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KAZ/143: Annotationen zur neuesten Weltwirtschaftskrise


KAZ - Kommunistische Arbeiterzeitung, Nr. 329, Dezember 2009
Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker vereinigt euch!

Ist Wahrheit unbesiegbar?
Ist der Marxismus-Leninismus wahr?
Annotationen zur neuesten Weltwirtschaftskrise
Von Menschen und Eseln


Geschichte wiederholt sich nicht, heißt es. Das stimmt. Geschichte ist kein Kreis, den die Menschheit wieder und wieder umrundet, so dass die neuen Generationen stets wieder dort ankommen, wo die Ahnen schon waren. Geschichte ist eher eine Spirale, die sich, mal steiler, mal flacher, aufwärts schraubt und deren Durchmesser sich von Windung zu Windung vergrößert. Die Lebenden sind ganz oben und vorne, an der Grenze. Vor ihnen liegt das Nochnichtgewesene, das sie erfinden und erarbeiten. Wir machen nämlich unsere Geschichte selbst.

Wir machen unsere Geschichte selbst? - Gegen diese Behauptung gibt es manchen Einwand. Selbst wenn wir Götter und Vorsehung, Welterschaffung und jenseitigen Willen beiseite lassen - sind wir denn nicht eher hilflos ausgeliefert? Unserer eigenen Natur, über die wir nun einmal nicht hinauskönnen? Den Umständen, wie sie nun einmal sind? Den Sachzwängen?

Nehmen wir zum Beispiel die gegenwärtige Krise: Sie bricht über uns herein. Niemand hat sie gewollt, und doch ist sie da. Niemand kann sie zähmen, selbst die Regierungen nicht, auch wenn sie so tun, als ob. Gestern hieß es noch, die Zeit der Krisen sei vorbei, die Geschichte sei zu Ende, die Globalisierung sei eine neue Ära der Menschheit - und heute?!

Das war doch schon mal so ähnlich, um 1930 herum: Schwarzer Freitag, Börsensturz, Massenarbeitslosigkeit ... Also ist die Geschichte doch ein Kreis, in dem wir trotten wie der Esel, der, an den Balken geschirrt, jahraus, jahrein das Wasser aus dem Brunnen pumpt, von dem er selbst das wenigste kriegt, und der nicht einmal weiß, warum er immer rundherum um diesen blöden Brunnen trotten muss.

Immerhin können wir denken. "Weltwirtschaftskrise - das war doch vor achtzig Jahren schon einmal ähnlich." Solche Assoziationen bringt ein Esel nicht zustande.


Prognosen

Das können Esel auch nicht: in die Zukunft sehen. Menschen versuchen das schon seit altersher. Die Eingeweide von Vögeln oder die Glaskugel haben sich zwar nicht recht bewährt. Aber selbst mit so unzulänglichen Hilfsmitteln gelang manche Vorhersage, nicht des Brimboriums wegen, sondern weil Menschen sich darauf konzentrierten, aus der Vergangenheit und Gegenwart auf die Zukunft zu schließen. Die Spirale wurde weitergedreht, weiter oben und außen erfanden die Menschen die Wissenschaften. Das war ein weit besseres Hilfsmittel als Eingeweide und Glaskugeln. Jetzt wissen wir ungefähr, wie lange sich die Erde noch um die Sonne drehen wird und warum. Wir wissen freilich nicht, wie tief die gegenwärtige Krise wird und wie lange sie dauern wird. Das liegt aber schon nicht mehr an einem Mangel an Erkenntnisinstrumenten, sondern mehr an der Weigerung, sie auch anzuwenden, oder der Weigerung, das mit ihnen erarbeitete Wissen zur Kenntnis zu nehmen.


Ein Beispiel:

1927, mitten in kapitalistischer Prosperität und recht schönem Wirtschaftswachstum, hielten die sowjetischen Kommunisten ihren XV. Parteitag ab. Unter anderem beschäftigten sie sich auch mit der kapitalistischen Weltwirtschaft. Im Politischen Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees, den Stalin erstattete, steht das Folgende, zunächst zum Stand der Dinge:

"... Die erste Frage ist die nach dem Zustand der Produktion und des Handels in den größten kapitalistischen Ländern. ... die grundlegende Tatsache besteht darin, dass die Produktion ... über den Vorkriegsstand hinausgegangen ist ... Der Index der Weltproduktion von Stahl lag ... 1926 bei 122,6 Prozent der Vorkriegsleistung ... Kohle ... 96,8 Prozent ... Baumwolle ... 112,5 Prozent ... Die Welternte von fünf Getreidesorten ... 1927 ... 112,3 Prozent der Vorkriegsernte ... So kommt der Gesamtindex der Weltproduktion langsam, in kleinen Schritten voran ... Dafür gibt es aber einige kapitalistische Länder, die nicht vorwärts schreiten, sondern vorwärts springen ..., so zum Beispiel die Vereinigten Staaten von Nordamerika und in geringerem Masse auch Japan. Einige Angaben über die Vereinigten Staaten ...: Die Produktion der verarbeitenden Industrie war ... im Jahr 1926 auf 152 Prozent, die der Grundstoffindustrie ... auf 154 Prozent des Vorkriegsstandes gestiegen.

Das Wachstum des internationalen Handels: Der Welthandel wächst nicht so rasch wie die Produktion ... Der Index des Außenhandelsumsatzes in ... den wichtigsten Ländern lag ... 1926 bei 97,1 Prozent des Vorkriegsumsatzes. ... Vereinigte Staaten ... 143 Prozent ... Frankreich ... 99,2 Prozent; ... Deutschland ... 73,6 Prozent, Japan ... 170,1 Prozent ...

Schließlich eine dritte Reihe von Tatsachen, die von dem technischen Fortschritt, von der Rationalisierung der kapitalistischen Industrie, von der Schaffung neuer Wirtschaftszweige, von verstärkter Vertrustung, von verstärkter Kartellierung der Industrie im internationalen Maßstab sprechen. ... Ich stelle ... fest, dass das Kapital Erfolge aufzuweisen hat nicht nur hinsichtlich des Wachstums der Produktion wie des Handels, sondern auch auf dem Gebiet der Verbesserung der Produktionstechnik, auf dem Gebiet des technischen Fortschritts, auf dem Gebiet der Rationalisierung der Produktion, wobei dies alles zu einer weiteren Stärkung der größten Truste und zur Gründung neuer, mächtiger monopolistischer Kartelle geführt hat."

Konstatiert wird also eine erfolgreiche Entwicklung des Kapitalismus, indem einfach die Tatsachen aufgeführt werden, die dafür sprechen. Dann wird der Blick auf die problematischen Seiten dieses Erfolgs gerichtet. Stalin fährt fort, indem er zunächst das Allgemeine, das sich aus diesen problematischen Seiten ergibt, vorweg nimmt:

Bedeutet das alles, dass die Stabilisierung des Kapitalismus damit fest, dass sie dauerhaft geworden wäre? Natürlich nicht! ...

Aus der teilweisen Stabilisierung erwächst eine Verschärfung der Krise des Kapitalismus, die anwachsende Krise legt die Stabilisierung in Trümmer - das ist die Dialektik der Entwicklung des Kapitalismus im gegebenen historischen Moment.

Worauf gründete sich die Behauptung, die "anwachsende Krise" werde "die Stabilisierung in Trümmer" legen? Kein bürgerlicher Experte hielt 1927 dafür, dass es überhaupt eine solche Krise gebe und noch weniger, dass es sich um eine "anwachsende" handele oder gar eine, die sogar die "Stabilisierung in Trümmer legen" würde. Die Begründung dieser Behauptung der sowjetischen Kommunisten wurde im Rechenschaftsbericht so formuliert:

... Am charakteristischsten ... ist die Tatsache, dass die Entwicklung ungleichmäßig vor sich geht. Die Entwicklung verläuft nicht so, dass die kapitalistischen Länder eins nach dem anderen vorwärts eilen, ruhig und gleichmäßig, ohne einander zu stören und niederzurennen, sondern umgekehrt - auf dem Wege der Verdrängung und des Niedergangs der einen Länder, auf dem Wege des Vorrückens und Emporkommens der anderen, als ein Kampf auf Leben und Tod, der von den Kontinenten und Ländern um die Vorherrschaft auf dem Markt geführt wird.

Das Zentrum der Wirtschaft verlagert sich von Europa nach Amerika, vom Atlantischen zum Großen (Pazifischen) Ozean. Dadurch wächst der relative Anteil Amerikas und Asiens am Welthandelsumsatz auf Kosten Europas.

Einige Zahlen: waren 1913 Europa am Welthandel mit 58,8 Prozent, Amerika mit 21,2 Prozent und Asien mit 12,3 Prozent beteiligt, so ist 1925 der Anteil Europas auf 50 Prozent gesunken, dagegen der Anteil Amerikas auf 26,6 Prozent und der Asiens auf 16 Prozent gestiegen. Neben den Ländern mit vorwärts stürmendem Kapitalismus (Vereinigte Staaten ... und in geringerem Maß Japan) haben wir Länder des wirtschaftlichen Niedergangs (England). Neben dem erstarkenden kapitalistischen Deutschland und den in den letzten Jahren emporgekommenen und weiter aufsteigenden Ländern (Kanada, Australien, Argentinien, China, Indien) haben wir Länder eines sich stabilisierenden Kapitalismus (Frankreich, Italien). Es wächst die Zahl der Prätendenten auf Absatzmärkte, es wachsen die Produktionsmöglichkeiten, es wächst das Angebot, der Umfang der Märkte aber und die Grenzen der Einflusssphären bleiben mehr oder weniger stabil.

Das ist die Grundlage für die wachsenden unversöhnlichen Widersprüche des modernen Kapitalismus.

... Dieser Widerspruch zwischen dem Wachstum der Produktionsmöglichkeiten und der relativen Stabilität der Märkte ist der Grund dafür, dass das Problem der Märkte jetzt das Hauptproblem des Kapitalismus ist.

Verschärfung des Problems der Absatzmärkte im Allgemeinen, Verschärfung des Problems der Auslandsmärkte im Besonderen, Verschärfung des Problems der Märkte für Kapitalexport im Einzelnen - das ist der jetzige Zustand des Kapitalismus ...

Es bleibt ... ein einziger "Ausweg": eine Neuverteilung der Kolonien und Einflusssphären auf dem Wege der Gewalt, auf dem Wege militärischer Zusammenstöße, auf dem Wege neuer imperialistischer Kriege ...

(Nebenbei: Diese ausführlichen Zitate dienen nicht dazu, Analogien zur heutigen Lage herzustellen. Die mag es geben oder nicht. Ehe sie hergestellt oder verworfen werden können, bedarf es aber in jedem Fall der konkreten Untersuchung der heutigen Lage.)

Es ist für uns Heutige eine geschichtliche Tatsache, dass es genau so gekommen ist, wie es im letzten hier zitierten Satz prognostiziert wurde. Darüber kann man leicht unterschätzen, wie sensationell genau die KPdSU prognostizierte, was dann wirklich geschah. 1927, in einer Zeit der Erholung des Kapitalismus und flotter Prosperität zu erkennen, dass hinter dem bloßen Augenschein die "anwachsende Krise" wirkt und sogar die schließliche Art ihrer Lösung - "auf dem Wege der Gewalt, auf dem Wege militärischer Zusammenstöße, auf dem Wege neuer imperialistischer Kriege" richtig zu prognostizieren, ist eine erstaunliche Leistung.


Instrumentarium

Das Erkenntnisinstrumentarium, das die sowjetischen Kommunisten anwendeten und mit dem sie zu so genauen Voraussagen kamen, war die auf Marx basierende polit-ökonomische Wissenschaft.

Das ist ein Instrumentarium, das man anwenden oder ignorieren kann. Es ist weithin in Verruf. Wurden nicht im Namen des Marxismus-Leninismus auch ganz falsche Sachen behauptet?! Wie war denn das: "Von der Sowjet-Union lernen, heißt siegen lernen!"? Hat sich nicht letzten Endes herausgestellt: Von der Sowjet-Union lernen, heißt verlieren lernen? In diesem Sinn wäre Etliches anzuführen.

Der Grund für mitunter auch falsche Ergebnisse ist aber nicht, dass der Anspruch der marxistischen Politischen Ökonomie auf Wissenschaftlichkeit falsch wäre. Es handelt sich vielmehr darum, dass jede Wissenschaftsentwicklung von Irrtümern begleitet ist, der Irrtum sogar zu ihrer Entwicklung gehört. Das ist beim Marxismus-Leninismus nicht anders als bei der Physik oder Chemie. - Auf der Basis des vorhandenen Wissensstands werden Thesen über noch nicht Erkanntes formuliert. Die können entweder richtig oder falsch sein. Gewöhnlich haben sie richtige und falsche Seiten. Indem sie in der Praxis überprüft werden, kann das Richtige vom Falschen getrennt werden, muss die neue These modifiziert, vergenauert oder auch verworfen werden. Der Wissenschaft von der Gesellschaft steht dafür allerdings, anders als der Physik oder Chemie, nicht das Mittel des Experiments zur Verfügung. Die beobachteten Vorgänge können nicht künstlich isoliert und je für sich betrachtet werden. Dieser Unterschied zu den Naturwissenschaften ändert aber nichts an der Wissenschaftlichkeit, sondern ist nur eine Bedingung, die der betrachtete "Gegenstand" - die Gesellschaft - dem Verstehen setzt und entsprechende Methoden abfordert.

Wie jede andere Wissenschaft, ist auch die marxistische Politische Ökonomie mit gesellschaftlichen Interessen verknüpft - Physik und Chemie z.B., unter kapitalistischen Verhältnissen, mit dem Interesse der Kapitalisten an der Verwertbarkeit ihrer Forschungsergebnisse, was einschließt, dass die Forschung von diesem Interesse in bestimmte, nicht unbedingt von der Wissenschaft selbst induzierte, Richtungen gedrängt wird, und in andere, als nicht potenziell profitabel angesehene, Richtungen nicht geforscht wird. Im Fall der marxistischen Politischen Ökonomie ist das erkenntnisleitende Interesse das objektive Interesse der Arbeiterklasse an der Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft und, wo dies erreicht wurde, war und ist es die Verteidigung und Weiterentwicklung der neuen Gesellschaft. Solche gesellschaftlichen Einflüsse auf die Wissenschaft sind unvermeidlich. Die Wissenschaften hausen nicht in einem von der Gesellschaft isolierten und unabhängigen Elfenbeinturm.

Diese Einflüsse treiben die Wissenschaften einerseits vorwärts, weil von ihnen Ergebnisse, und zwar nach Möglichkeit praktisch anwendbare, erwartet werden. Sie bringen aber auch ein subjektives Moment in die Wissenschaften, das zu einer Fehlerquelle und zu einer Erkenntnisschranke werden kann. Das passiert sowohl in den Naturwissenschaften wie auch in der Politischen Ökonomie.

Nichtsdestotrotz ist Wissenschaft, verglichen mit anderen Erkenntnismitteln und -Verfahren, ein Qualitätssprung. Sie ist in ihren Möglichkeiten, die Wirklichkeit einigermaßen korrekt im menschlichen Gehirn gewissermaßen abzubilden, sowohl dem sogenannten gesunden Menschenverstand als auch den spekulativen Methoden der Religionen und der philosophisch-idealistischen Weltanschauungen im Allgemeinen in einem Maß überlegen, dass z.B. jeder Naturwissenschaftler, der "privat" irgendeinem Idealismus anhängt, "beruflich" den Standpunkt des Materialismus einnehmen muss. - Denn das ist der gemeinsame Kern aller Wissenschaft: die Annahme, dass es eine materielle Realität unabhängig von deren menschlicher Anschauung gibt, und dass wir per Betätigung des Gehirns in der Lage sind, diese so wahrheitsgemäß zu erfassen, dass die praktische Anwendung gewonnener Erkenntnisse zu vorauskalkulierten Ergebnissen führt. Soweit das der Fall ist, ist das jedes Mal gleichzeitig ein Beweis für das Axiom "objektive Realität - deren Widerspiegelung im menschlichen Bewusstsein".


Die Wissenschaften sind nicht alle gleich

Jetzt haben wir also eine neue Weltwirtschaftskrise. Warum? Worin besteht sie? Welche Folgen hat sie für wen? Wie wird das ausgehen? Die Fragen sind ziemlich dringlich. Wer kann sie beantworten?

- Wir! behaupten die bürgerlichen Wirtschafts- und
Gesellschaftswissenschaftler.

- Wir ! behaupten die Marxisten.


Wer denn nun? Wem ist zu trauen?

Was letztere Frage betrifft, kann man sich eines Hilfsmittels bedienen: Was haben die verschiedenen Leute in der Vergangenheit gesagt? Haben sie eher richtig oder eher falsch gelegen? Das ist ein Hinweis auf die Zuverlässigkeit ihrer heutigen Behauptungen.

Über die gegenwärtige Krise wird vieles gesagt. Es ist gar nicht leicht, das zu überblicken. Viele Behauptungen über die Gründe und die Mittel ihrer Überwindung widersprechen einander. Das ist schon ein erster Hinweis darauf, wie man sich die Angelegenheit erschließen kann: nicht eben leicht; es herrscht mehr Verwirrung als Klarheit.

Das Verwirrungsgeschlinge hat etliche Hauptstränge. Einer ist die Behauptung, es sei etwas schief gelaufen, es seien Fehler passiert. Ein anderer: Jetzt seien die Regierungen gefordert. Sie könnten und müssten das Schlimmste verhindern. Sie müssten die Fehler abstellen und Regelungen durchsetzen, die so etwas in Zukunft verhindern. Ein dritter, oft stillschweigend als selbstverständlich vorausgesetzter, Strang ist: Die Krise sei zwar schwer, aber vorübergehend, und bald werde es wieder aufwärts gehen. Das behaupten die bürgerlichen Experten jeder Couleur.

Dann aber gibt es, wenig wahrgenommen, eine ganz andere Erklärung. - Die Krise sei gar nicht die Folge von Fehlern, sondern der gewöhnliche Lauf des Kapitalismus, zu dem Krisen genauso gehören wie Phasen der Prosperität.

Krisen seien im Kapitalismus nicht vermeidbar, weder mit Regierungsmaßnahmen noch mit irgendeinem anderen Mittel. Das behaupten die marxistischen Ökonomen.

Ein Rückblick auf die bisherige Geschichte der kapitalistischen Gesellschaftsordnung spricht für die Behauptungen der Marxisten. Seit es Kapitalismus gibt, gibt es Krisen. Sie sind verschiedener Art. Es gibt Überproduktionskrisen, Finanzkrisen, territorial beschränkte und weltweite, sektoral beschränkte oder alle Sektoren erfassende, zyklische und strukturelle. Ihre zeitliche Dauer und Tiefe ist unterschiedlich. Viele werden von der Masse der Bevölkerung kaum wahrgenommen, weil sie sich wenig auf deren Leben auswirken. Es gibt gewisse Regelmäßigkeiten. Überproduktionskrisen z. B. haben einen Zyklus von zwischen minimal sechs und maximal etwa zwölf Jahren. Seit der Zeit, die die Marxisten als Übergang vom Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Monopolkapitalismus - anderes Wort dafür: Imperialismus - (das ist kein Schimpfwort, sondern ein gut definierter polit-ökonomischer Begriff) - analysiert haben, entwickelt sich die allgemeine Krise des Kapitalismus. Seitdem sind die einzelnen und verschiedenen Krisen immer auch Ausdruck dieser allgemeinen Krise, und was wir gegenwärtig erleben/erleiden, ist eine, die so allgemein und tief ist, dass sie mit dieser von den Marxisten diagnostizierten "allgemeinen Krise" nahezu verschmilzt und zur "Krise des Systems", seiner grundlegenden Funktionsmechanismen wird.

Für die Marxisten ist das keine Überraschung, sondern die Bestätigung ihrer Annahmen. Die bürgerlichen Volkswirtschaftler und sonstigen Gesellschaftstheoretiker dagegen stehen ziemlich dumm da. Ein Vergleich mit Eseln wäre eine Beleidigung der Esel. Was haben sie in den vergangenen drei Jahrzehnten nicht alles zusammengeschrieben über das Selbstregulierungspotenzial der Märkte, deren unübertreffliche Allokationsfunktionen, ihr segensreiches Wirken für ("letzten Endes") den Wohlstand aller Menschen, die Fähigkeit, mittels "Makro-Steuerung" die "wirtschaftlichen Gleichgewichte" in einem gedeihlichen Rahmen zu halten, etc. pp.. Tja, Herr Professor, Frau Finanzgenie ...

Die Krise ist nicht nur ein Einbruch der Wirtschaft, sie ist auch ein Einbruch der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaft. Wenn es um ergebnisorientierte Urteile ginge, müssten all die Apparate aufgelöst und die Herren und Damen wegen Unfähigkeit fristlos entlassen werden. Aber ihre apologetische Funktion gewährleistet, dass sie erhalten bleiben. Schließlich haben die chinesischen Kaiser ihre Astrologen ja auch nicht in die Reisernte geschickt, wenn sich die Wirklichkeit wieder einmal geweigert hatte, ihren Sterndeutungen zu folgen. Aber als Wissenschaft ist bürgerliche Volkswirtschaftswissenschaft inzwischen in einem Maß diskreditiert, dass das Label Wissenschaft selbst zum Betrug wird. Das Markenprodukt ist seine eigene Produktpiraten-Ware. Die angebliche Wissenschaftlichkeit ist in Wirklichkeit eine billige Religion, deren Pfaffen in ihren Predigten und Erbauungsschinken in immer neuen Variationen das immer gleiche, längst hundertmal praktisch widerlegte Glaubensbekenntnis predigen, das so schlecht funktioniert wie eine imitierte Rolex. Was dem Schamanen seine Zauberknochen, sind dem "technischen Finanzanalysten" seine Kurven-Schaubilder. Was dem Papst die jungfräuliche Empfängnis, ist dem Volkswirt der Markt. Das Verkommen der Volkswirtschaftslehre zu einem Kodex von Beschwörungs-Mantras ist aber trotzdem kongenial. Die Verrücktheit der Anschauung bildet auf ihre Weise die Verfaulung der kapitalistischen Ordnung ab.

Die bürgerliche Wirtschaftswissenschaft ist eine Leiche. Sie ist theoretisch und praktisch widerlegt. Ihre Axiome sind falsch. Sie behaupten die Erfassung einer Welt, die es gar nicht gibt, und ignorieren die wirkliche. Die Tatsachen werden ständig vergewaltigt, um sie irgendwie ins Glaubensbekenntnis zu kriegen. Viel Geld macht es möglich, die Leiche so kunstvoll zu balsamieren, dass man bei flüchtigem Hinschauen meinen kann, es handele sich um etwas Lebendiges. Bei genauerem Hinschauen bemerkt man aber: Es sind bloß die Würmer, die sich bewegen.

Die marxistische politische Ökonomie ist dagegen recht lebendig. Sie hat die gegenwärtige Krise vorausgesehen und ihre Gründe herausgearbeitet. Sie ist einigermaßen in der Lage, die Beziehungen und wechselseitige Bedingtheit zwischen Ökonomie, Gesellschaft und Politik zu erfassen. Sie "schaut hinter die Kulissen" und benennt die inneren Triebkräfte der Ereignisse.

Als kleines Beispiel sei ein kleiner Ausschnitt aus den Thesen des XVII. Parteitags der Portugiesischen Kommunistischen Partei zitiert:

"Die scharfe Offensive in der Ausbeutung und Aggression war in den letzten Jahren die herausragendste und beständigste Besonderheit in der internationalen Lage. Diese Offensive hat ihre Wurzeln im kapitalistischen System und seinen Widersprüchen selbst. Sie ist die Antwort der reaktionärsten Kreise des Big Business auf die Krise, die das kapitalistische System durchmacht. ...

Dem Kapitalismus stehen weiterhin gewaltige Ressourcen und ausgeteilte Mittel für das weltweite und regionale Krisen-Management und die Expansion der Märkte zur Verfügung. Aber die Lage der Weltwirtschaft ist, mit wachsender Tendenz, instabil und die kapitalistischen Ungleichgewichte und Widersprüche wachsen weiter an ..."

Dieser Befund wird 2004 erstellt. Die Finanzkrise zu Beginn des 3. Jahrtausends, die weitgehend im Finanzsektor geblieben war und verhältnismäßig wenige "realwirtschaftliche" Auswirkungen hatte, war seit fast zwei Jahren überwunden. Die bürgerlichen Experten sprachen unisono vom neuen Aufschwung. Die Aktienkurse stiegen wieder munter. Die Wachstumsraten hatten sich erholt. - Aber die portugiesischen Kommunisten sprachen von Krise! - Unglaubwürdig? Weil Kommunisten halt immer von kapitalistischer Krise sprechen?

Die Diagnose wird in den Thesen ausführlich begründet. Hier sollen nur einige wenige Aspekte angeführt werden:

"In den entwickeltsten kapitalistischen Ökonomien hat sich die Tendenz zum Dienstleistungssektor und die teilweise Desindustrialisierung verstärkt. Arbeitsintensive Aktivitäten werden zunehmend in die kapitalistische Peripherie verlagert. Die Einkommensunterschiede und die Armut wachsen. Millionen Menschen sind von der Befriedigung ihrer grundlegendsten Bedürfnisse ausgeschlossen und werden in Emigration und unmenschliche Bedingungen gedrückt. ...

Die Schwierigkeit, in der Produktionssphäre hinlängliche Profitraten zu erzielen - die das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate bestätigt - trägt zur Dominanz des Finanzkapitals und zu seiner Expansion bei. ..."

Die chaotische Ungleichmäßigkeit der kapitalistischen Entwicklung in den verschiedenen Regionen, die immer weiter aufklaffende Schere zwischen den Konsummöglichkeiten der Massen infolge des Zurückbleibens der Löhne hinter dem Anwachsen der Warenberge, die zunehmende Dominanz des Finanzkapitals über Produktion und Verteilung und die Unterwerfung dieser Sektoren unter die Logik des Kapitalhandels wirkte "hinter" der scheinbaren Prosperität - und es bereitete sich wirklich die nächste Krise vor. All die bürgerlichen Experten sahen sie nicht oder wollten sie nicht sehen und enthusiasmierten über die grenzenlosen Fähigkeiten der "Marktwirtschaft", "Wohlstand" zu schaffen. Aber die nächste akute Krise brach Ende 2007 aus und erreichte im Herbst 2008 einen ersten Höhepunkt. Sie brachte zum Vorschein, was im Verborgenen, bei Beschränkung der Sicht auf die bloßen Erscheinungen, gewirkt hatte. Wieder einmal hatten sich die bürgerlichen Experten vom Schein blenden lassen (oder absichtlich gelogen), während die Kommunisten Jahre im voraus in den Blick genommen hatten, was kommen würde.

Die Thesen der PCP aus dem Jahr 2004 enthalten einen Ausblick. Unter anderem wird die Entwicklung der "inner-imperialistischen" Widersprüche prognostiziert. Dazu heißt es in besagten Thesen:

"Die inner-imperialistische Koordinierung wie die Rivalitäten sind zwei nicht voneinander trennbare Aspekte des kapitalistischen Systems, die wir sorgfältig beobachten müssen, um in jedem gegebenen Augenblick bestimmen zu können, welcher vorherrschend ist und welches jeweils spezifische Kräfteverhältnis gegeben ist. Es gibt viele akute Interessenkonflikte, vom Öl bis zu den Kommunikationssystemen, von Waffenproduktion und -handel bis zum Echelon-Spionagesystem. Die Auseinandersetzungen über die ökonomische, politische und militärische Kontrolle in großen Gebieten wie Osteuropa, Mittlerer Osten, Zentralasien und viele andere, geht weiter ...

Es handelt sich um einen beständigen Prozess, in dessen Verlauf Überraschungen und Verschiebungen möglich sind: in der Macht-Balance zwischen den verschiedenen imperialistischen Zentren und in ihren Währungsbeziehungen, beim Streben nach Kontrolle der beschränkten Energie-Ressourcen des Planeten, in der Aufteilung der (wechselseitigen) Zugeständnisse bei der Überwindung der Krise und bei der Lösung der gewaltigen Probleme des US- und Weltkapitalismus, bei der Aufteilung der Ressourcen und Märkte."

Das sind zwar Aussagen aus dem Jahr 2004. Aber so, wie sich andere bereits bestätigt haben, sind auch diese ernst zu nehmen. Sie bei der Beobachtung der Tages-Krisenereignisse "im Hinterkopf" zu behalten, schafft mehr "Durchblick" als die eloquentesten Professoren-Kommentare. Übrigens haben die portugiesischen Kommunisten inzwischen ihren nächsten Parteitag abgehalten, im Dezember 2008, und ihre Einschätzungen im Licht der neuesten Entwicklungen aktualisiert. Das kann im Internet nachgelesen werden, ebenso wie -zig Dokumente anderer kommunistischer Parteien. Das meiste ist, im wahrsten Sinne des Wortes, erhellend.

Sepp A.


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Quelle:
KAZ - Kommunistische Arbeiterzeitung, Nr. 329, Dezember 2009, S. 35-39
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Januar 2010