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KAZ/157: Erfahrungen eines LPG-Vorsitzenden


KAZ - Kommunistische Arbeiterzeitung, Nr. 333, Dezember 2010
Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker vereinigt euch!

Erfahrungen eines LPG-Vorsitzenden
Warum die "zwangskollektivierten" Genossenschaftsbauern 1990 ihre Betriebe nicht auflösten

Von Dr. Manfred Graichen, Berlin


Am 8./9. Mai 2010 veröffentlichte die "Märkische Allgemeine" (MAZ) einen Artikel unter der Überschrift "Das Tribunal fiel ins Wasser". Darin befasste sich Igor Goldner mit der Position des Ministerpräsidenten von Brandenburg, Matthias Platzeck, zum Thema "Zwangskollektivierung" von Bauern in der DDR. Platzeck verurteilte die von ihm unterstellte Tatsache als "DDR-Unrecht", machte jedoch keine weiteren Ausführungen dazu. Kerstin Kaiser von der Partei Die Linke unterstützte diese Position.

Goldner schreibt: "Es geht um den Umgang mit der Zwangskollektivierung in der DDR-Landwirtschaft vor 50 Jahren ..." Es sei völlig unstrittig, dass damals Tausende Bauernfamilien großes Unrecht erlitten hatten. Mit Repressalien und Schauprozessen seien sie zur Aufgabe ihrer Höfe gezwungen worden. CDU-Vizefraktionschef Peter Dombrowski vermisste bei Platzeck "Selbstkritik und hinreichenden Respekt vor den Opfern der Enteignungen".

Das sind drei Lügen auf einmal. Als Beteiligter bei der Bildung von Genossenschaften in jener Zeit und aus der Erfahrung meiner Tätigkeit als Agronom, Zootechniker und LPG-Vorsitzender möchte ich einiges richtigstellen:

Es gab in der DDR kein Gesetz, das Bauern verpflichtete, einer LPG beizutreten. Von der Bildung der ersten Genossenschaft 1952 bis 1960, als schließlich 99,8% aller Bauern LPG-Mitglieder waren, vergingen acht Jahre. In dieser Zeit wurde intensiv daran gearbeitet, die Bauern zum freiwilligen Eintritt zu bewegen. (1989 gab es immer noch Einzelbauern, vor allem in solchen Gebieten, wo der Einsatz von Großmaschinen nicht möglich war.) Auch wenn in Einzelfällen von übermotivierten Vertretern des Staats- und Parteiapparates Druck ausgeübt wurde, konnte kein Bauer wegen seiner Weigerung, in die LPG einzutreten, bestraft werden. Wer eintrat, wurde dadurch nicht enteignet. Der eingebrachte Boden blieb weiter Privatbesitz und wurde von der LPG nur bewirtschaftet.

Die Bauern entschieden selbst, welchem der drei LPG-Typen sie beitreten wollten. Zur Auswahl standen: Typ I, bei dem nur das Ackerland gemeinsam bewirtschaftet wurde; Typ II mit gemeinsamer Nutzung von Ackerland, Wiesen und Maschinen und Typ III, bei dem die gesamte landwirtschaftliche Nutzfläche, das Vieh, die Gebäude und Maschinen in die LPG eingebracht wurden. In manchen Dörfern gab es mehrere Genossenschaften unterschiedlichen Typs.

Im Typ III hatte jede Familie das Recht, einen halben Hektar Acker privat zu nutzen. Die Bauern erhielten je Hektar eingebrachten Bodens jährlich Geld oder Produkte für die individuelle Viehhaltung. Erlaubt waren eine Kuh mit Nachwuchs, eine Sau mit Nachwuchs sowie Federvieh in unbegrenzter Zahl. Mit zunehmendem Einkommen aus der LPG verzichteten die meisten Bauern auf die individuelle Viehhaltung und ließen sich das Äquivalent der Produkte in Geld auszahlen. Für die beim Eintritt übergebenen Gebäude, Maschinen und Tiere wurde ein deren Wert entsprechender Betrag auf einem Konto gutgeschrieben. Bei zunehmender Leistungsstärke der LPG konnte dieser über den Pflichtbeitrag hinaus in den folgenden Jahren ratenweise ausgezahlt werden. Der Vorsitzende und der Vorstand der LPG wurden von den Mitgliedern in freier Wahl bestimmt.

Mitte 1959 waren in meinem Dorf etwa 90% der Bauern Mitglieder der LPG. Die Flächen der verbliebenen Einzelbauern lagen teilweise zwischen unseren, was die Arbeit erschwerte. Deshalb suchten wir die noch Außenstehenden zu gewinnen. Die Diskussionen mit ihnen zogen sich manchmal bis in die Nacht hin. Niemals wurden Zwangsmaßnahmen angedroht. Allerdings ist es auch bei uns vorgekommen, dass die Zusage zum Eintritt in die LPG zwar gegeben wurde, die Bauernfamilie aber tags darauf in Richtung Westberlin verschwand. Die Zusicherung der Bundesregierung, für den hinterlassenen Hof einen Ausgleich zu zahlen, war in vielen Fällen sicher das treibende Motiv. Übrigens kam das Geld für die aufgelösten oder verkauften Haushalte geflüchteter Bauern auf ein Sperrkonto, über das die Eigentümer im Falle ihrer Rückkehr verfügen konnten.

Die aufgegebenen Höfe mussten bewirtschaftet werden. Teilweise wurden sie zu Örtlichen Landwirtschaftlichen Betrieben (OLB) zusammengefasst. Diese standen unter staatlicher Aufsicht. Nach 1960 wurden die OLB meist von LPG bzw. Volkseigenen Gütern (VEG) übernommen.

Bei der Bodenreform im Jahre 1946 sind nur Betriebe mit einer Fläche von mehr als 100 Hektar LN sowie solche von Kriegsverbrechern und Nazi-Aktivisten enteignet worden. Viele Umsiedler und Landarbeiter, die aus dem Bodenreformfonds etwas bekommen hatten, waren keine gelernten Landwirte. Oft waren diese Neubauern außerstande, der staatlichen Ablieferungspflicht zu festen Preisen voll nachzukommen. An die Lieferung "freier Spitzen" zu höheren, jedoch wechselnden Preisen war bei solchen Betrieben gar nicht zu denken. Über die Bäuerliche Handelsgenossenschaft (BHG) sowie durch die Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB) wurde mit staatlicher Unterstützung versucht, diesen "Landwirten" unter die Arme zu greifen.

1952 entstanden die ersten LPG, denen vor allem die wirtschaftlich schwächsten Bauern des Dorfes zustrebten. In den Anfangsjahren durften Großbauern nicht aufgenommen werden. Für die LPG-Vorsitzenden jener Etappe war es nicht leicht, von einem eigenen 8- bis 10-Hektar-Hof auf die Bewirtschaftung von 1.000 und mehr Hektar umzuschalten. Man entsandte Studenten landwirtschaftlicher Hoch- und Fachschulen in die Dörfer, um den Genossenschaften bei der Planung und Lösung ihrer Aufgaben zu helfen.

Die DDR-Regierung unterstützte die LPG durch Sicherstellung eines Mindesteinkommens für jedes Mitglied, bevorzugte Versorgung mit Saatgut und Düngemitteln, sowie durch die Schaffung von Maschinen-Ausleih-Stationen (MAS). Sie waren Dienstleistungsbetriebe für die Landwirtschaft. Bei ihnen arbeiteten zunehmend Absolventen entsprechender Hoch- und Fachschulen, die den Genossenschaften zur Seite standen. In späteren Jahren wurden sie direkt in die LPG delegiert, während der Staat ihr Gehalt weiterzahlte. Nachdem sich die Genossenschaften einigermaßen gefestigt hatten, konnten auch Großbauern in sie eintreten. Die MAS wurden in Maschinen-Traktoren-Stationen (MTS) umgewandelt. Diese arbeiteten auf Antrag für die LPG, aber auch für Einzelbauern. Nachdem 1960 fast alle Mitglieder der LPG waren, ging die Technik der MTS zum eigenverantwortlichen Einsatz an diese über. Auch die meisten Traktoristen traten ihr bei. Die früheren MTS hießen nun Kreisbetriebe für Landtechnik (KfL) und übernahmen die Instandsetzung von Maschinen und Geräten der LPG.

Das Dorfleben wurde weitgehend durch die Genossenschaften beeinflusst. Für deren Mitglieder war Urlaub kein Fremdwort mehr. Viele Betriebe hatten sich eigene Ferienheime geschaffen und tauschten die Plätze untereinander aus. Die LPG-Kantinen sorgten für warmes Mittagessen, das 0,80 bis 1 Mark kostete. Kindergarten, Kulturgruppen, Wäschedienst, Winterdienst und vieles mehr gehörten selbstverständlich dazu. Darüber ist aus den heutigen Medien allerdings nichts zu erfahren.

Symptomatisch dafür, dass die LPG gesunde Betriebe waren, deren Mitglieder sich wohl fühlten, ist die Tatsache, dass nach 1990 die Mehrzahl von ihnen trotz aller durch die neuen Machthaber ersonnenen und errichteten Hindernisse noch heute besteht, wenn auch in geänderter Rechtsform.

Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus Rotfuchs Nr. 153/Oktober 2010.


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Quelle:
KAZ - Kommunistische Arbeiterzeitung, Nr. 333, Dezember 2010, S. 16-17
Herausgeber und Verlag: Gruppe Kommunistische Arbeiterzeitung, Selbstverlag
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Januar 2011