Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

IZ3W/183: Eine vernünftige Utopie - Rezension über "Die Vier-in-einem-Perspektive"


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe Nr. 313 - September/Oktober 2009

Eine vernünftige Utopie

Von Rosaly Magg


»Eine Utopie von Frauen, die eine Utopie für alle ist«, nennt die Marxistin und Feministin Frigga Haug ihr Buch Die Vier-in-einem-Perspektive. Darin fasst sie die Ergebnisse ihrer jahrzehntelangen Arbeit über Reproduktion, Erwerbsarbeit, Politik und Kultur zusammen. Haug entwickelt Perspektiven für eine Zusammenführung dieser vier Säulen im Sinne einer gerechten Politik von unten. Ihre These: Nur wenn alle vier Bereiche - Reproduktion, Erwerb, Politik und Kultur - verknüpft werden, ist Politik umfassend gestaltet. Ihr Buch ist deshalb auch konsequent in vier Teile gegliedert, die wie eine Art Wegweiser funktionieren und Theorie und Praxis zusammenführen sollen. Frigga Haugs große Stärke ist dabei die politische Analyse von Missständen anhand persönlicher Schilderungen aus Kindheits- und Studentinnentagen. Dass Arbeitsteilung direkt mit Herrschaft und dem Geschlechterverhältnis verbunden ist, erzählt sie ganz nebenbei anhand der Märchen der Gebrüder Grimm. Und ihre Kritik an der Arbeit entfaltet sie in einer persönlichen Erinnerung an das Milchholen als Kind beim Bauern. Ironie und Humor zeichnen das gelegentlich etwas trocken daherkommende Buch aus. Es ist zum Schmunzeln, wenn sie darüber schreibt, wie sie die »Mühseligkeit der Arbeit mit der Entwicklung der Theorie von Aristoteles bis Hegel und ihre Lust mit der Wirklichkeit der Subbotniks und der Theorie des Marxismus« verband. Zur Waffe wird ihr Humor, wenn sie sich beispielsweise mit der aktuellen Debatte um Hartz IV beschäftigt.

Haug betrachtet ihre eigene (Arbeits-)Geschichte und die Entwicklung ihrer feministischen Positionen durchaus selbstkritisch. Manche der Texte sind schon über zwanzig Jahre alt, doch sie haben an Brisanz nichts verloren. Die Vorschläge zu einem Paradigmenwechsel in der Arbeitsforschung in Bezug auf beide Geschlechter sind aktueller denn je. Im Kapitel »Kulturelle Entwicklung« beschreibt Haug, wie wichtig eine Politik der Frauen von unten sowie Freiheit im Sinne von Ausbruch sind. Sätze wie »Auch sich opfern ist eine Tat« oder »Jede Unterdrückung, die nicht ausschließlich auf Zwang beruht, muss mit der Zustimmung der Unterdrückten rechnen«, sorgten in den 1980er Jahren für Furore. In Frauenfragen scheint die Geschichte auf der Stelle zu treten. Ihre Forderung, (Frauen-)Geschichte aufzuarbeiten, ist auch deshalb heute noch so bedeutungsvoll, wenn anstelle von »vernünftigen Utopien« Fragen um das Erziehungsgeld bzw. um Mutterschaft, Hausfrauisierung und Quotenregelung zum Dauerbrenner der (Real-)Politik werden.

Die Sozialwissenschaftlerin sieht Geschlechterverhältnisse als Produktionsverhältnisse - und umgekehrt. Das mag zunächst anmaßend klingen, wird aber logisch, wenn Haug anhand der Werke von Marx, Engels, Gramsci und Althusser darlegt, dass zentrale Begriffe zur Analyse der Produktionsverhältnisse - etwa der Doppelcharakter der Arbeit, Klasse und Klassenkampf - nicht geschlechtsneutral zu denken sind. Und hier ist Haug wieder bei ihren zentralen Analysekategorien angelangt: Bei Reproduktion, unbezahlter Hausarbeit und »Herrschaft nicht bloß einseitig als Tat der Oberen sowie Beherrschtwerden nicht bloß als Passivität.«


Frigga Haug:
Die Vier-in-einem-Perspektive.
Politik von Frauen für eine neue Linke.
Argument, Hamburg 2008. 348 Seiten, 19,50 Euro.


*


Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 314 - September/Oktober 2009


THEMENSCHWERPUNKT: Alte Zeiten, neue Zeiten - Zentralasien postsowjetisch

Die historische Wende von 1989 ff. und der Siegeszug des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells haben nirgendwo größere Auswirkungen gehabt als in den Staaten und staatsähnlichen Gebilden, die aus der Sowjetunion hervorgingen. Über Russland und die osteuropäischen Länder ist hierzulande inzwischen einiges Wissen verbreitet. Die zentralasiatischen Länder Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan sind hingegen auf unserer Mental Map weitgehend eine terra incognita geblieben.

Ein Zufall ist das wohl kaum. Zentralasien war nicht nur die Peripherie des zaristischen Russlands, sondern auch der (Ex-)Sowjetunion. Hier herrschte jahrzehntelang der russische Kolonialismus und nach der Oktoberrevolution wurde der dort lebenden Bevölkerung erneut Gesellschafts- und Politikmodelle oktroyiert, die in Russland entstanden waren. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und die staatliche Unabhängigkeit stellten die fünf zentralasiatischen Staaten vor enorme Herausforderungen. Nach dem Systemwechsel von 1991 waren es dann westliche Vorstellungen von Demokratisierung und Wirtschaftsliberalismus, die eine glorreiche Zukunft versprachen - und weitgehend fehlschlugen. Unser Themenschwerpunkt fragt nach den vielfältigen Problemen, die die diversen Systemwechsel in Zentralasien hervorbrachten, und die massiv die Gegenwart bestimmen.


INHALTSÜBERSICHT

Schwerpunkt: Alte Zeiten, neue Zeiten
Zentralasien postsowjetisch

Hefteditorial: Wüste Pläne


Politik und Ökonomie

Sri Lanka: "Kriegsende ohne Frieden"
In Sri Lanka wird militärisch aufgerüstet
von Fabian Kröger

Peru: Der Hund des Gärtners beißt zurück
In Peru erstarkt eine politische Indígena-Bewegung
von Hildegard Willer

China: Der gute Mensch von Sezuan
Eine kleine Farce über Nothilfe in China
von Wolf Kantelhardt

Mexiko: Femizid: Ein Verbrechen aus Hass
Wenn Morde an Frauen straffrei bleiben
von Mariana Berlanga

Geopolitik: Raum, Macht und Ideologie
Die anhaltende Bedeutung von Geopolitik und Politischer Geographie
von Sören Scholvin


Themenschwerpunkt: Zentralasien

Editorial

Unabhängigkeit von oben
Eine vorläufige Bilanz der postsowjetischen Systemtransformation in Zentralasien
von Tobias Kraudzun, Ellen Nötzel, Yulia und Michael Schulte

Weiße Elefanten sterben nicht aus
Die ökologische Frage in Zentralasien bleibt ungelöst
von Jenniver Sehring

Unser gemeinsames Haus
Kirgistan auf der Suche nach einer Nation
von Alexander Wolters

Peripherie mit starkem Staat
Zentralasien oszilliert zwischen Rohstoffreichtum und nackter Armut
von Tomasz Konicz

Mit der Bahn nach Kasachstan
Die deutsche Außenpolitik nimmt Zentralasien ins Visier    
von Jörg Kronauer

Ungeliebte Nachbarn
In Russland sieht man von oben auf Zentralasien herab
von Ute Weinmann

»Schaut euch unsere Gebäude an«
Die Umbrüche in Zentralasien verändern auch die Gestalt der Städte
von Wladimir Sgibnev

Bauboom für Moscheen
Die Re-Islamisierung in Zentralasien ist nicht mit Islamismus gleichzusetzen
von Sören Scholvin


Kultur und Debatte

Rassismus: 25 Jahre »Marche des Beurs«
Ein Rückblick auf Kämpfe der Migration in Frankreich
von Kolja Lindner

Film: »Das Sektiererische aufbrechen...«
Interview mit der Filmproduzentin Irit Neidhardt über »The One Man Village«

Musical: »Die Geschichte hat mich eingeholt«
Interview mit dem Hiphop-Musiker Yan Gilg über sein Stück »A nos morts«

Debatte: Auf der Suche nach Relativierungen
Eine Antwort auf Réne Wildangels Replik zum Themenschwerpunkt »Nazi-Kollaborateure«
von Karl Rössel

Rezensionen, Tagungen & Kurz belichtet


*


Quelle:
iz3w Nr. 314 - September/Oktober 2009
Copyright: bei der Redaktion und den AutorInnen
Herausgeberin: Aktion Dritte Welt e.V. - informationszentrum 3. welt
Postfach 5328, Kronenstr. 16a (Hinterhaus)
79020 Freiburg i. Br.
Tel. 0761/740 03, Fax 0761/70 98 66
E-Mail: info@iz3w.org
Internet: www.iz3w.org

iz3w erscheint sechs Mal im Jahr.
Das Jahresabonnement kostet im Inland 31,80 Euro,
für SchülerInnen, StudentInnen, Wehr- und
Zivildienstleistende 25,80 Euro,
Förderabonnement ab 52,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Oktober 2009