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IMI/1049: Rekrutierungswahnsinn in Schweden


IMI - Informationsstelle Militarisierung e.V.
IMI-Standpunkt 2020/25 vom 16. Juni 2020

Rekrutierungswahnsinn in Schweden

von Christina Boger


Nach über hundert Jahren Wehrpflicht schaffte Schweden 2010 die Wehrpflicht kurzerhand ab, begleitend wurde allerdings die Totalverteidigungspflicht auch für Frauen eingeführt.[1]

Doch nach gerade einmal sechs Jahren erkannte man, dass doch relativ wenige Menschen freiwillig Soldat*in werden wollen. Nach Angaben der Regierung fehlte es bereits 2016 an "1.000 aktiven Truppenführern, Soldaten und Matrosen und 7.000 Reservisten", woraufhin Stockholm ein Jahr später beschloss die Aufhebung der Wehrpflicht weitgehend rückgängig zu machen.[2] Als Grund für die Wiedereinführung im Jahr 2018 nannte Verteidigungsminister Peter Hultqvist die "sich verschlechternde Sicherheitssituation in Europa" aufgrund russischer Aktivitäten.[3] Seitdem gilt auch die Wehrpflicht nicht länger nur für Männer, sondern auch für Frauen des 'friedliebenden' Landes.

Dabei werden lange nicht alle 18-jährigen gemustert[4] - doch aufgrund der jährlich ansteigenden Zahl der gewünschten Rekrut*innen wird der verpflichtende Test immer mehr Jugendlichen zugesandt.[5] Die Strategie sei dennoch weiterhin eine Mischung aus "Wehrpflicht und Freiwilligkeit," da "individuelle Motivation, Interessen und Wille soweit wie möglich berücksichtigt werden" und die Verweigerung somit relativ einfach sei.[6]

Um dennoch möglichst viele Menschen von den Vorteilen der Wehrpflicht überzeugen zu können, zieht das Militär aufwendige Werbekampagnen zu Hilfe. Viele der zwischen 2011 und 2018 produzierten Kampagnen sind als Ansammlung kurzer Videos auf der Webseite des schwedischen Militärs zu finden. Sie preisen Selbstverwirklichung, Verantwortung und Patriotismus als treibende Faktoren ihrer Soldat*innen an.

Die Überschriften sind hier beispielhaft: "Bist du ein Offizier, ohne es zu wissen?" (Kampagne von 2015) oder "Wir lassen Schweden in Frieden sein" (Kampagne von 2017 und 2018). Die Videos unterscheiden sich stark voneinander: Während man sich 2011 noch über dramatische Werbevideos lustig macht, wird bei der Kampagne "Wie jeder andere Job. Fast." auf Action-Szenen gesetzt. Die beiden Videoreihen unter dem Namen "Wir lassen Schweden in Frieden sein" von 2017 und 2018 wiederum ziehen unzählige Parallelen zwischen zivilem und militärischem Alltag.

Seit 2019 erscheinen keine neuen Videos mehr. Nun setzt Schweden auf Plakatwände, um sich mit Fragen wie "Kann man seine Periode im Feld haben?" oder "Warum heißt es eigentlich Seemann?"[7] ausdrücklich an Frauen zu richten.

Die Messlatte für die jährlichen Rekrut*innen wird stetig höher gelegt. Während 2018 und 2019 noch um die 4.000 Personen rekrutiert werden sollten, sollen es im Jahr 2020 bereits 5.000 sein. Zudem wird in der Agenda zur kommenden Periode (2021-2025) erörtert, dass diese Zahlen in Zukunft nicht mehr ausreichen. Damit sollen 2021 6.000 junge Menschen rekrutiert werden und ab 2022 jeweils 8.000 pro Jahr[8] - so viele wie vor Abschaffung der Wehrpflicht.[9]

Während Schweden also in den hochaufgelösten Videos von Zukunftsvisionen spricht, scheint man sich in Wahrheit die "guten alten Zeiten" zurückzusehnen. Da die Zahl der jährlichen Rekrut*innen - trotz der schicken Werbekampagnen - wohl kaum von selbst ansteigen wird, stellt sich die Frage, wie dies gemeistert werden soll, ohne dass die "Freiwilligkeit" von der Rekrutierungsagenda verschwindet. Von einem nachträglichen Einzug der Jahrgänge zwischen 2010 und 2018 ist bislang keine Rede.


Anmerkungen

[1] Das bedeutet, dass alle in Schweden lebenden Menschen zwischen 16 und 70 Jahren in Kriegs- oder Krisenzeiten eingezogen werden können; forsvarsmakten.se

[2] Sweden re-activates conscription, government.se, 2.3.2017.

[3] SWEDEN: Military conscription reintroduced, War Resisters International, wri-irg.org, 27.4.2017.

[4] rekryteringsmyndigheten.se, 22.6.2017.

[5] thelocal.se, 5.3.2019.

[6] regeringen.se, 2.3.2017.

[7] Kampagne Februar 2020

[8] Sweden re-activates conscription, government.se, 2.3.2017.

[9] Military favors ending conscriptions, thelocal.se, 21.12.2007.


Dieser Beitrag erschien in der Juni-Ausgabe des IMI-Magazins AUSDRUCK.
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Quelle:
IMI-Standpunkt 2020/25 vom 16. Juni 2020
Rekrutierungswahnsinn in Schweden
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Juni 2020

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