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ICARUS/015: Zeitschrift für soziale Theorie, Menschenrechte und Kultur 2/2010


ICARUS Heft 2/2010 - 16. Jahrgang

Zeitschrift für soziale Theorie, Menschenrechte und Kultur



INHALT
Autor
Titel

Kolumne
Wolfgang Richter
Erinnerungsschlacht um die Zukunft

Fakten und Meinungen
Gregor Schirmer

Horst Schneider

A.-Eduard Krista
Brigitte Queck
Anny Przyklenk
Irene Eckert
Ernst Jager
Erhard Thomas
Werner Schneider
Siegfried Wegner
Keine deutsche Beteiligung an Militäreinsätzen nach Kapitel VII der
UN-Charta
Wo blieb beim "Einigungsvertrag" das Selbstbestimmungsrecht der
DDR-Bürger?
Wo bist du, Adam?
Für eine Zukunft ohne Atomwaffen
"Dank Euch ..."
Gedenken zum 65. Jahr der Selbstbefreiung von Buchenwald
Dresden, 13 Februar 2010
Treibjagd auf Honecker
Die neue Gleichheit in der Gesundheitsversorgung
Ein Tag in Israel

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"
Peter Michel
Klaus Georg Przyklenk
Thomas Richter
Zweifel an Endgültigkeiten
Erhard Schmidt - Maler
Vera Singer

Personalia
Horst Bethge
Hans-Dieter Nier
Pierre Kaldor ist tot
Heinz Schröder, Schöpfer des Meister Nadelöhr

Rezensionen
Erich Hahn
Peter Arlt
Klaus Eichner
Klaus Georg Przyklenk
Weltanschauung und Erinnerungsschlacht
Standardwerk auf Sisyphosweg
Befragung einer Behörde
Erfahren, erinnert, gewusst

Marginalien



Ralf-Alex Fichtner


Echo
Ein paar kleine Wahrheiten
Aphorismen
Karikatur
Festveranstaltung im Haus der russischen Wissenschaft und Kultur
am 7. Mai 2010

Raute

Kolumne

Wolfgang Richter

Erinnerungsschlacht um die Zukunft

"Die Erinnerung gleicht manchmal einer illegalen Widerstandsbewegung", schrieb die kroatische Schriftstellerin Dubravka Ugresic nach dem Zerfall Jugoslawiens. Was gäbe es sonst auch für einen plausiblen Grund für die nachfolgenden Regierungen, positive Erinnerungen an die jüngste Vergangenheit so heftig zu bekriegen und zu vernichten. Und das gilt nicht nur für Jugoslawien. Man fühlt sich von ihnen bedroht. Bedroht von den Bürgerinnen und Bürgern des eben nur und gerade eben doch real stattgefundenen Sozialismus. Und zwar nicht direkt von ihnen, die es ja - panta rei - so nicht mehr gibt, nicht von ihren Staaten, Parteien, Armeen - was sie alles hatten -, sondern schon von der bloßen Erinnerung an sie. Der europäische Sozialismus ist vorerst vorbei, doch die Erinnerungen an ihn sind Gegenwart. Deshalb muss man sie vergiften, bis einem der Appetit auf Sozialismus vergeht und einem speiübel wird von ihnen und man sie meiden will - um alles in der Welt.

Der 8. Mai ist das symbolträchtige Datum einer der großen Erinnerungsschlachten,in denen es immer um die Zukunft geht. Das ist eine erbitterte Auseinandersetzung, denn es geht nicht so sehr um diejenigen, die noch eigene Erinnerungen haben und immer älter werden. Sie lassen eine biologische Lösung erwarten, die man posthum durch Bücherverbrennungen und die Verbrennung sonstiger Erinnerungsträger noch vervollkommnen könnte. Das kriegt man über das Eigentum an Medien hin - von Bertelsmann bis Berlusconi. Denkmäler kann man schleifen und durch faschistische ersetzen, wie nicht nur in Estland passiert. Es geht vor allem aber um die möglichen Interessenten an Erinnerungen, die noch gar keine haben konnten, aber auf ihren Anspruch pochen, dass der praktizierte Antikommunismus ihrer Staaten nicht das einzige bleiben darf, was ihnen an sozialistischen Erinnerungen noch geblieben ist. Wer hätte gedacht, dass heute - noch ganz anders als 1991 - BürgerInnen der USA zu 36 Prozent positive Werte, oder sollte man sagen Erinnerungen - mit dem Wort "Sozialismus" verbinden.

Da reicht es nicht mehr aus, um ihnen das auszureden, ein bisschen rumzumäkeln an der Demokratie, zumal die Wahlfälschungen am Ende der DDR belanglose Lappalien waren gegenüber der Bedeutung, die eine doch wohl als gesichert geltende Fälschung bei der Wahl von Bush (Floridastimmen), kriegerische Weltgeschichte machte und die USA an den Rand faschistoider Regierungsformen brachte, was Sympathisanten von Sozialismus nicht unbekannt geblieben sein dürfte. Auch kann man sie kaum erschrecken mit damaligen Enteignungen des Industrie- und Bankenkapitals, das doch so unschuldig an der neuerlichen Weltwirtschaftskrise nicht ist und dessen Enteignung ein heimlicher Wunsch vieler und keine abschreckende Warnung ist. Auch hat man vielleicht noch parat, dass in Europa erst jüngst eine längere Friedensperiode herrschte, was wohl ganz unschwer mit der Existenz eines sozialistischen Lagers und dem Gleichgewicht des Schreckens verbunden ist, das sich eine vom Zweiten Weltkrieg tief betroffene und auch verarmte Gesellschaft erst mal absparen musste. Hier ist nicht viel zu holen an Denunziation dieser Gesellschaft, was nicht weit bohrendere Fragen an die eigene stellte. Es bleibt nur eins, die totalitäre Lösung, der totale ideologische Krieg gegen eine positive Erinnerung an die sozialistische Gesellschaft. Ihre Zerstörung. Dazu braucht man den größtmöglichen Hammer: Diese Gesellschaft war faschistisch! Das besagt die Totalitarismusdoktrin.

Stalin und Hitler hätten mit dem Überfall auf Polen gemeinsam den Zweiten Weltkrieg vom Zaun gebrochen. Nichts mehr mit dem 8. Mai als Tag der Befreiung. Nichts mit der Nacht zum 1. September 1939, dem einstigen Weltfriedenstag. Der 23. August, die Unterzeichnung des Nichtangriffspaktes zwischen Deutschland und der Sowjetunion, wird durch das Europaparlament zum Tag der Opfer von Stalinismus uns Nazismus erklärt. Und nicht 1945, sondern 1989 erfolgte die "Befreiung". Das ist eine Lüge, die hinter dergleichen Produkten des Goebbelsministeriums nicht zurücksteht.

Die Gedanken sind bekanntlich frei. Man kann sich nie ganz sicher sein, ob sie noch positive Erinnerungen an den Sozialismus mit sich tragen. Deshalb ergänzt man die geistigen Attacken durch Bagger und Abrissbirne. Erst jüngst traf es die Thälmann-Gedenkstätte Ziegenhals. Sie erinnerte mit Versammlungsraum und dem Boot "Charlotte" an den Aufruf zum ersten organisierten deutschen Widerstand nach der Machtergreifung Hitlers. Aber es waren Kommunisten, die sich hier trafen. Und Kommunisten gelten ja wohl nicht als die ganz richtigen Deutschen. Der Widerstand der ersten Stunde wird deshalb aus dem Gedächtnis verdrängt. Es lebe der Widerstand der letzten Stunde. Stauffenberg statt Thälmann. Bendlerblock statt Ziegenhals. Als ob nicht genug Platz bliebe für beider Andenken - jedem auf seine Art.

Ernst Thälmann schrieb an einen Kerkergenossen: "Wer seine Erinnerungen pflegt, erhöht sein Lebensgefühl, stärkt seine Widerstandskraft gegen kommende Schicksalsschläge." Und so werden sie eben immer wieder zu jenen "illegalen Widerstandsnestern" - ganz im Geiste desjenigen, von dem man gerade noch glaubte, erfolgreich die Ziegelsteine der Erinnerung zertrümmert zu haben.

Raute

Fakten und Meinungen

Gregor Schirmer

Keine deutsche Beteiligung an Militäreinsätzen nach Kapitel VII der UN-Charta

eine Meinungsäußerung zum Entwurf des Programms der Partei DIE LINKE

Die Partei DIE LINKE hat den Entwurf für ein Programm zur öffentlichen Diskussion vorgelegt. Ich will meine Meinung zu einer einzigen, aber schicksalsschweren Aussage im Entwurf sagen: "Wir fordem ein sofortiges Ende aller Kampfeinsätze der Bundeswehr. Dazu gehören auch deutsche Beteiligungen an UN-mandatierten Militäreinsätzen nach Kapitel VII der UN-Charta." Über den zweiten Satz wird es wohl noch kontroverse Debatten geben.

Der Satz hat seine Geschichte. Der Münsteraner Parteitag der PDS vom April 2000 haue nach heftigem Streit und Abwägung des Für und Wider entgegen dem Vorschlag des Parteivorstands beschlossen: "Die PDS lehnt ­... UN-mandatierte Militärinterventionen unter Berufung auf Kapitel VII der UN-Charta ab." Die Partei-Oberen taten sich schwer, die ungewohnte Niederlage zu schlucken. Die Gewinner hatten es nicht leicht, ihren Sieg zu ertragen. Der Beschluss blieb bis heute umstritten, wurde bekämpft und verteidigt, aber nie aufgehoben oder durch einen anderen ersetzt.

Nach der Neugründung der Partei DIE LINKE war eine Positionierung zu dieser Grundsatzfrage unerlässlich. Im Entwurf der Programmatischen Eckpunkte der neuen Partei wurde vorsichtig als offene Frage formuliert, ob internationale Militäreinsätze im Auftrag und unter Kontrolle der UN vielleicht doch zu einer friedlichen Entwicklung führen könnten. Viele Genossen und Sympathisanten - darunter auch ich - hörten die berühmte Nachtigall trapsen und befürchteten die Revision von Münster. In der von den Parteitagen der WSAG und der Linkspartei PDS im März 2007 beschlossenen Fassung der Eckpunkte hieß es dann aber etwas verquast, doch deutlich: "Die Bundeswehr darf nicht weiter für Militärinterventionen im Ausland eingesetzt werden. Aufgrund vielfältiger Erfahrungen" ist die im Entwurf der Eckpunkte gestellte Frage "zu verneinen".

Der Verweis auf Erfahrungen ist richtig. Seit dem Münsteraner Parteitag hat die Linksfraktion aus politischen und rechtlichen Gründen nach Prüfung jedes Einzelfalls keinem Kampfeinsatz der Bundeswehr zugestimmt. Zu den Einsätzen in der DR Kongo, in Mazedonien, im Kosovo und Bosnien-Herzegowina, in Somalia, in Kuwait, vor Libanon, am Horn von Afrika und in Afghanistan hat die Fraktion ein kategorisches Nein gesagt. Zu den Beschlüssen des Bundestags über den Einsatz deutscher Soldaten in dem grausamen Darfur-Konflikt im Sudan enthielt sich ein Teil der Fraktion der Stimme, prominent angeführt von Gregor Gysi.

Man muss genau lesen. Der Programm-Entwurf lehnt nicht UN-mandatierte Militäreinsätze schlechthin ab, sondern deutsche Beteiligungen an ihnen. Die Einschränkung ist gerechtfertigt, denn der Bundestag hat über deutsche Beteiligungen zu entscheiden, nicht über Beschlüsse des Sicherheitsrats. Beschlüsse nach Kapitel VII sind zwar verbindlich, aber kein Mitgliedstaat der UN ist verpflichtet, Truppen zu deren Erfüllung bereit zu stellen. Darüber entscheidet jeder Staat selbst. Keine angebliche Bündnis- und Solidaritätsverpflichtung kann ihm das abnehmen. Eine Ungereimtheit: Im Entwurf wird ein sofortiges Ende aller Kampfeinsätze der Bundeswehr gefordert. Das schließt doch wohl die Ablehnung zukünftiger Kampfeinsätze ein und sollte auch so unmissverständlich formuliert werden.

Deutschland hat gute Gründe, sich nicht an militärischen Einsätzen nach Kapitel VII der Charta zu beteiligen.

A Geschichte: Die deutsche Verantwortung für den verbrecherischen Aggressionskrieg und für die Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen in diesem Zusammenhang gebieten Zurückhaltung. Gregor Gysi sagte dazu einmal: "Der historische Bezug gilt zumindest insoweit noch als man fordern muss, dass Deutschland der erste 'Kriegsdienstverweigerer' der Welt sein könnte und sollte."

B Verfassung: Das Grundgesetz erlaubt den Einsatz der Bundeswehr nur zur Verteidigung. Das Bundesverfassungsgericht hat 1994 entgegen dem Grundgesetz anderweitige, jenseits der Selbstverteidigung liegende Auslandseinsätze für zulässig erklärt. Das war ein Fehlurteil. Der Vorbehalt einer konstitutiven Zustimmung des Bundestags war da nur ein schwacher Trost. Ist eine solche Position Drückebergerei, Ausweichen vor der Verantwortung und mangelnde Bündnissolidarität? Wenn Deutschland anstelle militärischer Aktionen mit friedlichen, zivilen Mitteln in völkerrechtlich zulässigen Fällen Beistand leistet, wäre ein solcher Vorwurf nicht gerechtfertigt. Im Übrigen kann Friedensdienst vor Ort nicht weniger gefährlich sein als Kriegsdienst.

Es ist offenkundig, dass die ablehnende Position im Programmentwurf einer möglichen Beteiligung der Linkspartei an einer Bundesregierung im Wege steht. Man kann nicht erwarten, dass eine wie auch immer koalierende Bundesregierung Auslandseinsätze der Bundeswehr in absehbarer Zeit auch nur infrage stellen könnte. Wer die LINKE im Jahr 2013 oder später in die Bundesregierung bringen will, muss konsequenterweise die Zustimmung zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr nach Kapitel VII der UN-Charta in Aussicht stellen. Anders ist eine Regierungsbeteiligung auf Bundesebene nicht zu haben.

Was hat es mit Kapitel VII der UN-Charta auf sich? Die Charta enthält in Artikel 2 ein striktes Verbot der Androhung und Anwendung militärischer Gewalt und der Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates. Im Kapitel VII werden zwei Ausnahmen von diesem Verbot statuiert.

Erstens die individuelle oder kollektive Selbstverteidigung gegen eine Aggression. Ein Staat, der angegriffen wird, kann sich mit Waffengewalt verteidigen und dabei die Hilfe anderer Staaten in Anspruch nehmen.

Zweitens militärische Maßnahmen des Sicherheitsrats, wenn dieser nach den geltenden Abstimmungsregeln eine Bedrohung oder einen Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung festgestellt hat. Die UN-Mitglieder sollten dazu dem Sicherheitsrat Streitkräfte zur Verfügung stellen. Dazu ist es weder im Kalten Krieg noch danach gekommen. Der Sicherheitsrat hat keine Streitkräfte, keine Polizei und damit de facto auch kein Gewaltmonopol.

Der Rat interpretiert oft höchst fragwürdig humanitäre Krisenzustände als Friedensbedrohungen im Sinne des Kapitels VII, schöpft die Möglichkeiten friedlicher Streitbeilegung und Sanktionen unter Ausschluss von Waffengewalt nicht aus und erteilt - falls ein Kompromiss zwischen den ständigen Mitgliedern zustande kommt - Mandate zur Anwendung von Waffengewalt an "willige" Mitgliedstaaten, die formell unter UN-Kommando oder unter dem direkten Kommando der USA, der NATO oder der EU handeln. Das ist so im Kapitel VII nicht vorgesehen. Der Sicherheitsrat hat in seiner gegenwärtigen Verfassung auch keine Legitimierung, Entscheidungen über Krieg und Frieden zu treffen. Das Sagen haben dort die fünf Veto-Mächte, die in ihrem eigenen politischen und ökonomischen Interesse, nicht in dem der Menschheit handeln. Der imperiale Weltmachtanspruch der USA bestimmt oft die Entscheidungen des Rats - oder verhindert sie. Die Staaten der Dritten Welt sind vollkommen unterrepräsentiert. Der Sicherheitsrat muss demokratisiert und mit Handlungsfähigkeit ausgestattet werden, bevor Vertrauen in seine Beschlüsse gesetzt werden kann. Der UN-Sicherheitsrat ist weder imstande noch hat er das Recht, mit militärischer Gewalt menschenrechtsgerechte Zustände in Staaten herzustellen, das politische Regime in "Schurkenstaaten" nach westlichem Vorbild zu ändern, "nation-building" zu betreiben und "failed states" nach westlichem Muster wieder herzustellen, die Ausbreitung von Massenvernichtungswaffen zu verhindern, Terrorismus und organisierte Kriminalität zu bekämpfen. Ich betone: Mit militärischer Gewalt. Das alles auch noch unter der Rubrik "Verteidigung" westlicher Staaten und Werte am Hindukusch oder anderswo in der Welt laufen zu lassen, ist absurd.

Es bleibt ein gewichtiger Einwand: Muss sich die Linkspartei nicht gerade wegen der deutschen Verantwortung für ungeheuerlichen Völkermord in ihrer Programmatik im Ausnahmefall vorbehalten, dass sie dem Einsatz deutscher Soldaten bei der Verhinderung und Beendigung von schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen zustimmt? War Vietnam nicht im Recht, als es durch seine militärische Intervention den Völkermord in Kambodscha beenden half? Sind solche tragischen Konstellationen in der Zukunft ausgeschlossen?

Meine Antwort: Es ist für Linke politisch und moralisch unzulässig, einem Völkermord und anderen schwerwiegenden Verbrechen gegen die Menschenrechte und Kriegsgesetze - wo und von wem auch immer begangen - untätig zuzuschauen. Dagegen müssen und können alle zulässigen Mittel unterhalb der Schwelle militärischer Gewalt eingesetzt werden: Parlamentarische und außerparlamentarische Kämpfe, politisch-diplomatischer Druck, Waffenembargo, internationale Isolierung und Strafverfolgung der für die Verbrechen verantwortlichen Machthaber und schließlich auch Wirtschaftssanktionen, die möglichst nicht die Bevölkerung treffen. Wenn solche und ähnliche Maßnahmen konsequent durchgeführt würden, könnte Völkermord gestoppt werden. Krieg und Militärinterventionen sind weder politisch geeignet und erfolgversprechend, noch moralisch vertretbar und völkerrechtlich zulässig, um Menschenrechte durchzusetzen.

Und wenn trotzdem eine Neuauflage von faschistischem Massenmord und ein neues Auschwitz irgendwo in der Welt drohen? Mit Sicherheit auszuschließen ist das nicht. Die Geschichte wiederholt sich zwar nicht, ist aber auch nicht berechenbar. Wenn dieser schlimmste aller denkbaren Fälle eintritt, muss die Partei DIE LINKE von heute auf morgen eine Sondersitzung des Parteitags einberufen, um neu zu entscheiden. Diesen Sonderfall im Parteiprogramm zu regeln, ist nicht sinnvoll. Es geht darum, einem solchen Fall vorzubeugen. Ich plädiere dafür, dass der Satz über die Ablehnung von Einsätzen der Bundeswehr stehen bleibt.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Adolf Hoffmeister: "Die Tapete des Anstreichers" (deutsche Soldaten im Auslandseinsatz) 1943, Pinselzeichnung

Raute

Fakten und Meinungen

Horst Schneider

Wo blieb beim "Einigungsvertrag" das Selbstbestimmungsrecht der DDR-Bürger?

Ist die "Wiedervereinigung" Frucht eines Völkerrechtsbruchs?

Viele Politiker, Publizisten und Historiker feiern den "Einigungsvertrag" als historische Leistung, vor allem, wenn sie selbst eine aktive Rolle bei seiner Durchsetzung gespielt haben und ihre große Rolle der Nachwelt im Geschichtsbild einprägen wollen.(1)

Helmut Kohl jubelte rückblickend im November 2009: "In der Nacht vom 22. zum 28. August 1990 beschloss die Volkskammer mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit den Beitritt zur Bundesrepublik bereits zum 3. Oktober 1990." Der mit einer Mehrheit von über 80 Prozent der abgegebenen Stimmen gefasste Beschluss hatte den Wortlaut, den sich Kohl in seinen kühnsten Träumen immer gewünscht hatte: "Die Volkskammer erklärt den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes mit Wirkung vom 3. Oktober 1990." In der Entschließung wurde davon ausgegangen, dass die Beratungen zum Einigungsvertrag und die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen bis zu diesem Termin abgeschlossen wären. Außerdem sollte die Länderbildung so weit vorbereitet sein, dass am 14. Oktober die Wahl zu den Länderparlamenten stattfinden könnte.(2)

Wir kommen nun auf diese Abstimmung zurück. Zunächst zu den Begriffen. Auf dem "Weg zur deutschen Einheit" spielten zwei Begriffe eine Schlüsselrolle, "Wiedervereinigung" und "Recht auf Selbstbestimmung". Richard von Weizsäcker zum Beispiel behauptete rückblickend: "Das Grundgesetz der Bundesrepublik stand unter dem verbindlichen Vorbehalt einer späteren Wiedervereinigung."(3)

Auch Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble beriefen und berufen sich ständig auf die Verfassungspflicht zur "Wiedervereinigung". Dieser Begriff war und ist zu Recht umstritten.

Es war Willy Brandt, der schon am 27. Januar 1990 auf einer Kundgebung in Eisenach mahnend erklärte: "Manche Leute - auch in Bonn und anderswo, übrigens auch im Ausland - sprechen von Wiedervereinigung und melden dagegen ihre Bedenken an. Ich schlage vor, dass wir das Wieder mal in die Schublade legen. Nichts wird wieder so, wie es früher war. Und wir wollen ja auch überhaupt nicht, dass wir eine frühere Gewaltherrschaft wiederbekommen."(4)

Vor der Spaltung, die 1945 begann, lag Hitlerdeutschland. Brandt fuhr fort: "Auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland steht nicht Wiedervereinigung, auch wenn ein hohes Gericht dies so ausgelegt hat, sondern es steht drin Selbstbestimmung, und das gilt für die Menschen in der DDR wie für uns in der Bundesrepublik."

Wir merken auf: Das Selbstbestimmungsrecht galt auch für die Bürger der DDR.

Es gab auch Schriftsteller, die vor der Verwendung des Begriffs "Wiedervereinigung" warnten (das Wort hatte bei der Kundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989 keiner der 26 Redner in den Mund genommen. Einer von ihnen war Günter Grass: "Niemand, der bei Verstand und geschlagen mit Gedächtnis ist, kann zulassen, dass es abermals zu einer Machtballung in der Mitte Europas kommt: Die Großmächte, nun wieder betont als Siegermächte, gewiss nicht, die Polen nicht, die Franzosen nicht, nicht die Holländer, nicht die Dänen. Aber auch wir Deutsche nicht, denn jener Einheitsstaat, dessen wechselnde Vollstrecker während nur knapp fünfundsiebzig Jahren anderen und uns Leid, Trümmer, Niederlagen, Millionen Flüchtlinge, Millionen Tote und die Last nicht zu bewältigender Verbrechen ins Geschichtsbuch geschrieben haben, verlangt nach keiner Neuauflage und sollte - so gutwillig wir uns mittlerweile zu geben verstehen - nie wieder politischen Willen entzünden. Das Wort Wiedervereinigung schließt ja ein, dass etwas geschieht, was es schon einmal gegeben hat.

Und ein politisch wiedervereinigtes Deutschland, einmal abgesehen von den Grenzen von 1937, aber auch selbst ohne diese Grenzen, halte ich nicht für wünschenswert. Einigkeit, europäische wie deutsche, setzt nicht Einheit voraus. Deutschland sollte endlich das Mit-, Neben- und Füreinander der Bayern und Sachsen, der Schwaben und Thüringer, der Westfalen und Mecklenburger werden."(5)

Tatsache war und bleibt: Das Bismarcksche Kaiserreich war mit "Blut und Eisen" hergestellt worden und fühlte sich 1914 stark genug, um alle seine Nachbarn zu überfallen.

Hitlers Großdeutschland war "friedlich" unter dem Beifall der Deutschen zustande gekommen und wurde zum Schrecken Europas.

Mit Brandt und Grass fragten viele: Nun ein drittes Mal? Die Frage ist noch nicht beantwortet.

Wenden wir uns nun dem Selbstbestimmungsrecht zu. Der Begriff war 1917 mit den Wilsonschen 14 Punkten in die Außenpolitik eingebracht worden.(6)

Die Bolschewiki hatten es schon 1903 in ihr Programm aufgenommen, Lenin propagierte das Selbstbestimmungsrecht als Recht zur Bildung des eigenen Nationalstaates und schloss das Recht auf Lostrennung unterdrückter Nationen ein.(7)

Hitler forderte im Punkt eins des Programms der Nazipartei das "Selbstbestimmungsrecht für alle Deutschen" und praktizierte es u. a. bei der "Anschlusspolitik" gegenüber Österreich und der Tschechoslowakei.(8)

Mit der UNO-Charta und den Menschenrechtskonventionen wurde das Selbstbestimmungsrecht der Völker universales Recht und spielte bei der Dekolonisierung eine entscheidende Rolle. In den internationalen Pakten über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. Dezember 1966 und über bürgerliche und politische Rechte vom gleichen Tag wurde es Rechtsprinzip.(9)

Nun wurde dieses Prinzip zum "Spielball" (Wolfgang Schäuble) in der Bonner Politik. Wolfgang Schäuble beschrieb im Detail, wie er mit "vielen Bällen" spielte, um am Ende auf historisch kürzest möglichem Weg auf der "Zielgeraden" anzukommen.(10)

Aber er prüfte die Frage nicht, ob der "Einigungsvertrag" völkerrechts- und verfassungskonform zustande kommt und dem "Willen des Volkes" entspricht. Indessen gab es schon zeitig in der Partei des Demokratischen Sozialismus und ihrem Umfeld Vorbehalte und Kritiken, die sich insbesondere auf die (Völker-)Rechtsverletzungen bezogen.(11)

Zwanzig Jahre nach Abschluss des Einigungsvertrages scheint die Macht der Fakten eine Prüfung auszuschließen. Indessen sei daran erinnert, welche Bedeutung manche Verträge erst lange nach ihrem Abschluss erhielten: Versailles, Rapallo, München, der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt 1939, Potsdam, Helsinki ...

Hier wird nur ein Aspekt, die Rechtmäßigkeit des "Einigungsvertrages" im juristischen Sinne,geprüft. Es zeigt sich u. a.

Erstens: Mit dem Einigungsvertrag wurden die DDR-Bürger ihres Selbstbestimmungsrechts beraubt. Das geschah seitens der Bonner Regierung langfristig und planvoll. Während Wolfgang Schäuble, der die Bonner Verhandlungstruppe auf dem Wege zum "Einigungsvertrag" führte, dem Selbstbestimmungsrecht keine Beachtung schenkte, bekannte sich Helmut Kohl verbal dazu.

Rafael Biermann, Mitarbeiter im Planungsstab des Verteidigungsministeriums, war aufgefallen: "Im Juli und August 1989 betonte Kohl in auffälliger Weise immer wieder das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen."(12)

Rafael Biermann hat richtig beobachtet, aber es ging nicht um das "Selbstbestimmungsrecht der Deutschen" (bei Hitler hatte es "des deutschen Volkes" geheißen), sondern um das Selbstbestimmungsrecht der DDR-Bürger.

Großzügig, wie Helmut Kohl damals mit Versprechungen umging, erklärte er mehrfach, vor allem in der entscheidenden Rede am 19. Dezember 1989 vor der Ruine der Dresdner Frauenkirche: "Wir sagen 'ja' zum Selbstbestimmungsrecht, das allen Völkern dieser Erde gehört." (Jubel, Klatschen)(13) Derselbe Kohl, der sich auf das völkerrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht der Völker berief, verweigerte dem Staatsvolk der DDR dieses Völker- und Menschenrecht. Wie erfolgte dieser Wort- und Vertragsbruch?

Der Bundesregierung und ihren Beratern, vor allem Wolfgang Schäuble, standen geschichtliche Erfahrungen für die "Heimkehr" von Deutschen in das "Reich" zur Verfügung. Am 13. Januar 1935 entschieden sich 90,8 Prozent der stimmberechtigten Saarländer, die bis dahin unter der Oberhoheit Frankreichs gelebt hatten, für die "Rückgliederung" an das "Reich". Das war der erste große Erfolg Hitlerdeutschlands am Beginn der "friedlichen Heim-ins-Reich"-Politik.

Ob die Abstimmenden an Brechts "Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber" gedacht haben, ist für die Sache unwichtig.

Der "Anschluss" Österreichs war von einer "Volksabstimmung" in Deutschland unter dem Motto "Ein Volk, ein Reich, ein Führer!" begleitet. Hitlers Erfolg war überwältigend.

Das "Sudetenland" holte Hitler auf einem anderen Weg "heim". Im Münchner Diktat, an dessen Entstehung die Tschechoslowakei nicht einmal am "Katzentisch" beteiligt war, "schenkten" Frankreich und England der Hitlerregierung das von ihr geforderte Territorium.

Von aktueller Bedeutung ist, dass die Westmächte das Münchner Diktat, das Hitler selbst gebrochen hat, extunc (von Anfang an) für ungültig erklärten, während die Bundesrepublik das nach 1945 bis heute nicht getan hat. Die Hintergründe sind unschwer zu erraten.(14)

Großdeutschland war "friedlich" entstanden und es fühlte sich stark genug, den zweiten Weltkrieg vom Zaune zu brechen.

Schäuble und seinem Stab stand auch ein Nachkriegsbeispiel zur Verfügung. Auch im Westen hatte das "Reich" 1945 ein Stück Deutschland verloren, das Saarland.

Wieder war Frankreich 1945 - wie nach 1918 vor allem an den Kohlevorräten interessiert gewesen.

Am 23. Oktober 1955 sollten die Saarländer per Volksabstimmung über das "Saarstatut", die "Europäisierung" ihres Territoriums, entscheiden. 67 Prozent stimmten dagegen und wollten die Rückkehr zu Deutschland. Für viele verband sich wie 1935 die Entscheidung zugunsten der "Vereinigung mit Deutschland" mit wohltuenden Illusionen von Arbeit und Wohlstand und volksgemeinschaftlicher Eintracht. Vom Reich her war alles aufgeboten worden, sie zu nähren. Nach langen Verhandlungen mit Frankreich und vielen Kompromissen wurde das Saarland am 1. Januar 1957 11. Land der Bundesrepublik. Die wirtschaftliche Einheit wurde erst am 6. Juli 1959 abgeschlossen.(15)

Experten des Auswärtigen Amtes konnten Wolfgang Schäuble auch darüber informieren, welchen "Preis" die Bundesrepublik für die "Wiedervereinigung" in ihrem Memorandum vom 2. September 1956 zu zahlen bereit gewesen ist.(16)

Das Modell existierte, stand aber Krause scheinbar nicht zur Verfügung. Das Fazit: Nicht einmal die DDR-Delegation vertrat die Interessen ihrer Bürger.

Zweitens: Der Kanzler, sein Innenminister und die Abgeordneten des Bundestages verletzten mit der Orientierung auf den Artikel 23 das Grundgesetz. Als Hauptweg, den "Einigungsvertrag" auf parlamentarischem, pseudodemokratischem Weg durchzusetzen, wählten die Verantwortlichen in Bonn die Praktizierung des Artikels 23 des Grundgesetzes. Wolfgang Schäuble begründete seine Entscheidung: "Der Weg zur Einheit konnte nach meiner Vorstellung nur über den Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes führen. Die Alternative - die Ausarbeitung einer neuen Verfassung nach Artikel 146 - würde viel zu lange dauern und Unsicherheit und Instabilität in beide Teile Deutschlands, aber auch zumindest in das europäische Umfeld hineintragen."(17)

Dieselben Politiker, die die "Unsicherheit und Instabilität" in Europa verursachten, nutzten die labile Lage nun zum Bruch des Grundgesetzes.

Den vielen Beweihräucherungen des jetzt 60 Jahre alten Grundgesetzes (18)

- Marion Detjen, Stephan Detjen, Maximilian Steinbeis: Die Deutschen und das Grundgesetz. Geschichte und Grenzen unserer Verfassung, München 2009,

- Christof Gramm, Stefan Ulrich Pieper: Grundgesetz. Bürgerkommentar, Baden-Baden 2009,

- Christoph Möllers: Das Grundgesetz, Geschichte und Inhalt (C. H. Beck Wissen), München 2009 müssen zunächst einmal nackte Tatsachen entgegengestellt werden:

- Das Grundgesetz war in Vorbereitung der Spaltung Deutschlands von den westlichen Alliierten in Auftrag gegeben und auf Befehl der Hohen Kommissare in Kraft gesetzt worden.

- Es galt als provisorisch und nicht als endgültige Verfassung.

- Zu keinem Zeitpunkt ist das Grundgesetz von den Bundesbürgern - z.B. durch Volksentscheid legitimiert worden.

- In vielen Änderungen des Grundgesetzes war die Substanz des Grundgesetzes unaufhörlich verschlechtert, der antifaschistische und antimilitaristische Auftrag des Grundgesetzes de facto zerstört worden.(19)

Der "Einigungsvertrag" ist im Schweinsgalopp entstanden. Wie lange dagegen hatten Gesetze zum Schwangerschaftsabbruch, zur Patientenverfügung oder zu den Ladenöffnungszeiten gebraucht, ehe sie vom Bundestag verabschiedet worden sind.

Wolfgang Schäuble gibt in "Der Vertrag" an, dass die erste Verhandlungsrunde mit dem Krause-Team in Bonn am 6. Mai 1990, die zweite in Berlin am 17. Juli 1990, die dritte vom 20. bis 24. August in Bonn stattgefunden hat.

Das sind knapp vier Monate Verhandlungszeit. Die Ratifizierung fand am 23. September 1990 nur noch durch den Bundespräsidenten statt. Warum legte die Bonner Regierung ein solches Tempo vor? Weil sie fürchtete, ihr Spiel könnte von den DDR-Bürgern durchschaut und von Moskau gestoppt werden? War es so, dass das "Zeitfenster" nur kurze Zeit offenstand, wie die Partei Helmut Kohls behauptet?

Schon 1973 hatte der Bundestag eine Enquetekommission zur Verfassungsreform eingesetzt, aber nicht einmal Mäuslein geboren. Nach 1990 tat sie alles, um eine verfassungsgebende Nationalversammlung zu verhindern.(20)

Wir behandeln hier nicht die Verfassung der DDR, die die gesellschaftlichen Veränderungen widerspiegelte und staatsrechtlich fixierte. Sie war von den Bürgern mehrheitlich 1968 in einem Volksentscheid gebilligt worden, also für DDR-Bürger (auch "Bürgerrechtler") bindend.

Wenn Politiker wie Kohl und Schäuble ihr hochgejubeltes provisorisches Grundgesetz beachtet hätten, wäre der Artikel 146 zwingend anzuwenden gewesen: "Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist."(21)

Das Grundgesetz war ein Provisorium, eine legitimierte gesamtdeutsche Verfassung gab es 1990 und bis heute nicht. Der Rechtsstaat Deutschland hat keine Verfassung.

Eine Episode ist noch erwähnenswert: Als im Frühjahr 1990 sich Kräfte um den "Bürgerrechtler" Wolfgang Ullmann scharten, um eine "Verfassung für Deutschland" zu erörtern, wurde von den Bonner Politikern alles getan, um diesen Versuch im Keim zu ersticken.(22)

Das Fazit: Der "Einigungsvertrag" hatte für die bundesdeutsche Seite den Bruch des Grundgesetzes zur Voraussetzung. Das war nach bundesdeutschem Strafrecht Landesverrat.

Drittens: Die Mehrheit der "frei gewählten" Volkskammerabgeordneten verkaufte die Rechte der DDR-Bürger und beging Verfassungsbruch.

Die Volkskammer der DDR war, ob vor oder nach dem 18. März 1990, das Parlament eines souveränen, gegenüber der BRD gleichberechtigten Staates. Sie war der von den Bürgern legitimierten Verfassung verpflichtet. Dazu gehörte

- der Schutz der Souveränität und Integrität der DDR,
- die Verteidigung des Volkseigentums,
- der Schutz der sozialen und kulturellen Errungenschaften der DDR,
- die Wahrung des antimilitärischen und antifaschistischen Vermächtnisses,
- die Fortsetzung des Kampfes um Frieden und Abrüstung.

Die Wahl vom 18. März war keine Ermächtigung, die "Wiedervereinigung" als Sturzgeburt herbeiführen zu helfen, obwohl die kohltreuen Politiker und Publizisten das Ergebnis so interpretierten. De Maiziere vertrat nie die Mehrheit der DDR-Bürger. Seit Ende 1989 betrieben die bundesdeutschen Parteien und Politiker unverhüllt gegenüber der DDR die Politik der Intervention und Erpressung, wobei seit Anfang 1990 auch die "Stasi-Keule" (Schnur, Böhme, de Maizière, Gysi u. a.) zum Einsatz kam.

Ehrhart Neubert überschrieb den entsprechenden Buchabschnitt: "Bonn - von humanitärer Hilfe zur Intervention".(23)

Wahlkundgebungen, Pressekampagnen, Wahlkampfstäbe und andere Aktivitäten zeigten, in welchem Maße die bundesdeutschen Parteien die Unabhängigkeit der DDR verletzten, allen voran Helmut Kohl mit seiner "Allianz für Deutschland", deren Spitze erpressbar war.

Oskar Lafontaine warf Helmut Kohl "dreisten Wählerbetrug" vor.(24)

Wer einen kleinen Einblick in die Politik der Regierung de Maiziere und deren Trickserei gewinnen will, findet ihn bei Ehrhart Neubert, dem Pfarrer, der zum Historiker in der Gauck-Behörde mutierte, und "Unsere Revolution" geschrieben hat.(25)

Zunächst ist bemerkenswert, dass de Maiziere vier Pfarrer in die Regierung aufnahm: Hans-Werner Ebeling, Gottfried Müller, Markus Meckel und Rainer Eppelmann, wobei die Letzteren als Außen- und Verteidigungsminister sogar Schlüsselfunktionen bei der Beseitigung der DDR ausübten. Pfarrer scheinen dafür besonders geeignet gewesen zu sein. In der Volkskammer übten u. a. Reinhold Höppner und Richard Schröder führenden Einfluss aus.(26)

Für eine Reihe von Oppositionellen war der Verrat an der Verfassung der DDR schon lange vorprogrammiert. Rolf Henrichs hatte zu DDR-Zeiten verkündet: "Die Vormundschaft der Politbürokratie kann ohne Handlungen, welche den Machthabern als Verrat erscheinen müssen, gar nicht gebrochen werden."(27)

Von diesem Standpunkt aus schien die Haltung der Mehrheit der letzten Volkskammer gerechtfertigt: Die "demokratische Volkskammer und die von ihr gewählte Regierung wollte und konnte ... die noch gültige Verfassung nicht als Rechtsgrundlage anerkennen."(28) Aber warum nicht? Und: Es gab keine andere.

Zur dürftigen Tarnung des Bruchs der DDR-Verfassung, auf deren Grundlage Volkskammer und Regierung im März 1990 gewählt worden waren, dienten Diskussionen über Verfassungsentwürfe und des "Gesetzes zur Änderung und Ergänzung der Verfassung der DDR" vom 17. Juni 1990.(29)

Neubert konzediert der Regierung de Maiziere: "Die Situation des Kabinetts, das seine eigene Abschaffung organisieren musste, war höchst unkomfortabel."(30)

Und wie "komfortabel" war die Lage für die Millionen DDR-Bürger, die die DDR bewusst aus freien Stücken aufgebaut und geschützt haben und nun durch viele "Volksvertreter" verraten und verkauft wurden?

Die Fakten jedenfalls beweisen:

Am 18. März 1990 hatte die Kohlregierung endlich die "Partner", die gegenüber den Plänen der raschen "Wiedervereinigung" kaum noch Widerstand leisteten, wenngleich Minister wie Markus Meckel und Rainer Eppelmann Gefallen an den Privilegien und der Macht eines Ministers gefunden hatten. Zwanzig Jahre später bezeichnete "Der Spiegel" das Wahlergebnis als Glück für Helmut Kohl. "Die Mark war der Katalysator der Einheit"(31) und zwar die Mark, die nach Moskau floss, als auch die, nach der DDR-Bürger strebten. Mit anderen Worten: Die DDR ist verkauft worden.

Beauftragter der DDR-Regierung für die Verhandlungen zum Einigungsvertrag wurde Günther Krause.

Wenn Vertreter von Staaten miteinander verhandeln, ist es üblich und selbstverständlich, dass sie die Interessen der Bürger ihres Staates vertreten. Krause hätte also Gegenspieler (das Bild vom Pokern und Kartenspiel verwendeten Kohl und Schäuble mehrfach) Wolfgang Schäubles sein müssen. Das war er nicht, wie ihm der Bonner Innenminister bescheinigte. "Von Anfang an konnten Günther Krause und ich auf eine wichtige Gemeinsamkeit vertrauen, die uns das Vertragsgeschäft erleichterte: Wir wollten beide die politische Vereinigung lieber heute als morgen."(32) An anderer Stelle: "Krause, der von seinem ganzen Lebensgefühl her, aus seiner Lebenseinstellung heraus mit der DDR nichts im Sinn hatte, wollte die Einheit lieber heute als morgen vollziehen."(33) Schließlich: "Im Gegensatz zu den Ministerpräsidenten ließ Krause nie den Drang verspüren, irgend etwas aus der alten DDR in das neue Deutschland retten zu wollen."(34)

Wie sich Zehntausende DDR-Bürger erinnern, antwortete Günther Krause Mitte 1990 auf die Frage eines Reporters, was er von der Einheit erwarte: Er freue sich, dass es dann eine Büchse Ananas für eine DM geben würde.

Eine Büchse Ananas als Judaslohn? Jedenfalls hatte de Maiziere Krause zum Verhandlungspartner auserkoren. Wie Schäuble mitteilt, hatte auch er Mitarbeiter aus Bonn, die ihm "zur Beratung und Hilfeleistung" zur Verfügung standen.(35)

Hier wird nicht auf die Skandale eingegangen, die Günther Krause nach 1990 verursachte, obwohl sie viel über Charakter und Moral jenes Mannes aussagten, der die Würde und Zukunft von Millionen DDR-Bürgern hätte verteidigen müssen.

Mit einem Politiker-Typ wie Hans Modrow hätte es Wolfgang Schäuble sicherlich nicht so leicht gehabt. Er hat, wie er selbst bestätigte, den Vertrag mit sich selbst abgeschlossen und dabei mit "vielen Bällen" gespielt. Auf zwei dieser "Bälle" soll noch aufmerksam gemacht werden.

In dem Buch von Wolfgang Schäuble "Der Vertrag" widmete er im vorletzten Kapitel "Erblast" der "Bewältigung der Stasi-Vergangenheit" zwanzig Seiten.(36) Er behauptet, er sei für eine Amnestie eingetreten: "Jeder von uns im Westen hätte sich wohl im Zweifel nicht anders verhalten, wenn er in diesen vierzig Jahren in der DDR hätte leben müssen."(37)

Der Satz ist schon deshalb unsinnig, weil sich Millionen Menschen nicht gleich verhalten, auch nicht in der DDR. "Jeder" hat sich "anders" verhalten. Und das war jedermanns Recht, sofern er nicht gegen Gesetze verstieß. Schäuble beteuerte, er habe sich für eine Amnestie eingesetzt, aus der er "Agenten wie Tiedge" ausgenommen hätte. Dass die Menschenrechtskonventionen und Artikel 103 des Grundgesetzes, die rückwirkendes Strafrecht (noch dazu auf dem Gebiet eines anderen Staates) ausschließen, scheint er nicht zu erkennen. "Aus der Amnestie wurde nichts. Die Widerstände in der Bevölkerung in beiden Teilen Deutschlands und auch in den Parlamenten waren zu stark."(38)

Wolfgang Schäuble sagte den Lesern nicht, wer diese "Widerstände" organisiert hat und wem sie nutzten. Jedenfalls wurde - Gott und Gauck sei Dank - vom Thema in der letzten Volkskammer zum Hauptthema im "wiedervereinigten" Deutschland.(39)

Hoffentlich bewahrheitet sich die Erkenntnis nicht: A house divided in itself cannot stand.

Noch eine "Kleinigkeit": In der Eile sind den Autoren des "Einigungsvertrages" viele gravierende Fehler unterlaufen. Einige Beispiele:

Im Kapitel I.1 werden die Länder in der DDR aufgezählt, die am 3. Oktober nach Artikel 23 des Grundgesetzes der BRD beigetreten sein sollen. Der Artikel 23 existierte seit dem 18. Juli 1990 nicht mehr, die aufgezählten Länder noch nicht.

Im Artikel 4 werden die Veränderungen in der Präambel des Grundgesetzes mitgeteilt. Immer noch wird behauptet, "die Deutschen" hätten in "freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet". Was jeder wissen müsste, hat Günter Grass so formuliert: "Die Väter und Mütter des Grundgesetzes in der alten Bundesrepublik haben das Grundgesetz als Provisorium im Hinblick auf eine später vielleicht mögliche Einheit verstanden. Dementsprechend war die Präambel formuliert und dementsprechend der Schlussartikel. Daran müssen wir uns halten. Nach wie vor ist einzuklagen, dass der Schlussartikel des alten Grundgesetzes, Artikel 146, der zwingend vorgeschrieben hat, im Fall der deutschen Einheit dem deutschen Volk eine neue Verfassung vorzulegen, nicht eingehalten worden ist. Ich bin sicher, dass wir alle einen ungeheuren und kaum auszugleichenden Schaden erleben, wenn wir weiterhin mit diesem Verfassungsbruch leben."(40)

Noch einmal: Der Artikel 146 des im Jahre 1949 unter westalliierter Oberhoheit für die Bundesrepublik geschaffene Grundgesetz lautete bis zum Inkrafttreten des Einigungsvertrages am 31.8.1990 wie folgt: "Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tag, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist." Mit Bekanntmachung im Bundesgesetzblatt Teil II vom 23.9.1990, Seite 885 ff. wurde dieser Artikel wie folgt geändert: "Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tag, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist."

Diese Verfassung, die seit 1949 aussteht und 1990 vom Volk zu legitimieren war, gibt es bis heute nicht.

Viertens: Seit der "Einigungsvertrag" in Kraft gesetzt wurde, wird er gebrochen.

Internationale Verträge werden auf Treu und Glauben abgeschlossen. Der Bruch mit diesem Prinzip ändert nichts an dessen Notwendigkeit und Richtigkeit. Im Falle des "Einigungsvertrages"(41) gibt es im Unterschied zu sonst üblichen Verträgen eine Besonderheit: Der eine Vertragspartner ist als handelndes Subjekt verschwunden. Der Sieger bestimmt, was Recht ist oder nicht. Klagen des untergegangenen Staates finden kein Gehör mehr, wie auch die "europäische Praxis" (Strasbourg) zeigt. Die Frage heute lautet deshalb: "Ist der Einigungsvertrag null und nichtig?"(42)

Es gibt gute Gründe, diese Frage zu bejahen. Zum Zeitpunkt der "Wiedervereinigung" waren beide deutsche Staaten souverän und Mitglied der Wiener Konvention über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969.

Wenn ein Staat durch Drohung und Nötigung zu einem Vertragsabschluss gezwungen wurde, ist er nichtig. (Das klassische Beispiel ist das Münchner Diktat 1938.) Gab es gegenüber der DDR nicht ausreichend Druck?

"Ein Vertrag ist nichtig, wenn er im Zeitpunkt seines Abschlusses im Widerspruch zu einer zwingenden Norm des allgemeinen Völkerrechts steht. Im Sinne dieses Übereinkommens ist eine zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts eine Norm, die von der internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt wird als eine Norm, von der nicht abgewichen werden darf und die nur durch eine spätere Norm des allgemeinen Völkerrechts derselben Rechtsnatur geändert werden kann."(43)

Das setzt natürlich die Kenntnis der bindenden Völkerrechtsnormen und des Vertragstextes voraus. War nicht der Druck, sogar der Zeitdruck, so groß, dass die Abgeordneten - womöglich alle - "blind" zustimmten? War die Zeit berechnet, die Wolfgang Schäuble für die Paraphierung des Vertrages durch ihn und Krause angibt und in Rechnung stellt, dass der Text im Gesetzblatt 360 Seiten hat, kann nur folgern, wenn er logisch denkt, dass niemand den Vertrag ganz und gründlich gelesen haben konnte, als er abstimmte.

Folgen wir dem Ablauf: Am Morgen des 23. August 2:30 Uhr war die DDR durch Beschluss der Volkskammer der BRD beigetreten. Die Präsidentin der Volkskammer, Dr. Bergmann-Pohl hatte mitzuteilen: "Abgegeben wurden 363 Stimmen. Davon ist keine ungültige Stimme abgegeben worden. Mit Ja haben 294 Abgeordnete gestimmt. (Starker Beifall der CDU/DA, DSU, F.D.P., teilweise der SPD - die Abgeordneten der genannten Fraktionen erheben sich von den Plätzen.) Mit Nein haben 62 Abgeordnete gestimmt, und sieben Abgeordnete haben sich der Stimme enthalten ...

Darauf erhielt ein Abgeordneter das Wort zu einer persönlichen Erklärung. Ich zitiere den ersten Satz mit der Reaktion des Parlaments, an den sich dann noch einige Bemerkungen vorweggenommener Ostalgie anschlossen:

Dr. Gysi (PDS): Frau Präsidentin! Das Parlament hat soeben nicht mehr und nicht weniger als den Untergang der Deutschen Demokratischen Republik zum 3. Oktober 1990 (Jubelnder Beifall bei der CDU/DA, der DSU; teilweise bei der SPD) beschlossen."(44)

Die Unterzeichnung des "Einigungsvertrages" erfolgte am 31. August 1990 durch Innenminister Schäuble und dem Staatssekretär Krause im Kronprinzenpalais in Berlin.

Am 6. September 1990 erfolgte die erste Lesung in der Volkskammer, nachdem sie am Vortag im Bundestag stattgefunden hatte.

Welcher Bundestagsabgeordnete von 1990 wagt zu behaupten, dass er den gesamten Einigungsvertrag gelesen hat und womöglich gar die Konsequenzen bedacht hat?

Ich habe manchen befragt, aber bisher keinen getroffen, der die Frage mit ja beantwortet hat.

Auch vom Verhandlungsablauf her kann der Vertrag nur als nichtig bewertet werden. Im Vorwort zu Wolfgang Schäubles "Der Vertrag" sagen die Autoren ausdrücklich:

"Dies ist das Ziel dieser Darstellung: Hier soll einer der Hauptakteure der Deutschen Einigung zu Wort kommen, der eigentliche Vollstrecker, der Manager der Einheit. Wohl ist es so, dass Kanzler Kohl die Vorgaben lieferte, sich im Kaukasus bei Michail Gorbatschow das Plazet abholte, dass Hans-Dietrich Genscher die deutsche Einheit außenpolitisch absicherte, dass ohne die Hilfe von Experten die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion nicht so schnell zustande gekommen wäre. Vielen erschien es, als liefe ein Film ab - Titel "Deutsche Einigung" -, vor atemlosem Publikum, mit atemlosen Akteuren. Es gab jedoch einen, der das Drehbuch schrieb: Wolfgang Schäuble, als Innenminister zuständig für einen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes. Er war es, der sich mit ungewöhnlichem Einsatz in die komplizierten Details der unterschiedlichen Rechts- und Gesellschaftsordnungen einarbeitete; er setzte seine Fachleute auf die Suche nach Lösungen an, probte den Konsens mit der Opposition. Sogar dann, wenn andere ihm ins Handwerk pfuschten - siehe Wahlrecht, siehe Wahltermin -, forschte er nach Auswegen und fand sie."(45)

Erhard Neubert behauptet trotz dieses Geständnisses Wolfgang Schäubles: "Die immer wieder in Umlauf gesetzte Legende stimmt nicht, dass der Einigungsvertrag ein Diktat des Westens war."(46)

Und wie beweist er seine These? Mit einem Zitat Markus Meckels.

Wolfgang Schäuble fand es erstaunlich, dass der "erste Angriff gegen den Einigungsvertrag beim Verfassungsgericht in Karlsruhe" ausgerechnet von Herbert Czaja kam, der die "Heimatvertriebenen" vertrat. Er stellt fest, dass mit der Streichung des Artikels 23 des Grundgesetzes die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze verbunden sei, was dem Grundgesetz widerspräche. Schließlich dürfe in einem Vertrag mit einem anderen Staat - der DDR - das Grundgesetz nicht verändert werden. Mit diesen Argumenten wollte Czaja erreichen, dass das Bundesverfassungsgericht die Ratifizierung des Einigungsvertrages im Bundestag untersagt.(47)

Das Gericht lehnte - befehls- und erwartungsgemäß - den Antrag ab.

Inzwischen sind auch die gravierenden Vertragsbrüche für jedermann sichtbar:

- Die Treuhand, die zum Schutze des DDR-Vermögens geschaffen wurde, mutierte zum entscheidenden Instrument der Durchsetzung der imperialistischen Eigentumsverhältnisse.(48)

- Die Siegerjustiz verletzte permanent international gültige Rechtsnormen, darunter das Verbot, rückwirkendes Strafrecht anzuwenden.(49)

- Gezielte Medienkampagnen (vor denen Schäuble noch gewarnt hatte) gegen "staatsnahe" DDR-Bürger verletzen den Artikel 1 des Grundgesetzes, der dazu verpflichtet, die Würde des Menschen zu achten.(50)

- Urteile von DDR-Gerichten, die rechtens waren, wurden kassiert, Verurteilte rehabilitiert und entschädigt, auch wenn sie Terroristen und Kriegsverbrecher gewesen waren.(51)

Hochverrat wird auch in parlamentarischen Demokratien bestraft.

Um ihn rückwirkend honorieren zu können, wenn er in der DDR bestraft worden war, wurde in den "Einigungsvertrag" der Begriff "Unrechtsregime" (erstmalig in einem internationalen Vertrag) eingeschmuggelt.(52)

In diesem Kontext konnte im Artikel 17 verfügt werden: "Die Rehabilitierung dieser Opfer des SED-Unrechtsregimes ist mit einer angemessenen Entschädigungszahlung zu verbinden."

Welcher Volkskammerabgeordnete hat das gemerkt?

Ein Vertrag ist auch nicht gültig, wenn er zwingenden Normen des Völkerrechts widerspricht. Normen wie Achtung der Souveränität und Nichteinmischung in innere Angelegenheiten der DDR sind von der BRD permanent gebrochen worden.

Einmischung in innere Angelegenheiten, Angriffe auf die Menschenrechtskonventionen usw. sind natürlich Verletzungen des Völkerrechts, die den "Einigungsvertrag" ähnlich disqualifizieren wie 1938 das Münchner Diktat zum "Anschluss" des Sudetenlandes. "Die deutsche Geschichte geht weitet."


Massendemonstrationen in zahlreichen Städten der DDR. "Das organisiert die CDU. Hinter all dem steckt Kohl. Mir sagt er, er tue nichts, und hinter meinem Rücken gibt er Gas. Und er glaubt, ich bekäme das nicht mit."

Francois Mitterand, Eintrag in seinem Tagebuch, zitiert nach SPIEGEL 42/1995


Anmerkungen:

(1) Helmut Kohl: Vom Mauerfall zur Wiedervereinigung. Meine Erinnerungen, München 2009. Wolfgang Schäuble: Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Dirk Koch und Klaus Wirtgen, Stuttgart 1991. Horst Teltschik: 329 Tage. Innenansichten der Einigung, Berlin 1991.

(2) Helmut Kohl, a. a. O., S. 368

(3) Richard von Weizsäcker: Der Weg zur Einheit, S. 32

(4) Willy Brandt: Reden zu Deutschland. "... was zusammengehört", Bonn 1990, S. 91.

(5) Sächsische Zeitung 8. Juni 1990.

(6) Rudolf Arzinger: Das Selbstbestimmungsrecht im allgemeinen Völkerrecht der Gegenwart, Berlin

(7) Wladimir Iljitsch Lenin: Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (1914), in: Werke Bd. 20, Berlin 1961, S. 413/14.

(8) Werner Röhr: September 1938, Berlin 2008.

(9) Nach der Ratifizierung durch den Bundestag wurden beide Konventionen im BG Bl. 1973 II 1553 abgedruckt; Text auch in: Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1999, S. 59 f.

(10) Wolfgang Schäuble, a. a. O., S. 209 f.

(11) Max Schmidt u.a.: Einigungsvertrag - Muster ohne Wert? Berlin 1993. Gregor Schirmer: Ist der Einigungsvertrag null und nichtig? Neues Deutschland 21. August 1992.

(12) Rafael Biermann: Zwischen Kreml und Kanzleramt. Wie Moskau mit der deutschen Einheit rang, Paderborn, München, Wien, Zürich 1998, S. 243.

(13) Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 22. Dezember 1989. Siehe auch Horst Schneider: Das Treffen zwischen Ministerpräsident Hans Modrow und Bundeskanzler Helmut Kohl am 19./20. Dezember 1989 in Dresden, Dresden 2009, S. 25.

(14) Horst Schneider: Nemecke Staty & Mnichowsky Diktat, in: Mnichov sedmdesat let pote, Praha 2008, S. 97 f.

(15) Gemeinsame deutsch-französische Erklärung am 27. Oktober 1956, in: Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Dokumente von 1949 bis 1994, Köln 1995, S. 233.

(16) Text in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Bonn 8. September 1956, Nr. 169, S. 1626 f.

(17) Wolfgang Schäuble: Der Vertrag, a. a. O., S. 25.

(18) Steffi Menzenbach: Verfassung im steten Wandel, Das Parlament 28. Dezember 2009, 4. Januar 2010; Christian Bemmarius: Das Grundgesetz. Eine Biographie, Berlin 2009.

(19) Lorenz Knorr: 60 Jahre Verfassungsbruch in der BRD. Die systematische Zerstörung des antimilitaristischen und antifaschistischen Auftrags des Grundgesetzes, Frankfurt a. M. 2009. Im Unterschied zu Lorenz Knorr fand sich Gregor Gysi zu einer Lobeshymne auf das Grundgesetz bereit: "Das auf dem Grundgesetz basierende parlamentarische System der Bundesrepublik Deutschland hat sich bewährt und muss dennoch erweitert und ergänzt werden. Obwohl das Grundgesetz nie in einem Volksentscheid angenommen wurde, handelt es sich um eine zivilisatorische Errungenschaft." Das Parlament 15-16/2009.

(20) Behagliche Zeiten in Bonn, Das Parlament, ebenda.

(21) Verfassungen deutscher Länder und Staaten ..., Berlin 1989, S. 441.

(22) Eine Verfassung für Deutschland. Manifest. Text. Plädouyers. Herausgegeben von Bern Buggenberger, Ulrich K. Preuß, Wolfgang Ullmann, München, Wien 1991.

(23) Ehrhart Neubert: Unsere Revolution, München 2008, S. 206.

(24) Helmut Kohl: Vom Mauerfall zur Wiedervereinigung, a. a. O., S. 253.

(25) Ehrhart Neubert: Unsere Revolution, München 2008.

(26) Ehrhart Neubert, a. a. O., S. 371.

(27) Rolf Henrich: Der vormundschaftliche Staat. Vom Versagen des existierenden Sozialismus, Hamburg 1989, S. 316.

(28) Ehrhart Neubert, a. a. O., S. 374.

(29) Ehrhart Neubert, a. a. O., S. 375.

(30) Ebenda, S. 407.

(31) Helmut im Glück, Der Spiegel 24/1989, S. 61.

(32) Wolfgang Schäuble, a. a. O., S. 140.

(33) Wolfgang Schäuble, a. a. O., S. 14.

(34) Ebenda, S. 141.

(35) Ebenda, S. 155.

(36) Wolfgang Schäuble: Der Vertrag, a. a. O., S. 265 f.

(37) Ebenda, S. 268.

(38) Ebenda, S. 271.

(39) H. Kierstein/G. Schramm: Freischützen des Rechtsstaates. Wem nützen Stasi-Unterlagen und Gedenkstätten? Berlin 2009.

(40) Günter Grass: Fragen zur Deutschen Einheit.

(41) Der Einigungsvertrag. Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands. Der vollständige Text mit allen Ausführungsbestimmungen und Erläuterungen, Bonn 1990.

(42) So Gregor Schirmer im Neuen Deutschland 21. August 1992. Vgl. auch Max Schmidt (Hg.): Einigungsvertrag - Muster ohne Wert? Berlin 1993.

(43) Artikel 53 des "Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge" vom 23. Mai 1969, von der "BRD" ratifiziert am 20.8.1987.

(44) Wolfgang Schauer: Die deutsche Revolution, Berlin 2009, S. 275.

(45) Wolfgang Schäuble: Der Vertrag, S. 8/9.

(46) Ehrhart Neubert: Unsere Revolution, München 2008, S. 4078.

(47) Wolfgang Schäuble, a. a. O., S. 263.

(48) Klaus Huhn: Einmarsch der Verbrecher, Berlin 2009.

(49) Siegerjustiz? Die politische Strafverfolgung infolge der Deutschen Einheit, Berlin 2003.

(50) 20 Jahre Beitrittsdeutsche und die Menschenrechte. GMS, Dresden 2009.

(51) Der § 96 des Strafgesetzbuches der DDR von 1968 lautet: "Wer es unternimmt, die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR durch gewaltsamen Umsturz oder planmäßige Untergrabung zu beseitigen oder in verräterischer Weise die Macht zu ergreifen; ... wird mit Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren oder mit lebenslänglicher Freiheitsstrafe bestraft."

(52) Einigungsvertrag vom 31. August 1990. BGB1 1990 II 885, Art. 17.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Ein weniger bekannter Willkommensgruß für Helmut Kohl in Rostock 1990. Foto aus "Süddeutsche Zeitung"

Raute

Fakten und Meinungen

A.-Eduard Krista

Wo bist du, Adam?

Als ich noch Offizier der DDR war, kannte ich einen Priester, einen angenehmen Dialogpartner, der mich immer wieder überzeugte, dass er sein Leben nach den zehn Geboten und nach der Bergpredigt ausrichtete. Er gehörte zu einer Reihe von Stadt- und Gemeindepfarrern, die ich selbst kennen gelernt oder von denen ich gelesen hatte, die sich für ihre Gemeinde uneigennützig einsetzten, oder von denen ich erfahren hatte, dass sie in der Zeit des Faschismus ungebeugt in einem Konzentrationslager, in einem "Pfaffenblock", verbracht oder gar zu Tode gekommen waren, wie Erwin Geschonneck berichtete.(1) Er betete für mich, ohne Heuchelei, ohne Maske, weil er im Sozialismus viel Übereinstimmung mit seinem seelsorgerischen Auftrag fand, und mich für meine prinzipienfeste Überzeugung wert dafür befand.

Eines Tages schenkte er mir das Buch "Der Prozess gegen Dietrich Bonhoeffer und die Freilassung seiner Mörder" (mit einer persönlichen Widmung der beiden Autoren für mich). Oft sprachen wir über Christen wie Bonhoeffer und schlossen dabei in Gedanken auch meine Mutter ein, die als katholische Christin in der finstersten Zeit des Faschismus Menschenwürde und Humanität nicht vergessen hatte.

Mein Urteil über die Kirche, seine Kirche, als Ganzes wurde allerdings durch sein Beispiel nicht erschüttert, da jede Religion auch und selbstverständlich davon lebt, dass ein Teil ihrer Diener und Gläubigen mehr taugt als ihre Mächtigen. Aber die faktische Macht der Kirchenhierarchie bestimmt die Politik, die Geschichte und das Schicksal der Menschen. Heutzutage bedient sich das Führungspersonal aus Wirtschaft, Politik und Ideologie einer multimedialen Vielfalt zur Beeinflussung, zur Desorientierung, ja zur Verblödung der Beeinflussten.

Die modernen Inquisitoren haben Namen: Gauck, Knabe, Birthler, Loest, Eppelmann. Viele Namen. Und in der Reihe tauchen auch Namen auf, die man da nicht erwartet und auch nicht gern dort liest, weil sie doch eigentlich als Linke gelten wollen.

Und schon gar nicht stehen nur Kirchenmitglieder in dieser Aufzählung. Und die da stehen, stehen nicht für Gläubige schlechthin. Es bleiben genügend Christen, seelengute, friedfertige, die sich der Hatz auf Andersdenkende verweigern.

Aber seit 1990 können die Kirchen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR wieder ungestört "Opium des Volkes" handeln. Steter Tropfen höhlt nach alter Weisheit jeden Stein. "Gott mit uns", also Gott mit ihnen, ist die alte Parole. Und so sei mir die Frage erlaubt, in welchem Auftrag die Kirchen handeln. "Wehe euch, Ihr Heuchler!" (Mt 23,13-31. L 11,52) Sicher nicht im Auftrag des Herrn und gemäß seiner zehn Gebote. Unterziehen wir das Gebot "Du sollst nicht töten!" einer Prüfung für die Amtskirchen in Deutschland und der Regierenden, die ihren Amtseid mit der Eidesformel "so wahr mir Gott helfe" beschließen. Fragen wir doch die Knaben, Gaukler, Eppelmänner und -frauen danach, wie sie es mit diesem Gebot halten. Wo bleibt ihr Protest, ja, der gebotene Widerstand, gegen den Einsatz deutscher Soldaten in den verbrecherischen Kriegen der NATO? In Jugoslawien? In Afghanistan? Fordern diese Gutmenschen, wie sie es in der DDR taten, "Schwerter zu Pflugscharen"? Oder schreien sie nun mit dem Propheten Joel "Macht aus euren Pflugscharen Schwerter und aus euren Sicheln Spieße"?

Ich empfehle dieser Fraktion der Konterrevolution die Lektüre der Kriminalgeschichte des Christentums von Deschner, oder auch ein paar Autoren der streitbaren Materialisten des 19. Jahrhunderts. Offensichtlich stehen sie im der verhängnisvollen Tradition "Mundus vult decipi", die Welt will betrogen sein. Luther hat das 1529 zitiert und mit dem Zusatz versehen: "Verum proverbium". Und wenige Zeilen später steht da "Mundus vult decipi. Ich will dazu helfen." Ein Mönch in Sebastian Francks "Paradova" macht 1533 daraus "Mundus vult decipi, darum bin ich hie!" Und bis heute gültig "quandoquidem populus, vult decipi decipiatur", da das Volk betrogen werden will, mag es betrogen werden.(2)

Ist das die moralische Richtschnur des Knaben von Hohenschönhausen?

Die Welt, und ich meine damit auch die vergangene der DDR, sachlich zu betrachten, geht jenen ab. Die von antikommunistischen Hass geblendeten Augen erlauben keinen Blick auf die Dinge. Die Heiden müssen bekehrt werden.

Herder fasste die Bekehrung heidnischer Völker so zusammen: "Aber wie wurden sie bekehrt? Oft durch Feuer und Schwert, durch Femegerichte und ausrottende Kriege. Sage man nicht, dass der römische Bischof solche nicht veranstaltet habe, er genehmigte sie, genoss ihre Früchte und ahmte, wenn er es konnte, sie selbst nach. Daher jene Ketzergerichte, zu denen man Psalmen sang, jene bekehrenden Kreuzzüge, in deren Beute sich Papst, Fürsten, Orden, Prälaten, Domherren und Priester teilten. Was nicht umkam, ward leibeigen gemacht, so hat sich das christliche Europa gegründet. So wurden Königreiche gestiftet und vom Papst geweiht, ja später das Kreuz Christi als Mordzeichen in alle Welt getragen."(3)

Deschner schreibt auch: "Rein qualitativ ist die (katholische) Kirche im 20. Jahrhundert durch mehr Verbrechen belastet als in einem früheren Jahrhundert ihrer Geschichte."(4)

Hatte nicht Papst Pius XII 1939 erklärt, "dass der Führer Adolf Hitler das legale Oberhaupt der Deutschen sei und jeder sündige, der ihm den Gehorsam verweigere?" Zweimal hatte er Hitler übermitteln lassen, "er wünsche dem Führer nichts sehnlicher als einen Sieg."

Der DDR kann man keinen 30-jährigen Krieg, keine Aggression gegen andere Staaten, keine millionenfache Ausrottung wie die der Indianer in Nord-, Mittel- und Südamerika, oder Andersgläubiger, keine in Kriegen um ihr Menschenrecht auf Leben gebrachten Jugoslawen oder Afghanen anlasten. Auch keine Inquisition, auch keine 600.000 orthodoxe Serben, die den katholischen kroatischen Faschisten zum Opfer fielen.

Und doch ist sie der gehasste Feind. Warum stehen die Schwarzröcke der Großen Protestantischen Novemberrevolution, die das Feindbild immer wieder neu malen, so hoch in der Gunst der Herrschenden? Sind sie die guten Hirten?

Theodor Lessing, ein von den Faschisten ermordeter deutsch-jüdischer Publizist, wusste, was das ist, ein guter Hirte. "Aber stellt euch doch einmal die Frage, wozu und aus welchen Beweggründen der gute Hirte für seine Herde das Nachdenken besorgt. Erstens: weil er sie scheren will, zweitens; weil er sie fressen will."(5)

Die Frage, was sind das für Leute, die sich auf die Bergpredigt und die zehn Gebote berufen und doch millionenfachen Raub und Mord in der Geschichte und auch in der Gegenwart tolerieren?

Und was ist das für ein Deutschland, das sie schufen? Doch eines der Kinderarmut, der Suppenküchen, der Massenarbeitslosigkeit, der Hartz-IV-Gedemütigten, der Krieger im Außendienst, der Strafrenten und der Altersarmut.

Wo bleibt der Aufschrei der Kirchen? Von den Menschenrechtlern im Talar hört man keinen Widerspruch gegen die millionenfache Verletzung der Menschenrechte im Lind. Grabesstille.

Und dabei kannte ich doch mal einen Priester, der mich überzeugt hatte, dass er sein Leben nach den zehn Geboten und nach der Bergpredigt ausgerichtet hatte. Unter den Wendegewinnlern ist er ganz sicher nicht angekommen.


Anmerkungen.

1) Geschonneck, E.: "Meine unruhigen Jahre"
2) Deschner
3) Deschner
4) Deschner, ebenda
5) Lessing


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Eppelmann - Jäger und Sammler. Aus "Berliner Linke", 23/1994
- Gauck - Aktenent(seel)sorger. Aus "Berliner Linke" 7/1994
- Gottfried Herder: "... ja später das Kreuz Christi als Mordzeichen in die Welt getragen."

Raute

Fakten und Meinungen

Brigitte Queck

Für eine Zukunft ohne Atomwaffen

Unter diesem Motto fand Ende April 2010 in der Jerusalemkirche in Berlin eine Veranstaltung in Anwesenheit von führenden Mitgliedern von verdi, der IPPNW, der IALANA und von Bundestagsabgeordneten mehrerer Parteien statt. Als Redner trat auch der Kardinal Sterzinsky Erzbischof von Berlin, auf.

Es wurden dort u. a.:

- der Abzug der US-Waffen aus Deutschland,
- das Verbot über den Ersteinsatz von Atomwaffen,
- die Sicherheitsgarantie der Atomwaffenmächte gegenüber allen Nicht-Atomwaffenstaaten und atomwaffenfreien Zonen gefordert.

Löbliche Forderungen, wären da nicht die Depleted-Uranium-Waffen und Bomben, die hundert-Tonnen-weise im Krieg gegen Jugoslawien und den Irak im 1. und 2. Golfkrieg sowie in Tausenden Tonnen gegen Afghanistan im Jahre 2001 und im 3. Golfkrieg gegen den Irak im Jahre 2003 von der NATO eingesetzt wurden und die bei Neugeborenen die gleichen Symptome wie die nach der Tschernobylkatastrophe hervorrufen, nämlich Kinder ohne Augen, Hände und verstümmelten Körper.

Wissenschaftler wie Dr. Lauren Moret, bzw. der Schweizer Wissenschaftler Dr. H. Könitzer u. a. sprechen von taktischen Atomwaffen der Neuzeit, die dann aber folglich ebenfalls unter das Verbot des Einsatzes von Atomwaffen von 1996 durch den Internationalen Gerichtshof fallen müssten!

Diese DU-Waffen jedoch wurden und werden bei solchen Veranstaltungen, die sich mit dem Verbot der Atomwaffen beschäftigen, wie mir auch ein dort anwesender Wissenschaftler bestätigte, laufend ausgespart!

Damit aber schwenkt man unwillkürlich auf die Linie der USA ein, die DU-Waffen als nicht gefährlich, ja als herkömmliche, konventionelle Waffen, bezeichnen,welche man getrost weiterhin einsetzen könnte, weil deren Anwendung gar nicht verboten ist!

Mittlerweile gelten gewisse Gebiete im Irak, bzw. auch im Kosovo als faktisch unbewohnbar.

Raute

Fakten und Meinungen

Anny Przyklenk

"Dank Euch ..."

"Meinst du, die Russen wollen Krieg?" Der musikalische Einstieg in das Programm zum Gedenken an den 65. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus im Haus der russischen Wissenschaft und Kultur. Keine Frage, natürlich nicht. Beim Anblick der Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges weiß man, dass diese Menschen alles tun, Kriegsgefahren von der Menschheit abzuwenden. Aber sind sie "die Russen"?

Russland hat sich verändert und die, die dort die wirtschaftliche Macht haben, die Oligarchen, neue Konzernherren, sie müssten Jewtuschenkos Frage beantworten.

Ein wenig von dem neuen Russland weht von der Bühne, eine rote Fahne, allerdings mit einem heiligen Georg darin, dem Drachentöter. Täter welchen Drachens? Aber es ist ein Wagnis, daran zu denken. Der Symbolgehalt ist wohl mehr als verschwommen. Hammer und Sichel und Stern waren auf einer roten Fahne schon eindeutiger.

Die Kinder, die stolz die russische Fahne, die weißblau-rote, schwenken, wissen die, dass im opferreichen Krieg Turkmenen, Usbeken, Tadshiken, Grusinier, Kasachen, Ukrainer, Letten, Litauer an der Seite der Russen kämpften, fielen oder siegten?

Oder muss ich vermuten, dass auch dort die Geschichtsschreibung von anderen diktiert wird?

Von denen, die zwar den Komsomol geleitet haben, die gefördert wurden, aber deren pervertierten Egoismus sie zu Herren des Volksreichtums, zu Herren des Landes machte?

Von denen im Nadelstreifen, die heute russische Rohstoffquellen besitzen und ehemalige Bundeskanzler als Unterpfand der "Freundschaft" beschäftigen und deren Großväter als Invasoren bewaffnet bis an die Zähne der jungen Sowjetrepublik gegenüber traten?

Mich packt Mitleid mit den unwissenden Kindern, die man ihre Folklore und ihren Nationalismus pflegen lässt.

Wenn meine Gedanken nicht ganz die Programmabfolge reflektieren, bitte ich um Verständnis. Aber die Veranstaltung am 7. Mai hat mich sehr angerührt und die Emotionen bestimmen, was mir am meisten erinnernswert ist.

Die Begrüßung durch den Leiter des Hauses ließ mich gespannt sein auf die Rede des russischen Botschafters in der Bundesrepublik Wladimir W. Kotenew und ich ertappte mich dabei, ihm, der des Genossen Stephan Doernberg gedachte, meine uneingeschränkte Sympathie entgegenzubringen. Aber seine stolze Ankündigung, dass auch Frau Merkel zu den Feierlichkeiten nach Moskau reisen würde, brachte mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Ich war wohl nicht die einzige, die dieser Passage nicht folgen wollte, denn der erwartete Beifall für diese Ankündigung blieb aus. Ein wenig hätte er das Andenken an den Sowjetsoldaten Stephan Doernberg beschädigt.

Professor Richters Ausführungen, die deutlich machten, dass wir uns den Geschichtsverfälschungen und dem offenen Antikommunismus entgegenstellen müssen, motivieren, weiter gegen die "Grundtorheit unserer Epoche" (Wie lange die schon währt!) anzugehen.

Mir fällt ein, dass Einstein zwei Dingen die Unendlichkeit zubilligte, dem Universum und der menschlichen Dummheit, wobei er sich in bezug auf das Universum nicht sicher war. Die Aufgabe, sich der gegenwärtigen bewusst oder unbewusst verbreiteten Dummheit entgegenzustellen, bekommt eine Dimension, die mich fast kleinmütig macht.

Beklemmung, Sorge und Angst kam bei mir auf, als Genosse Nikolai I. Chikhachev die militärischen Absichten der Amerikaner, die bereits geschaffenen Tatsachen, an denen auch ehemalige Verbündete ihren Anteil haben, bewusst machte: Ein Ring von Stützpunkten, im Süden, im Westen und im Osten, denn für die heutige Waffentechnik ist Amerika durchaus im Osten, eine Gefährdung. Militärische Macht und Antikommunismus sind eine hochexplosive Mischung, der auch jede Demokratie zum Opfer fallen kann.

Ich erlebte gleichzeitig ein so warmherziges Verhältnis zwischen dem russischen Veteranen und seinem Übersetzer Genossen Bruno Mahlow, was meine Zuversicht wieder wachsen ließ. Ich bin den beiden dankbar, denn von ihnen ging so viel Menschlichkeit aus, Menschlichkeit, die wir zum Überleben in dieser Gesellschaft brauchen, und die wir unbedingt als unseren uns gemäßen Wert erhalten müssen.

Dankbar bin ich auch dafür, dass der Exekutivsekretär des Weltfriedensrates Iraklis Tsavdaridis deutlich aussprach, dass die deutsche Industrie den Krieg maßgeblich mit verursacht hat. Eine Tatsache, die ebenfalls durch die "neue" Geschichtsbetrachtung, durch dauerndes Verschweigen oder im gelinderen Fall durch abwiegelnde Versatzstücke, aus dem Gedächtnis der Deutschen, der Europäer ausgelöscht werden soll.

Um so wichtiger für mich, mich an Brechts "der Schoß ist fruchtbar noch" zu hören.

Er ist fruchtbar und gebiert schon wieder Gespenster.

Es tat gut, im weiteren Verlauf des Programms an die Spanienkämpfer, an die italienischen Partisanen, an die russischen Soldaten erinnert zu werden, die im existentiellen Kampf gegen den Faschismus standen. Dieser und aller anderen Opfern des Zweiten Weltkrieges durch eine Schweigeminute zu gedenken, war für Prof. Richter und sicher für alle im Saal ein Bedürfnis und Bekenntnis.

Es tat gut, in Gedichten und Liedern die Friedenssehnsucht der Deutschen zu erfahren, die "nie wieder Krieg" wollten und hoffentlich noch wollen.

Keiner ist berechtigter zu sagen als Jewtuschenko:

"Nicht nur fürs eigne Vaterland
starb der Soldat im Weltenbrand.
Nein, dass auf Erden jederman
sein Leben endlich leben kann."

Es tat gut, dass das Programm die Appelle und Mahnungen so unpathetisch fasste und damit ein lang vermisstes Gefühl aufleben ließ - wir haben Kraft!

Raute

Fakten und Meinungen

Irene Eckert

Gedenken zum 65. Jahr der Selbstbefreiung von Buchenwald

Ein nachdenkliches Stimmungsbild über Geschichte und Geschichtsfälschung von Edith David

Am 11. April, dem Tag der Befreiung, herrscht eisige Kälte auf dem Ettersberg. Der Sonntagvormittag ist düster und regnerisch, das riesige Gelände unterhalb des Glockenturmes liegt gespenstisch menschenleer da. Die französische Delegation, die es eben noch belebte, hat ihr Gedenken an die 7000 befreiten Kameraden beendet und ist abgezogen. Der Knabe in der von Fritz Kremer überzeugend lebendig gestalteten, bronzenen Skulpturengruppe weint. Der Regen hat echte Tränen in sein Gesicht gezeichnet. Unter den 2100 befreiten Häftlingen befanden sich in der Tat über 900 Kinder und Jugendliche, die die Nazis hier gefangen und zur Zwangsarbeit angehalten hatten. Die Bilanz der an Hunger und Entkräftung Umgekommenen oder "einfach", wie der Kommunistenführer Ernst Thälmann, hinterrücks Ermordeten, betrug insgesamt über 56.000 Menschen. Die letzten noch lebenden Veteranen aus aller Welt sind der Einladung und der inneren Stimme gefolgt und nehmen an den diesjährigen Feierlichkeiten zum 65. Jahrestag der Befreiung auf dem Ettersberg, nahe bei der Goethestadt Weimar teil. Trotz Regen, Schnee und alledem, sie bleiben dem Ort und dem Schwur, den sie hier einst leisteten, ein Leben lang verbunden. Das Vermächtnis lautet sinngemäß "Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg" und wörtlich hieß es:

"Wir schwören deshalb vor aller Welt auf diesem Appellplatz, an dieser Stätte des faschistischen Grauens: Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht! Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer nennen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel."

Die diesjährige Zeremonie, während der auch der historische Schwur erneuert werden soll, ist allerdings staatsoffiziell und staatstragend angelegt, dem Zeitgeist entsprechend. Die Bundesregierung ließ es sich nicht nehmen, zu diesem Anlass ein bestuhltes Zelt für die betagten Veteranen mitzufinanzieren, die Repräsentanten der "Befreiernation" USA einzuladen und, wie selbstverständlich, Vertreter der Bundeswehr zu begrüßen. Bundestagspräsident Norbert Lammert findet die von ihm erwarteten Worte. Das Erbe von Buchenwald verpflichte dazu, weiterhin für die Verbreitung von Freiheit und Demokratie einzutreten. Der Stacheldraht um das ehemalige Konzentrationslager wurde für die Feierlichkeit in Sichtnähe durch NATO-Draht erneuert. In Anbetracht der in Afghanistan Gefallenen, eingedenk der Toten von Kundus, eingedenk der Demokratieschulungen in Bagram, Abu Ghraib und Guantanamo eine schaurige Vorstellung.

Schaurig auch, dass die Gedenkstätte Buchenwald jetzt der Erinnerung an "zwei Terrorregime" gewidmet ist, gemäß der Erneuerung des Gedenkstättenkonzepts nach 1989, dem Jahr des hierzulande letztlich gültigen Akts der vollständigen Befreiung. Nicht 1945 wurden demnach die Deutschen erlöst aus den Fesseln der NS-Diktatur, aus den Fesseln des alle Ressourcen verschlingenden Militarismus und dessen kriegerischem Unwesen. Erst ab 1989, dem Jahr der endlichen Überwindung des "nachstalinistischen Unrechtsregimes" auf deutschem Boden, der "zweiten deutschen Diktatur" also, darf man im Sinne der herrschenden Lesart von allgemeiner Befreiung sprechen. Solch Neudeutsches Denken hat sich im letzten Sommer auch auf EU-ropäischer Ebene durchgesetzt. Der 23. August, der Tag des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes von 1939, wird fortan europaweit dem Gedenken an die Opfer totalitärer Regime gewidmet sein.

Bei Tische, in der Cafeteria der Gedenkstätte, hörte man es allerdings auch anders. Ein 92-jähriger belgischer Veteran, der als Jugendlicher zu Hause in Brabant durch die NS-Besatzung in die Resistance getrieben wurde, erzählte hellwach und quicklebendig von seinen Erfahrungen. Die russischen Kriegsgefangenen hatten sich in seiner Erinnerung besonders positiv abgebildet. Das illegale Lagerkomitee hob er lobend hervor. Die Kommunisten hätten am tapfersten Widerstand geleistet, heimlich und streng konspirativ, so erzählt es der parteilos gebliebene Mann. Er betonte auch, dass Häftlingsvertreter aller in Buchenwald vertretenen Nationen die Kraft zum Widerstand gefunden hätten. Wie er selbst denn auf die Idee gekommen sei, Widerstand zu leisten wollen wir wissen. Nun, das sei in seinem von den Nazis besetzten Land fast eine Notwendigkeit gewesen. Keine Arbeit, keine Lehrstelle, nichts zu essen, Ausgangssperre, willkürliches Auftreten der deutschen Besatzer gegenüber seinesgleichen waren für den betagten Mann die prägende Erfahrung seiner frühesten Jugendjahre gewesen. Einen Unerfahrenen wie ihn schnappten die Nazis schnell und verschleppten den knapp 18-jährigen nach Buchenwald. Ihm wurde nie etwas Bestimmtes zur Last gelegt, kein Strafverfahren etwa gegen ihn eröffnet. Er wurde einem Außenkommando bei Magdeburg zugeteilt und musste Zwangsarbeit leisten. Das war der tiefere Sinn des Häftlingsdaseins: für die SS Leiharbeit in den diversen Betrieben verrichten, bis zum Umfallen. Der Weg zur Arbeit führte fast immer durch bewohnte Straßen. Der andere alte Herr am Tisch, war zu DDR-Zeiten Leiter der Gedenkstätte. Er erinnert sich, wie ihn die Mutter als Kind daran hinderte, durch die Jalousie auf die Straße zu lugen, wenn die Häftlinge vorbeizogen. Was es da zu sehen gäbe, sei nichts für ein Kind. Der Mann schien gar kein gutes Gefühl zu haben angesichts der Umwidmung des Gedenkens. Aber, so stellt er resignierend fest: "Wir hatten nicht mehr die Macht, konnten also keinen Einfluss nehmen auf die Umgestaltung - die Sieger schreiben die Geschichte".

Was aber die Straflager der Sowjets betrifft, die hatten doch 1945 Angst, so meinte er, vor jugendlichen Wehrwölfen. Wehrwölfe? Ja, die seien noch in der Hitlerjugend ausgebildet und verhetzte junge Leute gewesen. Diese lebten in der irrigen Überzeugung, dem besiegten Vaterland zu dienen, indem sie Russen hinterrücks umbrachten, auch noch nach Kriegsende. Da gab es schon mal Razzien und mancher unschuldige Jugendliche mag da vorübergehend ins Visier geraten und im Straflager gelandet sein. Aber die Gleichsetzung, die Rede von den zwei deutschen Diktaturen, das sei nicht recht, das könne er nicht nachvollziehen. Krieg und Faschismus seien zu ächten, gemäß dem Vermächtnis der hier oben in eisiger Kälte Überlebenden. Offenbar sind viele der Hunderten von Besuchern aus aller Welt bei Wind und Wetter an diesem kalten Aprilsonntag nach Weimar mit eben diesem Vermächtnis im Herzen gekommen. Leider ist von der siamesischen Zwillingsforderung in den offiziellen Ansprachen fortan nicht mehr die Rede.

Das elende Kriegsgeschehen, an dem deutsche Waffen und deutsches Geld seit dem Golfkrieg 1991, also nicht erst seit Afghanistan 2001, schon wieder mitmorden und mitverdienen, blieb unerwähnt. Vom Faschismus, von der jegliches Menschen- und Völkerrecht missachtenden Barbarei und seinen Wurzeln war nicht die Rede. Unreflektiert blieb auch die von jungen Menschen bei Tisch aufgeworfene Frage,was für ein Geist solch entsetzliche Vernichtungsarbeit leistende Lagerstätten wie Buchenwald hervorzubringen vermag. So blieben die Leichenberge, die dort verbrannten, an diesem Tage unbegriffen. Da die Selbstbefreiung der Häftlinge keinerlei offizielle Erwähnung wert schien, blieb die Beschwörung von Demokratie, Freiheit und Toleranz leeres Gerede.

So mag man fraglos hingenommen haben, dass die Fahnen der Nationen auf Halbmast hingen am Tag der Befreiung. Galt die Halbmastbeflaggung den Zehntausenden, die dort ihr Leben hatten lassen müssen?

Manch einen irritiert die Halbmastbeflaggung aber schon, galt es doch eine Befreiungstat zu würdigen und noch war die zynische Tragödie von Katyn, nahe der russischen Stadt Smolensk nicht ins allgemeine Bewusstsein vorgedrungen. Dort waren nämlich am 10. April der polnische Staatschef Lech Kaczynski und 96 seiner Vertrauten bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen. Katyn ist ein für die Faschismusaufarbeitung historisch hochbelasteter und umstrittener Ort.

Das "Staatsverbrechen Katyn" wird spätestens seit 1992, als der russische Staatschef Jelzin den Polen die Geheimdokumente in Kopie dafür geliefert hatte, als eine wesentliche Grundlage für die Gleichsetzung von "Hitlerismus und Stalinismus" gehandelt. Insofern gibt es einen teuflischen Zusammenhang zwischen Auschwitz-Buchenwald und Katyn.

Das Unternehmen war, wie der Presse zu entnehmen ist, eine "Privatinitiative" des polnischen Staatschefs Lech Kaczynskis. Wenige Tage nachdem der Regierungschef Daniel Tusk mit seinem russischen Kollegen Putin gemeinsam der Opfer des Massakers von Katyn im Jahre 1940 gedacht hatte, sollte offenbar noch eine zweite Opferzeremonie für die Ermordeten vor Ort statt finden. Russische Fluglotsen-Warnungen vor dem dichten Nebel, der eine Landung unmöglich erscheinen ließ, wurden laut Pressemeldungen von den Polen beharrlich in den Wind geschlagen. Ironie der Geschichte? Hatte nicht 1939 die polnische Regierung jegliche Zusammenarbeit mit den "Russen" abgelehnt, die vor dem drohenden Naziüberfall angeboten hatten, ihnen gegen die Aggressoren beizustehen?

Churchill hat später anders entschieden, um der für sein Land unverzichtbaren Zusammenarbeit mit den sowjetischen Verbündeten willen?

Waren nicht Gorbatschow und Jelzin bereit gewesen, die Geschichte ihrer heroischen Nation an die deutschen Zahlmeister zu verschachern?

Das hier angesprochene Motiv der Geschichtsklitterung war tags zuvor in Jena auch anlässlich des Jahrestages der Befreiung von kompetenter Seite erörtert worden. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen und der deutsche Freidenkerverband hatten eine interessante Palette geschichtskundiger Dozenten eingeladen, die allesamt auf sehr unterschiedliche Weise der Frage nachgingen, inwieweit der Zeitgeist eine Umdeutung der Geschichte geradezu erzwinge oder doch zumindest nahe lege.

Der Kunsthistoriker Professor Mit ließ allerdings anklingen, die NSDAP wäre bruchlos in die SED übergegangen, weil doch etwa anstelle des nun wegen neuer Denkmalsplanungen zu räumenden antifaschistischen Heldendenkmals in Gotha am selben Ort ursprünglich ein Kriegerdenkmal aus den 20er Jahren gestanden habe, das stilistisch dem neuen geähnelt habe. Auch sei die Idee der Pylonen, wie wir sie auch in Buchenwald finden, entlang der "Straße der Nationen" einem fragwürdigen Geschmack geschuldet, der die Macht verherrliche. Man könne sich weder auf alten Ägypter noch auf die Anweisungen der Besatzer herausreden, die in der SBZ das Sagen gehabt hätten. Diese Arltsche Denkmalsanalyse löste immerhin eine heftige Debatte aus.

Der Historiker Manfred Weißbecker nannte in seinem Eingangreferat die heutige Verfasstheit der Zeit "rechtslastig" und "krakenhaft totalitär", was nicht in den Kram passe, werde schlicht ausgeblendet. Ganz entgegen dem Schwur von Buchenwald führe Deutschland wieder Krieg, würden Kriegskritiker ausgegrenzt. Lügengebäude würden konstruiert und es sei für künftiges gesellschaftliches Handeln unbedingt zu bedenken, dass der Faschismus sich einer Formveränderung unterzogen habe. Er käme nicht im alten Gewande daher, wohl aber luge der alte völkische Pferdefuß allenthalben hervor, anti-egalitäres Denken breite sich immer mehr aus. (Der von FAZ und Talkshows hofierte Philosoph und Showmaster Peter Sloterdijk(1) beklage folgenreich, dass sich die Unproduktiven auf Kosten der Produktiven durchschleimten, womit er die Hartz-IV-Empfänger meine. Er bediene sich einer pseudowissenschaftlichen Begriffssprache und spreche in diesem Zusammenhang von Phänomenen wie "Semisozialismus" und "Staatskleptokratie".)

Es wurde auch von anderer Seite im "Schwarzen Bären" zu Jena immer wieder gewarnt, die Geschichte wiederhole sich nicht einfach. Wo gefährliche, weil verharmlosende Töne aufkamen, gab es deutlichen Widerspruch aus der Zuhörerschaft. So etwa wurde nicht hingenommen, dass die heutigen ökonomisch Mächtigen kein Interesse mehr hätten an einem Bündnis mit den Neonazis, einer NPD also nicht mehr bedürften.

Der ehemalige stellvertretende Kulturminister der DDR Dr. Klaus Höpcke kritisierte in einem sehr engagierten Beitrag etwa die These Götz Alys, der in seiner Publikation von "Hitlers Volksstaat" den Eindruck erwecke, als ob ein Großteil der Deutschen Nutznießer des Hitlerfaschismus gewesen sei. Dies sei eine fürchterliche Verdrehung der wirklichen Zustände. Und, wer den Begriff "Befreiung" für 1945 nicht benutze, habe die Geschichte nicht verstanden. Den antifaschistischen Grundkonsens habe es in der Tat gegeben und er sei genährt worden aus dem gemeinsamen Leiden der deutschen Bevölkerung zu Kriegsende. Auf der Grundlage dieses Konsenses seien wir bis 1999 noch ein "Friedensstaat" gewesen, trotz der 18 Millionen DM, die man bereits für den Golfkrieg Nr. 1 geliefert habe, plus Logistik. Heute aber flögen Nacht für Nacht die Kriegstransporter über Halle/Leipzig, während der Toten von Kundus nicht einmal gedacht werden dürfe. Auch sei nicht hinnehmbar, dass als Antisemit verteufelt werde, wer die Kriegspolitik Israels kritisiere. Bis weit in die LINKS-Partei hinein sei solche Haltung zu beklagen. Das Erbe des Faschismus erlege uns vielmehr auf, den "Wohlstandsrassismus" zu überwinden und die Gleichwertigkeit und Gleichrangigkeit aller Menschen im Sinne der UN-Menschenrechtscharta zu respektieren. Er schloss mit einem Zitat von Stefan Heym, der entschieden der Auffassung gewesen sei, dass nach 1945 der Antifaschismus ein zu verordnender war, was denn sonst, fragte er. Professor Kurt Pätzold warnte vor der Umdeutung des 8. Mai und vor einem neu definierten Narrativ vom 20. Jahrhunderts, wonach etwa die Geschichte Europas ein langer Weg in die Demokratie gewesen sei, der über zwei Diktaturen hinweggeführt habe. Ganz ins Grundsätzliche der im Gange befindlichen Geschichtsrevision ging auch der Referent Klaus von Raussendorff, wenn er sagte, dass seit dem Aggressionskrieg gegen Jugoslawien und dem Sondertribunal in Den Haag für Jugoslawien der Normengehalt des Völkerrechts ausgehebelt sei, ja die UNO geradezu in eine Kriegspartei verwandelt werde. Die Sondertribunale für Jugoslawien und Ruanda, die Ausnahmeregelung des ISTGH, mit der die USA und ihre Gefolgsstaaten von einer Anklage grundsätzlich ausgenommen würden, liefen auf eine Pervertierung der seit Nürnberg gültigen Völkerrechtsprinzipien hinaus. Das prinzipielle Gewaltverbot der UN sei seit 2001, am Tage nach dem Angriff auf die Twin Towers, geradezu ausgehebelt worden. Der Sicherheitsrat sei von der Rechtstradition abgewichen, der gemäß der Schutz vor Attentätern und organisierten Terroristen eine Aufgabe für die Polizeibehörden sei, so zitierte Raussendorff den Bundesverwaltungsrichter Dieter Deiseroth. Kriminelle Terroristen gehören nach geltendem Völkerrecht vor Gericht. Seit 2001 werde der Krieg als Strafverfolgungsmaßnahme gegenüber terroristischen Bedrohungen eingesetzt, was unvereinbar mit der UN-Charta sei, die zur ausschließlich friedlichen Konfliktbeilegung gemahne. Folglich habe es auch keine UN-Sicherheitsresolution gegeben, die explizit zu einem Angriffskrieg ermächtigt habe. Die gegenwärtige Realpolitik aber tue so, als handele sie im Auftrag der Vereinten Nationen. Sie greife nicht mehr einzelne Völkerrechtsbestimmungen an, sondern richte sich gegen die Substanz der UN-Charta. Dies finde eine Parallele in der innerstaatlichen Politik der Ausheblung rechtsstaatlicher Grundsätze und demokratisch-verfassungsrechtlicher Prinzipien. Das alles brachte er auf den Begriff der "Rechtsvergessenheit" und gab zu bedenken, ob wir nicht in eine neue Form des Faschismus hineinglitten, der sich als Negation des Faschismus ausgebe und sich ein demokratisch-menschrechtliches Mäntelchen umhänge, womit er viel schwieriger zu orten und bekämpfen sei. Diese Überlegung will gründlich durchdacht werden.

Der Vorsitzende des deutschen Freidenkerverbandes Klaus Hartmann resümierte in seinem Schlusswort, es sei unverzichtbar, den Klassenantagonismus in Erinnerung zu rufen. Auch gelte es, bei den aufgestellten Forderungen jeweils den Adressaten ins Blickfeld zu nehmen und beharrlich daraufhin zu arbeiten, das Kräfteverhältnis zu verändern, dessen momentaner Ausdruck die UN-Charta und das auf ihr aufbauende humanitäre Völkerrecht nach 1945 gewesen sei.

Er endete mit den Worten Max Horkheimers: Wer vom Kapitalismus nicht reden wolle, solle vom Faschismus schweigen.

Buchenwald - Katyn - Faschismus - Stalinismus, ist das alles ein Unrechtsbrei?

Was würden die Opfer von Buchenwald und auch die historischen Befreier dazu sagen?


Anmerkung:

1) Sloterdijk, P.: "Kritik der zynischen Vernunft", 1983; "Die Regeln für den Menschenpark", 1999; 1992-1993 hatte S. einen Lehrstuhl für Philosophie und Ästhetik an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Er spricht u. a. von einer Enteignung durch Einkommenssteuer.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Sonderbriefmarkenblock der DDR, 1970

Fritz Cremers Buchenwaldgruppe

Raute

Fakten und Meinungen

Ernst Jager

Dresden, 13. Februar 2010

Niemals werde ich das Ausmaß der traurigen Hinterlassenschaft Nazi-Deutschland, die Trümmerberge, Not und Elend, Hunger und die Notbehausung nach 1945 in einer Wellblechgarage, vergessen. Damals zehnjährig, lebte ich in meiner Geburtstadt Münster. Ausgebombt, der Vater verwundet aus dem Krieg zurück, so hat unsere Familie in einem antifaschistischen Deutschland, der DDR, einen Neuanfang begonnen. Natürlich habe ich als Arbeiterkind die Vorteile dieses Staates in Anspruch nehmen können: den sicheren Ausbildungsplatz, das kostenfreie Studium und einen gesicherten Arbeitsplatz, eine kostenfreie medizinische Betreuung und nicht zuletzt die antifaschistische Erziehung, nicht nur die im Elternhaus. "Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus" war eine moralische Wertehaltung und Verpflichtung gegenüber den 50 Millionen Toten des von Hitlerdeutschland angezettelten zweiten Weltkrieges. In meinem Berufsleben habe ich Überlebende aus Hitlers KZ-Lagern kennen gelernt und von ihrem grauenhaften Schicksal erfahren. Heute, 20 Jahre nach dem Anschluss der DDR an die BRD und im 65. Jahr der Befreiung vom Hitlerfaschismus, ist es schlimm, wenn Nazis wieder gegen Frieden und Völkerverständigung hetzen dürfen. Verwerflicher noch, dass sie sich zusammenrotten können und vor Mord und Totschlag nicht zurückschrecken. Und wieder sind es deutsche Behörden und Gerichte, die das Treiben der Nazis dulden und ihnen Plätze und Marschrouten für die Kundgebung ihrer menschenfeindlichen Parolen zur Verfügung stellen, damit sie erneut faschistisches Gedankengut verbreiten und junge Menschen zu Faschisten formen können. Faschismus darf nicht toleriert werden, Faschismus ist ein Verbrechen.

Viele Tausend Nazigegner sind deshalb entschlossen gewesen, mit Menschenblockaden gegen das Vergessen am 13. Februar 2010 in Dresden einen Naziaufmarsch zu verhindern. Trotz Ignoranz bürgerlicher Medien und Repressionen durch die Dresdener Staatsanwaltschaft fuhren Menschen aus dem gesamten Bundesgebiet und dem Ausland in 200 Bussen nach Dresden und harrten an den Blockadepunkten bei Eiseskälte aus, um den Aufmarsch der Nazis unmöglich zu machen. Auch unsere Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde, Gleichgesinnte, meist Senioren und Zeitzeugen der Naziverbrechen im Zweiten Weltkrieg, waren mit vier Bussen nach Dresden angereist. Unser Ziel war die Blockade, gemeinsam mit dem Bündnis "Nazifrei - Dresden stellt sich quer" und der antifaschistischen Jugend. In Dresden Neustadt angekommen, erhielten wir durch die Polizei "Begleitschutz", die uns "ordnungsgemäß" nicht zu unserem Blockadepunkt, sondern auf die andere Seite der Elbe zur von der CDU-Bürgermeisterin organisierten Menschenkette leitete. Dies geschah unter heftigem Protest. "Wir wollen nicht zur Kette", so vor allem die mit uns im Bus angereisten jungen Leute. Sie hatten sofort das Ansinnen der Polizei durchschaut. So geschah folgerichtig, dass die jungen Leute sich rechtzeitig aus dem Geleit der Polizei befreien konnten. Sie betätigten einfach die Notöffnung der Bustüren und stiegen aus. Der Weg zum Blockadepunkt war ihnen damit doch noch möglich. Wir Älteren, die wir in den Bussen geblieben waren und naiv den polizeilichen Aufforderungen gefolgt waren, haben erkennen müssen, dass der antifaschistischen Jugend die aktive Auseinandersetzung mit der Polizei nicht neu ist. Für sie sind Blockaden zur Auseinandersetzung um die Legitimität von zivilen Ungehorsam gegen Naziaktivitäten geworden.

Es war dann auch nur wenigen von uns gelungen, die Polizeisperren zu den Blockadepunkten einzeln und unerkannt zu überwinden. Es gab Gespräche mit den Polizisten, die unsere Enkel sein könnten, und wir erfuhren, dass wir, als Menschenrechtsverein identifiziert, als Linke eingestuft, unerwünscht sind. Aber bekennende Nazis durften zu ihrer angemeldeten Veranstaltung durch die Polizeisperre. Viele Tausend Gewerkschaftler, Jusos und "Grüne", die aus der Menschenkette heraus zur Blockade wollten, kamen ebenfalls nicht durch den Polizeikordon.

Natürlich hat die in Dresden organisierte Menschenkette um das christdemokratisch geführte Rathaus eine Wirkung nicht verfehlt, denn Dresdener und Gäste zeigten Gesicht für eine nazifreie und gewaltfreie Stadt. Solche Kette verhindert aber keine von der Staatsanwaltschaft genehmigte Naziveranstaltung, auf der geschichtsrevisionistische Parolen gegrölt und die Verharmlosung des Vernichtungskrieges durch Nazi-Deutschland lauthals verkündet werden kann und wo Gewaltbereitschaft gegen Ausländer, Linke, Antifaschisten, Juden demonstriert werden kann. mehr ist. Ein nazifreies Deutschland bedarf entschlossener Massenaktionen gegen Neo-Faschisten. Mit der Menschenblockade in Dresden wurde den Nazis eine Abfuhr erteilt. Nicht eine vermeintliche "Invasion der Extremisten" bestimmte das Bild, sondern eine solidarische und antifaschistische Manifestation. So sahen es die Dresdener Organisatoren. Vor allem durch das besonnene Verhalten der antifaschistischen Jugend war der allgegenwärtigen Polizei aus dem gesamten Bundesgebiet der Anlass zum Eingreifen gegen so genannte "provozierende Linksradikale" genommen. Die Polizei selbst provozierte mit Hubschraubern, die ununterbrochenem mit Krach die Blockaden überflogen. Sie wurden mit Gelächter und Händewinken "begrüßt". Ohne die Bereitschaft vieler Tausend mitzumachen, sich zu engagieren, aus ihrem Alltagsleben zu treten, wäre dieser Kraftakt nicht möglich gewesen. In diesem starken antifaschistischen Bündnis betrachten wir uns, die Senioren aus unserer Menschenrechtsorganisation, als aktive Mitstreiter und wir haben mit dazu beigetragen, dass der Naziplan, den 65. Jahrestag der sinnlosen Zerstörung Dresdens für ihre Ziele zu missbrauchen, nicht gelang.

Gleichfalls ist uns bewusst, dass der gemeinsame Kampf gegen Nazismus und Neo-Faschismus in Dresden auch Ausgangspunkt für künftige gemeinsame Aktionen sein muss. Und wir müssen leider davon ausgehen, dass die Nazis ihre Niederlage in Dresden wieder wett machen wollen. Immer stärker werdende Nazipräsenz ist eine Gefahr für Frieden und Zukunft der Menschen. Wir, in unserem Menschenrechtsverein, wissen wovon wir reden, wenn wir uns der neofaschistischen Gefahr entgegen stellen. Haben Rechtsextremisten nicht nur unsere Scheiben in der Geschäftsstelle zu Bruch gehen lassen, ohne dass sie zur Verantwortung gezogen wurden, nein, sie störten erneut eine Buchlesung, drangen dabei wieder in unsere Räume ein, riefen laut Naziparolen und schütteten 2000 Flugblätter vor uns. Die über 40 Teilnehmer der Lesung riefen "Nazis raus" und drängten sie vor die Tür. Strafanzeigen verliefen im Sande.

Auch eindeutige Morddrohungen wie "Euer Leben interessiert uns brennend" (ein Streichholz als Beilage), mag der Staatsschutz keiner bestimmten Szene zuordnen. Andere Erfahrungen machen darüber hinaus deutlich, wo Bürgerinitiativen "Gesicht zeigen", sind bereits Bürogebäude bis auf die Grundmauern abgefackelt worden. Kommentar der Stadtverwaltung: Euere Aktionen sind es, womit ihr das Problem des Rechtsextremismus in die Stadt bringt.

Als Verhöhnung der Nazigegner sowie auf dem rechten Auge blind, so stellt sich auch für uns die bundesdeutsche Staatsgewalt dar. Sie tut sich schwer gegen faschistische Entwicklungen in Deutschland vorzugehen. Immer größere Zusammenrottungen werden per Gerichtsbeschluss möglich gemacht und unter Polizeischutz gestellt. Kriegsgegner und Gegner der Szene werden eher vom Staatsschutz verfolgt und eingesperrt. Damit stellt sich die Bundesregierung gegen die Mehrheit ihrer Bürger, die weder Krieg noch Neo-Faschismus wollen. Das bekundete auch Dresden am 13. Februar 2010.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

"Eine Kassandra im Dienst am Menschen". Zeichnung: Ernst Jager, 2010

Raute

Fakten und Meinungen

Erhard Thomas

Treibjagd auf Honecker

Der Umbruch in der DDR

Die Zeit

Der 9. November 1989 war ohne Zweifel eine existenzielle Zäsur mit weitreichenden politischen Turbulenzen. Aber es hat weder einen Zusammenbruch der DDR als Staat noch seiner Wirtschaft gegeben. Auch von einer friedlichen Revolution zu sprechen, ist eine Irreführung. In Wirklichkeit war der Zusammenbruch eine Mischung aus Kapitulation, vor allem der Bürgerbewegung und einer großen Zahl von DDR-Bürgern, und dem Verrat durch Gorbatschow und seiner Führung. Bisher waren Revolutionen immer von den unterdrückten Volksmassen ausgegangen und getragen worden. Stets hatten sie das Ziel, ein konservativ-regressives System durch ein progressives zu ersetzen. Hier fand aber die Selbstaufgabe des Sozialismus innerhalb der DDR statt. Danach folgte systematisch die Rückführung in den deutschen Monopolkapitalismus. Das heißt im Klartext: Die Vereinnahmung des Territoriums samt seiner Bevölkerung konnte beginnen. Die Auflösung unseres ersten Arbeiter- und Bauern-Staates auf deutschem Boden wurde mit der Einverleibung am 3. Oktober 1990 endgültig vollzogen. Egon Bahr beschreibt diese Ereignisse in seinen Erinnerungen: "Das ist der Anfang vom Ende der DDR." Und Bärbel Bohley dazu: "Die Führung ist verrückt geworden und das Volk hat den Verstand verloren."

In den folgenden elf Monaten des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruchs wurden alle Veränderungen nach Plan rasant und aggressiv vollzogen. Wenn ein Umsturz so gezielt abläuft, dann ist das Ausdruck einer langen Vorbereitung. Das heißt, die Hallsteindoktrin, ihr Alleinvertretungsanspruch, war trotz anderweitiger Beteuerungen immer ein Bestandteil der Politik der Bundesrepublik Deutschland geblieben. 1989 war der Zeitpunkt für "Alleinvertretung" heran gereift. Darum war jetzt für die Vereinnahmung der DDR durch das Monopolkapital der BRD Eile geboten. Die Worte Gorbatschows "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben" waren Mahnung wohl vornehmlich für das bundesdeutsche Großkapital, nicht für die DDR-Bürger bestimmt.

Die Komplexität der Ereignisse lässt eine Analyse des Schicksals von Erich Honecker in diesem Artikel aus taktischen, didaktischen und historischen Gründen nur in komprimierter Form zweckmäßig erscheinen.


Die Jagd

Alle staatspolitischen Aktionen gegen den einstigen Generalsekretär der SED, den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR und des Nationalen Verteidigungsrates Erich Honecker hatten aus psychologischen und taktischen Gründen absoluten Vorrang in der medialen Darstellung. Noch am 7. Oktober 1989, dem 40. Jahrestag der Gründung der DDR drückte der sowjetische Pharisäer Gorbatschow seinen Judaskuss auf Honeckers linke Wange. Schon am 17. Oktober wurde der, der vormals national und international geschätzte Politiker durch das Politbüro entmachtet und zum Abschuss freigegeben.

Als Arzt, der in der DDR ausgebildet, der im Geiste des Humanismus erzogen worden war, der vierzehn Jahre lang als Chirurg am Regierungskrankenhaus in leitender Funktion tätig war und der ich auch Erich Honecker aus der Nähe erlebte, schildere ich nun voller Bitterkeit die letzten Jahre Honeckers, dem im Angesicht des Todes Menschenwürde nicht mehr zugestanden worden ist. Sein Schicksal nahm seinen unheilvollen Verlauf, als er im Juli 1989 während der Tagung des Politisch-Beratenden Ausschusses des Warschauer Vertrages in Bukarest akut erkrankte und vorzeitig die Heimreise antreten musste. Zu dieser Zeit befand ich mich zu einer Herzkur im Kaukasus in Kislowotsk. Als die Nachricht von Honeckers Abreise im Sowjetischen Fernsehen kam, glaubte ich spontan an einen handfesten politischen Konflikt und Krach in Bukarest. Ich wollte sofort die Kur abbrechen und heim fliegen. Doch die sowjetischen Behörden haben in Übereinstimmung mit der DDR-Botschaft meinem Wunsch nicht entsprochen. Als ich nach einer Woche zu Hause eintraf, war Erich Honecker bereits von einem Professor für Chirurgie aus der Charité operiert worden. Von Ende August bis Ende September trat Honecker den erforderlichen Genesungsurlaub auf der Insel Vilm an. Da es sich um einen chirurgischen Fall handelte, wünschte er nach der Genesungskur, dass ich mit ihm das Abschlussgespräch führen möchte. Das Gespräch hat ungewöhnlich lange gedauert und es wurden auch brisante Themen der aktuellen Politik angesprochen. Er wirkte dabei innerlich aufgewühlt, als hätte er eine böse Vorahnung. Sein Blick richtete sich auf mich, als wäre ich ein gläsernes Wesen.

In diesem Augenblick erzählte ich, die Situation hatte sich so ergeben, dass ich 1951 einer der jüngsten Teilnehmer an den III. Weltfestspielen der Jugend und Studenten in Berlin gewesen war und dass ich mich noch gern daran erinnere. Seine Gesichtszüge erhellten sich, als ich von dieser Begebenheit sprach. Er fühlte sich an die frühe Aufbauphase der DDR, an seine Zeit als Vorsitzender des Zentralrates der FDJ erinnert und sah plötzlich in mir einen über Jahrzehnte treuen Wegbegleiter. Stante pede, ohne erkennbare Ursache, verdüsterten sich seine Gesichtszüge aber wieder. Und der folgende Satz überraschte mich völlig: "Dabei habe ich doch so viel für die Jugend getan."

Der Satz traf mich und ich konnte meine Tränen nicht verbergen.

Die Verabschiedung mit der sonst üblichen würdevollen Umarmung war kraftlos. Es blieb nur ein schwacher, kraftloser Händedruck. Und er war wortlos. Eine Verabschiedung auf Nimmerwiedersehen. Ob dieser Tränen schäme ich mich nicht, nicht als alter Mann, nicht als Arzt. Ich fühle mich auch außerstande, meine Regung als Humanmediziner zu beschreiben. Das mögen andere erklären.

Von Juli bis 1. Oktober 1989 nahm Honecker aus Krankheitsgründen nicht mehr an den Politbürositzungen teil. Die nächste fand am 17. Oktober statt. Auf der hatte Willi Stoph die Abberufung Erich Honeckers beantragt, die mehrheitlich von den Sitzungsteilnehmern bestätigt wurde. Honecker selbst war von dieser Entscheidung überrascht. So, wie es sich darstellt, war es ein Komplott seiner jahrelangen Gefolgsleute. Da sich die politische Situation in der DDR zuspitzte, erklärte er schon am 18. Oktober auf dem 9. Plenum des ZK der SED seinen Rücktritt als Generalsekretär, als Vorsitzender des Staatsrates der DDR und als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates. Als seinen Nachfolger schlug er Egon Krenz vor.

Nun konnte, nach der Berliner Großdemonstration vom 4. November 1989 und nach dem Mauerfall am 9. November, die Treibjagd auf Erich Honecker richtig beginnen. Nach dem 10. Plenum am 8. November leitete der Genosse Hans Jürgen Joseph, Staatsanwalt bei der Generalstaatsanwaltschaft der Noch-DDR ein Ermittlungsverfahren gegen Erich Honecker wegen Amtsmissbrauch und Korruption ein.(1) Aber es ging weiter. Am 23. November 1989 strengte die Zentrale Parteikontrollkommission der SED ein Parteiverfahren gegen ihn an. Auf dem letzten Plenum des ZK der SED am 3. Dezember 1989 wurde er aus der SED, die er seit 1971 geleitet hatte, hinausgeworfen.

Kurios. Nun ermittelte ein SED-Genosse gegen den schwer erkrankten, quasi am Boden liegenden, vom Tode gezeichneten Genossen wegen Hochverrats, was heißen soll, Honecker habe sich des schweren Staatsverbrechens schuldig gemacht. Anfang Januar 1990 ereilte das Ehepaar Honecker die schockierende Nachricht, Erich habe Nierenkrebs. Der sofort herbei gerufene Urologe der Charité Prof. Dr. Peter Althaus nahm ihn nach guter DDR-Sitte in seine Obhut und begleitete ihn in die Charité, wo er am 10. Januar den bösartigen Tumor aus der rechten Niere entfernte. Die rechte Niere, so erklärte mir Prof. Althaus, musste aus medizinischer Indikation belassen werden.

Am 28. Januar 1990 erschienen an Honeckers Krankenbett zwei DDR-Staatsanwälte, die Herren Kessler und Gaunitz, und erklärten ihn im Krankenzimmer für vorläufig festgenommen, obwohl Prof. Althaus den frisch operierten Patienten für haftunfähig erklärt hatte. Doch keinen der beiden Herren interessierte dieser Tatbestand. Schon am folgenden Tag wurde der von Krankheit und Operation schwer gezeichnete Erich Honecker mit Polizeigefolge und großem Medienrummel ins Gefängnis Berlin-Rummelsburg verfrachtet. Dort traf er auf den stellvertretenden Generalstaatsanwalt Prof. Dr. Lothar Reuter, einen Genossen und kommunistischen Strafrechtsexperten. Der Vorwurf Reuters lautete auf Hochverrat. Dagegen verwahrte sich Honecker energisch und verlangte seine Freilassung und nach seinen Anwälten. Zum zweiten Mal in seinem Leben war er politischer Häftling. Hierzu schrieb der SPIEGEL am 1.2.1990: "Hier soll einer fertig gemacht werden." Nach einem Tag Gefängnis in Rummelsburg musste Honecker Ende Januar wegen Haftunfähigkeit entlassen werden. Damit stellte sich die frage: Wohin? Die neu zusammengewürfelte Partei SED/PDS hatte nichts unternommen, dem Ehepaar Honecker ein halbwegs würdiges Obdach zu gewähren. Man hatte es sogar bewusst unterlassen. Das Ehepaar Honecker wurde praktisch obdachlos.

Ausgerechnet ein Christ, der Pfarrer Uwe Holmer aus Lobetal bei Berlin, gewährte ihnen eine Bleibe gemäß Matthäusevangelium 11;28 "Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken." Schande für diese Partei, der sie jahrzehntelang angehört hatten. Am 24. März 1990 sollte das Kirchenasyl beim Pfarrerehepaar in Lobetal beendet sein und die Honeckers sollten im benachbarten Heim in Lindow eine Bleibe erhalten.

Nachdem die Medien sehr gezielt über diesen Wohnungswechsel berichtet hatten, fand sich schon bei der Abfahrt ein aufgeputschter Haufen von Menschen zusammen, die voller Hass mit Fäusten und Knüppeln auf das Dach der Limousine einschlugen, sogar drohten, das Heim in Lindow zu stürmen. Daraufhin kehrte das Ehepaar in Todesangst zum Pfarrer Holmer nach Lobetal zurück. Es war schmerzlich, die beiden wie Straßenköter behandelt zu sehen. Das Ereignis wurde medienwirksam übertragen. Honecker, der viele Jahre lang von internationalen Persönlichkeiten, darunter Papst Johannes Paul II, Indira Gandhi, Francois Mitterand, Fidel Castro, Helmut Schmidt, Helmut Kohl, empfangen worden war, wurde Anstand und Menschenwürde verwehrt.

Wo waren in dieser Situation die so genannten Bürger- und Menschenrechtler, waren Stolpe, Platzek, Gauck, Spira, Schorlemmer, Eppelmann, Birthler, Bohley, Lengsfeld und die anderen? Warum haben sie tatenlos zugeschaut?

Doch die Tragödie Honecker war damit noch nicht zu Ende. Am 3. April 1990 verließen er und seine Frau die christliche Herberge des Pfarrers in Lobetal. Vorübergehend wurde ihnen im sowjetischen Militärhospital in Beelitz Unterkunft gewährt.

Vom 28. Mai bis 8. Juni musste sich Erich Honecker einer angeordneten medizinischen Untersuchung im Polizeikrankenhaus Berlin unterziehen. Von seinen einstigen Mitarbeitern wurde er dort gemieden.

Das Ende der DDR nach deren Beitritt zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 erlebt das Ehepaar Honecker im sowjetischen Militärhospital. Honeckers Anwälte beantragen wegen seines schlechten Gesundheitszustandes die Einstellung des Verfahrens. Nachdem das Landgericht und das Kammergericht die Anträge abgewiesen haben, ist eine Verfassungsbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof am 12. Januar 1993 erfolgreich. Der wirft dem Kammergericht und dem Landgericht vor, das Grundrecht Honeckers auf Achtung seiner Menschenwürde verletzt zu haben. Honecker kommt frei und fliegt am 13. Januar 1993 zu seiner Familie nach Chile.

Am Morgen des 29. Mai 1994 starb er dort. Er wurde nicht, wie er es sich gewünscht hatte, in Saarbrücken neben seiner Mutter oder auf dem Friedhof der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde bestattet. Seine sterblichen Überreste ruhen in fremder Erde. "Vaterlandsloser Geselle", wie schon zu Kaisers Zeiten Kommunisten geheißen wurden.


Anmerkung:

1) Dazu erklärte Erich Honecker, dass er für das Haus Nr. 11 in Wandlitz 600 Mark Miete aus seiner eigenen Kasse bezahle. Auf seinem Konto befänden sich 174.000 Mark. Diese Summe dürften einem heutigen Sparkassendirektor oder Firmenmanager eher lächerlich erscheinen.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

7. Oktober 1989 oder vom Wahrheitsgehalt eines fotografischen Dokuments

Normannenstraße - das arrangierte Stilleben als Zeitzeugnis für die Nachwelt.
Das herausgeschnittene Emblem untern Stiefel. Wessen Stiefel eigentlich?

Raute

Fakten und Meinungen

Werner Schneider

Die neue Gleichheit in der Gesundheitsversorgung

Das deutsche Gesundheitswesen ist eines der leistungsfähigsten, aber auch teuersten der Welt. In der Betrachtung von Aufwand und Ergebnis der medizinischen Leistungen kann bestenfalls Mittelmaß festgestellt werden.

Das Gesundheitssystem, das eigentlich zur Daseinsvorsorge der Menschen gehört, entwickelt sich heute unter den Bedingungen der Marktwirtschaft zu einem festen Bestandteil und Zweig der Volkswirtschaft, in dem die Gesetzmäßigkeit des Marktes gilt, und wird deshalb auch als Gesundheitswirtschaft verstanden.

In diesem Wirtschaftszweig werden Milliarden an ärztlichen und therapeutischen Dienstleistungen und medizinischen Sachleistungen umgesetzt. Die Gesundheitsleistungen erreichen insgesamt den stattlichen Betrag von 245 Milliarden Euro im Jahr. Das sind immerhin 12 Prozent der Wirtschaftsleistung des produzierenden Gewerbes (Bergbau, verarbeitendes Gewerbe, Energie und Wasser, Baugewerbe). Darunter entfallen auf die gesetzliche Krankenversicherung (GKV), ohne gesetzliche Unfallversicherung, Ausgaben von 148 Milliarden Euro, auf die private Krankenversicherung (PKV) 22,5 Milliarden Euro sowie auf die individuelle Gesundheitsversorgung der privaten Haushalte Ausgaben in Höhe von 33 Milliarden Euro.

Die medizinischen Dienstleistungen werden von 1,3 Millionen erwerbstätigen Vollkräften erbracht, darunter sind rund 800.000 Beschäftigte in Krankenhäusern und 430.000 Ärzte, Zahnärzte und Apotheker. In den Bereichen der Gesundheitswirtschaft wird in der Regel gut verdient. Die Einkommen und die Profitabilität bei der Wertschöpfung sind beachtlich. Dennoch gibt es Unzufriedenheit und Widerspruch, die sich aus den unterschiedlichen ökonomischen Interessen der Leistungsanbieter einerseits und denen der Nachfragenden nach einer guten Medizin bei bezahlbaren Leistungen andererseits ergeben.

Indem zwischen den Seiten kollektive Versicherungsgemeinschaften entstanden, die vom Staat stark gelenkt werden, wird ein Ausgleich angestrebt und werden die Konflikte gemildert. Unbeschadet dessen funktioniert die Gesundheitswirtschaft nur dann, wenn die marktwirtschaftlichen Regeln des Wettbewerbs, der Kostendeckung und der Erwirtschaftung von Gewinnen befolgt, aber nicht pervertiert werden.

Mit dem Wirken marktwirtschaftlicher Gesetze sind aber auch Auswüchse und Disproportionen in der Entwicklung des Gesundheitswesens eingetreten. Die ärztliche Versorgung, insbesondere in den fachärztlichen Disziplinen, ist in der Republik recht unterschiedlich.

Die flächendeckende Versorgung im ländlichen Raum ist gerade für die Zukunft nicht gesichert. Nicht alle Bürger haben einen uneingeschränkten Zugang zu einer medizinischen Betreuung. Die Verfügbarkeit hochspezialisierter Leistungen, namentlich auch der Service in Arztpraxen und Gesundheitseinrichtungen, ist je nachdem, ob der Patient einer privaten oder gesetzlichen Krankenkasse angehört, in aller Regel verschieden. Viele Bürger sprechen daher von einer Zwei-Klassen-Medizin in Deutschland.

Nun hat die schwarz-gelbe Regierung entdeckt und anerkannt, dass die Republik neue Lösungen in der Gesundheitswirtschaft braucht. Vor allem soll dem System mehr Gerechtigkeit eingepflanzt werden. Sogar das Losungswort in der bürgerlich-jacobinischen Revolution in Frankreich, das der Gleichheit, wird auch von Liberalen und Konservativen aufgegriffen.

Das bestehende Gesundheitssystem, zuletzt geprägt von der Sozialdemokratin Ulla Schmidt, taugt nach Meinung vieler aus der Ärzteschaft wie auch zahlreicher Patienten und Parteien nicht für die Bewältigung der anstehenden Aufgaben. Es wird vermutet, dass es angesichts der Misere nur noch besser werden könne.

Woran werden diese Erwartungen geknüpft?

Da sind zunächst die offizielle Politik und die Versprechungen der schwarz-gelben Regierungskoalition. Der amtierende Gesundheitsminister, Philipp Rösler (FDP), hat dazu erklärt, dass er dafür stehen werde, dass solche Prinzipien wie Gleichheit und Gerechtigkeit Beachtung finden.

Die von der Koalition geforderte Gesundheitsprämie würde für die Finanzierung der medizinischen Versorgung als eine einheitliche Kopfpauschale am besten dem Gerechtigkeitsprinzip entsprechen. Dass damit gleichzeitig der seit Bismarck geltende Grundsatz der paritätischen Finanzierung suspendiert wird, stört nicht, sondern sei zur Entlastung der Unternehmen von sozialen Kosten sogar gewollt.Wie bei jeder anderen Versicherung auch, übernähme der Sozialversicherte die ganze Verantwortung und entrichte auch für seinen Versicherungsschutz den vollen Beitrag.

Damit erweist sich die beabsichtigte "Gesundheitsreform" als ein perfider und zugleich subtiler Weg zur Beitragssteigerung für den einfachen Versicherten, ohne eine Mehrleistung zu bieten. Und es ist zugleich der Königsweg für die Umverteilung von unten nach oben innerhalb und vermittelst dieses Systems. Denn im Ergebnis werden die Besserverdienenden entlastet und die Geringverdiener, Langzeitarbeitslosen und Rentner beschwert.

Da soll nun der Staat einen sozialen Ausgleich schaffen, wenn Zahlungspflichtige die Gesundheitsprämie nicht aufbringen können. Nach den bisherigen Berechnungen würde eine Prämie zwischen 150 und 200 Euro pro Kopf und Monat erforderlich sein.

Der benötigte Zuschuss bzw die staatliche Beihilfe wäre stets abhängig von dem individuellen Bedarf, wobei auch hier die grundsätzlichen Regelungen von Hartz IV maßgebend sind.

Kann das Modell der Kopfpauschale funktionieren?

Die Gretchenfrage ist die des sozialen Ausgleichs zur Realisierung des einheitlichen Kassenbeitrags bei allen Krankenversicherten. Denn von den Besserverdienenden, die über dem Durchschnitt liegende Beiträge leisten, werden künftig weniger Beiträge entrichtet. Das ist das erste Finanzloch, das entsteht.

Das zweite kommt daher, dass die Ausgaben für die Gesundheitsversorgung inzwischen größer sind als die Einnahmen der gesetzlichen Krankenkassen. Die Ursachen sind vielfältig. Teilweise sind sie aus der Vergangenheit überkommen wie die Zahlung des Mutterschaftsgeldes aus der Krankenkasse oder die Erhöhung der Vergütungen der Ärzte, des medizinisch-technischen Personals wie auch die Verteuerung der Medikamente. Nicht ohne Grund schlagen die mit an der Spitze in Europa stehenden und permanent steigenden Arzneimittelpreise sich in der Ausgabendynamik erheblich nieder.

Indem die steuerfinanzierte Ausgabendeckung zu 100 Prozent eingeführt wird, fallen auch alle Kostensteigerungen den öffentlichen Haushalten zur Last. Unter diesen Bedingungen kommt die Verschuldung der öffentlichen Haushalte ins Spiel, die inzwischen die unvorstellbare Summe von 1.690 Milliarden Euro erreicht hat. Damit ist die Grenze der Kreditfinanzierung von öffentlichen Aufgaben bereits überschritten.

Es ergibt sich die Konsequenz, für das Projekt der Kopfpauschale zusätzlich etwa 30 Milliarden Euro bereitzustellen, die nicht verfügbar sind. Dieses Modell führt in die Sackgasse.

Dieser Standpunkt wird auch nicht durch das immerhin beachtliche Argument erschüttert, dass die Besserverdienenden bei Fortführung der gegenwärtigen Praxis in der Erhebung ihrer Sozialabgaben wegen der Beitragsbemessungsgrenze und der Ausklammerung der außerhalb des Arbeitseinkommens liegenden anderen Einkunftsarten bevorteilt seien. Sie müssen schon jetzt nicht ihr ganzes Einkommen für die Berechnung der Sozialabgaben zugrunde legen.

Wenn man ernsthaft die Erhebungsgrundlage für den Krankenkassenbeitrag erweitern will, geht dies auch ohne Umstellung auf die Gesundheitsprämie. Es würde die Beitragsbemessungsgrenze heraufgesetzt, u. U. bis zur Gehaltshöhe, und es könnten auch die anderen Einkunftsarten einbezogen werden.

Dann wiederum hat man Bedenken, das volle Einkommen als Erhebungsgrundlage heranzuziehen, aus Sorge die Bezieher großer Einkommen zu "überfordern". Das alles ist recht widersprüchlich. Im Grunde steckt dahinter nur die Absicht deren Steuern zu minimieren.

Man überlässt die Finanzierung der öffentlichen Aufgaben und Maßnahmen gern den anderen Steuerbürgern, nimmt aber um so lieber die Vorzüge des eigenen Landes, seine Rechtsordnung, ausgebaute Infrastruktur und Bildungssystem für sich und die eigene Familie in Anspruch.

In der Besteuerung besteht in demokratischen Staaten ein anerkanntes Erhebungsprinzip: das der Festsetzung der Steuer nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen.

Denn eine Steuerschuld, sagen wir, von 1.000 Euro, ist bei einzelnen Steuerschuldnern nur dann gleich, wenn diese in ihrer sozialen Stellung die gleichen Voraussetzungen für ihre Tilgung haben. Diese Gleichheit besteht aber für einen Einkommensmillionär und einen Durchschnittsverdiener nicht. Das heißt, eine einheitliche Gesundheitsprämie kann bei ungleichen ökonomischen Lebensbedingungen nicht zur behaupteten Gleichheit führen. Sie bleibt ein Phänomen der Ungleichheit.

Von daher ist die Intention der Herstellung von mehr Gleichheit und Gerechtigkeit fragwürdig. Sie hat wohl nur den Zweck, den Odem der sozialen Kälte loszuwerden und die verfolgten Gewinnabsichten zu verschleiern.

Soziale Gerechtigkeit mit Teilhabe am geistig-kulturellen Leben kann nur unter Einschluss des Solidarprinzips verwirklicht werden. Die Leistungsfähigen übernehmen eine höhere Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft als schwache Schultern. Nur so kann ein Gemeinwesen existieren und gut vorankommen.

Dass das Gerede von einem angeblichen Unrecht durch Ausnutzung der Hilfsbereitschaft und Verweilen in der sozialen Hängematte in dieser Verallgemeinerung nicht stimmt, ist durch Befragungen und Studien erwiesen. Im Gegenteil, die gezeigten Initiativen zur Eröffnung von Geschäften, Ausführung von Dienstleistungen und Herstellung von Werkstücken beweisen die bestehende Leistungsbereitschaft. Was fehlt, sind reguläre Arbeitsplätze, von denen ein Arbeiter oder Angestellter ohne staatliche Hilfe leben kann.

Eine Steuerlast für Unternehmen und Beschäftigte, die sie überfordert, besteht nach aller Erfahrung nicht. Das trifft auch bei Mehrfachbesteuerung von Einkommen und Vermögen durch Substanzsteuern und Verbrauchssteuern zu. Die Entwicklung in Deutschland zeigt, dass in den vergangenen Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg eine ausufernde Akkumulation, Konzentration und Zentralisation des Kapitals stattgefunden haben. Geld- und Sachvermögen sowie Erbmassen haben trotz teilweise progressiver Besteuerung und von Krisenphasen enorm zugenommen. Dazu passt die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich mit der starken Zunahme der Zahl der Einkommensmillionäre in Deutschland und die Konzentration der Geld- und Sachvermögen in den Händen einer Oberschicht.

Wunschdenken anstelle realistischer ökonomischer Politik

Es bleibt das Geheimnis der FDP, die eine Steuersenkungspartei sein will, wie man den Verzicht auf Einnahmen des Staates mit der Gewährung der nach dem liberalen Modell notwendigen Beihilfen und Zuschüssen mit der Einführung der Kopfpauschale in Übereinstimmung bringt. Das wäre tatsächlich die Quadratur des Kreises, die es im realen Leben nicht gibt. Die Kopfpauschale ist schlicht und einfach nicht finanzierbar. Aufschlussreich bleibt, dass trotz einer Depressionsphase mit einer riesigen Staatsverschuldung die Kreditfinanzierung öffentlicher Aufgaben nicht als ein Weg in den Staatsbankrott gesehen wird. Die viel beschworene Sanierung der Haushalte, der man Priorität einräumte, ist jetzt angesichts weiterer vordringlicher Aufgaben nicht mehr alternativlos. Und das gerade bei einer politischen Konstellation, mit der man sich wirtschafts- und sozialpolitisch zur Umgestaltung des Sozialstaats neu aufstellen will.

Nicht allein neue Systeme und ökonomische Instrumente sind für den Fortschritt und die Effizienz eines Wirtschaftszweiges maßgebend, sondern auch die Aktivitäten in Richtung auf effiziente Strukturen, Organisationsabläufe und Kosteneinsparungen. Hier ist festzustellen, dass bei allen Gesundheitsreformen der Vergangenheit diese Anstrengungen immer zu kurz kamen. Die Kosten in den Gesundheitseinrichtungen sind ständig gestiegen.

Es war aber nicht das Anliegen dieses Beitrags, die Ursachen dieser Fehlentwicklung zu analysieren. Vielmehr sollte deutlich werden, dass die erforderlichen Werkzeuge, um eine gute Arbeit zu leisten, zur Verfügung stehen und um Kostenreserven im Gesundheitswesen und Verwaltung zu erschließen. Die Verbesserung von Strukturen und technisch-organisatorischen Prozessen sowie der Preiskalkulationen für Arzneimittel sollte mit Reformvorhaben stets verknüpft werden und für die Festlegung neuer Rahmenbedingungen die Grundlage bilden.

Es ist schon bemerkenswert, dass Liberale und Konservative das Konzept der antizyklischen Fiskalpolitik des englischen Ökonomen John Maynard Keynes wieder aus der Schublade hervorgeholt haben, Vorher hatten sie ein solches Konzept des "deficit spending" zur Ankurbelung der Nachfrage in der Phase der Depression als veraltet und überholt abgelehnt. Diese Finanz- und Steuerpolitik kommt ihnen jetzt gelegen, weil sie den Umbau der Sozial- und der Wirtschaftspolitik wollen, an dessen Ende die Abschaffung des Sozialstaats steht. Die Kopfpauschale gibt nicht nur sachlich-inhaltliche Rätsel auf, sondern birgt auch gewichtige organisatorische und verwaltungstechnische Fragen nach ihrer Veranlagung und Realisierung in sich. Dafür haben wir kein Beispiel der ablauforganisatorischen Bewältigung dieses ökonomischen Instruments.

Die enormen organisatorischen Hemmnisse und Widersprüche bei der Umsetzung der Hartz-IV-Beschlüsse sollten ein warnendes Signal sein. Die Kosten für ein solches Projekt werden gemeinhin unterschätzt. Es besteht die Gefahr, dass eine solche Mammutaufgabe nicht mehr beherrschbar ist.

Wo bleiben die Menschenrechte und die Menschenwürde?

Mit der vollständigen Einführung der Kopfpauschale würde ein Systemwandel, ja ein Systembruch, gesellschaftsfähig, der tiefer nicht sein kann. Dieser lässt sich wie folgt beschreiben:

Erstens wird die paritätische Deckung der Gesundheitskosten aufgegeben, nach der der Unternehmer sich früher mit fünfzig Prozent an den zu leistenden Kassenbeiträgen beteiligt hat. Mit diesem hälftigen Finanzierungsmodell trug der Unternehmer Verantwortung für die Gesundheit und die Erhaltung der Arbeitskraft für die von ihm Beschäftigten. Das entspricht vergleichsweise der Fürsorgepflicht des Dienstherrn in seinem Verantwortungsbereich gegenüber den ihm Unterstellten des öffentlichen Dienstes.

Zweitens folgt ganz prinzipiell aus den Menschenrechten und dem Grundgesetz (Artikel 1), dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Das bedeutet auch, dass freie Bürger nicht in eine unverschuldete Abhängigkeit gebracht und auf Transferleistungen des Staates verwiesen werden.

Die Einhaltung der Grundrechte ist ein so hohes Gut, dass die Frage erlaubt sein muss, ob es der Politik wirklich gleichgültig ist, wenn Millionen und Abermillionen zu Bittstellern beim Staat für die Gewährung von Beihilfen zur Bezahlung der Gesundheitsprämien an die Krankenkassen gemacht werden. Die betroffenen Bürger müssen dazu Anträge stellen, über ihre Einkünfte und ihr Vermögen als sehr persönliche Daten Aufschluss geben, sich Überprüfungen unterziehen, Veränderungen ihrer finanziellen Lage an die Behörde mitteilen usw. Dabei handelt es sich zu einem nicht geringen Teil um Rentnerinnen und Rentner im betagten Alter, denen ein solcher Papierkrieg eine Zumutung ist.

Und dieser Wandel findet statt, weil ein bestimmter Teil der Bevölkerung, der ohnehin wirtschaftlich gut situiert ist, durch die Abkopplung der Finanzierung vom Einkommen finanzielle Vergünstigungen erhält, unter dem an diesem Punkt falschen Argument von Gleichheit und Gerechtigkeit.

Ein solcher Systemwechsel kann nur aus ideologisch gesteuerten und neoliberal überfrachteten Leitbildern entstehen. Der Weg der Gesundheitspauschale mit allen ihren Zwischenstufen ist ein Irrweg, weil er nicht vom Wohl und den Bedürfnissen des Patienten ausgeht.

Vielmehr steht die angebotsorientierte Produktion der Pharmakonzerne, der Sportgerätehersteller, der medizinischen Leistungsanbieter im Mittelpunkt.

Die Krankenkassen als Anstalten des öffentlichen Rechts mit ihren Millionen Mitgliedern müssen als Vertreter dieser Mitglieder eine hochwertige medizinische Güter und Dienstleistungen nachfragende Marktmacht entwickeln, die ihr Fundament in der demokratischen Selbstverwaltung hat. Dazu sind jedoch grundsätzliche Änderungen der Satzung notwendig. Als Non-Profit-Organisationen können sie eine wichtige Rolle in der Volkswirtschaft spielen.

Wie auch immer die Dinge liegen, der zuständige Gesundheitsminister sollte sein politisches Schicksal nicht leichtfertig an die Umsetzung der Kopfpauschale binden. Weder von ihrer Philosophie noch von ihrer praktischen Rolle ist sie es wert, als Rammbock für einen Systembruch zu dienen. Noch ist es nicht zu spät, die Zügel wieder fest in die Hand zu nehmen, den Sozialstaat zu bewahren.

Die gesellschaftliche Entwicklung darf nicht verbaut werden. In diesem Sinne sei Herrn Dr. Philipp Rösler frei nach Shakespeares "Julius Caesar" zugerufen: "Bei Philippi sehen wir uns wieder"! Noch steht die Entscheidung aus.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Geld ins Gesundheitssystem, dahin, wo es der Minister will

Raute

Fakten und Meinungen

Siegfried Wegner

Ein Tag in Israel

Endlich ist der Bus da, auf den ich bereits seit 0:50 Uhr in meinem Hotel in Taba auf der ägyptischen Sinai-Halbinsel gewartet habe. Es ist 1:30 Uhr. Die Mitreisenden sind schon drei Stunden von Sharm el Sheik her unterwegs. Wir haben nun nur noch 20 km bis zur ägyptisch-israelischen Grenze. Dort aber warteten bereits mehrere Busse auf Abfertigung. Die Touristen müssen die Grenze zu Fuß passieren. Dass die Fahrzeuge die Grenze überqueren, ist nicht vorgesehen. Die Zeit bis zu unserer Abfertigung verbrachten wir im Bus, immer hoffend, bald aufgerufen zu werden. Doch erst gegen 3:30 Uhr waren wir dran, Eintagestouristen nach Israel.

Die Grenzstationen, ägyptische wie israelische, gleichen denen eines Flughafens mit Personen- und Gepäckscannern. Zweimal mussten wir uns dieser Kontrollprozedur unterziehen. Kurz nach vier Uhr waren wir auf der israelischen Seite in Eilat. Doch für unsere Reisegruppe war keiner zuständig, kein Bus, kein Reiseführer. Erst nach einer Stunde erschien ein Taxifahrer, der uns fragte, ob wir das Geld vom ägyptischen Reisebüro dabeihätten. Hatten wir aber nicht und ahnten schon Schlimmes. Doch dann kam doch noch cm Bus für uns und im Zentrum der Stadt stieg auch der Reiseführer zu. Keine Entschuldigung für die Verspätung. Die Fahrt sollte zum Toten Meer, nach Jerusalem, nach Bethlehem und zurück nach Eilat gehen. Wie gesagt: einen Tag Israel.

Zum ersten Ziel ging es durch steinige Wüste mit einem Halt an einer Raststätte. Da lernten wir etwas über das horrende Preisniveau im Land. Zum Toten Meer ging es an mehreren Palmenplantagen vorbei. Dattelpalmen. Auch die Gegend um die im Alten Testament so schrecklich abgestraften Orte Sodom und Gomorrah durchführen wir, allerdings ohne die Schuld der Leute von Sodom und deshalb wohl auch nicht so furchtsam. Der erste Eindruck vom Toten Meer? Für mich enttäuschend. Das Wasser - in einzelne Lagunen gezwängt. Ringsherum Kräne und Anlagen. Alles sah aus wie ein riesiges Fabrikgelände. Hier wurden Mineralien abgebaut: Chlorkalium, Kalisalze, Brom und Magnesium.

In einem Hobel, einem dieser Wasserlöcher, hatten wir Gelegenheit, die wundersamen Eigenschaften des Wassers auszuprobieren. Durch seinen hohen Salzgehalt bewahrt es den menschlichen Körper vor dem Untersinken. Es stimmt. Ich bin nicht versunken, sondern konnte auf dem Rücken liegend Zeitung lesen. Nach dem Bad wünscht man sich aber dringend eine gründliche Dusche, nur eben nicht mit diesem Wasser, das sich klebrig und ölig anfühlt.

Die Weiterfahrt ging dann hinauf in die judäische Hügellandschaft, vorbei an vielen aus der Bibel her vertrauten Ortsnamen. Die Straße führte aber nie direkt durch die Orte. In Jerusalem angekommen, war unser erster Halt auf dem Ölberg. Von dort hat man einen weiten Blick auf die Stadt - eine gewaltige Großstadt. Mit Worten allein kann man sie nicht beschreiben.

Es ist beeindruckend, durch eine Altstadt zu laufen, in deren Mauern mehrtausendjährige Geschichte Spuren hinterlassen hat, Spuren von Glauben, Spuren der Kriege, Spuren von Reichtum und von Elend. Und Letzteres wächst immer neu. Für mich waren bisher die in den Medien genannten israelischen Siedlungsbauten eben "Siedlungen". So wie es unser Sprachgebrauch will, verstand ich darunter Siedlungshäuser. Was aber dort zu sehen war, sind Stadtviertel aus Hochhäusern. Eingezäunt, nein, mit Mauern umbaut. Ob Israelis oder Palästinenser, auf deren Grund sie in der Regel stehen, die sie aber nicht bewohnen, ob die da drinnen, ob die da draußen, beide werden sich elendig vorkommen. Das ist, so sehe ich es, menschenverachtend und zeugt von Arroganz der politischen Führung, nicht der Architekten.

Unser Reiseführer erwähnte, dass es in der israelischen Bevölkerung Unstimmigkeiten wegen der bevorzugten Behandlung russischer Juden gibt. Sie erhielten bei ihrer Ankunft in Israel bedeutende Starthilfen, in steuerlicher, materieller und vor allem finanzieller Weise. Nach einer Zeit, wenn sie sich saniert hätten, so sagte er, zögen sie wieder aus dem Land. Auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft gebe es Auseinandersetzungen über echtes und unechtes Judentum. Die Abstammung von einer jüdischen Mutter gälte als Ausweis. Mir klangen die Erklärungen des Reiseführers in dieser Frage bald sehr nationalistisch.

Noch einmal zurück zur Altstadt. Sie ist umgeben von einer 1542 erbauten Mauer, die vier km im Umfang misst und durchschnittlich 13 Meter hoch ist. Die Klagemauer ist nur ein Teil, ist aber nochmals in einen größeren Abschnitt, vor dem die Männer beten, und in einen kleineren Teil, der den Frauen vorbehalten ist, unterteilt. Die Männer können länger beten, Frauen dagegen müssen eher nach Haus und das Essen vorbereiten, das die Männer erwarten, wenn sie vom Gebet heimkehren.

Wie teuer es in Israel ist, erlebte ich bei dem beabsichtigten Kauf zweier Ansichtskarten. Mit Briefmarken sollte das 10 Euro kosten. Nach meiner Weigerung waren es dann noch 8 Euro. Es liegt wohl an der in Israel sehr hohen Mehrwertsteuer von etwa 30 Prozent.

Zum Mittagessen fuhren wir darum von Israel nach Palästina. Es war einfach erschwinglicher.

Von Jerusalem nach Bethlehem sind es etwa 10 km. Die Strecke führt durch bewohntes Gebiet. Die Mauer, die Israel von Palästina trennt und die oft tief im palästinensischen Gebiet steht, ist stets weithin sichtbar. Der Grenzübergang bleibt mir in trauriger Erinnerung. Der Bus fuhr zum Übergang und hielt. Aus dem Fenster sah ich nichts weiter als eine graue Wand vor mir. Nach Weisung unseres Reiseführers war das Fotografieren dieser Wand nicht erlaubt. Bei der Weiterfahrt habe ich das aber doch noch, was da nicht gern gesehen wird, aus dem Fenster versucht. Die Mauer, so wurde uns gesagt, ist 12 m hoch. Offiziell wird ihre Höhe aber nur mit 8 m angegeben. Sie kostet den Staat mehrere Millionen jährlich. Als Mauer ist die Grenzanlage nur in bewohntem Gebiet ausgeführt. Die Grenze auf dem Land besteht aus mehreren aufeinander folgenden Grenzsperren. Sie beschreibt einen Grenzverlauf, den der Staat Israel sich selbst gegeben hat und für den es keine völkerrechtliche Legitimation gibt.

Zurück fuhren wir durch palästinensisches Gebiet in Richtung Totes Meer, aus einer Höhe von 1200 m über dem Meeresspiegel des Mittelmeeres bis auf 400 m unter dieses Niveau.

Spät am Abend dann die übliche Prozedur am Kontrollpunkt Eilat-Taba. Nach einer Stunde hatten wir auch das hinter uns.

Zeit zum Überdenken, was an diesem Tag zu sehen war.

Mein Erlebnis war das eines Tages. Land und Leute kann man in dieser Zeit nicht kennen lernen. Aber es reichte, über die israelische Führung den Kopf zu schütteln über ihre Kurzsichtigkeit, mit der sie Siedlungen baut, die doch nur mehr Hass schüren. Und die Eindrücke verbinden sich mit dem Wissen, das man ganz ohne Reisen gewinnt, aus der Zeitung z. B.: "In israelischen Siedlungen im Westjordanland und im arabischen Ostteil Jerusalems leben nach Angaben des israelischen Statistikbüros rund 500.000 israelische Siedler. Die übergroße Mehrheit der internationalen Staatengemeinschaft hält die jüdischen Siedlungen für illegal." (ND, 17.4.2010)

Raute

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Peter Michel

Zweifel an Endgültigkeiten

Nachdenken über den sorbischen Maler Jan Buck

Am 15. April 2010 führte eine der anspruchsvollen Kunstreisen des Freundeskreises "Kunst aus der DDR" nach Bautzen. Es ging um das Erinnern an die hohe Wertschätzung, die den Sorben als nationaler Minderheit bis 1989/90 entgegengebracht wurde und um die Frage nach der Pflege ihres kulturellen und künstlerischen Erbes in der Gegenwart. Im Verband Bildender Künstler der DDR hatte es einen kleinen, sektionsübergreifenden Arbeitskreis Sorbischer Bildender Künstler gegeben, der bereits 1948 gegründet wurde und dessen letzte Vorsitzende die Gebrauchsgrafikerin, Illustratorin und Buchgestalterin Eva-Ursula Lange aus Bautzen war. Der Gemeinschaftssinn, die familiäre Atmosphäre sind verschwunden; beides hatte auch der Selbstbehauptung als Künstler gedient; den Arbeitskreis gibt es nicht mehr. Die neuen Vereine, die sich nach der Kolonialisierung Ostdeutschlands gründeten, konnten das nicht ersetzen. Umso erfreulicher ist es, dass in den vorbildlich restaurierten Museen Bautzens - im Sorbischen Museum in der alten Ortenburg und im Museum Bautzen am Kornmarkt - einiges von diesem Erbe bewahrt wird. Die Wiederbegegnung mit Werken von Mercin Nowak-Njechornski (Martin Nowak-Neumann), der stilbildend wirkte, von Conrad Felixmüller, der zeitweise Vorsitzender dieses Arbeitskreises war, von Carl Lohse, von Horst Schlosser, der bei Dix studiert hatte, von Jan Hanski (Johannes Hansky), der Vorsitzender des VBK-Bezirksverbandes Frankfurt (Oder) war und als "Haus- und Hofkünstler" des Eisenhüttenkombinats Ost bekannt wurde, und von vielen anderen war ein Gewinn. Diese Geschichte zu bewahren ist ein großes Verdienst.

Für mich war die Wieder- und Neubegegnung mit Werken Jan Bucks in beiden Museen ein besonderes Erlebnis. 1976 hatte ich ihn kennen gelernt. Er lebte damals in Bautzen. Zuletzt sah ich ihn vor wenigen Jahren anlässlich der Eröffnung einer Walter-Womacka-Ausstellung in Cottbus wieder. 1996 war er an den Ort seiner Geburt, in das Dorf Nebelschütz bei Kamenz, aus dem auch Jan Hanski stammte, zurückgekehrt. Seine Frau ist inzwischen verstorben. Eine neuerliche Begegnung mit ihm war nicht mehr möglich; sein Gesundheitszustand ließ das nicht zu. Aber die Erinnerung an seine Bilder ist immer lebendig geblieben.

Am 2. August 1922 wurde er als Sohn eines sorbischen Fabrikarbeiters geboren. 1937 bis 1940 war er Lehrling bei einem Dekorationsmaler. Nach dem Krieg studierte er zunächst ein Jahr am Lyzeum für Bildende Kunst in Wroclaw und anschließend an der dortigen Hochschule für Bildende Künste bei den Professoren Krcha und Geppert. Nach weiteren Studien an der Hochschule für Bildende Künste Dresden bei Prof. Rudolf Bergander und Prof. Fritz Dähn war er ab 1953 freischaffender Maler und Graphiker in Bautzen. Er engagierte sich im Arbeitskreis Sorbischer Bildender Künstler, im Bezirksvorstand Dresden des VBK-DDR, in der Zentralen Arbeitsgruppe Volksbildung beim Zentralvorstand des Künstlerverbandes, war 20 Jahre lang Kunsterzieher an der Sorbischen Erweiterten Oberschule und leitete einen Zeichenzirkel im Pionierhaus Bautzen. 1959 wurde er mit dem Cisinski-Preis, 1970 mit dem Literatur- und Kunstpreis der Domowina I. Klasse und 1988 mit der Hans-Grundig-Medaille ausgezeichnet. Er war in der DDR ein hoch geachteter, auch unbequemer, eigenwilliger Künstler, und es ist eine Freude, seine Werke heute in den Bautzener Museen wieder zu finden und ihn als einen wichtigen Vertreter der sorbischen Gegenwartskunst gewürdigt zu sehen.

Von sorbischer bildender Kunst - im Sinn eines bildkünstlerischen Stils - zu sprechen, ist schwer möglich. Wenn dennoch Jan Buck als gerade als sorbischer Künstler geschätzt wird, so sind damit wohl zuerst seine Bindungen an seine sorbischen Wurzeln, an die sorbische Heimat, seine Bild gewordenen Reflexionen über die Veränderungen in der Lausitz vor und nach 1989 gemeint. Aber sorbische Themen und Problemstellungen sind in seinem Schaffen nicht vordergründig. Sein Gesichtskreis ist weiter, seine Erlebniswelt groß. Schon 1986 mahnte er, man dürfe nicht zu stark an den Traditionen kleben; die Kunst müsse offen sein.

Sorbisch an seinen Bildern mag vielleicht eine manchmal naiv anmutende Klarheit des Bildaufbaus sein, eine mitunter symmetrische Strenge der Komposition mit eindeutigen Senkrechten und Waagerechten, angeregt - aber sicher mehr unbewusst - durch dekorative Volkskunsttraditionen, und möglicherweise auch eine Farbigkeit, die vermittelte Beziehungen zum Trachtenschmuck aufweist. Doch dies ist eine Hypothese; der Künstler wird das genauer wissen. Es gab ja schon viele Überlegungen zur Spezifik sorbischer bildender Kunst. So schrieb z. B. Alfred Krautz in seinem Buch "Sorbische bildende Künstler": "Die sorbische Kunst ist antiromantisch, wenn man davon ausgeht, dass in romantischen Werken gefühlsbetonte Stimmungen und Haltungen hervortreten, Menschen und Natur zueinander in Beziehung gesetzt und Schwebungen landschaftlicher Stimmungen erfasst werden." Für Martin Nowak-Neumann trifft diese Behauptung zu, für Jan Buck nicht. Gerade jene "Schwebungen" machen seine Bilder so poetisch. Menschen und Dinge sind ineinander und im Bildraum verwoben. Farben, Formen und Duktus sind Ausdruck starker, zugleich verhaltener Emotion, eines romantisch-weltoffenen Realitätsverhältnisses. Lyrische Zartheit, gelöste Transparenz des Kolorits, Ausgewogenheit und Ruhe der Komposition, Harmonie und Lichtfülle der Bildeinheit sind für die meisten seiner Werke kennzeichnend. Was oft leicht, manchmal heiter erscheint, ist das Resultat behutsamer Aussonderung. Unter der reich differenzierten, in jedem Pinselstrich ablesbaren, auf bewusst unregelmäßige Grundierung gesetzten Farbfläche verbirgt sich ein festes konstruktives Gerüst.

Verhaltene Grün- und Braunabstufungen dominieren im Bildnis seiner Mutter von 1974, eine unendlich scheinende Skala feinster Nuancen eines Farbklanges. Der Bildaufbau ist demgegenüber dekorativ, nahezu mathematisch klar: die Pyramidenform der sitzenden Frau ist in die Mitte gestellt; der Abstand der Figur von den Bildrändern oben und unten und rechts und links fast gleich. Die kaum zu ahnende Linie, die Fußboden und Wand trennt, liegt vermittelnd im Goldenen Schnitt. Dieses Wechselspiel von reicher, kultivierter Farbigkeit und festem, in sich geschlossenen Bildaufbau ist bis heute typisch geblieben, auch in den stärker abstrahierten Sujets. Und typisch geblieben ist auch ein mit leisen oder lauteren Andeutungen operierendes Zusammenklingen von Farbe, Licht und Raum. Die Bildtiefe erschließt sich kaum aus zentralperspektivischer Zeichnung; die Regeln der Farbperspektive spielen nicht vordergründig mit. Und doch wird aus der Farbe heraus die Illusion des Raumes geschaffen. Ein solches Schwingen von Raum und Fläche, Tiefem und Frontalem, Dekorativität und Plastizität regt in seiner gegensätzlichen Einheit die Phantasie an, ermöglicht ein ästhetisches Erleben, das dazu beiträgt, den Blick zu öffnen für die Schönheit des oft Übersehenen - von der weithin sich lagernden, unspektakulären Landschaft über das vom Leben gezeichnete Gesicht eines alten Menschen bis hin zu den kleinen Dingen des Alltags. Das ist ein Wert, der in der Gegenwart immer mehr verloren zu gehen droht.

Vielleicht liegt hier so etwas wie eine geistige Verwandtschaft zu Jurij Brezan, der in seinem Buch "Krabat oder Die Verwandlung der Welt" konkrete Figuren ins Allgemeingültige erhebt, Wirkliches zur Sage macht und die Raum- und Zeitgrenzen verwischt. Der Leser findet sein Wissen um die Realität bestätigt und bereichert, und zugleich entführt ihn der Autor zu Höhenflügen der Phantasie, die wiederum zurückwirken auf das Verständnis der Wirklichkeit. Vieles davon scheint - übersetzt in die Spezifik der Malerei - bei Jan Buck wiederzukehren, gewachsen aus einer ähnlichen, aber im Temperament gedämpfteren Aufnahme der Lebensumwelt. Die Stickerei auf der Tracht der Mutter ist nicht akribisch ausgeführt, doch der Betrachter ahnt Farbenfülle und Formenreichtum; der Raum wird nicht exakt bezeichnet, doch man spürt ihn aus den Hell-Dunkel-Werten der Farben heraus; ohne dass man den Stuhl sieht, wird das Sitzen glaubhaft; trotz des Verzichtes auf jedes Interieurdetail empfindet man die Wärme und Geborgenheit des Innenraumes.

So deutet Jan Buck die Realität aus, indem er z. B. die Mittel der Cézanne-Nachfolge (oder in seinen Stilleben auch Anregungen Giorgio Morandis) nutzt, um die Gegenstände aus dem Malerischen heraus zu formen - "entsprechend der malerischen Substanz des Raumes, aus dem die Erscheinungen sich bilden", wie Jan Buck formulierte. In der DDR spielte ja Paul Cézanne für viele Künstler eine Rolle; man denke nur an Harald Metzkes oder Manfred Böttcher. Insofern ist dieser Traditionsbezug für eine lange Phase der DDR-Kunstentwicklung typisch.

Im Faltblatt zur Ausstellung des Sorbischen Museums anlässlich des 75. Geburtstages von Jan Buck 1998 schrieb Christina Boguszowa: "Handschrift und Farbpalette unterlagen im Laufe der Jahrzehnte mehreren Wandlungen - ein nur allzu natürliches Phänomen für jemanden, der selbst im Alter noch an Endgültigkeiten zweifelt."

Jan Bucks Malerei ist nicht philosophisch oder grüblerisch; sie bedient sich weder expressionistischer Schockwirkungen noch einer sachlich-gegenstandstreuen Darstellungsweise. Seine Bilder sind Zeichen für ein gelöstes, in einer menschlichen Gesellschaft mögliches freundliches, offenes Verhältnis zum Mitmenschen. Dieser Ton im Konzert der Künste war in der DDR wichtig - und er darf auch in der Gegenwart nicht ersticken. Er ist heute noch zu hören, weil er nicht in den Depots der Museen verhallte. Jan Bucks Bilder helfen uns, an Endgültigkeiten zu zweifeln.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Jan Buck, Foto aus dem Jahr 1976
- Fenster, 1997, Aquarell
- Stilleben, o. J., Öl, 85 x 110 cm
- Bildnis meiner Mutter, 1974, Öl, 95 x 80 cm

Raute

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Klaus Georg Przyklenk

Erhard Schmidt - Maler

Selbstverständlich ist es nicht, dass ein Maler weiß, was er malt und dass er es gar aussprechen kann. Erhard Schmidt kann es. Wahrscheinlich hat er es können müssen, weil er andere das Malen lehrte. Am Ende seiner Lehrtätigkeit hatte er eine Professur an der UdK Berlin. Vorher war er vom Ende der 50er Jahre an am Institut für Kunsterziehung der Humboldt-Universität, war später Nachfahre des Hermann Bruse an dieser Stätte und Kollege des sensiblen Radierers Gerenot Richtet Das Malen ist ihm Arbeit, geduldiges, ernsthaftes Werk. Dass das Ergebnis seiner Mühen eine Ware sein könnte, ja, heute sein müsste, das ist ihm ein Gedanke, den er nicht denkt. Als kleiner Warenproduzent scheiterte er gewiss schon bei einem Investitionsberater, der die Frage nach dem Geschäftsmodell stellte: "Welche Zielgruppe haben sie denn als Käufer ins Auge gefasst? ... So, so, also Menschen! Und meinen sie, dass die Menschen das, was Sie malen, kaufen wollen? Der Kunst sammelnde Schraubenfabrikant etwa? Der Schönheitschirurg, der seiner Klinik das Lifestyle-Ambiente gibt? Warum sollten die das Bild einer so erbärmlichen Behausung wie ihr 'Haus am Hang' bezahlen?"

Und dabei ist doch etwas dran an diesem Haus, etwas, was mich anrührt, das ganz archaische Gefühl vom Behaustsein in einer kalten Welt. Das ist kein verträumtes Gemäuer auf einem romantischen Fleck Erde. Zeitlos, wie es scheinen mag, ist es auch nicht. Der in seiner farbigen Erscheinung so harlekinbunte Bau lässt schon die Erinnerung aufblitzen an die wilden Graffitiwände der Großstadt, in der er ja sein ganzes Leben lang lebt. Ein Haus, ein Baum, eine Wolke bleiben aber Urbild von unserem menschlichen Lebensort.

In den letzten Jahren der DDR hatte uns unsere Kunst gelehrt, auch solche Bilder als realistische Malerei zu empfinden, weil es um menschliche Angelegenheiten ging.

Menschlich auch die Empfindung von der Endlichkeit. Erhardt Schmidt gibt sie allen seinen Bildern mit. Wie eine Patina legt er seine Malerei über die Gegenstände, und macht sie still und vergänglich.

Buntheit, Lautstärke sind seine Sache nicht, Farbigkeit schon. Wenn er selbst auch glaubt, "Farbüberhöhungen in der Regel zu vermeiden", ist ihm gerade die Entfernung von der Wirklichkeit, das Schaffen farbiger Stimmungsräume fernab von der äußerlichen Übereinstimmung mit der sichtbaren Farberscheinung das Mittel seiner Malerei schlechthin geworden.

Selbst die Flusslandschaft, die hier im Schwarz-Weiß abgebildete "Unstrut", zeigt sich in reinem, tiefen Ultramarin und in hellem Violett. Dass ihm das selbst keine Erwähnung wert ist, macht erkennbar, wie sehr ihm Farbe als Ausdrucksmittel handhabbar geworden ist. Er meint, alle anderen wüssten auch um die Flüchtigkeit der Augenblicke, in denen das Gesehene sich mal rot, mal blau, mal hell, mal dunkel, mal strahlend rein oder mal verhalten und stumpf zeigt. Während wir noch glauben, ein Baum wäre grün, immer und für alle Zeiten, entscheidet er sich für seine Farbigkeit, die ihm gemäße.

In diesem Sinne ist er ein sehr moderner Maler. Farbe ist für ihn expressiv, Mittel des Ausdrucks. Nur, er ist eben kein Marktschreier.

Auch die Formate seiner Bilder drängen sich nicht vor. Sie wollen sich nicht im Vergleich mit anderer Malerei messen. Es genügt ihnen, betrachtet zu werden, allerdings nicht im Vorübergehen. Es sind keine Bilder für Ausstellungswände. Dazu sind sie zu intim. Sie sind, um den Gedanken zu wiederholen, keine Ware, zu deren Kauf man sich entschließt, weil sie besser, bunter und breiter sind als andere. Sie sind einfach da und wollen emotional erlebt werden.

Ihre Botschaft ist keine Losung. Und das Wort Stille, das Erhard Schmidt gebraucht, beschreibt die Bilder sehr gut. Es ist ein stilles Einverständnis mit dem Dasein, kein Jubel, eher das Bekenntnis eines illusionslosen Materialisten zum Dasein. Und vielleicht auch deshalb sind sie weit weg vom esoterischen Denken, das das abstrakte Malen vieler Künstler der Moderne begründen soll.

Und Menschen im Bild? Ja, auch, aber er hat sich kein Urteil angemaßt über einzelne. So gibt es also keine Porträts. Menschliche Gestalten auf seinen Bildern sind wohl so zu bezeichnen, wie das Thema einer Ausstellung 1986 in der Berliner Galerie im Prater hieß "Figur im Raum", der Mensch als Wesen in einer von ihm selbst erschaffenen Welt. Erhard Schmidt hatte sich an dieser Ausstellung beteiligt.

Seine Bilder sind kein Aufbegehren gegen Vergänglichkeit, eher sind sie Gelassenheit. Ihn einen Romantiker zu nennen, wäre ein Vorwurf. Er ist es nicht.


Erhard Schmidt - Selbstauskunft

Ich gehöre zu den Malern, die gewöhnlich von einer konkreten Bildidee ausgehen, sich zunächst kein Zufallsangebot des Ungefähren schaffen. Manches gelingt auf einen Sitz, bei anderen Bildern gibt es Umwege, Übermalungen, ein Zerstören und Wiederaufbauen, ein Vor und Zurück.

Das Stille, Verhaltene scheint das mir Gemäße, das Tonige mehr als das Kontrastfarbige, Harmonisches mehr als Dissonantes. In der Regel vermeide ich Formdeformierung, Farbüberhöhung und Effekte der Verfremdung. Bildräumlichkeit dominiert gegenüber Flächigkeit.

Meine Kunstauffassung ist weitgehend dem Sichtbaren unserer Welt verpflichtet, dabei dem Zuständlichen und Unspektakulären mehr als dem Bewegten, Aktiven, Auffälligen. Entsprechend sind Stilleben, Interieurs und Landschaften bevorzugte Subjets. Vorgefundene, reale Gegenständlichkeit wechselt mit davon abgeleiteter, erfundener mehr oder weniger realistischer Auffassung, bei gelegentlichen Ausflügen ins Unverbindlichere.

Das Interesse an der Kunst unserer Zeit ist wach geblieben. Meine Liebe gehört den alten Meistern. Das Bedürfnis, in der gegenwärtigen Malerei auch Werte klassischer Malerei bewahrt zu finden, ist nicht geschwunden.


Im neuen Lexikon "Künstler in der DDR" auf Seite 836:

Schmidt, Erhard Maler und Grafiker, *17.10.1933 in Mücheln, vor 1990 in Berlin ansässig, Studium der Kunsterziehung an der HU Berlin; seit 1959 tätig in der künstl. Lehre ebd; 1966 Diplom der KHS Berlin-Weißensee bei Walter Womacka, Mitglied des VBK - DDR ... Ausz.: 1967 Pr. Im Wettbewerb Das neue Berlin ... u.a.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Erhard Schmidt
- Zwei Frauen, 2000 Acryl/Lw., 65 x 85 cm
- Haus am Hang, 1995. Acryl/Öl/Lw., 55 x 65 cm
- Unstrut, 1994. Öl/Lw., 65 x 55 cm
- Atelierstillleben III, 2002. Acryl/Lw., 80 x 60 cm

Raute

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Thomas Richter

Vera Singer

Eine Laudatio zur Ausstellungseröffnung in der GBM-Galerie

Mit der Bitte um Pardon: Ich fasse mich kurz, auch wenn sich hier alle eine lange, gelehrte Rede wünschen sollten.

Liebe Vera, Singer, liebe Damen und Herren,
einen schönen Abend wünsche ich Ihnen. Als erstes einen Dank an Vera Singer, die Malerin und Zeichnerin, für die Kraft und die jetzt hoffentlich überstandenen Aufregungen, deren Ergebnis diese schöne Ausstellung hier ist.

Drei Gründe gibt es,wegen derer ich die Ehre habe, heute hier kurz zu reden und wegen derer ich die Angst davor überwunden habe.

Erstens: Vera kannte mich schon, als ich sie noch nicht kennen konnte, weil ich ein noch sehr kleines Baby war. Sie war Meisterschülerin an der Akademie der Künste der Deutschen Demokratischen Republik bei Max Lingner, gemeinsam mit meinem Vater. Da hatte sie schon durch Faschismus, Krieg und Nachkriegszeit sehr viel erlitten und erlebt.

Aber ich denke, sie war voller Zuversicht und berechtigter Hoffnung auf ein reiches, erfülltes Leben. Es gab in der DDR sehr gute Gründe dafür. Diese Hoffnung hatte sie mit sehr vielen anderen gemeinsam. Das machte stark und gibt, einer Künstlerin zumal, die Möglichkeit von eigenem Frohsinn und von eigener Kraft abzugeben.

Zweitens wurden Vera und ich sehr viel später dann Kollegen und haben viele Gedanken und Erfahrungen gemeinsam, bei unserer Arbeit in der DDR und in der bitteren Zeit der Konterrevolution. Wir leben noch und wir können noch arbeiten und lachen, jetzt erst recht.

Drittens stehen wir beide auf der richtigen Seite. Das ist eine sehr einfache Formulierung. Aber so einfach ist es auch.

An dieser Stelle lese ich Ihnen ein sehr kleines, ein sehr großes Gedicht vor. Obwohl, wie einige hier vielleicht wissen, ich auch für die "Junge Welt" arbeite, ist es diesmal nicht von Peter Hacks, sondern von Janis Ritsos. Vielleicht wird verständlich, warum ich es jetzt hier vortrage. Das Gedicht heißt "Einzig dies". Janis Ritsos, der große griechische Dichter, Kommunist, ja auch Zeichner sagt:

Auf der Spitze eines Streichholzes errichtet er
eine Stadt mit Häusern, Bäumen, Standbildern, Plätzen,
mit schönen Schaufenstern, mit Balkonen, Stühlen, Gitarren,
mit wahrhaftigen Einwohnern und höflichen Verkehrspolizisten
Die Züge kommen ordentlich zur richtigen Zeit
Aus dem letzten lädt man nette, kleine Marmortische für ein Lokal am Meer,
wo in Schweiß geratene Ruderer mit hübschen Mädchen
gekühlte Zitronenlimonade trinken und den Schiffen zusehen.

Ein sehr demokratisches, also kommunistisches Gedicht. Es beschreibt, denke ich, sehr genau die Welt, für die Vera Singer gearbeitet hat, auf die sie hofft. Das Gedicht ist bescheiden, schnörkellos und gut zu verstehen - und neugierig-gut gelaunt.

So habe ich Vera Singer erlebt und so auch ihre Bilder und Zeichnungen. Still und undramatisch, irgendwie aber auch resolut.

Unterbrochen durch die fragenden, aufgewühlten, sperrigen Bilder aus den letzten Tagen der DDR, hat sie zurück gefunden zur menschenfreundlichen Beobachtung der Menschen. Und das ist wahrlich nicht mehr so einfach.

Nach diesen zwanzig Jahren Gegenaufklärung und Geschichtsrevisionismus, nach dieser großen Schlacht zur Reduzierung des Menschen auf den bewusstlos sabbernden Konsumenten, könnte man meinen, auf der Straße, in der U-Bahn nur noch stammelnde Idioten und dressierten Büroaffen zu begegnen.

Aber es gibt sie: sie ältere Frau, die immer dann, wenn CIA-gesteuerte Exilkubaner vor die kubanische Botschaft ziehen, klein und zierlich, mit der Zigarette im Mundwinkel davor steht. Und in ihrem Gesicht steht geschrieben: Hier kommt ihr nicht durch.

Vera kennt diese Frau nicht, hat sie aber gezeichnet.

Es gibt sie noch, die Frischverliebten, in deren Augen nicht halbleer, halbtot das Wissen und der Wunsch nach Bausparvertrag, Familien- und Zweitwagen und - zicke, zacke - das Wort Karriere irrlichtern. Vera kennt diese beiden nicht, aber sie hat sie aufgezeichnet.

Solche Blätter kann man heute hier sehen.

Also diese Menschen gibt es noch, nein, gibt es immer. Und das sind sehr viele. Überall auf der Welt. Vera Singers Zeichnungen könnten auch in Istanbul, in Manchester oder Buenos Aires entstanden sein. Und, so wie eigentlich jeder diese Zeichnungen verstehen kann, überall, kann auch jeder seinesgleichen erkennen, im Leben der einfachen Leute. Und kann Solidarität erkennen und erlernen.

Und also war die DDR nicht der erste und nicht der letzte Versuch.

Stille und ehrliche Künstler wie Vera Singer werden immer dabei sein, bei denen, die für diese schöne Welt, von Janis Ritsos beschrieben, aufstehen und kämpfen.

Ein Wunsch von mir: Friede den Hütten - Krieg den Palästen.


Sprich nie schlecht vom Menschen. Er sitzt in dir und belauscht dich.
Jerzy Lec


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Selbstporträt Vera Singer, 2002. Mischtechnik/Papier
- Mann mit Baskenmütze, 2001. Mischtechnik/Japanpapier, 32,2 x 31 cm
- Zwei Frauen im Gespräch, 1995. Mischtechnik/Japanpapier, 43,6 x 31,2 cm
- Grashaare, Straße in Berlin, 1998. Kohle, Aquarell/Japanpapier, 36 x 31 cm
- Mädchen mit Tuch, 2002. Mischtechnik/Japanpapier, 43,5 x 27,5 cm

Raute

Personalia

Horst Bethge

Pierre Kaldor ist tot

Am 5. März 2010 starb in Paris ein Vorbild an Internationalismus und Solidarität

Pierre Kaldor ist im 98. Lebensjahr verstorben.

Anwalt für die Freiheit der Menschen, Ritter der Ehrenlegion, Teilnehmer der Resistance, Befreier des französischen Justizministeriums von Vichy-Leuten und Nazi-Besatzern 1944, Protagonist der deutsch-französischen Völkerfreundschaft, Strafverteidiger von angeklagten Führern der Befreiungsbewegung aller französischen Kolonien - von Algerien bis Vietnam -, Aktivist der Solidaritätsbewegung mit den afrikanischen Völkern, Star-Verteidiger vor Militärgerichten während des Algerien-Krieges, aktiver Kommunist, juristischer Berater von Gewerkschaften und linksregierter Kommunen in Frankreich, Beistand in vielen Berufsverbotsprozessen vor deutschen Verwaltungsgerichten, Sachverständiger im Untersuchungsausschuss der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO/ILO) in Genf, und vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg in Berufsverbotsverfahren, Verfasser zahlreicher Gutachten und Artikel zu Menschenrechtsfragen, Redner auf nationalen und internationalen Meetings, Konferenzen und Kundgebungen gegen die Berufsverbote in der BRD, Gründer und Organisator des französischen "Komitees für die Meinungsäußerungsfreiheit in der BRD", bis zu seinem Tode aktiv im Komitee zur Rehabilitierung von Ethel und Julius Rosenberg, deren Prozessakten er vom Englischen ins Französische übersetzte. Lang ist die Liste von Pierre Kaldors Aktivitäten, die er engagiert bis ins hohe Alter betrieb. Er war immer Anwalt für die Freiheit der Menschen, kein Paragraphenreiter und Winkeladvokat.

Bei den Prozessen, in denen er anwaltlich tätig wurde, ging es ihm zuerst immer um den Menschen, der vor Gericht stand, ob als Angeklagter oder Kläger. Das waren ihm nie "Fälle", das waren ihm Menschen, denen er immer Mut machte zu kämpfen, deren Widerstandsfähigkeit er förderte. So bezog er stets das persönliche Umfeld, die konkreten politischen Umstände und Zusammenhänge ein, um den subjektiven Widerstandsfaktor zu stärken, Betroffene zu ermutigen. Solidarität zu erzeugen, zu organisieren - das war ihm wichtig, durch kleine und große Gesten, durch persönlichen Zuspruch, durch Ferienaufenthalte für die Kinder oder Geschenkpakete zu Weihnachten, durch Beistehen, da sein. Das verwob er mit seinem juristischen Sachverstand, Menschenrechte und das Völkerrecht offensiv nutzend und den politischen Kern des jeweiligen Verfahrens herausarbeitend. So wurde der Spruch J.W. Goethes, den Dimitroff in einem Brief aus dem deutschen Gefängnis am 16.8.1933 zitierte und den Pierre Kaldor übersetzt hatte, zu seinem Motto: "Gut verloren - etwas verloren, Ehre verloren - viel verloren, Mut verloren - alles verloren". Und damit das den Menschen nicht widerführt, dafür arbeitete Pierre Kaldor. Sein Leben lang.

Typisch feinsinniger, intellektueller Franzose sprach er stets von "Meinungsäußerungsfreiheit", wenn wir salopp Meinungsfreiheit sagten. Koalitionsrecht nannte er "kollektive Interessenwahrnehmung", Bürger übersetzte er mit "citoyen", nicht mit "bourgeois" und Recht auf Frieden hieß bei ihm "Recht auf eigenständige, emanzipatorische Gesellschaftsentwicklung", Fortschritt übersetzte er mit "sozialem Fortschritt". Denn es ging ihm um Konkretion völkerrechtlicher Normen, nicht um deren scholastische Zitierung. Wer ihn je in einem Plädoyer oder bei einem Vortrag gehört hatte, erinnert sich an seine bildhafte Sprache, die analytische Klarheit, seinen verschmitzten, hintersinnigen Humor und seinen eloquenten Charme. Leicht fahrig die Stichwortzettel ordnend kam er auf den Punkt, der den politischen Gegner oder den Verfahrensgegner aufnötigte, auf seine Argumente einzugehen.

So vermittelte Pierre Kaldor Mut, wissend, dass dieser das Ergebnis eines solidarischen Prozesses plus messerscharfer Analyse des Sachverhaltes und der gesellschaftlichen Verhältnisse ist. Dabei bewies er auch persönlichen Mut: So, als er mit einer von seiner Frau Charlotte besorgten Strickleiter über eine 7 m hohe Gefängnismauer ausbrach - noch heute im Resistance-Museum bei Paris ausgestellt - so, als er den arroganten Vertretern der Bundesregierung vor dem Europäischen Menschenrechts-Gerichtshof entgegen trat und sich nicht das Wort abschneiden ließ.

Seinen Partnern, Achselkämpfern und GenossInnen hat er mahnend viel abverlangt: Pierre Kaldor fragte immer konkret nach Name, Adresse und Hausnummer von denen, die Freiheit und Demokratie versagen, einschränken oder aufheben. Aber er hakte auch unerbittlich nach bei denen, die Hilfe und Solidarität vermissen ließen, obwohl sie sie hätten leisten können, im Kleinen wie im Großen. Das zwang jeden dazu, aus der Anonymität der allgemeinen Repression herauszutreten. Denn die Feststellung allein, dass das kapitalistische System eben auf Ausbeutung und Entrechtung der Menschen durch den Menschen beruht, genügte ihm nicht, stimuliert diese nackte Aussage doch weder Mut, noch Widerständigkeit oder Veränderungswillen.

Wenn zahlreiche Befreiungskämpfer Afrikas, die Pierre Kaldor verteidigt hatte, später zu großen Staatsmännern ihrer Länder wurden, wenn 80 Prozent der vom Berufsverbot Betroffenen nach jahrelangem, bis zu 22 Jahre währendem, zähem Kampf erfolgreich und engagiert ihren erstrebten Beruf ausüben konnten, wenn Unzählige heute wissen, was Völkerfreundschaft konkret ist, welchen erlebbaren und erlernbaren Wert sie hat, ist das auch ein Verdienst von Pierre Kaldor.

Zu Recht geht Pierre Kaldor in die Geschichte als "Ritter der Ehrenlegion" ein, in einer Reihe stehend mit J.W. Goethe, Marlene Dietrich, Otto Hahn, Simon Wiesenthal, Daniel Barenboim, Beate Klarsfeld, J. Broz Tito, E. Zola und Eduard Manet, die diesen Ehrentitel ebenfalls tragen.

Zu ständigem Ansporn für die deutsche Linke zu gelebtem Internationalismus und praktizierter Solidarität möge die Erinnerung an Pierre Kaldor, den französischen Anwalt für die Freiheit der Menschen, werden. Die deutsche Linke hat einen Achselkämpfer verloren.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Pierre Kaldor, Frankreich. 30. Oktober 1999

Raute

Personalia

Hans-Dieter Nier

Heinz Schröder, Schöpfer des Meister Nadelöhr

Erinnerung an einen Puppenspieler

Der Autor Hans-Dieter Nie, der seine Erinnerung an eine Begegnung mit Heinz Schröder aufgeschrieben hat, kann seinen Text in diesem Heft nicht mehr lesen. Er starb im April des Jahres.

Die Stadt Schlettau ist in einer Talaue des Erzgebirges gelegen. Sie ist eine alte Stadt mit vielen Traditionen. Sie ist aber auch eine junge Stadt, die kulturelle Höhepunkte zu schaffen weiß, an die sich die Einwohner, aber auch Besucher und Gäste gern erinnern werden.

Immer im Juli fanden und finden im schönen Schlosspark rauschende Feste statt.

So war das auch damals, im Jahr 1962. Der Montag war bei diesem Parkfest immer der Tag der Kinder, das heißt, dass es am Montag immer ein Programm ganz allein für die Kinder gab.

In einer Zeit, da das Fernsehen zur alltäglichen Schaugewohnheit wurde, waren Meister Nadelöhr, Pittiplatsch, der Liiebe, Schnatterinchen und der Bobbyhund aus den Kindersendungen die eigentlichen Märchenfiguren und viel populärer als Schneewittchen oder Hänsel und Gretel. Märchenhaft erzählten sie uns ihre Wahrheiten, ohne selbst die gestrenge Lehrergestalt anzunehmen. Von diesen Figuren nahmen wir Belehrung willig an. Wir Kinder und auch unsere Eltern liebten diese Wesen aus Papiermache und Stoffresten. Für uns lebten sie, wenn auch nur fern, weit weg und eben nur von fern zu sehen. Und dann kam das Fest im Schlettauer Schlosspark. Am 9. Juli 1962 sollten unsere Lieblinge zu uns kommen.

Auf der Freilichtbühne im Park war ein großer Bildschirm gezimmert worden. Die Mattscheibe war ein riesengroßer Bogen Pergamentpapier. Und diese Mattscheibe riss entzwei. Meister Nadelöhr, der Schauspieler Eckhard Friedrichson, stieg durch den Riss in unsere Wirklichkeit. Natürlich sang er "Schnippel die schnappel die Scher, ich bin der Meister Nadelöhr". Und dabei waren auch Pittiplatsch, Schnatterinchen, Bobby, der Hund, und sogar Bummi, der Bär. Es ist eine wunderschöne Vorstellung geworden. Es gab sie also wirklich, unsere Märchenhelden. Es gab sie nicht nur im Fernsehen.

Es hätte aber auch eine große Enttäuschung werden können. Eigentlich sollte der beliebte Schneidermeister um 15:00 Uhr auf die Bühne treten. Der mit Eckhard Friedrichson geschlossene Vertrag liegt noch heute im Stadtarchiv, und der sagt genau aus: 15:00 Uhr.

Doch 15:00 Uhr tat sich nichts. Die Truppe um Meister Nadelöhr ließ auf sich warten. Mehr als tausend Menschen im Stadtpark warteten, nicht nur Kinder. Wir warteten lange. Und dann kamen sie doch noch. Pittiplatsch und seine kleinen Gefährten ließen uns nicht im Stich. Das reale Leben hatte unsere Märchenfreunde bei Gelenau in der Nähe der Bärenschänke durch eine Reifenpanne aufgehalten.

Gunda Ziller aus dem Ort hatte gemeinsam mit uns Kindern mit viel Liebe und Engagement ein Vorprogramm einstudiert. Es sollte den Alltag in einem Ferienlager, natürlich einem internationalen, widerspiegeln. Also waren internationale Gäste darzustellen. So auch Afrikaner, die von meinen dunkel geschminkten Klassenkameraden gespielt wurden. Rosemarie Bonitz, Martina Märkel, Jochen Meyer und Gerolf Otto spielten und kämpften mit dem gefährlichen Krokodil. Gerolf war dann der Held, der dem Krokodil eine Stange so zwischen die scharfen Zähne in seinem Maul steckte, dass es nicht mehr beißen konnte. Einige alte Leute von heute können immer noch das Lied singen, das zu unserem Auftritt gehörte.

Mir war die Rolle eines Lagerbabys zugedacht. Ich habe mich gesträubt. Wer will schon, wenn er noch klein ist, nicht lieber einen Großen spielen. Aber dann nahm ich die Rolle doch an, hatte aber doch noch was Großes erreicht. Ich durfte ein großes Loch im Strumpf mit auf die Bühne bringen. Auch wir Schlenauer Kinder warteten lange darauf, dass es anfing, nur ist Lampenfieber für Kinder etwas anderes, anders spürbar als bei den Erwachsenen. Also fieberten wir wahrscheinlich noch stärker als sie unserem kurzen Bühnendasein entgegen. Und dann klappte alles. Nur der Zeitplan war nicht mehr einzuhalten. So blieben also die Künstler bei uns, fuhren nicht nach Berlin zurück. Sie beschlossen, in unserem Hotel Weißes Ross zu übernachten. So konnten sie am Abend auch dabei sein, als der große Lampionumzug durch Schlettau zog. Meister Nadelöhr und Heinz Schröder mit Pittiplatsch auf dem Arm, sie zogen gemeinsam mit uns Schlettauer Kindern durch die Kleinstadt. Es war ein unvergesslicher Abschied von unseren Spielgefährten aus der Flimmerkiste.

Am nächsten Tag, bevor es für die Fernsehleute zurück nach Berlin ging, schauten der Puppenvater und sein Schauspielerkollege noch von unserem Oberwiesenthaler Fichtelberg in die Ferne.

Die Zukunft sahen sie dort wohl nicht. Dabei gab es doch schon irgendwo westwärts in Bayern einen, der Mühlfenzl hieß. Den sollte Heinz Schröder dann 1990 noch kennen lernen. Mühlfenzl sollte da das DDR-Fernsehen heimholen. Für Pittiplatsch und Schnatterinchen bedeutete das, sie wurden in den Müll geworfen. Heinz Schröder holte sich seine Figuren aus dem Gerümpelcontainer zurück, nahm sie wieder auf den Arm. In den letzten Jahren vor seinem Tod ließ er sie immer wieder lebendig werden. In kleinen Sälen, auf Dorffesten, ganz nah bei den Menschen, kein Fernsehen, ließ er sie aufleben. Er war DDR. Systemnähe, so wollte man seine Menschlichkeit, sein Schaffen für die Kinder denunzieren. Wenn das System menschlich war, war es wohl eher eine Ehrung, ein Grund stolz zu sein.


Raute

Rezensionen

Erich Hahn

Weltanschauung und Erinnerungsschlacht

Auszüge aus der gleichnamigen Broschüre des Europäischen Friedensforums epf GBM,
Berlin 2009, Nr. 58, 12 S.

Die "Erinnerungsschlacht" in ihrem 20. Jahr weist einige besondere Kennzeichen auf. Normal ist, dass der antikommunistische Hass publizistisch immer neue Kapriolen schlägt. So relativiert er unsere Niederlage - er gibt kund, wie ernst er diesen Sozialismus noch heute nimmt.

Wichtiger jedoch ist das massivere und entschiedenere Aufbegehren von DDR-Bürgern gegen die alltägliche Flut von Lügen und Verleumdungen. (...) "Ich muss in einer anderen DDR gelebt haben."

Im bewussten politischen und theoretischen Kampf gegen die geschichtspolitisch verordnete Erinnerung zeichnet sich eine neue Qualität ab. Er wird schärfer, konzentrierter, direkter. Ich denke an Bücher wie die "Klartexte" von Genossen der Kommunistischen Plattform, an Daniela Dahns "Wehe dem Sieger" oder an die "Erinnerungsschlacht" des Marxistischen Forums Leipzig. Und schließlich: Zwanzig Jahre Erinnerungsschlacht erhärten die Erfahrung, dass es nicht nur um die Bewertung dieser oder jener Vorgänge und Ereignisse eines unterlegenen Systems geht. (...) Es geht historisch-praktisch um die Etappe eines epochalen klassenmäßigen Antagonismus und ideologisch um einen grundsätzlichen weltanschaulichen Konflikt. Dazu in Thesenform:

Erstens. Da ist vor allem die formalistische Leugnung des Klassencharakters gegebener Erscheinungen, seien das die Totalitarismus-Doktrin, die Gegenüberstellung von Demokratie und Diktatur oder das Missverständnis des Kalten Krieges als ein vom Himmel gefallener anonymer Mechanismus ohne Subjekte und ohne konkrete Entstehungsgründe. (...) Eine nicht geringe Rolle spielen auch irrige Auffassungen vom Sozialismus als historischer Irrtum oder als Verfallsgeschichte von Anfang an. Auch seine Verfälschung als übergeschichtliches Ideal, als moralisches Postulat oder utopisches Wunschbild, das zwangsläufig an der menschlichen Natur scheitert (...) Erwähnt werden muss der postmoderne Relativismus, die Verkündigung von Beliebigkeit und Ungewissheit als endgültige Norm menschlicher Weltsicht.

Zweitens. Es wächst der Konsens darüber, dass die DDR in ihrem historischen Kontext gesehen werden muss. (...) Auf dem historischen Kontext dieses Sozialismus zu bestehen, bedeutet, ihn als Moment eines weltgeschichtlichen Prozesses zu begreifen, als Moment des neuzeitlichen Ringens um Fortschritt, des Kampfes gegen die kapitalistische Ausbeuterordnung, des Eintretens für eine Alternative zu den menschheitsgefährdenden Tendenzen der Kapitalherrschaft in der Gegenwart. (...)

Im Verständnis der Geschichte als objektiver, gesetzmäßiger, widerspruchsvoller Prozess, der sich über den Wechsel sozialer Formationen vollzieht, sehe ich die entscheidende theoretische Voraussetzung für eine angemessene historische Bewertung der DDR. (...)

Drittens. Geschichtliche Prozesse und Zustände sollten von ihrem historisch-praktischen Ausgangspunkt und nicht von ihrem Ende her analysiert werden. (...) Ich meine die jeweilige historische Gesamtsituation, die Summe der sie bestimmenden Tendenzen, Widersprüche, Klassenkräfte, Grenzen und Perspektiven. (...) 1917 und 1945 war der Ausgangspunkt der revolutionären Prozesse. (...) Ein tiefgreifender historischer Bruch stand auf der Tagesordnung - die Beseitigung der imperialistischen Wurzeln des Krieges. (...)

Viertens. Ein enormer Fortschritt der Geschichtsdebatte ist darin zu sehen, dass dem pausenlosen Verweis auf Defizite (...) entgegengehalten wird, dass es da auch (...) Bewahrenswertes gegeben hat. Auch dies eine Reaktion auf die zunehmend intensive Bekanntschaft mit dem gewöhnlichen Kapitalismus. (...) Ein eklatantes Beispiel für das Auseinanderreißen von Positivem und Negativen sowie die Isolierung beider gegenüber dem Ganzen ist die Zuweisung aller Fehlentwicklungen auf die SED (...) und alles Positiven auf das Wirken anonymer Kräfte oder sogar auf die Opposition gegen diesen Staat. (...)

Fünftens. Die historische Bewertung wesentlicher Prozesse und Erscheinungen der sozialistischen Realität muss die ihnen eigenen Triebkräfte und Gesetzmäßigkeiten in Rechnung stellen. (...) Es ist ein allgemeines Verfahren ideologischer Verkehrungen, den historischen und den Klassencharakter von Wertvorstellungen dadurch zu verschleiern, dass ihnen formal ein allgemeinmenschlicher Ausdruck verliehen wird.

Raute

Rezensionen

Peter Arlt

Standardwerk auf Sisyphosweg

Dietmar Eisold (Hrsg.) "Lexikon Künstler in der DDR", Verlag Neues Leben, Berlin 2010,
1088 S., Klappenbroschur mit 15 farb. Abb., ISBN 978-3-355-01761-9, 39,90 €

Eine titanenhafte Unternehmung fand ihr Ziel; ein lexikalisches Denkmal ist als Projekt der GBM denen errichtet, die mit dem Untergang der DDR in Vergessenheit zu geraten drohen, deren heutige Präsenz in die Zeit des anderen deutschen Landes zurückreicht und sich oftmals in ihm begründet. Ein gewichtiges Werk, das einen Beitrag zur Erforschung der Kunst des 20. Jahrhunderts leistet und zeigt: Die in der DDR entstandene Kunst ist "kein weißer Fleck auf der Landkarte der Weltkunst", wie Peter H. Feist sein Geleitwort überschreibt. Das Lexikon der etwa 7300 Künstler ist ein "Geschichtsbuch vieler Leben" (Wolfgang Richter) und mehr als eine Fußnote zur Geschichte. Der Kunstwissenschaftler und Journalist Dietmar Eisold (geb. 1947 in Leipzig,wo er auch studierte; langjähriger ND-Redakteur) ging erst im Alleingang, dann als Sisyphos und die Seinen, mit der von Peter Michel geleiteten Redaktionsgruppe und den Beratern und Konsultanten, ans schier übermächtige Werk. Das Buch liegt vor. Also der Stein auf dem Berg? Ja und nein. Keine Publikation ist der Sisyphosarbeit vergleichbarer als ein Lexikon, weil es eigentlich ständig auf einen erneuerten Stand gebracht werden müsste.

Selbst dieses Lexikon zu einem abgeschlossenen Gebiet wird mit der Zeit immer unvollständiger, weil nach und nach Sterbedaten und andere Informationen nachzutragen sind. Die immerwährende Mühe um Vervollständigung und der aussichtslose Kampf dabei gegen die Konkurrenz der modernen Medien drohen mit dem Garaus für den Nachfolger der Bände Hans Vollmers, dem Allgemeinen Künstlerlexikon, das bisher in 63 Bänden bis G vorliegt. Dort kann man sich also über Künstler in der DDR nur höchst lückenhaft ins Bild setzen, ebenso im Internet. Nur in Eisolds Lexikon, dessen Fülle selbst den Kenner verblüfft, kann man sich auf einen Blick informieren. Damit ist eine bewundernswerte Leistung erbracht, bei einigen unverkennbaren Probleme im Detail und in der methodischen Anlage.

Die Artikel gliedern sich bei den gut "erschlossenen" Künstlern folgendermaßen: Dem genauen Geburts- und gegebenenfalls Sterbedatum folgen biographische Angaben, nicht immer wesentliche, manchmal verzichtbare (Kurt Robbel als Ein- bis Dreijähriger in Russland), leider keine zu verwandten Künstlern; Lehrer und Schüler werden aufgelistet, desgleichen Studienreisen, Auszeichnungen, Werke, Einzelausstellungen, Ausstellungsbeteiligungen und abschließend Literatur über den Künstler, beginnend mit den Hauptstandardwerken Vollmer, Lexikon der Kunst und Kuhirts Kunst der DDR, danach monographische Schriften und Artikel. Hier kommt zurecht die Zeitschrift "Bildende Kunst" zu Ehren. Oft folgen absurde Literaturangaben: Was ist eine nicht genannte Buchmonografie (1997) zu Otto Knöpfer, könnte man meinen, gegen Lothar Lang (2002), der ihn mit einem Satz bedenkt? Was sind zwei Bücher über Ronald Paris (2004, 2008) gegen drei kurze Hinweise auf ihn bei Wolfgang Hütt (2004) oder was ist eine Habilschrift gegen NBI und FF dabei, um über W. Mattheuer nachzulesen? Die Unverhältnismäßigkeit ist ein Mangel. Werkauflistungen gehen spaltenlang oder gegen null. Bei "Gleichgewichten" wäre eine annähernde Ausgewogenheit erstrebenswert gewesen. Das Lexikon sollte sich auf Hauptwerke beschränken,verbunden mit Aussagen zur künstlerischen Konzeption und zu bevorzugten Techniken. Das erforderte nochmalige Recherche eines Kollektivs, denn es sind noch nicht "alle relevanten Quellen durchgearbeitet und ausgewertet (wurden)" (S. 10).

Der Künstlerbegriff ist historischen Veränderungen unterworfen. Richtigerweise blieben die Volkskünstler außen vor. Aufgenommen wurden Verbandsmitglieder und Künstler, die aus verschiedenen Gründen den Verband mieden oder von ihm ferngehalten wurden und schließlich aus der DDR "weggegangen" sind, wie es schon bei der Quelle Hartmut Pätzke und nun im Lexikon heißt. Das klingt so beschönigend und verharmlosend wie "entschlafen". Weil aber die Umstände so unterschiedlich waren, wäre ein sachliches "seit ... in BRD/WB/NSW" vorzuziehen.

Selbst dieses Lexikon kann nicht an der Tatsache vorbei gehen, dass das Schaffen vieler Künstler nicht mit dem Ende des Staates DDR endet und dass es ein Weiterwirken von Kunst in späterer Zeit gibt. Die weitgehende Beschränkung auf "offizielle" Literatur aus Zeiten der DDR reproduziert den mitunter bornierten Blick auf Kunst und Künstler im Lande, dem einiges entgangen ist, was zur Kunst in der DDR gehört. Das wurde früher oder später zu Tage gefördert und fehlt öfters im Lexikon, so der Brandenburger Maler Curt Ehrhardt, Mitglied der Novembergruppe, nicht des VBKD, der 1966 ins hessische Schwarz übersiedelte und nach 1990 wiederentdeckt wurde. Die oft zitierten Quellen "Kunstkombinat DDR", 1990, und "Eingegrenzt - Ausgegrenzt", 2000, reichen nicht aus. Zudem wird die Ernte künstlerischen Wirkens oft erst in Publikationen mit zeitlichem Abstand eingefahren; und manche Künstler, die bereits in der DDR tätig waren, werden erst später fassbarer. Das sind Gründe, weshalb etwa 30 Thüringer im Lexikon fehlen, darunter Karl Meusel, Alfred Hanf, Heinz Scharr, Eva Bruszis. Das kann die fälschlich vereinnahmte Renée Sintenis nicht ausgleichen.

Das geniale, makabre Werbemotto zum Buch liefert ein Zitat von Sir Alec Guinness: "Vier Zeilen in einem Lexikon sind mehr wert als der schönste Grabstein."

Hoffnung auf viele Abnehmer und eine zweite Auflage. Sisyphos zur Überarbeitung ans Werk!

Raute

Rezensionen

Klaus Eichner

Befragung einer Behörde

Werner Großmann/Wolfgang Schwanitz (Hrsg.): "Fragen an das MfS - Auskünfte über eine Behörde",
edition ost, Berlin 2010, 398 S., ISBN 978-3-360-01813-7, 18,50 €

Pünktlich zum 60. Jahrestag der Bildung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR erschien im Februar 2010 im Verlag edition ost ein Sammelband mit "Auskünften über eine Behörde" unter dem Titel "Fragen an das MfS". An diesem Band haben 25 ehemalige Mitarbeiter des MfS mit fundierten Beiträgen mitgearbeitet.

Seit Erscheinen des zweibändigen Werkes "Die Sicherheit" im Jahre 2002 waren durch die Besucher bei Buchvorstellungen und Podiumsgesprächen viele Fragen aufgeworfen worden. Es war auch zu erkennen, dass nicht alle Sachargumente des ersten Werkes akzeptiert worden waren, manches von den Lesern nicht oder nur ungenügend verstanden wurde. Nicht alle Argumente waren so stringent und gingen auf die Interessen der Leser in einem Maße ein, wie es für ein solches komplexes Thema notwendig gewesen wäre.

Besonders bei jungen Lesern fehlte oftmals das Verständnis für historische Zusammenhänge.

Dazu kam, dass dieses damalige Werk doch vorwiegend in der etwas trockenen, bürokratischen Sprache, die sich bei vielen Mitarbeitern des MfS eingeprägt hatte, geschrieben war, was das Verständnis nicht unbedingt erleichterte.

Damit und mit der fortwirkenden, meist konträren Diskussion zum Komplex "Ministerium für Staatssicherheit der DDR" in der Öffentlichkeit ergab sich die Notwendigkeit eines neuen, anderen Herangehens an dieses Thema.

So entstand der Gedanke, die Fragen aus den öffentlichen Diskussionen, auch die kritischen und diffamierenden Vorwürfe an das MfS aufzugreifen, thematisch zu bündeln und die kompetente Sicht von Insidern dazu öffentlich zu präsentieren. Ganz gezielt haben die Autoren dabei an die Interessenlage der jüngeren Generation gedacht. Den von der Birthler-Behörde und anderen meinungsbildenden Institutionen faktisch erzwungen Ansatz für eine Darstellung der Geschichte der DDR, reduziert auf Repressionsgeschichte und eine entstellte Darlegung der Rolle des MfS, sollten einige historische Wahrheiten entgegengestellt werden.

Mit rund 200 Fragen in 17 Themenkomplexen wird ein breites Spektrum, sowohl die historische Zeitspanne betreffend als auch thematisch sehr umfassend, abgedeckt. Dabei weichen die Autoren auch keinen unangenehmen bzw. provokativen Fragen aus und äußern sich deutlich kritischer und selbstkritischer als in manch anderen der bisherigen Publikationen ehemaliger Mitarbeiter des MfS.

Diese kritische Sicht und ein ansprechender Sprachstil machen das Buch für viele lesenswert. Wer ernsthaft zur Geschichte des MfS forschen will, kommt nicht umhin, dieses Werk mit zur Kenntnis zu nehmen.

Die Bandbreite der Themen reicht von der Frage nach der Notwendigkeit von Geheimdiensten im Sozialismus, über die Rolle der Sicherheitspolitik der SED und ihren Einfluss auf die Tätigkeit des MfS bis hin zu den internationalen Aufgaben und Kontakten des Ministeriums. Breit behandelt werden die einzelnen Aufgabenschwerpunkte der inneren Abwehrarbeit und einige ausgewählte Arbeitsbereiche der Aufklärung durch die Hauptverwaltung A des MfS. In vielfältiger Form wird eine differenzierte Sicht auf die sogenannten Opfer, auf die Funktion der "Oppositionellen" in der DDR und ihre Bearbeitung durch das MfS dargeboten.

Leider sind aber auch einige Antworten auf schwierige Fragestellungen noch zu flach und hätten eine tiefere kritische Wertung erfordert. Das betrifft neben anderen Aussagen z. B. den Komplex der Aufklärung und operativen Bearbeitung von Anzeichen der Vorbereitung des illegalen Verlassens der DDR. Die Aussage, dass das MfS für diese Delikte lediglich zuständig war, wenn westliche Stellen, etwa Schleuserorganisationen, beteiligt waren (S. 44), dürfte der Praxis in der Tätigkeit vieler Mitarbeiter vor Ort widersprechen. Das betrifft auch die in den letzten Jahren erfolgten Veränderungen in der Funktion der Postkontrolle. Ursprünglich zur Aufklärung von Geheimdienstverbindungen eingerichtet, tendierte die Arbeit dieser Diensteinheit des MfS hin zu deutlich mehr Informationsbeschaffung über die politisch-ideologische Lage in der Bevölkerung der DDR.

Die ersten Reaktionen von Lesern weisen die Autoren auf diese und einige andere Schwachstellen in der Argumentation hin und werden Anlass sein, für eine Neuauflage noch einige Veränderungen in den Texten vorzunehmen, wie es auch zum Abschluss des Buches von den Autoren offeriert wird.

Wenn man vom Durchschnittsalter der Herausgeber und Autoren ausgeht, dürfte dieser Band wohl eines der letzten komplexen Darstellungen zu diesem Thema aus der kompetenten Sicht von Insidern darstellen.

Es bleibt zu hoffen und zu wünschen, dass die "Fragen an das MfS" sich gegenüber der Omnipotenz der Verzerrungen und Diffamierungen aus den Federn von Autoren der Birthler-Behörde und anderen berufsmäßigen Verleumdern der Geschichte der DDR bei allen ernsthaft Interessierten behaupten werden. Vielleicht auch erst in späteren Generationen.


Hofft! Hofft! Hofft, Ihr Elenden! Keine unendliche Trauer,
keine unheilbare Leiden, keine ewige Hölle!
Victor Hugo

Raute

Rezensionen

Klaus Georg Przyklenk

Erfahren, erinnert, gewusst

Zwei Bücher aus dem GNN-Verlag:

Hanfried Müller "Erfahrungen, Erinnerungen, Gedanken", Schkeuditz, 2010,
brosch., ISBN 978-3-89819-314-6, 15,00 €

Hans Fricke "Ein feine Gesellschaft - Jubiläumsjahre und ihre Tücken", Schkeuditz, 2010,
brosch., ISBN 978-3-89819-341-2, 15,00 €

In unseren Regalen steht, seit Jahren wachsend, eine Gruppe von Büchern, ausschließlich Biografien und Memoiren. Alphabetisch geordnet reicht das von der "Historie von Alexander dem Großen" und den "Reden des Präsidenten der Republik Chile Salvador Allende Gossens" bis zur Biografie von Klara Zetkin. Da stehen auch Heinz Hoffmann "Moskau Berlin", von Kleinschmidt "Ulrich von Hutten", von Bloch "Der Prager Golem", also das Leben des Rabbi Löw, von Brachvogel "Robespierre" und von Mader der "Dr. Sorge-Report".

Die letzten Jahre haben die Zahl dieser erinnerten Geschichtsschreibungen besonders stark wachsen lassen. Das Bewusstsein vieler Bürger der untergegangenen DDR, nicht umhergetriebener Staub der Geschichte gewesen zu sein, sondern vielmehr als Subjekte, als Gestalter an einer Entwicklung Beteiligter, hat viele bewogen, ihren Anteil an Siegen oder Niederlagen zu prüfen. Ergebnis sind viele, in unterschiedlichen, aber natürlich ausschließlich linken Verlagen veröffentlichte Niederschriften. Sie könnten eigentlich alle so überschrieben sein wie Hanfried Müllers "Erfahrungen, Erinnerungen, Gedanken". Geht es doch in der Regel nicht um das Private, sondern um das Exemplarische der eigenen Existenz unter den gesellschaftlichen Bedingungen, die die Autoren oft selbst beeinflusst, mitgestaltet, oft sogar auch bestimmt haben.

Hanfried Müller (1925-2005) hätte seine Niederschrift auch "Ein Ketzerleben" nennen können, das Leben eines Christenmenschen gegen die Amtskirche. Seinem Gott lastete er nicht das Schicksal der Menschheit an. Ihm war der Mensch nicht das geknechtete Wesen ewig vorbestimmter Zwänge, sondern Schöpfer seiner Geschichte. Da war er dicht am marxistischen Denken und sagte von sich: "Von Außen gesehen würden viele meinen Weg als einen solchen von West nach Ost, einige etwas treffender als einen solchen von der Kirche zur Welt beschreiben. Ich selbst sehe ihn (...) als die Entwicklung eines reaktionären Antinazis zu so etwas wie einem Kommunisten".

Als er 2005 starb, hatte er diesen Lebenslauf ohne Beirrung vollendet. Für ihn gab es keine Wende, keine Kehrtwende. In seinem Buch, das er mit einem eigenen Brief vom 26. Mai 1945 an seine Mutter beginnt, schreibt der kriegsgefangene Gefreite Hanfried Müller aus Neapel: "Ich muss bekennen, dass ich mich zuerst befreit gefühlt hab ... die Gedankenfreiheit ist etwas so lang Entbehrtes, Köstliches, dass ich den Stacheldraht gar nicht sehe."

Das Buch endet mit Kapitel IV "Abend- oder Morgenröte, die Ambivalenz der Jahre 1967-1973". Ein V., VI. und VII. Kapitel, schon geplant, sind nicht mehr geschrieben worden. In ihnen hätte Hanfried Müller seine Antworten gegeben auf die Fragen "Konterrevolution und/oder Zusammenbruch" und "Umstrittene Revolutionsanalogien - Sozialismus Weg oder Ziel?"

Doch auch die Zeit bis in die frühen 70er Jahre ist voller, wie wir rückblickend sagen müssen, entscheidender Ereignisse. Hanfried Müller, da schon seit 1963 Theologieprofessor an der Humboldt-Universität, vertritt ein Christentum, dass seinen ursprünglichen Zielen, den Unterdrückten und Mühseligen der Antike Stimme und soziale Gemeinschaft zu geben, mehr verpflichtet ist, als dem der historischen Klassengesellschaften, das Klassenherrschaft rechtfertigt und Duldsamkeit gegenüber dem Klerus und den weltlichen Herrschern zu garantieren hatte.

Das war dann allerdings schon eine Aufgabe, für die er in der Kirche selbst nur eine begrenzte Zahl von Freunden fand. Diese Auseinandersetzungen, also die innerkirchlichen, werden vielfältig und in scharf formulierten Sätzen vorgetragen. So sind "gerade DDR-Synodale die Mehrheitsbeschaffer für den Militärseelsorgevertrag ­... (nur weil sie mehrheitlich dafür stimmten, konnte er in Kraft treten)".

Diese Spaltung der evangelischen Kirche in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR, ja später diese Spaltung in der sich "Kirche im Sozialismus" nennenden Glaubensgemeinschaft bleibt dann über alle Jahre erhalten.

Menschen wie Professor Müller bleiben das Feindbild aller restaurativen Kräfte in der evangelischen Kirche. Ja, er wird bespitzelt, aber eben nicht vom MfS. In seinen Vorlesungen, die von 1963-1967 von konservativen Theologen total boykottiert wurden, sitzt oft nur ein junger Mann. Er denkt, einer, der wirklich hören will. Es ist aber nur einer, der sehen will, wer da noch kommt und eigentlich nicht kommen dürfte. Ja, weil der Herr Professor doch so etwas wie ein Ketzer ist, wird er sogar bei einer Vortragsreise nach Bückeburg durch die BRD-Behörden des Landes verwiesen, gestempelt und gesiegelt.

Alle historischen Daten, 1956 Ungarn, der 13. August 1961 und selbstverständlich Prag im Jahr 1968 finden im Text nicht nur Erwähnung, ihre spezifisch kirchenpolitischen Aspekte werden mit großer Deutlichkeit dargestellt. 1968 ist er Teilnehmer der Christlichen Friedenskonferenz: "Was mir in Marianske Lazne begegnet war ... war eine allgemein sichtbare, unverhohlen antikommunistische Euphorie, die sich nicht nur ihres künftigen Sieges sicher schien, sondern sich in aller Öffentlichkeit gebärdete, als habe sie schon gesiegt." Er erlebte 1968 schon die Abkehr der Christlichen Friedenskonferenz von ihrem Gründungskonsens. "Wie einst, so jetzt nicht minder vergiftend ist (die Religion) eine scheinimmanente Sozialdemagogie als falsche Widerspiegelung mit Vernebelungscharakter, Trostcharakter, Unterdrückungscharakter und Protestationscharakter."

So schreibt kein Christ, der es in der Kirche zu was bringen will. Und was er schreibt, steht jahrelang in den "Weißenseer Blättern", ist ihr Tenor.

Der da schrieb, war ein Ketzer, aber eben kein protestantischer Konterrevolutionär.

Auch das zweite Buch aus dem GNN-Verlag fügt sich in die Reihe unseres Memoirenregals: "Eine feine Gesellschaft, Jubiläumsjahre und ihre Tücken". Eine Erfahrungswelt ist dargestellt, also nicht so sehr die Frucht langjähriger Archivarbeit. Die Fakten kommen aus dem Alltag, ja sie sind auch aus den Medien gewonnen. Was sie auszeichnet, ist der genaue Blick des Verfassers. Denn selbstverständlich ergibt Medienkonsum nach der Maßgabe BILD Dir Deine Meinung kein Weltbild, das auch nur von Weitem der Realität nahe kommen könnte. So ist denn der Titel "Feine Gesellschaft" alles andere als ein Hinweis darauf, dass es tatsächlich eine feine Gesellschaft geben könnte, außer als Satire.

Die Jubiläen, die von den Regierenden vorbedacht und zweckmäßig zum Feiern in den Kalender gestellt werden, sind es gar nicht, die der Autor meint. Er sucht andere Daten, z. B. die nach 1945 erstmalige Rückkehr deutscher Soldaten an die Stätten, die die faschistische Wehrmacht mal besetzt hatte. Oder das erste Jubiläum einer von deutschen Soldaten mitverübten Aggression. Auch die erstmaligen Luftangriffe, die erstmaligen Panzerattacken und schließlich auch erstmalig, die ersten Gefallenen. Ein Jubiläum hat der Autor selbst beigesteuert. Vor 20 Jahren, am 25. September 1990, erfuhr er, wie die damalige SPD-Fraktion der Volkskammer durch die CDU zur Zustimmung zum Einigungsvertrag erpresst wurde. Es ging um Bodenreformland, das sonst infrage gestellt werden sollte.

Es war also die persönliche Kenntnis, die den Autor nicht ruhen ließ. Er war beteiligt an der Geschichte. Die DDR hat diese Generation von bewusst Handelnden hervorgebracht. Jetzt stehen uns ihre Erfahrungen zur Verfügung. Ja, auch Erfahrungen einer Niederlage lassen uns lernen.

Raute

Marginalien

Echo

Zum Beitrag H. Schneider "Wie 'Bürgerrechtler' ..." in ICARUS 1/2010:

Es war die sozialdemokratische Entspannungspolitik unter der Führung von Brandt und Bahr, die den Weg für Helmut Kohl ebnete (...) Die Hoffnung auf Frieden blendete derart, dass man nicht erkannte, dass Wandel durch Annäherung wortwörtlich gemeint war. Dieses Konzept hatte Erfolg. Doch Brandt und Bahr waren nicht dessen Erfinder. Bereits im Frühjahr 1961 wurde im US-State Department (...) ein entsprechendes Strategiepapier ausgearbeitet. (...) Was in Washington ausgetüftelt wurde, setzten Sozialdemokraten gemeinsam mit Liberalen um, als sie 1969 an die Regierung kamen (...) Gleichzeitig ging die militärische Bedrohung weiter. Die sozialistischen Länder in Europa wurden buchstäblich totgerüstet. Hinzu kam, dass sich die Führung der regierenden kommunistischen Parteien der sozialistischen Länder immer mehr von den Massen entfernte. Die Arbeiterklasse fühlte sich durch ihre Führung nicht mehr vertreten. Soziale Sicherheit galt als selbstverständlich und nicht verteidigenswert. So kam die Krise schleichend. (...) In Osteuropa ist der Kapitalismus in seiner neoliberalen Form zurückgekehrt. Die DDR gibt es nicht mehr. Ist das das Verdienst der Bürgerrechtler? (...)

Petra Reichel, Bad Kreuznach


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Gestatten Sie mir eine kleine Ergänzung zum Beitrag von Irene Eckert in ICARUS 1/2010:

Die Autorin erwähnt in ihren Anmerkungen Hewlett Johnsons Buch "The Socialist Sixth of the World". (...) Bernhard Kellermann äußerte über das Werk: "Mr. Johnson ... begnügte sich keineswegs mit der Zeugenschaft flüchtiger Journalisten, sondern in allen Fällen, da er nicht persönliche Erfahrungen sammeln konnte, führte er die Aussagen prominenter Persönlichkeiten von gründlicher Kennerschaft an. Ohne Zweifel bedeutet "Ein Sechstel der Erde" eines der zuverlässigsten Zeugnisse über Sowjetrussland. Vom Anfang bis Ende fasziniert das Buch."

Wolfgang Metzger, Berlin


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Das Lexikon "Künstler in der DDR" ist ein mächtiges, gültiges Werk geworden. Und wenn ich darin blättere, ist es, als hörte ich den Gesang meiner Zeitgeschichte. Welch eine Leistung! Ich bedanke mich mit Respekt und Bewunderung bei Dietmar Eisold und den besten Kunstkennern der DDR, die so schnörkellos, so unglaublich präzise und einfach Namen an Namen reihten und dabei mehr als eine alphabetisch geordnete, für mich lückenlose Aufzählung - frei von jeglicher Spartenklitterung - in diesem Geschichtswerk verdichteten. Es fasst auf einmalige Weise die Stimmen zusammen und lässt ohne Rücksicht auf den aktuellen Mainstream den kulturellen Reichtum der DDR erahnen. Künftige Generationen werden es dem Autor und den zahlreichen Mitarbeitern danken. Diese Zeit kommt noch und wird die kleinlichen Kritiker, die Biografie-Bereiniger, Zeichenzähler und Wortklauber ausbremsen. Danke.

Renate Ahrens, Schmuckgestalterin, Bad Doberan


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Aus dem Gästebuch der Grundigausstellung in der GBM-Galerie in der Berliner Weitlingstraße

Eine große Freude, diese Ausstellung von Hans und Lea Grundig zu sehen.
Und was da in Greifswald geschieht, dazu kann man nur sagen "Pfui Teufel!"

8.2.2010
(Unterschrift)


Als Kunstfreundin und Antifaschistin, aus Dresden stammend, habe ich die beiden Grundigs schon als junge Frau kennen und lieben gelernt. Ihr Widerstand in der braunen Barbarei war bewundernswert. Ihr Lebenslauf und viele Mitstreiter des Künstlerpaares habe ich aus dem Buch "Zwischen Karneval und Aschermittwoch" von Hans Grundig kennengelernt. Das Buch, 1957 erschienen und im Dietzverlag 1982 neu aufgelegt, möchte ich hier wärmstens empfehlen.

10.2.2010
(Unterschrift)


"... und nicht über und nicht unter
andern Völkern wolln wir sein,
von der See bis zu den Alpen,
von der Oder bis zum Rhein."
B. Brecht "Kinderhymne"

Hans und Lea Grundig haben in ganz besonderer künstlerischer Art für die beste Seite des Menschen gekämpft, die aufrechte, warme, solidarische Fähigkeit des Menschen.

10.2.2010
(Unterschrift)


Danke für die Ausstellung. Die aktuellen Vorgänge um die Grundig-Stiftung zeigen einmal mehr, Deutschland ist wieder so weit und viele schauen weg.

8.2.2010
(Unterschrift)

Raute

Marginalien

Ein paar kleine Wahrheiten

Humanitäre Katastrophen gibt es nicht. Denn humanitär heißt: menschenfreundlich, wohltätig. Es gibt aber humanitäre Politiker, die eine Katastrophe sind.
Daniela Dahn


Die Verirrungen der Jugend sind weder durch das Temperament noch durch die Sinne, sondern durch vorgefasste Meinungen bedingt.
Jean-Jacques Rousseau


Was du innig liebst, ist beständig. Der Rest ist Schlacke.
Was du innig liebst, ist dein wahres Erbe.
Ezra Pound


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Eine Bitte Horst Schneiders aus Dresden

Sehr geehrte Leser des ICARUS!
Ich bitte um Ihre Hilfe für die Fertigstellung einer Recherche. In den achtziger Jahren entstand in der DDR eine Opposition von Bohley bis Weiß, die sich selbst als "Bürgerrechtler" bezeichnete. Eine ihrer wichtigsten Losungen war in Eppelmanns Berliner Appell vorgegeben worden: Schwerter zu Pflugscharen! Frieden schaffen ohne Waffen!

Die Frage ist: wer hat gelesen oder gehört, dass Bürgerrechtler auch nach 1990 diese Losung propagiert haben? Eppelmann jedenfalls nicht.

Vermutlich ist der Schluss unwiderlegbar: die Losungen dienten allein dazu, die DDR zu destabilisieren und wehrlos zu machen.

Informationen bitte an:
Hort Schneider, Salzburger Straße 6c, 01279 DRESDEN

Ich danke im Voraus.

Raute

Marginalien

Aphorismen

Die weißen Flecken sind von den Landkarten verschwunden. Sie siedelten in die Geschichtsbücher über.
Jerzy Lec

Eine wahrhaft allgemeine Duldung wird am sichersten erreicht, wenn man das Besondere der einzelnen Menschen und Völkerschaften auf sich beruhen lässt, bei der Überzeugung jedoch festhält, dass das wahrhaft Verdienstliche sich dadurch auszeichnet, dass es der ganzen Menschheit angehört.
Johann W. von Goethe

Niemand urteilt schärfer als der Ungebildete. Er kennt weder Gründe noch Gegengründe und glaubt sich immer im Recht.
Ludwig Feuerbach

Die Uhr schlägt. Alle.
Jerzy Lec

Meine Güte, morgen werden wir ohnehin alles Lesenswerte nur noch in Antiquariaten und Bibliotheken auftreiben.
Botho Strauß

Wer Besitz anhäuft, der will dauern, der findet sich nicht damit ab, dass alles nur seine Zeit hat.
Siegfried Lenz

Wir werden ihnen nur ein bisschen mit dem Finger drohen, sagte er und legte diesen an den Abzug.
Jerzy Lec

Der größte Teil der kulturellen Produktion der letzten Jahrzehnte wäre durch einfaches Turnen und zweckmäßige Bewegung im Freien mit großer Leichtigkeit zu verhindern gewesen.
Bertolt Brecht

Ich bin mir nicht sicher, mit welchen Waffen der dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im vierten Weltkrieg werden sie mit Stöcken und Steinen kämpfen.
Albert Einstein

Es gibt Leute, die können alles glauben, was sie wollen. Das sind glückliche Geschöpfe.
Georg Christoph Lichtenberg

Ein paar Gedanken wird man mit ins Grab nehmen müssen. Auf alle Fälle.
Jerzy Lec


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

SINNVOLLE VERWENDUNG DER STAATLICHEN FINANZHILFE ....

Ralf-Alex Fichtner, 2009, Lavierte Finelinerzeichnung, 14,8 x 21 cm

Raute

Marginalien

Festveranstaltung

im Haus der russischen Wissenschaft und Kultur am 7. Mai 2010

Eingeladen haben die Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e.V. GBM, das Europäische Friedensforum epf, das Ostdeutsche Kuratorium von Verbänden, das ANTI-EISZEITKOMITEE


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Die Bühne mit einem eingespielten Dokumentarfoto

Prof. Dr. Wolfgang Richter, der Bundesvorsitzende der GBM, am Pult mit der großen Neun, dem 9. Mai, der in Moskau an die Siegesparade erinnert

Käthe Reichelt aus dem Ensemble der Künstler Kristine Walther, Laura Zarina, Daniel Bruder und Ernst-Georg Schwill, die Brecht-Texte vortrugen

Nikolai I. Chikhachev, Kapitän 1. Ranges, Veteran des Großen Vaterländischen Krieges, bei seiner Ansprache

Raute

Icarus

Kein
tiefblaues Firmament
aus dem
übermütig
der homo ludens
fällt.
Homo faber
stürzt
gescheitert
an Stürmen
an Wettern
zerbrechenden Regenbögen
unterlegen
im Kampf
in der Erhebung.

Klaus Georg


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Erhard Schmidt "Icarus" 2010 - Kreidezeichnung 29,8 x 21,2 cm

Raute

Unsere Autoren:

Peter Arlt, Prof. Dr. - Kunsthistoriker, Gotha
Horst Bethge - Pädagoge, Hamburg
Irene Eckert - Studienrätin, Berlin
Klaus Eichner - Diplomjurist, Lentzke
Erich Hahn, Prof. Dr. - Philosoph, Berlin
Ernst Jager - Bauing., Bernau
Adolf Eduard Krista - Diplomjurist, Worbis
Peter Michel, Dr. - Kunstwissenschaftler, Berlin
Hans-Dieter Nier † - Dipl. oec., Annaberg
Anny Przyldenk - Kunsterzieherin, Woltersdorf
Klaus Georg Przyklenk, Dr. - Icarusredakteur, Woltersdorf
Brigitte Queck - Gesellschaftswissenschaftlerin, Potsdam
Thomas Richter - Maler und Grafiker, Berlin
Wolfgang Richter, Prof. Dr. - Philosoph, GBM-Vorsitzender, Wandlitz
Gregor Schirmer, Prof. Dr. - Völkerrechtler, Woltersdorf
Horst Schneider, Prof. Dr. - Historiker, Dresden
Werner Schneider, Dr. - Wirtschaftswissenschaftler, Berlin
Erhard Thomas, Dr. - Mediziner, Berlin
Siegfried Wegner - Dipl.-Ing., Woltersdorf


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Titelbild:
Klaus Georg "Die Grundfesten der freien Marktwirtschaft", 1976, Montage 33,3 x 25 cm
2. Umschlagseite:
Ronald Paris, Ikarus, 1995. Federzeichnung
Rückseite des Umschlages:
Erhard Schmidt "Ikarus", 2010, farb. Kreidezeichnung 28,8 x 21,1 cm

Abbildungsnachweis:
Archiv Michel, S. 34-36
Archiv Przyklenk, S. 4, 9, 14-16, 25, 27, 29, 37-39, 46
DFF, S. 44
Irene Eckert, S. 19-20
Ralf Alex Fichtner, S. 52
GBM, S. 17
GNN Verlag, S. 50
Ernst Jager, S. 23
Erhard Schmidt, 4. US
Gabriele Senft, S. 42 und 3. US
Vera Singer, S. 39-41
Verlag edition ost, Berlin, S. 47
Siegfried Wegner, S. 33

Raute

Impressum

Herausgeber: Gesellschaft zum Schutz von
Bürgerrecht und Menschenwürde e.V.
Weitlingstraße 89, 10317 Berlin
Telefon: 030/5578397
Fax: 030/5556355
Homepage: http://gbmev.de
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V.i.S.d.P.: Wolfgang Richter
Begründet von:
Dr. theol. Kuno Füssel,
Prof. Dr. sc. jur. Uwe-Jens Heuer,
Prof. Dr. sc. phil. Siegfried Prokop,
Prof. Dr. sc. phil. Wolfgang Richter

Redaktion:
Dr. Klaus Georg Przyklenk
Puschkinallee 15A, 15569 Woltersdorf
Tel.: 03362/503727
E-Mail: annyundklausp@online.de

Layout: Prof. Rudolf Grüttner
Satz: Waltraud Willms

Redaktionsschluss: 17.5.2010

Verlag:
GNN Verlag Sachsen/Berlin mbH Schkeuditz
ISBN 978-3-89819-337-3

Die Zeitschrift ICARUS ist das wissenschaftliche und publizistische Periodikum der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e.V.; sie erscheint viermal jährlich und kann in der Geschäftsstelle der GBM, Weitlingstraße 89, 10317 Berlin abonniert bzw. gekauft werden. Ihr Bezug ist auch unter Angabe der ISBN (siehe weiter oben) über den Buchhandel möglich. Der Preis beträgt inkl. Versandkosten pro Heft 4,90 EUR für das Jahresabonnement 19,60 EUR.

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Quelle:
ICARUS Nr. 2/2010, 16. Jahrgang
Herausgeber:
Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. August 2010