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IZ3W/310: Editorial von Ausgabe 338 zum Themenschwerpunkt - Kaufend schreiten wir voran


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe 338 - September/Oktober 2013

Editorial zum Themenschwerpunkt
Kaufend schreiten wir voran



Als der Discounter Lidl 2006 faire Produkte einführte, war dies eine Lachnummer. Schon bald kursierten Witze wie: Wie ist es möglich, dass Lidl Produkte aus fairer Herstellung verkauft? Antwort: Die eigenen Angestellten dürfen die Waren nicht berühren.

Lidl war seinerzeit Inbegriff für schlechte Arbeitsbedingungen: Schikanen gegen die Angestellten oder Unterdrückung gewerkschaftlicher Organisierung sorgten zunehmend für schlechte Presse. So wurde eine Imagekampagne fällig, zu der auch gehörte, einige vom Label Fairtrade zertifizierte Produkte in die Regale zu stellen. Und schon konnte Lidl werben (wenn auch nicht mit Blick auf die eigenen Angestellten, die zu dieser Zeit im Visier geheimer Videoüberwachung waren): »Fair genießen«.

2012 reichte Transfair an Lidl den »Fairtrade-Award« nach. Die Organisation Femnet kritisierte das: »Wir finden es wichtig, dass man nicht Schönfärberei betreiben kann, indem man vielleicht 12 Produkte sozialverträglich herstellt und die restlichen 800 oder 1.000 Produkte sind es eben nicht.«

An den Lidl-Witz mussten wir denken, als kurz vor Redaktionsschluss die Werbebeilage »ALDI informiert...« ins Haus flatterte. Da wurde verkündet: »FAIRTRADE - Ehrlich. Menschlich. Kauf ich!«

Aldi? Als Marktführer für Lebensmittel kommt Aldi in Deutschland regelmäßig die Aufgabe zu, die Milchpreise informell festzulegen. In der Vergangenheit sorgten die niedrigen Festlegungen stets für Existenzsorgen bei den Milchbauern. Ein fairer Milchpreis ist laut dem Bund Deutscher Milchviehhalter weit vom Aldipreis entfernt. Nichtsdestotrotz bebildert Aldi mit einem Bruchteil seines Sortiments sechs Seiten seiner Werbebroschüre. Gezeigt werden glückliche ProduzentInnen und KonsumentInnen von Fairtrade-zertifizierten Produkten der Aldi-Süd-Eigenmarke »One World«.

Man kann sich den Aufschrei lebhaft vorstellen, den Aldi damit hervorruft: »Heuchelei! Mit dem ursprünglichen Fairen Handel hat das nichts mehr zu tun! Das ist Entpolitisierung!« Sogar viele Eine-Welt-Läden, die ursprünglich als einzige faire Produkte vertrieben, üben Selbstkritik - nicht zuletzt an der eigenen Entpolitisierung. »Früher« standen auch Bücher über den Welthandel in den Schaufenstern, heute nur noch Waren, heißt es da.

Die grundlegende Kritik an der mangelnden Reichweite des Fair Trade begleitet ihn seit seiner Entstehung. Kann Handel in der Konkurrenzgesellschaft überhaupt fair sein?, so die Gretchenfrage. Der Fokus auf kleinbäuerliche Produktion und die Freiwilligkeit des Preisaufschlages sorgen dafür, dass nur eine kleine Nische der Arbeitswelt berücksichtigt wird.

Die Hinwendung zu Lidl und Aldi ist immerhin ein entgegen gesetzter Schritt hin zum Massenmarkt, wenn auch kein überzeugender. Ebenfalls neu in der Welt des Fairen Handels ist die zunehmende Zertifizierung von Produkten aus der kapitalistischen Plantagenproduktion. Indem sie den Bereich der Kleinproduktion verlässt, ignoriert sie immerhin nicht weiter, dass Landwirtschaft heute technisiert und arbeitsteilig ist. Der Verbleib des Fairen Handels in der wohltätigen Nische ist sicher keine dauerhafte Alternative.

Bei aller Kritik am Fairen Handel muss eingeräumt werden, dass ihm einiges zu verdanken ist. Viele ProduzentInnen im globalen Süden, die es in diese Struktur hinein geschafft haben, leben in besseren Verhältnissen. Und die Kritik an der Ausbeutungsstruktur des Welthandels hat gerade durch den Fairen Handel einige Verbreitung erfahren. Der Aufklärungsarbeit ungezählter AktivistInnen in den Eine-Welt-Läden gebührt höchste Achtung. Außerdem findet man im uns nächstgelegenen Weltladen durchaus Literatur zur Welthandelskritik. Im Schaufenster steht die Ausgabe »Fair Trade« der Zeitschrift Peripherie: Kein Wohlfühlmagazin, sondern eine theoretisch-kritische Untersuchung des Ansatzes.

Bei Veranstaltungen etwa über die katastrophalen Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie wird schnell die Frage nach dem eigenen Konsumverhalten laut. Als ob irgendein/e Konsument/in ArbeiterInnen selbst ausbeuten würde... Die Sache ist doch deutlich komplizierter und viel vermittelter. Dennoch wird der Faire Handel und die Kaufentscheidung des Einzelnen oft als die Möglichkeit proklamiert, um die Welt besser zu machen. Hier ist der Faire Handel eine gängige Komplexitätsreduktion.

Die Probleme der kapitalistischen Vergesellschaftung lassen sich sicher nicht allein an der Ladenkasse beheben. Die Überproduktion auf dem Kaffeemarkt beispielsweise verlängert sich auch in den fairen Sektor hinein. Die Regulierung der Überproduktion bedürfte staatlichen Handelns, anders geht es derzeit nicht. Und auch das Problem, dass die überflüssigen Güter überflüssige Arbeit produzieren und dies im Kapitalismus den überflüssigen Menschen schafft: Das lässt sich nicht mit Preispolitik beheben. Bis zur Auflösung dieses Paradoxons werden wir allerdings noch einige Tassen Kaffee »fair genießen«.

die redaktion


Für die Förderung des Themenschwerpunktes bedanken wir uns sehr herzlich bei der Stiftung Umverteilen! und beim Agenda 21-Büro Freiburg

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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 338 - September/Oktober 2013


Fairer Handel
Kaufend schreiten wir voran

Bei der Debatte über schlechte Arbeitsbedingungen im globalen Süden taucht er immer auf: der Faire Handel. Akteure des Fair Trade beanspruchen für sich, erfolgreich zu fairen Handelsbeziehungen zwischen ProduzentInnen im Süden und KonsumentInnen im Norden beizutragen. Inzwischen stehen immer mehr entsprechende Produkte in den Supermarktregalen. Städte werden zu Fairtrade-Towns und in großen Kantinen gibt es immer häufiger fairen Kaffee. Wie weit reicht das Konzept in Theorie und Praxis?

Die grundlegende Kritik an der mangelnden Reichweite des Fair Trade begleitet ihn seit seiner Entstehung. Kann Handel in der Konkurrenzgesellschaft überhaupt fair sein? - so die Gretchenfragen. Der Fokus auf kleinbäuerliche Produktion und Freiwilligkeit des Preisaufschlages sorgen dafür, dass nur eine kleine Nische der Arbeitswelt berücksichtigt wird. Bei aller Kritik am Fairen Handel muss aber eingeräumt werden, dass ihm einiges zu verdanken ist. Viele ProduzentInnen im globalen Süden leben in besseren Verhältnissen. Auch die Kritik an der Ausbeutungsstruktur des Welthandels hat gerade durch den Fairen Handel einige Verbreitung erfahren.

Übrigens hat sich die iz3w schon vor 15 Jahren mit dem Für und Wider des Fairen Handels beschäftigt. Hier findet sich die Kontroverse aus dem längst vergriffenen Sonderheft "Nachhaltig zukunftsfähig?" von 1998.


SCHWERPUNKT: FAIRER HANDEL

Editorial zum Themenschwerpunkt

Gekauft
Der Faire Handel erobert die Mitte der Gesellschaft
von Wolfgang Johann und Roland Röder

Inszenierte Verteilungsgerechtigkeit
Zur politischen Ökonomie des Fairen Handels (Langfassung)
von Hanns Wienold

Beglaubigung versetzt Berge
Was bringen Siegel und Zertifikate?
von Sandra Dusch Silva

Die Macht der Darstellung
Die Fair Labor Association entpolitisiert die Handelsbeziehungen der Textilbranche
von Patricia Reineck

Was soll ich nur anziehen?
Ethische Mode zwischen Idealismus und Marktprinzip
von Sascha Klemz

Die Schokoladenseite
Eine Kakaogenossenschaft veredelt ihren Rohstoff
von Knut Henkel

»Come to Mary & Martha!«
Ein Porträt des bislang einzigen Fair Trade-Unternehmens in der Mongolei
von Friederike Enssle

»Landwirtschaft 2013 heißt auch Melkroboter«
Die faire Milch zum fairen Kaffee
Interview mit Gertrud Selzer

Kapitalismuskritik hinterm Ladentisch
Die Leute vom Weltladen Losheim am See erklären, warum sie weitermachen
(nur auf der Website, nicht im Heft)


POLITIK UND ÖKONOMIE

Hefteditorial: Thank you comrade!

Ägypten: Vorwärts in die Vergangenheit
Das Militär hat die Macht nun wieder offen übernommen
von Juliane Schumacher

Grenzregime: Kontinuierlich gegen Flüchtlinge
Die EU lanciert in Libyen eine Mission für Migrationsabwehr
von Stefan Brocza

Politischer Islam: »Es gibt viel zu viel Naivität«
Interview mit Geneive Abdo über die Wahlen im Iran und den Coup in Ägypten

Türkei I: Der Spirit von Gezi
Was bleibt von der Protestbewegung
von Udo Wolter

Türkei II: Jenseits der säkular-islamistischen Spaltung
Genderpolitik in der Türkei
von Selin Çagatay

Umwelt: »Inkagold« in Zeiten des Klimawandels
Peru verbraucht seine Wasserreserven für den Spargelexport
Interview mit Laureano del Castillo

Guatemala: Völkermörder oder nicht?
Das Urteil gegen Ex-Präsidenten Montt ist ein Politikum
von Valentin Franck

Erster Weltkrieg: Ohne Rücksicht auf Verluste
Der Erste Weltkrieg in den Kolonien war ein Stellvertreterkrieg der Großmächte
von Uwe Schulte-Varendorff


KULTUR UND DEBATTE

Critical Whiteness I: Falsche Polarisierung
Die Critical Whiteness-Kritik am Globalen Lernen wird ihrem Gegenstand nicht gerecht
von Bernd Overwien

Critical Whiteness II: Finger on the Trigger
Eine ethnologisch-autobiographische Zwischenbilanz
von Ruben Eberlein

Film: Post-revolutionär
In Köln werden neue Filme aus Nord- und Südafrika gezeigt
von Karl Rössel

Rezensionen

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Quelle:
iz3w Nr. 338 - September/Oktober 2013
Copyright: bei der Redaktion und den AutorInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. August 2013