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IZ3W/169: Rezension - "Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945"


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe 311 - März/April 2009

Zwischenbilanz der Bewegungsforschung

Von Jens Benicke


Die Erforschung sozialer Bewegungen hat in der Bundesrepublik, im Gegensatz etwa zu den USA, keine lange Tradition. Erst mit dem sozialwissenschaftlichen Versuch, die »neuen sozialen Bewegungen« (NSB) analytisch zu fassen, etablierte sich Ende der 1970er Jahre auch hierzulande eine sich explizit als »soziale Bewegungsforschung« verstehende Wissenschaft. Institutionell abgesichert ist diese jedoch nicht.

Um dieses Manko wenigstens ein bisschen abzumildern, haben die beiden Urgesteine der bundesdeutschen Bewegungsforschung, Roland Roth und Dieter Rucht, ein umfangreiches Handbuch über die Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945 veröffentlicht. Es beinhaltet neben einer theoretischen und empirischen Bilanzierung des Forschungsbereichs durch die Herausgeber eine Reihe von Aufsätzen, in denen der historisch-politische Kontext verschiedener zeitlicher Phasen in der Bundesrepublik und der DDR dargestellt werden. Schwerpunkt des Bandes sind die zwanzig Kapitel zu einzelnen sozialen Bewegungen. Sie umfassen ein weites Feld gesellschaftlicher Protestbewegungen - von der klassischen Arbeiterbewegung bis hin zu sehr speziellen wie den Kampagnen gegen Bio- und Gentechnik. Der weitgehend parallele Aufbau der Aufsätze ermöglicht es, das Handbuch als Nachschlagewerk zu nutzen. Die Qualität der einzelnen Beiträge schwankt zwar, und manche LeserInnen mögen die eine oder andere soziale Bewegung vermissen. Aber das Ziel der Herausgeber, einen Überblick über die sozialen Bewegungen der Bundesrepublik und deren Erforschung zu geben, wird erreicht.

Unter den zwanzig behandelten Bewegungen ist auch der Rechtsextremismus. Dies ist zwar einerseits folgerichtig, da dieser in den letzten Jahren immer bewegungsförmiger auftritt und damit auch die gängigen Definitionen für soziale Bewegungen erfüllt. Andererseits stellt er die Bewegungsforschung vor ein Dilemma, verstand sich diese doch oft als wissenschaftliches Sprachrohr der untersuchten Bewegungen. Doch spätestens mit der Herausbildung einer aktivistischen rechtsextremistischen Szene, die oft die Aktionsformen und selbst die Symbole etwa der ArbeiterInnenbewegung, der Außerparlamentarischen Opposition oder der NSB übernahm, musste die Bewegungsforschung erkennen, dass soziale Bewegungen nicht per se fortschrittlich und emanzipatorisch gesinnt sind. Bewegungen können eben nicht nur für die »Demokratisierung aller Lebensbereiche« antreten, sondern auch für das Gegenteil.

Dies wirft Fragen zum Selbstverständnis der Bewegungsforschung auf. Diese hat sich bereits in den 1990er Jahren weg von einer kritischen Gesellschaftsanalyse, die mit emanzipatorischen Bewegungen sympathisiert, hin zu Theorien mittlerer Reichweite bewegt. Die professionelle Bewegungsforschung konzentriert sich immer stärker quantitativ-empirisch auf einzelne Teilfragen und verliert dabei die gesellschaftliche Totalität aus dem Blick. Wenn Roth und Rucht das Handbuch all denjenigen widmen, »die sich für eine menschenrechtlich orientierte, basisdemokratische Bewegungspolitik engagieren«, reflektieren sie diesen Umstand. Fraglich ist allerdings, ob ihr Buch den Trend der Bewegungsforschung zur positivistischen, staatstragenden Legitimationswissenschaft umkehren kann.

Roland Roth und Dieter Rucht (Hg.):
Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945
Ein Handbuch. Campus Verlag, Frankfurt/New York 2008
770 Seiten, 49,90 Euro


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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 311 - März/April 2009


Wenn die Nacht am tiefsten... - Macht und Alltag im Iran

Iran steht derzeit wegen seines Atomprogramms im Mittelpunkt außenpolitischer Debatten. Unser Themenschwerpunkt fragt nach den Herrschaftsverhältnissen im Inneren. Wie mobilisiert das Regime der Mullahs Unterstützung in der Bevölkerung? Was unterscheidet den iranischen Islamismus von anderen Islamismen? Wie verfährt das Regime mit Minderheiten? Und wo gibt es welche Ansätze für Widerstand?

Trotz des verbreiteten Unmuts gibt es im Iran keine starke organisierte Oppositionskraft. Wie auch? Oppositionelle Parteien haben im politisch-religiösen System der Mullah-Republik keine Chance. Politische Bewegungen und Minderheiten sind jedoch trotz aller Repression aktiv. Sie kämpfen vor allem auf der Alltagsebene für Bewusstseinsveränderungen, weil sie noch nicht in der Lage sind, die Machtfrage zu stellen. Ihnen gilt unsere Empathie und Solidarität, und ihnen widmet sich dieser Themenschwerpunkt.


Heft - Editorial: Der Anfang vom Ende

Politik und Ökonomie

Israel - Palästina: Gelegenheit für die US-Regierung
von Ghassan Khatib

Wird Palästina gespalten bleiben?
von Yossir Alpher

Simbabwe: Eine akademische Sünde
Verheerende Zustände an den Universitäten
von Christopher Phiri

Entwicklungspolitik: Alte Freunde
Das Scheitern politischer Konditionalität in Togo
von Björn Gutheil

Nationalsozialismus: »Wir waren nicht mehr als Nummern«
Biografische Notizen von schwarzen Häftlingen im KZ Neuengamme von Rosa Fava


Schwerpunkt: Macht und Alltag im Iran

Editorial zum Themenschwerpunkt

Die Andersdenkenden
Zwischen Hoffnung und Resignation
ein Brief von Soussan Sarkhosh

Bastion der Freiheit
Die Studentenbewegung im Iran
von Ali Schirasi

Die andere Hälfte
Iranische Frauen und ihre Bewegung für Freiheit und Emanzipation
von Chahla Chafiq

Zwangsweise loyal
Iranische Jüdinnen und Juden als Spielball der Politik
von Thomas Schmidinger

Utopie versus Apokalypse
Selbstverständnis und Verfolgung der Bahai im Iran
von Wahied Wahdat-Hagh

Die Republik der Ayatollahs
Vom Auf- und Abstieg der politischen Theologie Khomeinis
von Jörn Schulz

»Die Revolutionsgarden sind das Machtzentrum«
Interview mit Ali Alfoneh über das System der Islamischen Republik Iran


Kultur und Debatte

Debatte: Fersengeld statt »satanische Verse«
Die Fatwa gegen Salman Rushdie hat bis heute Folgen
von Udo Wolter

Kunst: Jeder Blick verrät seinen Standort
Perspektiven auf Kunst aus Afrika
von Sebastian Stein

Rezensionen, Tagungen & Kurz belichtet


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Quelle:
iz3w Nr. 311, März/April 2009,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. März 2009