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IZ3W/383: Editorial zum Themenschwerpunkt von Ausgabe 367 - Anarchismus weltweit


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe 367 - Juli/August 2018

Anarchismus weltweit
Editorial zum Themenschwerpunkt


Die Utopie von der herrschaftsfreien Gesellschaft, von der Anarchie hat kaum jemand so überzeugend formuliert wie der italienische Anarchist Errico Malatesta: »Unser Ideal ist nicht eines, dessen Erfolg vom isoliert betrachteten Individuum abhängt. Es geht darum, die Lebensweise der Gesellschaft insgesamt zu verwandeln, darum, unter den Menschen Beziehungen zu schaffen, die auf Liebe und Solidarität beruhen; darum, die vollkommene materielle, sittliche und intellektuelle Entwicklung nicht etwa für einzelne Individuen oder Angehörige einer Klasse oder bestimmten politischen Partei, sondern der gesamten Menschheit zu erreichen - und das ist ein Ziel, das nicht mit Gewalt erzwungen werden kann, vielmehr muss es sich aus dem aufgeklärten Bewusstsein eines jeden von uns ergeben und kann nur durch freiwillige Zustimmung aller erreicht werden.«

Mit diesen Vorstellungen von der freien Assoziation der Menschen wandten sich Malatesta und andere AnarchistInnen nicht nur gegen das Ausbeutungsverhältnis des Kapitalismus und gegen den Autoritarismus der feudalen, bürgerlichen und faschistischen Staaten. Ihre Kritik galt ebenso den parteikommunistischen Vorstellungen von der »Diktatur des Proletariats« und dem faulen Frieden der Sozialdemokratie mit dem Kapital. Damit stießen sie einst auf viel Zuspruch: In den Jahrzehnten vor und nach 1900 war der anarchistische Flügel der ArbeiterInnenbewegung enorm stark; und zwar nicht nur in Hochburgen wie Spanien oder Russland, sondern auch in den USA und in Lateinamerika.

Warum wurde aus dem starken libertären Flügel der Linken eine recht bedeutungslose Unterströmung? Anarchismus wird kaum mit dem emanzipativen Anliegen der Abschaffung von Herrschaft assoziiert, sondern mit Chaos, Gewalt und unreifem Denken. Bis heute gibt es selbst in weiten Teilen der Linken viel Unwissen und teils vehemente Vorbehalte. Auch nach einer gewissen Blütezeit in Folge der Neuen Linken ab 1968 ist es in Westeuropa und Nordamerika wieder recht still geworden um den Anarchismus, abgesehen von wiederum strittigen Ausnahmen wie Occupy.

Lebendiger sind anarchistische Szenen heute in Lateinamerika, in asiatischen Ländern, in Osteuropa oder in Südafrika. Unser Themenschwerpunkt porträtiert einige von ihnen, allerdings ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Denn ein Merkmal von sozialen Bewegungen und Initiativen, die anarchistische Ideale im Alltag verwirklichen, ist oftmals, dass sie sich nicht explizit als anarchistisch bezeichnen. Der Begriff ist vielerorts negativ besetzt, die Angst vor der Repression der Staatsmacht tut ihr Übriges.

Einen weiteren Grund für die relative Unsichtbarkeit anarchististischer AktivistInnen benennt das Kollektiv Rai Ko Ris aus Kathmandu in Nepal: »AnarchistInnen schreckten historisch oft zurück, wenn es darum ging, sozialen Bewegungen eine bestimmte Richtung zu geben. AnarchistInnen fürchten sich sehr davor, eine 'Führungsrolle' einzunehmen. Manchmal scheint es so, dass AnarchistInnen die Massen nicht erreichen, weil sie davor Angst haben, sich auch nur die Frage zu stellen, wie das eigentlich gehen kann. Die detaillierten marxistisch-leninistischen Zukunftsmodelle sind für viele Menschen oft greifbarer.« Letzteres ist denn auch der Grund dafür, warum sowohl in Nepal als auch in Indien zumeist maoistische und marxistisch-leninistische Gruppierungen den Kampf der Armen gegen die Großgrundbesitzer anführen. Paradox, denn »Land and Freedom« ist immer eine der wichtigsten anarchistischen Forderungen gewesen.

Es gibt einiges, was am heutigen Anarchismus irritieren kann. Etwa sein beständiges Schielen auf bessere Zeiten in der Vergangenheit, seine Selbstbezüglichkeit und seine dürftigen Theoriedebatten. Das Reflektionsniveau etwa der Kritischen Theorie hat kein einziges anarchistisches Theoriewerk je auch nur annähernd erreicht.

Umso mehr überzeugt die Praxis derjenigen, die sich als anarchistisch verorten. In ihren politischen Projekten versuchen sie zumindest, den Anspruch umzusetzen, egalitär zu leben und zu handeln. Ziemlich oft jklappt das sogar ganz gut, jedenfalls gemessen an dem, was sonst in den Gesellschaften vorherrscht.

Der große Vorzug des Anarchismus bleibt vor allem seine umfassende Herrschaftskritik. Gleich ob es um Patriarchat, Kapitalismus, Autoritarismus, Elitenherrschaft, Rassismus oder Militarismus geht: Anarchismus als lebendiges Konzept hilft bei der Kritik daran, aber auch bei der Realisierung gesellschaftlicher Alternativen. Ohne dieses libertäre Element tendiert auch jede linke Strömung dazu, die Freiheit der einzelnen Menschen zu beschneiden.


die redaktion

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Anarchismus weltweit
Tschüss, die Herrschaften

Mit ihren Vorstellungen von der freien Assoziation der Menschen wenden sich AnarchistInnen nicht nur gegen das Ausbeutungsverhältnis des Kapitalismus und gegen den Autoritarismus in bürgerlichen und faschistischen Staaten. Ihre Kritik gilt ebenso den parteikommunistischen Vorstellungen von der "Diktatur des Proletariats" und dem faulen Frieden der Sozialdemokratie mit dem Kapital.

Die anarchische Utopie von der herrschaftsfreien Gesellschaft hat in der globalen Linken eine lange Tradition. Doch heute ist es in Westeuropa und Nordamerika recht still geworden um den Anarchismus. Umso lebendiger sind heute anarchistische Szenen in Lateinamerika, in einigen asiatischen Ländern und in Osteuropa.

In unserem Themenschwerpunkt fragen wir unter anderem: Worin bestehen anarchistische Utopien, was ist anarchistische Herrschaftskritik, worin liegen ihre Stärken, Verdienste und Schwächen? In welchen gesellschaftlichen und geographischen Nischen werden heute anarchistische Vorstellungen von der freien Assoziation der Menschen gelebt?

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INHALTSÜBERSICHT

Volksregierung gegens Volk
Hefteditorial

Themenschwerpunkt: Anarchismus

Anarchismus weltweit
Editorial zum Themenschwerpunkt

Herrschaftsgottnochmal!
Zur Ideengeschichte des Anarchismus
von Philippe Kellermann

Black Anarchism
Libertäre Strömungen in der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung
von Helene Thaa

»Warum ich Anarchist bin«
Ein afroamerikanischer Aktivist über seine politische Entwicklung
von Lorenzo Kom'boa Ervin

Transnational ist besser
Stand und Perspektiven des Syndikalismus
von Holger Marcks

Das versteckte A
Ein Diskussionsbeitrag über die Anarchie und ihre Grenzen
von der Arbeitsgruppe des Themenschwerpunktes

»Du stehst dem Staat ganz allein gegenüber«
Interview mit Anarchist Black Cross über Anarchismus in Weißrussland

Teilen, nicht herrschen
Anarchismus im anti- und postkolonialen Indien
von Lou Marin

»Widersetzen und dabei glücklich sein«
Interview mit der anarcha-feministischen Gruppe Mujeres Creando aus Bolivien

Vom Barangay zum Infoladen
Der philippinische Anarchismus ist gut verankert
von Gabriel Kuhn

Anarchismus ohne Ende
Blogs, Zeitschriften, Bücher
Politik und Ökonomie

Mexiko: Entscheidung für das geringere Übel
Wieder einmal herrscht ein schmutziger Wahlkampf
von Sonja Gerth

(Post-)Kolonialismus: Auf Großwildjagd
Die deutsch-togoischen Beziehungen und ihre koloniale Vergangenheit
von Stefan Seefelder


Seven Years After - Was bleibt vom Arabischen Frühling

Zu nett für den Machtkampf
Die arabische Demokratiebewegung hat doppelt verloren
von Jörn Schulz

Pharaonen stürzen
Was hat der Arabische Frühling für Frauen bewirkt?
von Hannah Wettig

Zurück in bleiernen Zeiten
In Ägypten geht Stabilität vor Menschenrechte und Demokratie
von Juliane Schumacher

Zwei vor, einer zurück
Warum die Lage in Tunesien nicht ganz so verheerend ist
von Bernd Beier


Kultur und Debatte

Biografie: »Louise, wie ist dir das eingefallen?«
Interview mit Eva Geber über die Anarchistin Louise Michel

iz3w: »Die besten Jahre ihres Lebens«
Laudatio auf vier Generationen in der Aktion Dritte Welt
von Andrea Schwendemann und Jörg Später


Rezensionen

Jacqueline Jones:
Goddess of Anarchy

Barbara Lüdde/Judit Wetter (Hg.):
Our Piece of Punk

Deniz Yücel:
Wir sind ja nicht zum Spaß hier

Julia Ebner:
Wut: Was Islamisten und Rechtsextreme mit uns machen

Maria Tekülve/Theo Rauch:
Alles neu, neu, neu! In Afrika.
Vier Jahrzehnte Kontinuität und Wandel in der sambischen Provinz

Ta-Nehisi Coates:
We Were Eight Years in Power. An American Tragedy

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Quelle:
iz3w Nr. 367 - Juli/August 2018
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. August 2018

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