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IZ3W/186: Rezension - Modernes Ethno-Business


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe Nr. 315 - November/Dezember 2009

Modernes Ethno-Business

Von Ruben Eberlein


Das Geschäft mit ethnischen Identitäten und kulturellen Unterschieden ist nicht erst seit gestern weit mehr als ein Nischenmarkt, auf dem Schnitzereien aus Tansania oder Batik aus Indien feilgeboten werden. Die systematische und planmäßige In-Wert-Setzung und Vermarktung von Ethnizität und auch Nationalität hat seit Mitte der 1980er Jahre einen massiven Aufschwung erfahren. Wie sich diese Entwicklung zur neoliberalen Wende des Kapitalismus sowie zu dessen Wertekanon und Praxis verhält, untersuchen John und Jean Comaroff in ihrem Buch Ethnicity, Inc.

Die Publikation liest sich als eine ebenso rasante wie mitreißende Reise durch den Kosmos des modernen Ethno-Business. Die beiden Anthropologen, die an der University of Chicago lehren und forschen, versammeln detaillierte Schilderungen von Produktion und Vermarktung von kultureller Differenz. So erfahren wir unter anderem vom ökonomischen Aufstieg der Bafokeng im Nordwesten Südafrikas, die auf der Grundlage des Platinbergbaus und unter der Bezeichnung Royal Bafokeng Nation ein beachtliches Wirtschaftsimperium aufgebaut haben und deren Chiefs als »Geschäftsführer« adressiert werden. Ein eigenes Kapitel ist den Anfängen der Verwertung von Ethnizität am Beispiel indigener Gruppen in Nordamerika gewidmet, bevor die Autoren den Bogen zur Vermarktung des Nationalstaates - Britain, PLC; Russia, Inc. - schlagen.

Die reichhaltige Empirik setzen die Comaroffs mit leichter Hand ins Verhältnis zu jenen Formen der Macht und des Regierens, die der Neoliberalismus mit sich bringt: »Der historische Prozess, der mit der Überführung von Unternehmen in lebende, Rechte besitzende Personen begann, endet mit der Verwandlung von lebenden, Rechte besitzenden Personen in Firmen gleichenden 'private Subunternehmer' - menschliche Makler, die über ihre Fertigkeiten, ihr Erbe und ihr verkörpertes Kapital verfügen und es vermarkten«, konstatieren sie. Diese theoretische Erkenntnis mag nicht neu sein, wird jedoch am Beispiel ethnischer Identitäten kreativ durch originäre Beobachtungen ausgebaut und verdichtet.

Zu diesen Beobachtungen gehört unter anderem, dass juristische Auseinandersetzungen über Land - und wirtschaftliche Interessen generell - oft am Anfang der Begründung einer Ethnie und ihrer entsprechenden Ethnicity, Inc. stehen. Identität wird häufig als Eigentum reklamiert und »mit eindeutig korporativen Mitteln gemanagt«. Kulturelles und ökonomisches Kapital verschmelzen dabei miteinander. Im Zuge dieser Entwicklung wird der Kampf um politische und soziale Emanzipation mehr und mehr in Form von Rechtsstreits ausgetragen. Lawfare nennen die Comaroffs die bevorzugte Waffe auf diesem Feld.

Mit Ethnicity, Inc. setzen Jean und John Comaroff wieder einmal einen Standard für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Ethnizität. Diese ist in vielen Regionen - entgegen den Annahmen sowohl der klassischen als auch der kritischen Theorie - weiterhin und offensichtlich mehr denn je ein integraler Bestandteil heutiger Lebenswelten.

John L. & Jean Comaroff:
Ethnicity, Inc.
University of Chicago Press 2009
234 Seiten, 20,99 Euro


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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 315 - November / Dezember 2009


THEMENSCHWERPUNKT:
Digitale Welten - SoftWares und das Internet

Über 1,2 Milliarden Menschen weltweit und über die Hälfte der EU-BürgerInnen nutzen inzwischen das Internet. Die IT-Kommunikation wird in gelegentlich aber immer noch in überirdischen Metaphern beschrieben: "Nur gut, dass man das Internet nicht hören kann, denn allein das chinesische Netzgeschnatter wäre wohl laut genug, um das gesamte Universum zum Einsturz zu bringen", schreibt Christian Y. Schmidt in seinem neuen China-Buch "Bliefe von dlüben". Die Volksrepublik steht mit über 300 Millionen registrierten InternetnutzerInnen weltweit an erster Stelle derer, die spielen, chatten, posten und bloggen, "was die Tasten hergeben".

Wenn vom Süden und dem Internet die Rede ist, muss man auch über die "digitale Kluft" sprechen. Da schon heute in absoluten Zahlen rund 60 Prozent der InternetnutzerInnen im Süden leben, ist eine weitere entscheidende Frage zur digitalen Welt, wie die digitale Kommunikation im Süden genutzt wird. Und gerade in autoritären Regimes spielt das Internet eine wichtige Rolle für dissidente Sichtweisen: Freiheitsbestrebungen, die im politischen Raum scheitern, lassen sich im Netz kaum unterdrücken.

Themen im Schwerpunkt:
Im Netz von Clans - Global verteilte Gemeinschaften statt globaler Gesellschaft + Internet-Vernetzung für Weltverbesserer + to be bangalored... - Internationale Arbeitsteilung in der Softwareindustrie + Copy light - Freie Software und globale Emanzipation + Agender, Bigender, Genderqueer - Feministische Auseinandersetzungen um das Internet + "Das Internet wird überbewertet" - Interview mit John Bwakali über Indymedia Kenya + "Schluss mit dem Kulturpessimismus" - Interview mit Geert Lovink über die neuen Kommunikationsmittel

Weitere Themen im Heft:

Politik und Ökonomie:
Mexiko: Arbeitskampf Contra Continental + Erfolgreiche Skandalisierung - Das NoBorder-Camp auf der griechischen Insel Lesbos + Migration: Ohne Sprachzertifikat kein Ehegattennachzug + Menschenrechte: Erfahrungen mit Kinderrechten in Guatemala und Indien + Chile: Geschichtspolitik um den 11. September + Drogenpolitik: Die ekuadorianische Regierung zwischen Repression und Liberalisierung

Kultur und Debatte:
Film: Der Regisseur Barry Barclay und das indigene Kino aus Neuseeland + Vergangenheitspolitik: Der Berliner Streit um die Ausstellung "Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg" + Nationalsozialismus: Interview mit Raffael Scheck über sein neues Buch "Hitlers amerikanische Opfer"



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INHALTSÜBERSICHT

Hefteditorial: Schlimmer geht's immer!


Politik und Ökonomie

Arbeitskämpfe: Contra Continental
Ein mexikanischer Arbeitskampf fordert deutsche Gewerkschaften heraus Interview mit Lars Stubbe

NoBorder: Erfolgreiche Skandalisierung
Das NoBorder-Camp auf der griechischen Insel Lesbos
von Miriam Edding

Migration: »Ihr wollt uns nicht«
Ohne Sprachzertifikat kein Ehegattennachzug
von Katja Giersemehl

Menschenrechte: Die Ohnmacht des Rechts
Erfahrungen mit Kinderrechten in Guatemala und Indien
von Manfred Liebel

Chile: Erinnern, um zu vergessen
Geschichtspolitik um den 11. September in Chile
von Sebastian Sternthal

Drogenpolitik: »Legt euch nicht mit Ekuador an!«
Die Drogenpolitik der Regierung Correa zwischen Repression und Liberalisierung
von Linda Helfrich


Schwerpunkt: Digitale Welten

Editorial

Im Netz von Clans
Global verteilte Gemeinschaften statt globaler Gesellschaft
von Karsten Weber

Internet-Vernetzung für Weltverbesserer
von Sascha Klemz

to be bangalored - or not to be
Internationale Arbeitsteilung in der Softwareindustrie
von Vaba Mustkass und Winfried Rust

Copy light
Freie Software und globale Emanzipation
von Stefan Meretz

Agender - Bigender - Genderqueer
Feministische Auseinandersetzungen um das Internet
von Tanja Carstensen

»Das Internet wird überbewertet«
Interview mit John Bwakali über Indymedia Kenya

»Schluss mit dem Kulturpessimismus!«
Interview mit Geert Lovink über die neuen Kommunikationsmittel


Kultur und Debatte

Film: Der Wegbereiter
Barry Barclay und das indigene Kino aus Neuseeland
von Ulrike Mattern

Vergangenheitspolitik: Erinnerung als Politikum Der Berliner Streit um die Ausstellung »Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg«

Nationalsozialismus: »Sie wurden einfach erschossen«
Interview mit Raffael Scheck über sein Buch »Hitlers afrikanische Opfer«

Rezensionen, Tagungen & Kurz belichtet


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Quelle:
iz3w Nr. 315 - November / Dezember 2009
Copyright: bei der Redaktion und den AutorInnen
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für SchülerInnen, StudentInnen, Wehr- und
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Förderabonnement ab 52,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. November 2009