) miterzeugte geringe Selbstwertgefühl verleitet diejenigen sich zu mehr Selbstwert zu verhelfen, z. B. durch Betrug, Einbruch und Diebstahl, Raub und Drogenkonsum. Damit bringen sie sich in eine bessere Lebenssituation - individualpsychologisch "auf die unnütze Seite des Lebens". So erhält derjenige, wenn auch nicht ein realistisches, aber immerhin ein "grandioses Selbstbild". Die Psychologen machen dann einen Zettel an die Strafvollzugsakte, der sich durch die Instanzen so abbildet, wie der Gencode in einer vitalen Körperzelle: "Dissoziation und dissoziales Verhalten."(5) Das heißt: Die in den Akten abgebildeten Menschen waren zu allererst meist Opfer. Dann erst erfolgt die Wandlung. Das einstige Opfer wird zum Täter. Es gibt einen signifikanten Zusammenhang zwischen dem geschilderten, ungeeigneten Erziehungshandeln und den Straftaten. Im Knast wird der Mensch paradoxerweise hafttechnisch entsozialisiert und erneut traumatisiert. Sollen so böse Taten geahndet werden, der Mensch Besserung erfahren?

Der Gefängnisalltag ist von den Verantwortlichen bewusst und somit absichtlich so konstruiert, dass die Menschen sich verlassen fühlen. Ein Schließer sagt: "Tür zu und Ruhe is'." Das erinnert an die Kindheit. Die Bewacher sind negativ aufmerksam und entmündigen die Eingesperrten.

Um zu strafen, arrangieren sie z. B. die Besuche von draußen nahdistanzobservierend und zugleich intimverletzend. Als Folge wenden sich die Bezugspersonen früher oder später vom Gefangenen ab. Ähnliches erfuhren die Betroffenen schon als Kind. Derart arrangiert ist die Strafe ein Dauer-Stubenarrest auf einer Toilette, in der ein Bett steht. Schon das allein ist eine weitere Form, Menschen zu quälen.

Nicht minder quälend: Die Gefangenen werden laufend beobachtet und gezählt, vermessen und registriert, es wird nicht "mit" sondern "über" sie als Sache kommuniziert. In den Zwangsräumen fühlen sie sich ängstlich und empfinden ihre Situation als ausweglos.

Die Menschen erleiden Regressionen, das sind Rückschritte in frühere Entwicklungsstufen menschlichen Verhaltens. Sie zeigen: "Trotz", "Fresslust" oder übermäßige Ansprüche auf "Versorgung" oder versuchen, durch auffälliges Verhalten wie auch immer geartete Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Zum Beispiel: Nirgends gibt es soviel "Millionäre" wie im Knast. Jeder Knacki kennt dieses "kindische" Verhalten, welches oft Ausdruck einer Regression ist: "Die müssen was mit mir machen", sagt ein Gefangener und verschränkt dabei die Unterarme zu einem doppelten Knoten, als wenn er die Forderung wie nasse Wäsche auswringen möchte. Eingesperrte Menschen erfahren sich von wenig Wert. Sie erleiden Hospitalismus-Schäden. Bei den Inhaftierten sind dann u. a. monotone Bewegungsmuster zu sehen, die Gefangenen tagträumen, sie begehren auf - verbinden sich schließlich zu Zwangsgemeinschaften. Das sexuelle Verhalten wird manisch: Die Inhaftierten befriedigen sich exzessiv selbst oder neigen zu entfremdeten Sexualpraktiken. Sie entfremden sich (ggf. noch mehr) vom eigentlich Menschlichen. All das, was die Straftechnik verursacht, wird ihnen dann auch noch als Störung angelastet. Das ist Alltag in deutschen Gefängnissen, all das gehört heutzutage immer noch zur Strafe. Besonders im Verwahrvollzug - und dazu zählen in der JVA Tegel die Häuser I, II und III - empfinden die Inhaftierten ihre Haftsituation als unerträglich, fühlen sich wie gefährliche Tiere hinter Schloss und Riegel gehalten - immer nur reduziert auf sich selbst. So entstehen "Krisengehirne".

Befürworter der bestehenden Haftverhältnisse geben vor, dass viele Knackis nicht mehr durch böse Taten auffallen. Ich gebe zu bedenken: Keiner weiß, was aus den nicht mehr Resozialisierungsfälligen geworden ist. Führen sie ein geregeltes Leben? Oder sind sie abgetaucht in den Straßen, in Wohn- oder Altenheimen? Leben sie in verschrobenen Beziehungen oder sind sie "gebrochene" Lebewesen? Diese Menschen tragen nicht nur ihr Kindheitstrauma, sondern auch noch das Trauma der Haft als zusätzliches Problem mit sich herum. Sie dürften daher meist versteckte Wut, Hass oder depressive Neigungen haben. Oft sind sie im günstigsten Fall melancholisch, schlimmer noch suizidgefährdet. Im schlimmsten Fall können die Menschen für die Allgemeinheit gefährlich werden.

Während in Deutschland die Suizidzahlen zurückgehen, lässt sich das für Haftentlassene nicht sagen. Die Selbstmordrate geht nur dann zurück, wenn Glück, Wohlstand und die menschliche Autonomie anwachsen - und wenn Menschen frei sind von posttraumatischen Störungen. Studien zufolge leiden jedoch ehemals Inhaftierte in besonderem Maße unter Krankheiten und Depressionen. Es gibt Berichte, wonach die Menschen wegen ihrer schlimmen Zeit noch bis ins hohe Alter von Albträumen und Schwermut verfolgt werden.

Die zerstörerischen Haftverhältnisse sind folglich abzuschaffen. Für jeden Gefangenen muss als Prinzip der humanistische Erziehungsgedanke vorherrschen, so ähnlich wie es den jugendlichen Intensivtätern angedacht ist: "Therapie statt Knast". Doch die bisher praktizierte Dauerbuße therapiert nicht, sie entfremdet und verschlimmert.

Inzwischen gibt es sehr interessante statistische Zahlen, die die vorgenannten Thesen bestätigen dürften. In Deutschland gehen seit Jahren die Gesamtstraftaten zurück. Folgendes lässt sich deshalb vermuten: das dürfte mitverursacht die Folge des besseren Erziehungshandelns in unserer Gesellschaft sein. Der zu Beginn genannte negative Umgang mit Kindern wird zunehmend geächtet. Die Kindererziehung in den Familien verbessert sich wertschätzend, die Kinder werden weniger traumatisiert und die Erziehungsmethoden in den Heimen sind heilsam und einfühlender geworden.

Die Knäste bleiben jedoch unverändert: Um sie zu füllen, werden von den Gerichten immer längere Haftstrafen (und immer häufiger die Sicherungsverwahrung) ausgesprochen. Es werden weniger Bewährungsstrafen und mehr Ersatzfreiheitsstrafen verhängt, sodass die Gefängnisse aus allen Nähten plätzen. Die Vollzugsreform kann u.a. wegen Überfüllung nicht umgesetzt werden (vgl. Preusker).(6) An Geld fehlt es nicht. Denn die bestehenden schädlichen Verhältnisse werden zementiert. Dazu trägt auch die Erneuerung von Anstalten mit alter Verwahr-, Schließ- und Observationsstruktur bei. Ein Beispiel ist der Gefängnisneubau in Großbeeren.

Für die nächsten Jahrzehnte gibt es dann weiterhin den "Schließer" und den "Knacki" mit seinem "Knacks" und den Brüchen im Gebälk. Den meisten Menschen, sogar den Strafexperten ist bewusst: Gefängnisse sind Jahrhunderte alte Trauma- und Brutanstalten für fortwährende und anwachsende Delinquenz, an der die Zivilisation letztlich leidet. Denn die Täter-Opfer-Spirale wird dadurch nicht aufgehalten.


Anmerkungen und Quellen

(1) Heinze, H.: Veteranen auf der schiefen Bahn. Der Tagesspiegel vom 20.09.08

(2) Die "posttraumatische Belastungsstörung" ist die Folge (post = nach) von erlittener Schreckenserfahrung, wie Kriegs- und Katastrophenerlebnisse: Die Menschen wurden existenziell bedroht, litten unter Deprivation, Misshandlung, sie wurden sexuell missbraucht. Die Betroffenen leiden unter Angststörungen (z. B. Albträume, wiederkehrende Erinnerungen, Depressionen, Abstumpfung, Aggressionen, innere Unruhen). Sie sind suizidgefährdet, sexualisieren ihr Verhalten. Ihre Gefühle erscheinen ihnen "unwirklich". Sie zeigen Identitätsstörungen, Dissozialität und Dissoziation (s. unten Anm 5)

(3) vgl.: Miller, Alice: Am Anfang war Erziehung. Suhrkamp

(4) Hanisch, D.: Die Leiden der Kinder von Glücksstatt.
Der Tagesspiegel vom 15.12.08

(5) "dissozial" = Verhaltensauffälligkeiten der mangelnden Einfühlung in andere und Missachtung sozialer Normen. Ferner u. a. Nahdistanzprobleme, geringe Zurückweisungsduldung, Reaktivität. "Dissoziation" = Abspaltung von Gefühlen oder sie u. a. nicht mehr wahrnehmen (im Teilbereich einer Handlung).

(6) Preusker/Flügge/Maelicke (Hrsg.): Das Gefängnis als lernende Organisation. S.23, Nomos Verlag, 2001


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Quelle:
der lichtblick, 41. Jahrgang, Heft Nr. 338, 1/2009, Seite 8-9
Unzensiertes Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Mai 2009