iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe Nr. 331 - Juli/August 2012
Editorial zum Themenschwerpunkt
Koloniale Sammelwut
Zu Beginn von Virginia Woolfs Roman »Orlando« ist der Titelheld dabei, »Fechthiebe nach einem Mohrenkopf zu führen, der von den Dachsparren hing«. Seine Vorväter hätten »viele Köpfe von vielerlei Farbe von vielen Schultern gehauen und sie heimgebracht.«
Schädel, die in Kolonien geraubt wurden - dieses Thema mag auf den ersten Blick abseitig erscheinen. Doch man findet sie in Kellern und auf Dachböden. Der deutsche Rassenforscher Eugen Fischer hatte sich 1921 an die LeserInnen der Deutschen Kolonialzeitung gewandt, um menschliche Schädel aus den ehemaligen Kolonien als Schenkung zu erhalten. Der Privatbesitz solcher Schädel war durchaus verbreitet. Auch in öffentlichen Institutionen wie Museen und Universitäten sind Schädel und Gebeine archiviert, die im kolonialen Kontext angeeignet wurden. In der Freiburger Universität beispielsweise werden bis heute die geraubten Schädel der Alexander-Ecker-Sammlung im Keller des Kollegiengebäudes II aufbewahrt. Die Studierenden, die ein Stockwerk darüber ihre Vorlesungen besuchen, dürften sich darüber allerdings kaum im Klaren sein. Oben Aufklärungsideale, darunter »schönes Hottentottenmaterial« - wie es der Anthropologe Hans August Ried 1906 in einem Dankwort an die Sammlung nannte.
Der Spuk wird zunehmend zum Debattenthema: Tausende Gebeine und andere menschliche Überreste wurden mittels kolonialer Raubzüge in Museen und Institute verbracht, vor allem am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Jetzt mehren sich die Forderungen nach Restitution - der Rückgabe an die Herkunftsorte. Einige Länder wie Australien sind seit längerem mit Restitutionsprogrammen für Gebeine befasst. In Deutschland hat erstmals eine Fernsehreportage des Magazins Fakt 2008 über Schädel aus »Deutsch-Südwestafrika« in deutschen Sammlungen für eine größere Öffentlichkeit gesorgt. Die Rückgabe von vorerst 20 Schädeln der Berliner Universitätsklinik Charité 2011 an eine namibische Delegation (mitsamt einem diplomatischen Eklat) rief bereits eine beachtliche Reaktion in den Medien hervor. Nun sehen sich immer mehr anatomische und anthropologische Sammlungen der Frage gegenüber, wie sie sich zu unrechtmäßig erworbenen Gebeinen verhalten und wie sie mit ihrer eigenen rassistischen Geschichte umgehen sollen. Die Restitutionsforderungen werfen viele weitere Fragen auf: Herkunftsländer und Nachkommen der Opfer kolonialer Verbrechen fordern Anerkennung, Aufarbeitung und Entschädigung für erlittenes koloniales Unrecht. Das beginnt mit einer würdigen Rückführung der Gebeine und der Bereitstellung von Mitteln für Gedenkstätten. Es geht weiter damit, den Zusammenhang zu den kolonialen Eroberungen und Kriegen aufzuzeigen. Im Hinblick auf den deutschen Genozid im heutigen Namibia 1903-1908 verknüpfen Opfergruppen mit der Restitution die Anerkennung dieses Tatbestands seitens der deutschen Regierung. Sie fordern eine offizielle Entschuldigung und Entschädigung, und sie wollen sich nicht mit einigen restituierten Schädeln oder mit von Deutschland dekretierten Programmen abspeisen lassen. In den Herkunftsländern tritt mit den Restitutionen der Prozess der Aufarbeitung der Kolonialgeschichte ebenfalls in eine neue Phase. Die Restitutionen bringen derzeit die gesamten vergangenheitspolitischen Defizite im Zusammenhang mit der kolonialen Gewalt auf die Agenda.
Die Universitäten der ehemaligen Kolonialmächte wiederum müssen sich beispielsweise mit der Tradition der Rassenkunde, vor allem in der Anthropologie und Völkerkunde, auseinander setzen. Die BesitzerInnen der anatomischen Sammlungen (es ist meist die öffentliche Hand) müssen endlich das Unrecht anerkennen, Tote gegen deren Willen zur Schau gestellt zu haben - noch dazu, um deren »rassische« Minderwertigkeit zu belegen. Von einer selbstkritischen Befassung mit den Sammlungen ist derzeit allerdings noch nicht viel zu sehen. Die »Rassenforschung«, die Schädel vermaß, sie unterschiedlichen »Rassen« zuordnete, sie systematisierte und ihnen unterschiedliche Wertigkeit zusprach, gilt heute zwar als inakzeptabel. Aber es wird kaum eingestanden, dass die Rassenforschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem in der Anthropologie und der Völkerkunde hegemonial und für diese Fachrichtungen sogar grundlegend war.
In Orlando steht die Anfangsepisode mit den »Mohrenköpfen« für Orlandos frühe Sozialisationsphase als ungelenker Rittersohn auf einem Landsitz. Später lernt er die Prinzessin Maruscha Romanowitsch kennen: »Er hörte Bäche rieseln und Vögel singen.« Orlandos Weg der Verwandlungen beginnt. Die Geschichten der »Mohrenköpfe« auf dem Dachboden bleiben ungeschrieben als ein Spuk zurück. In einer Romangeschichte ist eine solche Auflösung ganz hübsch. Für eine Vergangenheitsbewältigung kann und darf man die Geschichten der Schädel nicht in Wohlgefallen auflösen. Eine umfassende Wiedergutmachung wird zwar immer ein Ding der Unmöglichkeit bleiben. Aber das Mindeste ist, für die Identifizierung und Rückführung von Gebeinen aus den Kolonien verbindliche Regeln zu erstellen. Die Anerkennung des mit ihnen verbundenen kolonialen Unrechts ist eine politische Bringschuld.
die redaktion
Wir danken Umverteilen! Stiftung für eine, solidarische Welt für die Förderung des Themenschwerpunkts
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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 331 - Juli/August 2012
Restitution geraubter Gebeine
Koloniale Sammelwut
Schädel und Gebeine, die in Kolonien geraubt wurden - dieses Thema mag auf den ersten Blick abseitig erscheinen. Doch die derzeitigen Rückgabeprozesse bringen die gesamten vergangenheitspolitischen Defizite im Zusammenhang mit der kolonialen Gewalt auf die Agenda.
Vor über 100 Jahren brachten deutsche Wissenschaftler zahlreiche Schädel und Gebeine etwa aus "Deutsch-Südwestafrika" nach Deutschland, auch um damit "Rassenforschung" zu betreiben. Bis heute lagern sie in deutschen Universitätseinrichtungen und Museen. Die Nachfahren der Opfer bestehen auf Rückführung (Restitution) der Schädel ins heutige Namibia, auf offizielle Schuldanerkennung und Reparationszahlungen.
Unser Themenschwerpunkt fragt: Was sind Schädelsammlungen? Was wollen WissenschaftlerInnen heute noch damit? Welche Diskussionen gibt es in den "Herkunftsländern" über die Restitution?
INHALTSÜBERSICHT
Hefteditorial - Ni dieu ni maître
POLITIK UND ÖKONOMIE
Salafismus: Reinheitsgebote
Was macht den Salafismus so attraktiv für Jugendliche?
von Jochen Müller
Mali: Nach dem Militärputsch
Zwischen Tuareg-Rebellion, Islamismus und Kriminalität
von Annette Lohmann
Namibia: Begehrter Brennstoff
Der Uranabbau boomt
von Bertchen Kohrs
Simbabwe: Anatomie des Terrors
Das Mugabe-Regime schüchtert mit Jugendmilizen politische GegnerInnen ein
von Beatrice Schlee
Simbabwe: »Die Täter sind selbst auch Opfer«
Interview mit der NGO Tree of Life
Soziale Bewegung: No Work, No Shopping
Occupy in den USA zwischen Erfolg und Stagnation
von Gerald Whittle
Nordkorea: Die Partei als Königsmacher
Nach dem Tod von Kim Jong Il beginnt eine neue Ära
von Rüdiger Frank
Südkorea: Ein Dorf im Belagerungszustand
In Gangjeong regt sich Widerstand gegen regionale Aufrüstung
von Elisabeth Schober
Myanmar: Neigung zum Autoritären
Der Westen kooperiert wieder verstärkt mit dem Militärregime
von Jörg Kronauer
THEMENSCHWERPUNKT: GERAUBTE GEBEINE
Editorial zum Themenschwerpunkt
Koloniale Sammelwut
Verschleppt - vermessen - vergessen
Die Restitution geraubter Gebeine steht in Deutschland erst am Anfang
von Reinhart Kößler und Heiko Wegmann
»Ethisch höchst fragwürdig«
Interview mit der Anthropologin Maria Teschler-Nicola über Schädel-Sammlungen in Österreich
Unterschiedliche Medienwelten
Der Rückgabeprozess im Spiegel deutscher und namibischer Medien
von Nicolai Röschert
Im Dienst der Wissenschaft
Die Schädel der Alexander-Ecker-Sammlung wurden in deutschen Kolonien beschafft
von Heiko Wegmann
Schädelrassen oder Rassetypen?
Ein Paradigmenwechsel im wissenschaftlichen Rassismus
von Christoph Seidler
Post vom Feldlazarett
Namibische Schädel in Berliner anthropologischen Sammlungen
von Holger Stoecker
Gebeine und Gesetze
Internationale Vereinbarungen zur Repatriierung menschlicher Überreste
von Sarah Fründt
»These skulls are not enough«
Der Restitutionsprozess in Namibia zwischen Vergangenheits- und Interessenpolitik
von Larissa Förster
Der Friedhof der Zwangsarbeiter
Knochenfunde verweisen auf deutsche Kolonialverbrechen in Namibia
von Reinhart Kößler
KULTUR UND DEBATTE
Film I: Einen Platz im Leben suchen
Das Internationale Frauenfilmfestival 2012 zeigt Geschichten des Umbruchs
von Ulrike Mattern
Film II: »Kein Fußbreit den Islamisten!«
Interview mit der tunesischen Filmemacherin Nadia El Fani
Film III: »Call me Kuchu«
Homophobie und queeres Selbstbewusstsein in Uganda
von Isabel Rodde
Medien: Für normale Leute
Das südafrikanische Zeitungsprojekt ZA Difference
von Philipp Mattern
Rezensionen
Szene/Tagungen
Impressum
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Quelle:
iz3w Nr. 331 - Juli/August 2012, S. 22
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juli 2012