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IZ3W/267: Ausgabe 329 - Editorial des Schwerpunktes - Ohne Angst verschieden sein


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe Nr. 329 - März/April 2012

Editorial zum Themenschwerpunkt
Ohne Angst verschieden sein


Die Auseinandersetzung mit postkolonialer Theorie und Geschichte, mit Weißsein und privilegierter Position ist für kritische, nord-südpolitische und antirassistische Bildungsarbeit unabdingbar. Leider sind Konzepte und Inhalte antirassistischer Bildung in staatlichen Einrichtungen wie der Schule weitgehend abwesend. Dafür gibt es - wie gerne argumentiert wird - die außerschulischen Bildungsangebote. Schon an diesem bequemen Verweis auf Akteure des Globalen Lernens zeigt sich, dass an einem Schulsystem festgehalten wird, das im Kern auf die Reproduktion sozialer Ungleichheit basiert, auf Selektion, Ausschluss und Konkurrenz. Weswegen auch die bestkonzipierten Workshops der antirassistischen Bildung - so lange sie nur in Ausnahmen und von engagierten Schulen in Anspruch genommen werden - keine von klein an »erlernte« Gesellschaft verändern können. Und die Widerstände gegen eine Veränderung sind heftig.

Vor vier Jahren sorgte die Strafversetzung der Grundschullehrerin Sabine Czerny in Bayern für mediale Furore. Die offizielle Begründung des bayrischen Schulamtes lautete damals »nachhaltige Störung des Schulfriedens«. Das konnte man Czerny tatsächlich vorwerfen, denn von ihren ViertklässlerInnen wechselten über 90 Prozent auf Gymnasien oder Realschulen. Allesamt hatten sie gute Noten erreicht, und, wie Eltern später beteuerten, auch noch Spaß am Lernen. Ein Verstoß, ja eine Rebellion gegen den normalen Wahnsinn des Schulbetriebes, der in erster Linie bestehende Schichten, Klassen und Gruppen reproduzieren, Chancen verteilen und Lebensläufe im Alter von zehn Jahren definieren soll.

Dass Schule als bürokratische Selektionsmaschine fungiert, ist bekannt - neu ist vielleicht, wie offen dabei die Ellbogen ausgefahren werden. Beim Hamburger Volksentscheid 2010 sprach sich das Bürgertum gegen eine Reform und für die möglichst frühe Auslese ihrer Sprösslinge aus.

An der Beharrlichkeit der Schulstrukturen zeigt sich auch, wie ernst es mit anti-rassistischer Bildung gemeint ist. Eine Unterrichtseinheit zum Thema Anti-Rassismus, ja gerne. Doch die, um die es geht, sollen bleiben, wo sie sind. Wo kämen wir denn hin, wenn alle plötzlich alles...?

Die Debatten der 1960er und 70er Jahre, in denen eine Demokratisierung der Bildungsinstitutionen verhandelt wurde und AutorInnen wie Ivan Illich die »Entschulung der Gesellschaft« forderten, scheinen passé. Heutige Diskussionen drehen sich um Turbo-Abi, Credit-Points oder das Schreckgespenst der PISA-Studien. Dass ein zentrales Ergebnis der Studien, nämlich die fehlende Chancengleichheit und hohe soziale Auslese an deutschen Schulen, zu keiner nennenswerten Veränderung geführt hat, kann kaum überraschen.

Von Adornos Forderung, »ohne Angst verschieden sein« zu können, ist das deutsche Schulsystem Lichtjahre entfernt. Schon lange fordern Sans Papiers, ihre Kinder ohne Angst vor Abschiebung in die Schule schicken zu können. Und Eltern kämpfen um das von den UN proklamierte Recht, Kinder mit Behinderung in Regelschulen zu integrieren. Die Norm ist nach wie vor das Abschieben in »sonderpädagogische Fördereinrichtungen«. Welch fröhliche Diversity.

Die institutionalisierte Hierarchisierung der Spezies SchülerIn ist übrigens ein Produkt des 19. Jahrhunderts. Im Aufbau einer Militärkaserne ähnlich, war Disziplinierung durch Gewalt und Einschüchterung ein zentrales Ziel. Astrid Albrecht-Heide zeigt im vorliegenden Dossier auf, wie im Kolonialismus die 'gut gemeinten' Erziehungsmethoden auf zu zivilisierende 'Wilde' übertragen wurden. Und welche Spuren die Weiße Pädagogik in den heutigen Angeboten des 'Globalen Lernens' hinterlassen hat. Damit wäre - jenseits der strukturellen Verankerung - ein zweiter Schwachpunkt der nord-südpolitischen Arbeit angesprochen: die Inhalte und die Methoden. Auch sie sind von kolonialem Denken und Machtverhältnissen geprägt. Chandra Danielzik und Beate Flechtker zeigen das für die viel gepriesene 'Bildung für nachhaltige Entwicklung'. Die Pfade dieses Denkens zu verlassen, ist Anspruch vieler, die sich für eine politische Bildungsreise entscheiden (siehe Beitrag von Katrin Zeiske) oder gar an einem Peacebuilding Projekt teilnehmen (Paul Metsch). Nun wird mit dem erklärten Willen, solidarisch zu handeln, die Welt noch nicht anders. Wir denken, dass sich nord-südpolitische antirassistische Bildungsarbeit trotz aller struktureller Hürden, kolonialer Altlasten und postkolonialer Stolpersteine lohnt. Weil sie alle Beteiligten herausfordert.


die redaktion


Das Dossier entstand mit finanzieller Unterstützung des BMZ und der Evangelischen Landeskirche in Baden


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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 329 - März/April 2012


Globales Lernen mit Defiziten

Alles so schön bunt hier

Die Auseinandersetzung mit postkolonialer Theorie und Geschichte, mit Weißsein und privilegierter Position ist für eine kritische, nord-südpolitische und antirassistische Bildungsarbeit unabdingbar.

Unser Themenschwerpunkt widmet sich folgenden Fragen: Wo steht die nord-südpolitische Bildungsarbeit? Welche strukturellen Probleme sind veränderungsresistent? Taugen die verwendeten Methoden zu einer Sicht auf den globalen Süden, die nicht mehr vom Paternalismus bestimmt ist? Welche postkolonialen, rassistischen Elemente werden fortgeschrieben? Und wie hat sich das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden geändert?


INHALTSÜBERSICHT


Editorial - "Nous ne regrettons rien"


Politik und Ökonomie

Bolivien: Vision von oben
Evo Morales' Projekt der Dekolonisierung stößt auf Grenzen
von Simón Ramírez Voltaire

Burkina Faso: Trop, c'est trop!
Nach langem Kampf verzeichnen soziale Bewegungen nun Erfolge
von Bettina Engels

Kenia: Operation Linda Nchi
Kenianische Truppen bekämpfen in Somalia die islamistische Miliz Al Schabaab
von Martina Backes

Philippinen: Gewalt-Teilung
Politische Gewalt durch Privatarmeen ist weit verbreitet
von Maike Grabowski und Hannah Wolf

Pakistan: Die Armee hat einen Staat
Warum wird Pakistan von Oligarchen, Militärs und Taliban dominiert? (Teil I)
von Jakob Rösel

Weltbank: Rentabilität statt Rechte
Der Weltentwicklungsbericht 2012 zu »Gender Equality and Development«
von Christa Wichterich

Sudan I: »Wer schwarz ist, wird als Sklave gesehen«
Interview mit dem sudanesischen Schriftsteller
Abdelaziz Baraka Sakin

Sudan II: Kämpfe um Autonomie
Die zahlreichen Konflikte im Sudan schwelen weiter
von Feven Michael


DOSSIER: BILDUNG


Editorial - Ohne Angst verschieden sein

Ein Streifzug durch die nord-südpolitische Bildungslandschaft
... in sechs Interviews

Wer mit Zweitens anfängt
Bildung für nachhaltige Entwicklung kann Machtwissen tradieren
von Chandra-Milena Danielzik und Beate Flechtker

Expansion oder Invasion?
Kolonialgeschichte in europäischen und afrikanischen Schulbüchern
von Susanne Grindel

Gönnerhaftes Globales Lernen
Plädoyer für den kritischen Umgang mit Weißsein
von Astrid Albrecht-Heide

Unterscheidungen verlernen
Die Notwendigkeit rassismuskritischer Bildung in der Einwanderungsgesellschaft
von Albert Scherr

Zur Spitze der Graswurzel
Erfahrungen mit Friedensbildung in Konfliktgebieten
von Paul Metsch

Grenzerfahrungen
Sind politische Reisen ein geeignetes Mittel der Bildungsarbeit?
von Kathrin Zeiske


KULTUR UND DEBATTE

Film I: »Meine Braut ist die Freiheit«
Dokumentarfilme über afrikanische Kolonialsoldaten in französischen Diensten (Teil 2)
von Karl Rössel

Film II: Francos afrikanische Söldner
Marokkaner im Spanischen Bürgerkrieg
von Karl Rössel

Film III: Alltag einer kubanischen Familie
von Gaston Kirsche

Film IV: Kolumbus in Bolivien
von Gaston Kirsche

Rezensionen

Szene/Tagungen

Impressum


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Quelle:
iz3w Nr. 329 - März/April 2012, S. D · 2
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Februar 2012