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GRUNDRISSE/038: zeitschrift für linke theorie & debatte, sommer 2013


grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
nr. 46, sommer 2013




Inhaltsverzeichnis

Redaktion: Editorial / Call for Papers

Schwerpunkt: Scheiterhaufen, Schulden, Konterrevolution

Roman Danyluk:
Diskussionsbeitrag. Ein Einwurf zur Rätediskussion

Silvia Federici:
Caliban und die Hexe. Interview mit Ralf Ruckus

Nadja Rakowitz:
Austeritätspraxen - Über gesundheitliche Nebenwirkungen der Troika-Politik in Griechenland

Stefan Hölscher:
Das ZDF-Studio im neuen Design oder: Wie die Mitte besser sieht

Ioannis Kompsopoulos und Ioannis Chasoglou:
Griechenland und die EU: Autoritäre positive Integration und der griechische Nationalstaat

Karsten Schubert:
Foucaults Verflüssigung. Postfundamentalistische Kritik und normative Institutionentheorie

Gabriele Michalitsch:
Regierung der Freiheit: Die Formierung neoliberaler Subjekte

Philippe Kellermann:
Buchbesprechungen: Felix Schnell: Räume des Schreckens, Martin Baxmeyer: Das ewige Spanien

Martin Birkner:
Buchbesprechung: Michael Hardt / Antonio Negri: Demokratie! Wofür wir kämpfen.

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Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

Wir haben für diese Ausgabe der grundrisse das Motto Scheiterhaufen, Schulden, Konterrevolution gewählt, da viele der Artikel diesen Begriffen zugeordnet werden können. So das Interview mit Silvia Federici zu ihrem soeben ins Deutsche übersetzen Buch Caliban und die Hexe. Nadja Rakowitz sowie Ioannis Kompsopoulos und Ioannis Chasoglou informieren in ihren Beträgen über Aspekte der Umwälzungen in Griechenland und ihre dramatischen Folgen für die Lebenslage der überwiegenden Mehrzahl der Menschen in diesem Land. Gabriele Michalitsch analysiert die ideologischen Aspekte zur Durchsetzung neoliberaler Formierungen.

Etwas außerhalb des Schwerpunkts sind die Artikel von Stefan Hölscher und Karsten Schubert angesiedelt. Hölscher zieht einige Schlüsse aus der neuen Ästhetik des ZDF Fernsehstudios, Schubert beschäftigt sich mit einigen Problematiken, die nach der Ansicht des Autors das Werk von Foucault durchziehen. Ein Diskussionsbeitrag von Roman Danyluk knüpft an die letzte Ausgabe an, in der unter anderem das Thema der Räte thematisiert wurde.

Zum Abschluss noch ein Ersuchen. Bitte unterschreibt auf dem unten angeführten Link für das bedingungslose, garantierte Grundeinkommen! Es handelt sich dabei NICHT um eine der vielen Sammlungen im Internet, sondern um ein hoch offizielles Instrumentarium der EU. Wenn diese Initiative EU-weit über 1.000.000 Unterschriften erreicht, muss sich die EU Kommission damit beschäftigen. Ihr benötigt zum Unterschreiben entweder eure Reisepass- oder eure Personalausweisnummer. Alle EU BürgerInnen können unterschreiben.
https://ec.europa.eu/citizensinitiative/REQ-ECI-2012-000028/public/

Eure grundrisse Redaktion

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Call for Papers: Who cares

Für die Herbstausgabe der Grundrisse ist als Schwerpunkt das Thema Care/Sorge geplant. Diese Thematik umfasst nicht nur die Reproduktion, insbesondere der Ware Arbeitskraft, sondern auch den wesentlich umfassenderen Bereich der direkten und indirekten, bezahlten und unbezahlten Beziehungsund Sorgearbeit, der Hausarbeit, der affektiven und relationalen Arbeit an den Subjekten bzw. zwischen den Subjekten. Wir wollen den Bereich Care/Sorge ins Zentrum der Betrachtung und Diskussion stellen. Es kann keine Emanzipation geben, ohne die geschlechtlichen Asymmetrien zu beseitigen.

Auch und gerade weil die Redaktion der Grundrisse derzeit sehr "männlich" ist, wollen wir uns diesem Thema widmen. Care/Sorge ist kein Thema, das (ausschließlich) Frauen etwas angeht, sondern eben alle. Die Entwertung dieses Bereiches ergibt sich nicht nur aus einer konservativen Sicht der Geschlechterverhältnisse, sondern auch aus der Ignoranz in vielen linken Diskussionen. Darum ist es unbedingt notwendig Ergebnisse feministischer Wissensproduktion in die Betrachtungen einzubeziehen. Wir laden Euch herzlich ein, uns Beiträge zu diesen Fragestellungen (und natürlich auch darüber hinaus) bis zum 31. August 2013 an die E-Mail Adresse der Redaktion (redaktion@grundrisse.net) zu schicken. Vorteilhaft wären Essays ohne viele Fußnoten, nicht mehr als 35.000 Zeichen lang.

Eure Grundrisse Redaktion

PS: Bitte die Texte im Word-Format (doc), einzeilig, Flattersatz und ohne zusätzliche Formatierungen (z. B. automatische Aufzählungen, Einrückungen, usw.) zu verfassen.

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Roman Danyluk:

Diskussionsbeitrag: Ein Einwurf zur Rätediskussion

"Unser Leben ist der Mord durch Arbeit,
wir hängen 60 Jahre lang am Strick und zappeln,
aber wir werden uns losschneiden."

(Georg Büchner, in: Dantons Tod, 1835)


Die in der letzten Ausgabe der Grundrisse (Nr.45 / Frühjahr 2013) veröffentlichten Artikel von Stefan Junker und Ewgeniy Kasakow zur Geschichte und Funktion von Räten als politische Alternative zum bürgerlichen Parlamentarismus, sind ermutigende Beispiele für eine dringend erforderliche Diskussion innerhalb der emanzipatorischen Linken um die Form einer künftigen Gesellschaft jenseits kapitalistischer Logik und bürgerlicher Verfasstheit.

Seit dem ersten proletarischen Experiment einer befreiten Gesellschaft während der Pariser Kommune 1871 und zahlreichen weiteren proletarischen und bäuerlichen Revolutionen in über 140 Jahren, liegen genug Erfahrungen über die "endlich entdeckte politische Form der Befreiung der Arbeit" (K. Marx) vor. Insofern gebühren den Beiträgen von Junker und Kasakow Beachtung und noch mehr eine eingehende Beschäftigung seitens der Linken, die größtenteils nach wie vor traditionellen und in meinen Augen überholten Vorstellungen über die Emanzipation des Menschen nachhängen. Deswegen möchte ich folgende (solidarische) Kritik an den beiden Beiträgen vortragen.

Dabei gilt es zunächst festzuhalten, dass in allen (spontanen) Revolten, Aufständen und Erhebungen der Werktätigen und Studierenden bis zum heutigen Tag immer wieder - scheinbar wie von selbst - räteartige Widerstandsstrukturen entstanden sind. Diese reichten von Vollversammlungen als elementare Entscheidungsgremien, über (Streik-)Komitees und Ausschüsse bis hin zu landesweit vernetzten (Arbeiter-)Räten. Die Willensbildung verläuft dabei von unten nach oben, also horizontal, wobei die jeweiligen Delegierten einem imperativen, d.h. an die Basis gebundenen, Mandat unterliegen. Nach heutigem Diskussionsstand lässt sich kein anderes, wirklich basisdemokratisches Gesellschaftsmodell als Alternative zur indirekten Demokratie des repräsentativen Parlamentarismus denken. Diese Tatsache klammert Kasakow in seinem Beitrag weitgehend aus, wenn er beispielsweise fragt, ob die Räte proletarisch, links und direktdemokratisch sind. Ja, sie sind es! Zwar nicht automatisch, da legt er zurecht den Finger in die Wunde, aber sicherlich in ungleich stärkerem Maße als die korrumpierte parlamentarische Repräsentativdemokratie oder eine diktatorische Einparteienherrschaft. Zweifellos bestimmt die Form nicht allein den Inhalt, aber aus den zurückliegenden Erfahrungen mit den proletarischen Räten, insbesondere in den Revolutionen in Russland, Sibirien und der Ukraine 1905/06 und 1917/18, in Spanien 1936 und Ungarn 1956 dürfen wir (bei allen bitteren Lehren, die daraus zu ziehen sind) diese potenziell emanzipatorische Alternative nicht vorschnell verwerfen. Vielmehr gilt es, diese Form der Selbstregierung, der Arbeiterdemokratie und des Gemeineigentums beständig weiterzuentwickeln, d.h. sie muss modifiziert und ausgebaut werden.

Befreiung ist sowieso nur als permanenter (weltweiter) Prozess denkbar, die Emanzipation des Menschen wird nie abgeschlossen sein. Gerade aus dieser Erkenntnis sollten wir auf das Rätewesen setzen, denn - und dies taucht im Beitrag von Kasakow ebenfalls nicht auf - nur in dieser Form der gesellschaftlichen Organisation ist die ständige Ab- und Neuwahl der Delegierten gewährleistet. Egal auf welcher Ebene (Gemeinde, Stadtteil, Stadt, Region, Land, Kontinent, Globus) oder in welchem Bereich (Betrieb, Schule, Uni, Rechtsprechung, Gesundheit, Wirtschaft, usw.), alle Räte sind jederzeit wieder abberufbar und jeder Mensch hat in seinem Bereich (Arbeit, Wohnen, Konsum, Bildung, usw.) ein gleiches und uneingeschränktes Mitspracherecht sowie direkte Mitgestaltungsmöglichkeiten. Alle Einwände von Kasakow gegen die bisher gemachten Erfahrungen in (proletarischen) Räten - etwa Teilnahme von Intellektuellen und Parteimitgliedern, Doppelherrschaft von Räten und Parlamenten, Verselbständigung der übergeordneten Räte, reformistische Entscheidungen, "Räte ohne KommunistInnen", usw. - gelten ebenso oder in noch stärkerem Maße auch für Parlamente. Ich will diese Erfahrungen und Gefahren gar nicht wegreden, eher im Gegenteil. Diese durchaus vorhandenen Fallstricke einer Rätedemokratie sprechen jedoch im Umkehrschluss nicht für die parlamentarische Repräsentativdemokratie oder gar für eine realsozialistische Parteidiktatur, sondern für die Notwendigkeit einer systematischen Weiterentwicklung des Rätegedankens. Womit ich dagegen mit Kasakow übereinstimme, ist die Notwendigkeit der Entmythifizierung der Räte, was die kritische Auseinandersetzung mit den real gemachten Erfahrungen miteinschließt.

Auch im Beitrag von Stefan Junker steckt viel für eine weiterführende Diskussion über Räte. Wichtig ist seine Differenzierung zwischen den einzelnen Formen von Räten in den bisherigen kommunistischen und libertären Erhebungen. Zudem bietet er einen knappen Überblick über die enorme Reichweite dieser proletarischen Selbstorganisation, die allein in der globalen Revolutionsphase von 1917 bis 1923 in etwa 35 Ländern auf allen fünf Kontinenten zu (Arbeiter-)Räten geführt hat und auch bis heute immer wieder Gestalt annimmt. Doch gerade in diesem Artikel ist mir aufgefallen, dass Junker zum einen nicht genug zwischen der Form und dem Inhalt der Befreiung/Emanzipation unterscheidet. Und andererseits geht er bei der Diskussion über die Form der gesellschaftlichen Organisation - den Räten - zu grob und pauschal vor. Er behandelt vor allem Arbeiter- und Soldatenräte sowie die Bauernräte. Dabei entgehen ihm die für die Emanzipation genauso wichtigen anderen Räteformen. Ein Beispiel wären die Erwerbslosenräte in Deutschland, ein anderes die verschiedenen Räte während der Bayerischen Räterepublik im April/Mai 1919. In dieser (Räte-)Revolution kam es zu einem Bündnis aus ArbeiterInnen, fortschrittlichen Bäuerinnen und Bauern sowie sozialemanzipatorischen Feministinnen. Letztere, etwa etablierten Frauenräte, die sowohl Delegierte zu den allgemeinen Rätekongressen als auch Agitatorinnen aufs flache Land zu den Bäuerinnen und Mägden entsandten. Es war nicht zuletzt die proletarische Novemberrevolution, die 1918 erstmals das aktive und passive Wahlrecht für Frauen in Deutschland durchsetzte. Ein weiteres Phänomen während der Bayerischen Räterepublik bildeten die Gefangenenräte, die bei der Reformierung des Justizwesens ermöglicht wurden.

Junkers Unterscheidung von betrieblichen Räten (Betriebsräten, Fabrikräten, Gewerkschaftskomitees, Kollektiven, usw.) und überbetrieblichen (territorialen) Arbeiterräten erscheint mir dagegen brauchbar. Die (revolutionären) Betriebsräte und Komitees organisieren die selbstverwalteten Betriebe und die politischen Arbeiterräte das gesellschaftliche Leben inner- und außerhalb der Produktion. Die höchsten Entscheidungsorgane in den Betrieben sind die Vollversammlungen der Beschäftigten. Auf den überbetrieblichen, politischen Ebenen hingegen wären dies allgemeine Rätekongresse. Alle Delegierte sind - wie bereits hervorgehoben - jederzeit wieder abwählbar und die eingesetzten betrieblichen wie politisch-territorialen Komitees und Ausschüsse jederzeit der Basis rechenschaftspflichtig. Diese dem Räteprinzip innewohnende Dynamik, garantierte die bis heute demokratischste Organisationsstruktur, die in einer konkreten gesellschaftlichen Praxis bisher ausprobiert wurde. Doch die Rätestruktur einer befreiten Gesellschaft muss viel weiter reichen als die Etablierung betrieblicher und überbetrieblicher Räte der Lohnabhängigen. Jeder Bereich des gesellschaftlichen Lebens wird durch das basisdemokratische Räteprinzip organisiert, wobei die Vollversammlung der jeweils Betroffenen (ohne Rücksicht auf Herkunft, Geschlecht, Orientierung, usw.) das Fundament der sozialen Organisierung bildet. Dies würde in der Praxis die Zerstörung der alten Macht und des bisherigen Staates und deren Ersetzung durch eine Gemeinschaftlichkeit von unten bedeuten. Da Junker sich in seinem Text einen kleinen Seitenhieb auf den Anarchismus erlaubt, sei dazu auch ein kurzer Einschub meinerseits gestattet: Der Anarchismus ist nicht unpolitisch sondern apolitisch. Ein kleiner aber feiner Unterschied. Er bedeutet schlicht die Ablehnung politischer Logik, d.h. von Machtpolitik und einer Herrschaft der Wenigen.

Aber kommen wir jetzt auf die Frage nach dem Unterschied zwischen der Form und dem Inhalt der Befreiung/Emanzipation zu sprechen. Dies ist in meinen Augen die große Schwäche aller bisher unternommenen Erhebungen und Revolutionen der Arbeitenden. Es genügt eben nicht - und hier widerspreche ich Junker -, dass sich die Übernahme der Betriebe durch die Lohnabhängigen nur schnell genug ausbreiten und andere Belegschaften erfassen muss. Mit der Etablierung allgemeiner genossenschaftlich organisierter Arbeit wird die Lohnarbeit eben nicht verschwinden. Das weitestgehende Experiment mit der Arbeiterselbstverwaltung und Kollektivwirtschaft in Spanien 1936-39 hat dies deutlich gezeigt. Deswegen lassen sich jedoch auch viele zukunftsweisende Schlüsse aus der spanischen Erfahrung ziehen. Die Übernahme der Betriebe durch die Beschäftigten führt sehr schnell zu einem Betriebsegoismus. Dies bedeutet wiederum, dass Gemeineigentum augenscheinlich mehr bedeutet als Arbeiterselbstverwaltung, die dennoch - und dies sei ausdrücklich erwähnt - gegenüber der Verstaatlichung ein entscheidender emanzipatorischer Fortschritt ist. Über die Betriebe können nicht nur die darin Beschäftigten entscheiden, sondern ebenso beispielsweise die AnwohnerInnen sowie die KonsumentInnen. Überhaupt muss tendenziell der Unterschied zwischen Produktion und Konsum, zwischen Leben und Arbeit eingeebnet werden. Räte und Kollektive in der Produktion sind nur die (befreite) Form in der die Güterherstellung organisiert wird, aber noch nicht der (ökonomische) Inhalt der Emanzipation. Dieser muss zwingend nicht-kapitalistisch sein. Dass die Betriebe einfach nur durch die Arbeitenden übernommen werden, reicht offensichtlich nicht aus. Dies wäre ein Co-Management ihrer eigenen Unterdrückung und somit kein qualitativer Fortschritt gegenüber der kapitalistischen Produktionsweise. Es muss vielmehr die Arbeitsorganisation (etwa die Arbeitsteilung) verändert, die Technologie neu ausgerichtet, neue, sinnvolle und langlebige Produkte hergestellt sowie ganz allgemein die Wirtschaftsleistung zunächst entschleunigt und die Wirtschaft dezentralisiert werden. Geld und Lohnarbeit kann es in einer libertären Ökonomie nicht mehr geben, auch wenn der Arbeitslohn in einem selbstverwalteten Betrieb von einem Räteorgan (wie in Spanien 1936 geschehen) ausgezahlt werden würde. Die Zuteilung von notwendigen Gütern unterliegt nicht mehr dem Wert- und Tauschgesetz, sondern ist von ihm radikal entkoppelt. Einziges Zuteilungskriterium kann nur noch die Bedürftigkeit sein. Dies sind ein paar Stichworte zum Inhalt der menschlichen Emanzipation. Die äußerliche (Organisations-)Form einer befreiten Gesellschaft - die Räte - kann nicht unabhängig vom Inhalt der Emanzipation diskutiert und verhandelt werden. Das Proletariat und die emanzipatorische Linke schauen auf eine lange und reichhaltige eigene Geschichte zurück, in der aus den bitteren Niederlagen und ebenso den hoffnungsvollen Anläufen viele Rückschlüsse für die Selbstemanzipation des Menschen gezogen werden können.

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Ralf Ruckus:

Caliban und die Hexe.

Interview mit Autorin Silvia Federici

Ich bin Lehrerin und Schriftstellerin.[1] So stelle ich mich normalerweise vor. Aber vor allem habe ich mich seit den 1970ern als Feministin und Aktivistin engagiert. Ich habe über die Theorie und Geschichte von Frauen geschrieben. Ich war auch an vielen anderen politischen Bewegungen beteiligt, zum Beispiel die Anti-Globalisierungsbewegung, die Bewegungen um Bildung, vor allem um Kämpfe von Student_innen und Lehrer_innen und die Bewegung gegen die Todesstrafe. Jetzt interessiere ich mich sehr für die Occupy-Bewegung und die Bewegung um die Commons.

Du warst an der Frauenbewegung und an der Arbeiter_innenbewegung in Italien beteiligt. Wie sah deine Beteiligung aus?

Ich war über das Netzwerk "Lohn für Hausarbeit" an der Frauenbewegung in Italien beteiligt. Die internationale Kampagne "Lohn für Hausarbeit" begann 1972. Im Sommer 1972 trafen sich einige Frauen aus verschiedenen Ländern in Padua. Das war der Beginn der Kampagne "Lohn für Hausarbeit". Ich hing also über dieses Netzwerk mit den Frauen in Italien zusammen, aber die Beziehungen bestanden auch lange nach dem Ende des Netzwerks weiter. Ich habe immer noch viele Kontakte.

Das Buch "Caliban und die Hexe" kam viel später heraus. Wie hängt deine frühere Beteiligung in diesen Bewegungen mit dem Buch zusammen? Wann hattest du die Idee zu dieser Untersuchung?

Ich begann Mitte der 70er. Wie ich im Vorwort zu "Caliban und die Hexe" schrieb, wollte ich mir die Geschichte dessen anschauen, was als Unterdrückung der Frauen bezeichnet wurde. Ich wollte sehen, wie sie den Kapitalismus verändert hatte, als Antwort auf viele Debatten der Frauenbewegung auf die Frage, ob die geschlechtliche Diskriminierung eine vererbte Tradition, ein Überbleibsel früherer patriarchaler Beziehungen oder ein spezifischer Typus sozialer Realität des Kapitalismus war. So begann ich diese historische Arbeit.

Ich fing mit dem 19. Jahrhundert an. Da ich keine guten Antworten finden konnte, musste ich bis ins Mittelalter zurückgehen. Nach einer Weile begann ich mit Leopoldina Fortunati zusammenzuarbeiten.

Wie ich im Vorwort von "Caliban und die Hexe" schrieb, gab es eine frühe Version dieser Arbeit, die aber deutliche Unterschiede aufwies und 1984 auf Italienisch erschien. Ich begann damals die Diskussion über die Hexenverfolgung und die Diskussion über die Transformation des Körpers im Kapitalismus zu skizzieren. Wir diskutierten aber auch andere Themen, z.B. die Transformation der Kindererziehung am Beginn der kapitalistischen Entwicklung. Diese Arbeit beschäftigt mich also seit Jahrzehnten. Bis 2004 hatte ich damit schon fast 30 Jahre verbracht.

Es gibt das Buch, das du 1984 in Italien herausgabst. Wie hast du die Forschung organisiert? Hast du mit Fortunati und anderen zusammengearbeitet?

Wir arbeiteten getrennt, weil ich in New York war und sie in Padua. Wir arbeiteten getrennt, tauschten aber grundlegende Informationen aus. Das damalige Buch konzentrierte sich auf verschiedene Aspekte der Reorganisation der Reproduktion. So gibt es ein Kapitel zur Transformation der Formen von Sozialität, ein Kapitel über die Neudefinition der Figur des Kindes, und ein Kapitel speziell zur Frage der Sexualität. Aber das Buch stand in einem anderen Rahmen. Das war vor dem Beginn der Globalisierung, und wir wollten zeigen, dass nicht nur die klassisch-marxistische Erklärung der ursprünglichen Akkumulation sondern auch der operaistische Ansatz von Klassenkampf und kapitalistischer Entwicklung nicht zufriedenstellend waren.

Eines der Themen in der Einleitung war: "Die Gesellschaft kommt zuerst". Das bedeutet: erst kommt die Reproduktion der Arbeitskraft und dann kommt die Fabrik. Das widersprach Trontis Reihenfolge, der die Fabrik für die Hauptantriebskraft hielt, die dann die Gesellschaft verändert. Wir argumentierten, dass man in der Geschichte des Kapitalismus sehen kann, dass dieser zunächst einen bestimmten Arbeitertypus schaffen musste, und erst später auf der Basis dieser Formation eines Arbeitertypus auch eine bestimmte Form der Arbeitsorganisation hervorbrachte, insbesondere die großangelegte Organisation industrieller Arbeit.

Bevor wir über "Caliban und die Hexe" sprechen: Nachdem du das italienische Buch herausgegeben hattest, 20 Jahre vor "Caliban und die Hexe", wie ging die Diskussion weiter? Hast du mit anderen zusammengearbeitet?

Nein, ich habe mehr oder weniger allein weitergearbeitet. Die wichtigste Entwicklung damals war, dass ich in den frühen 80ern nach Afrika ging. Ich war etwa drei Jahre in Afrika, und diese Erfahrung war grundlegend, weil ich in Afrika den Beginn der Globalisierung mitbekam. Was ich sah, waren die ersten Elemente der Rückkehr der ursprünglichen Akkumulation durch die Auferlegung der strukturellen Anpassungen und alle Maßnahmen, die in Reaktion auf die Schuldenkrise ergriffen wurden.

Wie ich im Vorwort zu "Caliban und die Hexe" schrieb, kam ich ständig auf die Phase der ursprünglichen Akkumulation zurück. Ich sah mit eigenen Augen, wie die Diskussion über die Schuldenkrise, die vom IWF diktierten Bedingungen und die Diskussion der Austerität mit einem ideologischen Frontalangriff auf Frauen Hand in Hand gingen. Diesen wurde auf viele Arten und Weisen vorgeworfen, dass sie die Krise mit ihren überzogenen Forderungen, und ihrem Druck auf die Arbeiter, Familienmitglieder usw. für bessere Lebensbedingungen hervorgerufen hätten. Die erstaunliche Ähnlichkeit der Ereignisse in Nigeria, die ich in den 80ern mitbekam, und dem, was ich über die Phase der ursprünglichen Akkumulation las, war für mein eigenes Umdenken sehr wichtig und führte dazu, dass ich die Diskussion in einen breiteren Kontext stellte.

Lass uns über das Buch sprechen. Es ist in mehrere Kapitel aufgeteilt. Kannst du uns den Inhalt und die wichtigsten Thesen vorstellen?

Im Ersten geht es um die Krise des Feudalismus und besonders um die Gründe für die Entwicklung des Kapitalismus. Das war für mich sehr wichtig, um zu verstehen, wie die neuen Strukturen auszusehen hatten, die der Kapitalismus schaffen musste. Ich wollte vor allem die Annahme entmystifizieren und zurückweisen, dass der Kapitalismus eine Art Evolution der ökonomischen Strukturen darstellte, die sich im Mittelalter herausgebildet hatten. Ich wollte zeigen, dass der Kapitalismus eine Konterrevolution war, dass er eine Antwort auf eine Reihe von sozialen Kämpfen und Bewegungen war. Das war mir sehr wichtig, weil es Verbindungen herstellte und mir Einsichten in die Kämpfe verschaffte, die Frauen im Rahmen der Kämpfe gegen die feudale Macht geführt hatten. Es ging darum zu verstehen, warum dieser Angriff kam, warum die Entwicklung des Kapitalismus mit diesem massiven Angriff auf die Frauen beginnen musste.

Dies war einer meiner aufregendsten und befriedigendsten Untersuchungen, weil ich auf eine Reihe sozialer Bewegungen stieß, wie die häretische Bewegung, die ich durch meine früheren Studien der europäischen Geschichte kaum kannte. Ich hatte keine Ahnung gehabt, wie wichtig diese Bewegungen gewesen waren. Die häretische Bewegung war wirklich eine Bewegung sozialer Kämpfe. Es war eine Bewegung gegen die feudale Macht, aber auch gegen den Beginn der Kommerzialisierung sozialer Beziehungen. Ich erkannte auch, dass die Frauen in diesen Bewegungen eine starke Rolle gespielt hatten. Frauen standen im Zentrum dieser Bewegungen. Das war also wichtig. Erlaube mir, zwei Sachen zum Verständnis des Kapitalismus zu sagen.

Erstens, der Kapitalismus entstand als Antwort auf Kämpfe, und besonders als Antwort auf die Arbeitskrise, die Krise des Kommandos über die Arbeit, die diese Bewegung geschaffen hatte. Es ist kein Zufall, dass der Kapitalismus sehr daran interessiert war, Verhältnisse zu schaffen, die eine maximale Ausbeutung der Arbeitskraft ermöglichen. Zweitens, Frauen spielten in diesen Kämpfen eine wichtige Rolle. Die Verweigerung bestimmter Beziehungen mit Männern und eine besondere Haltung zur Fortpflanzung spielten eine wichtige Rolle in diesen Kämpfen.

Die häretische Bewegung gab Frauen z.B. gewissermaßen den gleichen Status wie Männern. Diese Bewegung sah auch die Unterordnung von Frauen kritisch, und ebenso den Ausschluss von Frauen von gewissen Machtpositionen, zum Beispiel in der Organisation und Anwendung der Sakramente. Das war wichtig, weil es ermöglichte, den besonderen Angriff auf Frauen zu verstehen. Soweit zum ersten Kapitel.

Das zweite Kapitel ist eine breite Analyse der wichtigsten Prozesse, die den Übergang zum Kapitalismus ausmachten. Mit anderen Worten, das Kapitel versucht den Prozess der Akkumulation neu zu bestimmen, über den Marx am Ende des ersten Bandes des Kapitals schreibt, aber die Neubestimmung passiert aus einer anderen Blickrichtung. Es ging darum, die Geschichte zu schreiben, die Marx nicht schrieb, also die Geschichte der ursprünglichen Akkumulation aus dem Blickwinkel der Transformation der Reproduktion der Arbeitskraft, und auch der Transformation der Position der Frauen. Es schaut auf alle Prozesse. Zum Beispiel geht es zurück und untersucht die Einhegungen, die Trennung der Arbeiter_innen von ihrem Land, aber nicht nur das. Einer der Schlüsselthemen der Analyse ist, das es sich hier nur um den Anfang der Entwicklung des Kapitalismus handelte. Genauso wichtig war die Trennung von Produktion und Reproduktion. Das ist eines der Hauptthemen des zweiten Kapitels. Anders gesagt, der Kapitalismus begann nicht nur mit der Trennung der Bauern von ihrem Land, die übrigens auch in der Neuen Welt stattfand, sondern er beginnt mit der Auftrennung, nicht im physischen Sinn sondern in Bezug auf die sozialen Beziehungen, von Produktion und Reproduktion.

Schon früh, im 16. und 17. Jahrhundert sehen wir eine Reihe von Aktivitäten, die nicht mehr als ökonomische Aktivitäten erscheinen, und das sind reproduktive Aktivitäten. Diese wurden immer weiter naturalisiert, vergeschlechtlicht und als Frauenarbeit angesehen. Das steht im Zentrum dieses Kapitels: Wenn wir über die Vorbedingungen für die Entwicklung des Kapitalismus sprechen, müssen wir über einen viel breiteren Prozess sprechen als Marx annahm. Dieser schließt die Schaffung einer ganzen Sphäre von Aktivitäten ein, die strukturell entwertet werden. Diese Entwertung ist so strukturell, dass durch diese Transformation des Kapitalismus hindurch die Entwertung bis zu unseren Tagen immer wieder reproduziert wurde. Die ausgeweitete Globalisierung stellt eine Rückkehr der ursprünglichen Akkumulation dar. Im Zentrum dessen steht die Entwertung der reproduktiven Aktivitäten.

Das dritte Kapitel dreht sich um den Körper. Es schaut sich an, was mit dem Körper in der kapitalistischen Reorganisation von Produktion und Arbeit passiert. Hintergrund dieses Kapitels ist wiederum zum Teil, die Geschichte weiter zu schreiben, die Marx nicht schrieb. Zum Teil geht es auch darum herauszustreichen, dass der Kapitalismus ein einzigartiges System ist. Es ist besonders wegen der anderen Formen der Ausbeutung, indem es Arbeitskraft als grundlegende Form des Reichtums ansieht. Das ist sehr wichtig für die Form disziplinierender Herrschaft, die er schaffen muss. In dem Moment, in dem Arbeitskraft als fundamentale Form von Reichtum gesehen wird, müssen eine ganze Reihe von Maßnahmen gegen den Körper ergriffen werden. Denn der Körper trägt viele Ressourcen in sich, die entwickelt und maximiert werden müssen.

Dabei gibt es natürlich eine Dialektik von Entwicklung und Repression. Hier stehe ich Foucault sehr kritisch gegenüber. Er betont immer das Moment der Entwicklung, dass sich neue produktive Kapazitäten entwickeln. Allein aus der Perspektive der Repression kann die Geschichte nicht geschrieben werden. Das ist richtig, aber die Repression ist das erste Moment. Du kannst keine Entwicklung neuer Kapazitäten des Körpers haben ohne die Zerstörung vieler Verhaltensformen, Praktiken, Glaubensvorstellungen, die für die Kultur der vorkapitalistischen Gesellschaft grundlegend waren, einschließlich der mittelalterlichen Gesellschaft in Europa.

Das dritte Kapitel ist also eine Beschreibung der verschiedenen Strategien, die der Kapitalismus durch Gesetze, durch die Transformation der Alltagsorganisation umsetzt. Es beschreibt auch die Reflexion dieser Transformation, die Vermittlung im diskursiven, disziplinären Bereich. Der disziplinäre Bereich ist hier gemeint im Sinne der Fachrichtungen, mit anderen Worten, in der intellektuellen, philosophischen Diskussion der damaligen Zeit, zum Beispiel in den Arbeiten von Descartes und Hobbes. So interpretiert dieser z.B. den Aufstieg des Cartesianismus als besondere Antwort auf den Klassenkampf, und als Antwort auf die Anforderungen der neuen Disziplin der Arbeit, die Forderungen und Prozesse der "Selbstausbeutung", der Selbstverwaltung usw.

Dann ist da das vierte Kapitel zu den Hexenverfolgungen. Es handelt sich um eine lange Analyse der Hexenverfolgungen, wie sie abliefen, was hinter den Hexenverfolgungen in den verschiedenen Ländern stand, mit allen Variationen je nach Land. Es ist im Grunde auch ein Versuch zu erklären, wie die Hexenverfolgungen mit dem breiteren Angriff auf das Proletariat und dem breiteren Prozess der ursprünglichen Akkumulation zusammenhingen, die in jener Zeit stattfanden. Und es schaut auf die verschiedenen Formen, in denen die Hexenverfolgung mit diesen Entwicklungen zusammenhing, indem es schaut, wer die Hexen waren, vom sozialen Status her, und welche Verbrechen ihnen vorgeworfen wurden. Es zeigt, dass es eine direkte Verbindung gibt zwischen den Vorwürfen der Hexerei und dem Prozess der Einhegungen von Land.

Es gibt auch einen Zusammenhang zwischen den Vorwürfen und Verfahren der Hexerei und dem Angriff und der Neudefinition der weiblichen Sexualität, die im Grunde auf ihre reproduktive Funktion reduziert wird. Einer der entscheidenden Aufgaben in diesem Moment für den Kapitalismus ist auch, die Kontrolle über die weiblichen Reproduktionsfähigkeiten zu übernehmen. Die Kontrolle über die weiblichen Körper, die Reproduktion der Frauen, ihre biologische Reproduktion und die weibliche Sexualität ist extrem wichtig, sowohl für die neue Arbeitsdisziplin als auch für die Nutzung des weiblichen Körpers für die Reproduktion der Arbeiterklasse, die biologische Schaffung einer neuen Generation von ArbeiterInnen. Es zeigt, wie die Hexenverfolgung in Richtung auf diese Ziele wirkte.

Hier gibt es wieder eine Polemik zu Marx und Foucault. Beide erkennen die Bedeutung dieses Ereignisses nicht, dass ich für fundamental für die Schaffung der modernen kapitalistischen Gesellschaft halte. Es handelt sich um eins der großen Massaker, die das Erscheinen des modernen Kapitalismus einleitet. Da gibt es den Sklavenhandel, die Eroberung der Amerikas und die Verfolgung der Hexen.

Das letzte Kapitel überträgt auch Teile der Analyse der ersten vier auf die Neue Welt. Es zeigt, dass die Hexenverfolgung kein rein europäisches Phänomen ist, sondern ab Ende des 16. Jahrhunderts auch in die sogenannte Neue Welt exportiert wurde. Die Auslöschung der Hexerei wurde breit von Missionaren und Eroberern eingesetzt, sowohl als Mittel der Eroberung, um Widerstand zu brechen, und besonders zur Schaffung einer neuen Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern auch in der Neuen Welt. Es schaut besonders auf die Anden und die Kämpfe der Frauen in den Anden, die diese schon im 16. Jahrhundert führten gegen die Kolonisierung sowie die Herrschaft der Priester und der neuen Religion.

Gut dass du schon deine Kritik an Marx und Foucault erwähnt hast. Aber lass uns noch einmal zurückgehen. Du sprachst von der Trennung von Produktion und Reproduktion im frühen Stadium der Schaffung des Kapitalismus. Was war die Macht dahinter? Wie wurde die Trennung durchgesetzt?

Die Trennung von Produktion und Reproduktion wurde auf viele Arten durchgesetzt. Im 16. Jahrhundert beginnt in vielen Teilen Europas der Ausschluss der Frauen aus den Zünften, den Organisationen der Arbeiter_innen. In einigen Städten Deutschlands gab es sogar ein städtisches Verbot der Lohnarbeit von Frauen. Wir haben Dokumente, die zeigen, dass Frauen Einspruch einlegen mussten, um von den lokalen Behörden eine Erlaubnis zur Lohnarbeit zu bekommen, oft mit dem Argument, dass sie verwitwet waren und keine andere Form der Unterstützung hatten.

Im Laufe eines Jahrhunderts konnten Frauen nur noch reproduktive Arbeiten bekommen, vor allem als Mägde, Hausangestellte oder Ammen. Amme oder Wäscherin waren gängige Jobs für bäuerliche Frauen. Frauen wurden von den neuen Arbeitsformen ausgeschlossen, bis ins späte 18. Jahrhundert, als sie bei der Industrialisierung einbezogen wurden. Sie wurden dann die Arbeitskraft der neuen Fabriken. Es gab auch eine massive Ausweitung der Prostitution. Ich spreche im Buch davon, dass Prostitution plötzlich zum Massenphänomen wurde. Interessanterweise wurde sie natürlich auch kriminalisiert. Im Mittelalter war das nicht der Fall.

Du erwähntest, dass Frauen aus den Zünften ausgeschlossen wurden. Du sprachst auch von der Rolle des Staates bei der Schaffung zweier Teile der neuen Klasse. Welche Rolle spielte der Staat genau?

Der Staat spielte in dieser Zeit eine sehr wichtige Rolle bei der Schaffung einer ganzen Struktur, die hinter der neuen geschlechtlichen Arbeitsteilung stand. Ich erwähnte schon die Regulation der Arbeit und die Regulation der Sexualität, wie die Kriminalisierung der Prostitution, aber es gibt auch einen ganze Reihe neuer Vorschriften mit harten, nie dagewesenen Strafen, z.B. für Frauen, die versuchen, ihre Gebärfähigkeit zu kontrollieren. Der Prozess der Fortpflanzung wurde in neuer Weise polizeilich überwacht, mit einschneidenden Folgen für das Leben der Frauen. Und jeder Verstoß gegen diese Maßnahmen wurde kriminalisiert und mit dem Tode bestraft. Z. B. wurden fast genauso viele Frauen für Kindsmord verfolgt und hingerichtet wie für Hexerei. Im 16. und 17. Jahrhundert wird Kindsmord zum zweitwichtigsten Verbrechen, für das Frauen bestraft wurden.

Am wichtigsten ist, dass der Staat die Instanz ist, von der alle Gesetze gegen Hexen ausgehen. Anders als die Hexenverfolgungen, die heute stattfinden - und über die wir später sprechen - war es der Staat. Die Hexenverfolgung ist eine Massenverfolgung, die sich ganz mit legalen Mitteln vorging. Sie wurde in den meisten Ländern durch staatliche Gesetzgebung angestoßen. Es ist der Staat, der neue Gesetze verkündet, die sagen: Das sind Hexen, wir müssen sie verfolgen und die Bevölkerung muss uns dabei unterstützen. Diese Verordnungen wurden dann in Kirchen verlesen und in Dörfern und Städten verbreitet. Dann wurden alle aufgefordert, eine Position zu beziehen, auf dieser oder jener Seite. Wenn du nicht kooperiert hast, bestand natürlich die Gefahr, dass du als Hexe angeklagt wurdest. Der Staat spielte also eine zentrale Rolle bei der Schaffung der neuen geschlechtlichen Arbeitsteilung und auch den neuen Geschlechterrollen.

Eine Sache möchte ich klären, weil die meisten diese Argumentation nicht kennen. Du beschreibst den Kapitalismus als Konterrevolution gegen antifeudalen Widerstand. Das ist ein komplexes Thema. Möchtest du was dazu sagen? Warum Konterrevolution und gegen wen? Ein anderes Bild ist "Kapitalismus als antifeudale Reaktion". Du hast da eine andere Meinung.

Ja, ich habe eine ganz andere Ansicht. Es gibt die liberale Ansicht, dass die Figur des Kapitalisten sich aus der des Kaufmanns entwickelt. Dass an einem bestimmten Punkt im 13., 14. Jahrhundert mit der Wiederbelebung des Handels und nach dem großen Einbruch als Folge der "barbarischen" Invasionen der Handel in den städtischen Zentren des Mittelalters erneut beginnt. Wir sehen Formen eines Protokapitalismus. Von dieser Figur aus argumentieren einige Leute sogar, dass der Kapitalismus auf der Basis des Fernhandels zur Beschaffung von Luxusgütern für den Adel aus dem Boden wächst.

Ich verstehe das nicht so. Wenn du diese Politik und diese Entwicklungen ansiehst, die der Kapitalismus einführt, und du siehst sie nicht in einer Gegend sondern auf globaler Ebene, dann stellst du fest, dass die Hauptsorge der protokapitalistischen Klasse die Wiedererlangung der Kontrolle über die Arbeit war. Mit anderen Worten: Der Kapitalismus entstand aus der Krise. Es ist klar und deutlich die Antwort auf die Krise eine ganzen Reihe von Strukturen, auf die Tatsache, dass es eine aristokratische Klasse gab, aber auch eine kaufmännische.

Nicht nur die aristokratische sondern auch die berühmte Kaufmannsklasse, aus der heraus sich der Kapitalismus entwickelt haben soll, befindet sich im 14. Jahrhundert in der Krise. Sie sind seit den bedeutenden ArbeiterInnenkämpfen in der Krise, und der Kapitalismus reagiert direkt auf diese ArbeiterInnenkämpfe. Der beste Beleg, den ich anführe - und das ist nicht meine Entdeckung - ist die Intensität der Kämpfe in den städtischen und ländlichen Gegenden in dieser Phase, zum Beispiel die Bauernkriege, die über Europa hinwegfegen, in Spanien, Frankreich, Deutschland, England - und auch die Kämpfe der Handwerker_innen. Wir sehen also eine Struktur, die sich nicht reproduzieren kann. Sehen wir uns ihre Reaktion an, zum Beispiel die Eroberung [der Neuen Welt].

Die Kapitalisten sind keine neue Klasse. Sie sind eine neue Klasse, wenn wir die sozialen Beziehungen anschauen, aber es ist im Grunde der feudale Adelige in England, der sich selbst neu erschafft. Es ist der Kaufmann, der Kirchenmann, der eine Reihe paralleler aber miteinander zusammenhängender Entwicklungen anfängt. Die Eroberung [der Neuen Welt], also die Externalisierung, als Reaktion auf die Krise die Beschaffung neuer Güter und neuer Arbeitskräfte durch Eroberungen. Die Amerikas stellen das Edelmetall zur Verfügung, das in Europa eine Marktökonomie schafft. Es ist das Silber aus der Neuen Welt, das diese Marktökonomie ermöglicht. Es ist also klar, dass er nicht aus einem evolutionären Prozess heraus entstand. Die Kräfte, die zum Kapitalismus führten, waren in Europa nicht vorhanden.

Es gab die Krise eines Systems, dass sich nicht selbst reproduzieren konnte, die Krise einer herrschenden Klasse, die sich nicht reproduzieren konnte. Diese herrschende Klasse musste sich selbst verwandeln und ihre Grenzen übertreten, um Güter, Arbeitskräfte und den Reichtum zu beschaffen, der ihr ermöglichte, sich auf neue Art wieder anzuschieben. Und das ist ein Prozess. Als der Kapitalismus sich als System formt, tut er das als Ergebnis vieler Entwicklungen und vieler Initiativen, die beginnen, eine bestimmte Konfiguration herauszubilden. Das wird ab da koordiniert und nimmt eine bestimmte Konfiguration an. Am Ende des 16. Jahrhunderts ist die Form der neuen globalen Ökonomie schon deutlich zu sehen, der Beginn einer globalen Ökonomie.

Eine Sache hast du schon erwähnt, aber um das noch mal klarer rauszustellen: deine Kritik an Marx' Verständnis der ursprünglichen Akkumulation. Historisch ist das ein Prozess, der an denen anschließt, von denen du gerade erzählt hast. Du hast die Einhegungen erwähnt, auf die sich auch Marx bezieht. Kannst du diese beschreiben, unter Einbezug von Marx' Konzept und deiner Kritik?

Zwei Sachen sind problematisch in Marx' Beschreibung der ursprünglichen Akkumulation. Zunächst mal hält er nur den Prozess der Trennung der Arbeiter_innen von den Produktionsmitteln, die Vertreibung der Bauern usw. für entscheidend für das neue kapitalistische System. Das ist sehr wichtig, aber es reicht nicht. Auch der Angriff und die blutige Gesetzgebung gegen den Vagabunden dazu ist sehr wichtig, reicht aber auch nicht. Ich wollte zeigen, dass da noch viel mehr ist. Wenn wir über die Trennung sprechen, müssen wir auch über die Formierung dieser anderen Sphäre von Aktivitäten sprechen, die anfangen zu verschwinden, die unsichtbar und als natürliche Frauenarbeit definiert werden. Diesen ganzen Teil sieht Marx nicht. Über den anderen Teil gibt es eine große Debatte, und ich muss sagen, dass Marx sich hier nicht klar äußert, sodass man seine Ansicht nach beiden Seiten hin interpretieren kann.

Die Frage ist, ob Marx die ursprüngliche Akkumulation für einen Prozess hält, der am Anfang des Kapitalismus auftritt und eine besondere Phase darstellt, oder als einen Prozess, der sich fortsetzt und wiederkehrt. Dazu gibt es viele Positionen. Ich denke, was auch immer Marx gesagt hat, es gibt viele Stellungnahmen in diese oder die andere Richtung, aber meine Position ist, dass die ursprüngliche Akkumulation nicht abgeschlossen ist.

Diese ist kein Ereignis, das auf den Ursprung des Kapitalismus begrenzt ist. Sie tritt in der Geschichte des Kapitalismus immer wieder auf. Man kann sogar sagen, dass sie in jedem Moment der kapitalistischen Verhältnisse auftaucht, weil jeder Moment der kapitalistischen Verhältnisse auf der Trennung der Menschen von ihren Reproduktionsmitteln aufbaut. Wenn du dir die Geschichte des Kapitalismus anschaust, erkennst du diese großen Momente der Wiederkehr der ursprünglichen Akkumulation. Für mich sind das die Momente, wenn der Kapitalismus in der Krise steckt und die Kapitalistenklasse zur Wiedererlangung des Kommandos über den Akkumulationsprozess massive Angriffe starten muss, durch Krieg, durch Enteignung oder z.B. durch Kolonisierung. Es ist kein Zufall, dass die Blütezeit des Imperialismus mit dem Höhepunkt der ArbeiterInnenkämpfe in Europa zusammenfällt, dem Höhepunkt der sozialistischen Bewegungen in Europa z.B. Ende des 19. Jahrhunderts.

Ich verstehe z.B. den Ersten Weltkrieg und auch den Zweiten Weltkrieg als Momente, in denen der Kapitalismus die Arbeiterklasse disakkumulieren musste. Während das Wesen des Kapitalismus in der Akkumulation von Arbeitskraft besteht, waren diese Kriege die Disakkumulation des Kampfpotentials. Was auf den Feldern des Ersten und des Zweiten Weltkrieges zerstört wird, ist die ArbeiterInnenklasse, die die Russische Revolution gemacht hatte. Das wäre auch in Europa möglich gewesen.

Es ist wichtig festzuhalten, dass die ursprüngliche Akkumulation mit diesem wichtigen Moment zusammenhängt, in dem der Kapitalismus in der Krise steckt und das Kommando über die Arbeit zurückerlangen muss. Schauen wir auf den Prozess der Globalisierung heute, um zu verstehen, was Globalisierung ist, wie sie entstanden ist, was sie erreichen will. Das stimmt weitgehend mit dem Projekt der Kapitalistenklasse in diesen Momenten überein, wie z.B. dem der kolonialen Eroberungen, des imperialistischen Zugs nach Afrika usw. Aus dem Blickwinkel der Globalisierung erkennen wir das Ziel, die Arbeitsmärkte zu erweitern, Menschen zu enteignen. Die Ausweitung des Arbeitsmarktes ist eine Vorbedingung für die Wiederherstellung der Arbeitsdisziplin.

Noch eine Frage zu diesem Übergang zum Kapitalismus bei Marx oder aus marxistischer Perspektive: Marx und mehr noch die Marxist_innen sehen den Kapitalismus als Vorbedingung des Kommunismus und die Entwicklung der Produktivkräfte als Vorbedingung. Wenn du über anti-feudale Kämpfe sprichst oder später gar über die Commons, erscheint das als Kritik daran.

Ja, das ist eine Kritik daran, weil ich denke, dass dieses nette Schema der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse unterstellt, dass man diese voneinander trennen kann. Wenn man einmal die Produktivkräfte, einen bestimmten Typ der Arbeitsorganisation - einschließlich der Technologie - befreit hätte von bestimmten Eigentumsverhältnissen, die typisch für den Kapitalismus sind, dann hätte man die materiellen Bedingungen für eine kommunistische Gesellschaft geschaffen. Dieser Ansicht stehe ich sehr kritisch gegenüber. Zunächst mal kann man die sogenannten Produktionsverhältnisse [nicht abtrennen]. Nimm die Arbeitsteilung: Mit am produktivsten im Sinne der Akkumulation, der Arbeitsdisziplin und der Arbeitsorganisation ist die geschlechtliche und die internationale Arbeitsteilung sowie die Schaffung verschiedener Arbeitsregime gewesen.

Man kann die Entwicklung der Produktivkräfte nicht von den Verhältnissen trennen, die sie mit einer geschlechtlichen Arbeitsteilung geschaffen haben, was bedeutet, dass die Entwicklung der Produktivkräfte gleichzeitig eine Spaltung der Arbeiterklasse hervorbrachte. Die Vorstellung, dass man das klar voneinander trennen kann, dass der Kapitalismus diese Technologie und Organisation von Techniken einfach ausspuckte und wir sie herausnehmen und in eine Form egalitärer Verhältnisse überführen könnten, ist ein Mythos, weil diese Produktivität zum Teil genau darin bestand, Hierarchien zu schaffen und eine Spaltung der Arbeiterklasse herbeizuführen.

Lass uns weiter über die Hexenverfolgung sprechen. Im Buch entwickelst du deine Vorstellungen als Kritik existierender Untersuchungen der Hexenverfolgung. Kannst du das entlang dieser Studien beschreiben? Wie wurde die Hexenverfolgung geschildert und was ist deine Kritik?

Es ist interessant, weil immer mehr Analysen über die Hexenverfolgung... Übrigens, in letzter Zeit hat es immer weniger solcher Studien dazu gegeben. Diese Untersuchungen waren zeitweise in Folge der Frauenbewegung sehr zahlreich. Die Frauenbewegung hat die Frage der Hexenverfolgung zurückgebracht. Eine Reihe von Studien wurden von ihr inspiriert, aber jetzt geht die Zahl zurück. Im Allgemeinen scheuten sich diese Studien entweder, eine generelle Motivation für die Verfolgungen zu finden, und sie konzentrierten sich nur auf die Analyse der möglich machenden Bedingungen: es war möglich wegen diesem oder jenem. Sie versuchten jedoch nie, Hintergründe und Zusammenhänge zu finden. Oder wenn sie Hintergründe und Zusammenhänge suchten, bezogen sie sich auf die religiösen Kriege, die Reformation, im Grunde religiöse Konflikte. Es gab kaum Versuche, Zusammenhänge herzustellen. Die Feministinnen waren wirklich die ersten, die versucht haben, die Hexenverfolgungen mit der ursprünglichen Akkumulation und der Vertreibung der Bauern in Zusammenhang zu setzen. Z.B. Starhawk, Barbara Ehrenreich und Deirdre English deuteten die Verbindung zwischen der Vertreibung der Bauern von den Commons und dem Sklavenhandel mit den Hexenverfolgungen an.

Vorherige Analysen von Historiker_innen waren aus dieser Sicht wenig zufriedenstellend. Manche sprachen über die Transformation, die Christianisierung der Bauern, die notwendig war als kulturelle Maßnahme zur Vorbereitung des Kapitalismus. Aus meiner Sicht sind die Hexenverfolgungen offensichtlich ein fundamentaler Vorgang. Ich muss eine wichtige Ausnahme nennen, auf die ich während meiner Untersuchung stieß. Ein italienischer Historiker und Philosoph, Luciano Perinetto, den ich zitiere und der sehr deutlich war. Ich halte ihn für außergewöhnlich.

Er behauptet, dass die Hexenverfolgung grundlegend für den Aufstieg des Kapitalismus war, dass sie dem Kapitalismus das Tor geöffnet hat.Anders als andere erkannte er auch, dass Hexenverfolgungen kein rein europäisches, sondern ein globales Phänomen waren, das im 16. und 17. Jahrhundert in die amerikanischen Kolonien getragen wurde. Wenn man sich die Chronologie anschaut, die Periode der Hexenverfolgung, wenn man sieht, wer die Hexen waren, mit welchen Mitteln sie verfolgt wurden, welcher Verbrechen sie angeklagt waren und welche Auswirkungen die Verfolgung hatte, befindet man sich sogleich in einer Welt, die jenseits der feudalen Beziehungen liegt.

Eine klassische, aus der Aufklärung stammende Argumentation von Historiker_innen ist z.B., dass dies Folge des klerikalen Aberglaubens und der Dominanz der Kirche war und hinter der Hexenverfolgung der Aberglauben und die Dominanz der Kirche im Mittelalter standen. In Europa begann, chronologisch gesehen, die wichtigste Periode der Hexenverfolgungen im späten 16. Jahrhundert. Das war der Höhepunkt der Hexenverfolgung, die Mitte des 15. Jahrhunderts begonnen hatte. Etwa 1450, 1460 sehen wir die ersten Dämonenlehren. 1480 gibt es den Malleus Maleficarum [Hexenhammer], einer der wichtigsten Texte der Dominikanermönche, der viele Jahre lang von Hexenverfolgern benutzt wurde. Auch die Gerichtsverfahren nehmen zu. Aber die Hexenverfolgungen nehmen zu in Deutschland, Schottland, der Schweiz, Teilen von Italien, England, - weniger in Spanien, wo nicht so viele Hexenverfolgungen stattfanden, eine interessante Ausnahme, die untersucht werden sollte - und in Frankreich. Es ist die Zeit von den 1570er bis zu den 1650ern. Die Hexenverfolgungen hielten dann noch ein weiteres Jahrhundert an, waren aber unbedeutend und weniger zahlreich.

Diese Zeit war sehr interessant. Damals blieb nichts vom Feudalismus übrig. Wir befinden uns mitten in der Herausbildung kapitalistischer Verhältnisse und erleben den brutalsten Angriff auf die Bevölkerung, auf die arbeitende Bevölkerung, den wir uns vorstellen können. Dies ist der Moment, in dem auch die Amerikas kolonisiert werden und das Silber ankommt, das wie der Wind ist, der die wirtschaftlichen Beziehungen eines großen Teils von Westeuropa zerstört und eine enorme Verarmung schafft, ähnlich der Verarmung, die wir mit den Strukturanpassungen und der monetären Abwertung in Afrika erleben. Das findet in Europa genau zur Zeit der Hexenverfolgungen statt, in einer Phase massiver Kämpfe gegen die Einhegungen, in denen Frauen einen prominente Rolle spielen, mit großen Aufständen. Es ist auch die Phase der Vertreibungen der Menschen von ihrem Land, und die Phase, in der alle Bedingungen geschaffen werden, neue Gesetze, neue Vorschriften auf lokaler und nationaler Ebene, die regeln, wo Arbeiter_innen wohnen sollen, ihre sexuellen Beziehungen, Prostitution, Reproduktion. Es wird damit begonnen, einen reproduktiven Code einzuführen und auch Arbeitshäuser zu schaffen. Menschen werden in Arbeitshäuser gesteckt, wenn sie sich weigern zu arbeiten. Angesichts dieses Ablaufs drängt sich die Frage auf, wie das mit den Hexenverfolgungen zusammenhing.

Wenn du siehst, wer diese Frauen waren, erkennst du, dass die Frauen, die als Hexen beschuldigt wurden, mit den rebellischen Subjekten übereinstimmten, die der Kapitalismus vernichten wollte. Rebellisch weil sie gegen die neuen Regeln rebellierten, aber auch weil sie eine Welt vertraten, die der Kapitalismus zerstören musste. Ob sie nun rebellierten oder nicht, sie repräsentierten ein Netz von Praktiken, Glaubensvorstellungen und Werten, die auf die eine oder andere Art zerstört wurden. Das ist es, was ich deutlich machen wollte. Natürlich ist das der Anfang. Ich schrieb das Buch in der Hoffnung, dass andere die Arbeit fortsetzen. Es gibt noch viel mehr zu entdecken als das, was im Buch auftaucht. Das Buch bietet aber einige allgemeine Orientierungslinien, z.B. zur Beziehung von Hexenverfolgungen und Einhegungen. Das Thema Land ist sehr wichtig. Vielleicht kommen wir später darauf zurück. Ebenso die Beziehung zwischen Hexenverfolgungen und der Reorganisation des Familienlebens und der sexuellen Beziehungen.

Oft ist die Hexe eine Prostituierte oder war in ihrer Jugend eine, oder sie hatte Kinder außerhalb der Ehe, oder eine sexuelle Beziehung außerhalb ihrer Klasse. Viele Frauen, die Beziehungen mit Männern der Oberschicht hatten, wurden der Hexerei angeklagt.

Natürlich wurden Abtreibungen, Kindsmorde, Verhütung, alle diese Praktiken sofort dämonisiert, wurden sofort als Praktiken bezeichnet, die dämonisch sind und darauf ausgelegt, das Leben von Kindern zerstören usw. Dies ist, was das Kapitel über die Hexenverfolgungen zeigen will. Wie jede wichtige Initiative des Staates gegen eine große Gruppe von Menschen konnte die Hexenverfolgung auf verschiedene Arten genutzt werden. Ich ziehe oft die Parallele zum heutigen Krieg gegen den Terror. Der Krieg gegen den Terror kann heute eingesetzt werden, um eine Vielzahl von Menschen anzugreifen, z.B. Gewerkschafter_innen, Aktivist_innen. Wir haben das kürzlich in den Vereinigten Staaten erlebt, wie der Krieg gegen den Terror zur Disziplinierung eingesetzt wird, sehr friedliche Bewegungen, die trotzdem eine gewisse Bedrohung für die Politik des Staates und des Kapital darstellen.

Du hast schon erwähnt, wo die Hexenverfolgungen stattfanden. Du machst das ja im Buch: Kannst du sagen, wie viele Menschen betroffen waren? Alle Frauen waren in gewisser Weise betroffen, aber wie viele wurden angeklagt? Wichtiger noch sind die Fragen: Wie wurden sie zu Hexen gemacht? Und wer machte eine Frau zur Hexe?

Es hat eine große Debatte über das Ausmaß der Hexenverfolgung gegeben. Leider werden wir diese Frage nie auflösen können, weil so viele Archive in den zwei Weltkriegen zerstört wurden. Deswegen sind vor allem in Deutschland viele Quellen verlorengegangen, aber nicht nur dort. Zudem gibt es viel Archivmaterial, das noch gar nicht ausgewertet worden ist. Das ist kapillare Arbeit, die über Kirchen, kleine Dörfer usw. gemacht werden muss. Diese Arbeit ist noch in keiner Weise abgeschlossen. Trotzdem würde ich angesichts der mir bekannten Positionen und Dokumente schätzen, dass wir es mit etwa 300.000 Frauen zu tun haben, im Zeitraum von einigen Jahrhunderten.

Es gibt wilde Zahlen, die oft zitiert werden, von mehreren Millionen. Ich halte das nicht für möglich. Es gibt keine Belege dafür. Die Zahl von einigen Hunderttausenden ist plausibler. Das andere Extrem sind Ausmaße von 6.000 bis 7.000, die durch bloßes Zählen einiger wichtiger Verfahren zusammenkommen, die stattgefunden haben. Bei vielen Verfahren gegen eine Hexe oder eine Gruppe von Frauen wurde berichtet, dass mehrere Frauen getötet wurden. Mehrere Frauen wurden verbrannt, exekutiert, ohne dass ihre Anzahl genannt wurde. Soviel zum Ausmaß.

Wie wurde jemand zur Hexe gemacht? Die Schaffung einer Hexe konnte auf unterschiedliche Weise geschehen. Es gibt eine Menge über die Veränderung zu sagen, die die Organisation der Hexenverfolgungen im Laufe von zweieinhalb oder drei Jahrhunderten erfuhr, bis diese ihren Höhepunkt erreichten. Interessanterweise richteten sich die Vorwürfe anfangs immer gegen eine Organisation, gegen ein Kollektiv.

Mit der Zeit wurden immer mehr Individuen beschuldigt. Das zeigt die wachsende Atomisierung der Beziehungen, die Individualisierung der sozialen Verhältnisse. Im klassischen Fall einer als Hexe bezeichneten Frau ist diese alt, ihre Versorgung hängt von Nachbarn ab, denen es besser geht und die sich versorgen können. Sie bettelt. Viele Hexen, vor allem in England, aber nicht nur dort, waren Bettlerinnen. Es waren ältere Frauen, und dass sie betteln mussten, um sich zu versorgen, dass sie von Haus zu Haus ziehen und nach etwas Wein, Milch oder Brot fragen mussten, zeigt schon, dass vorher viel passiert war. Im Mittelalter gab es diese Situation nicht. Im Mittelalter wurden den Älteren Lebensmittel zur Verfügung gestellt. Alte Menschen lebten nicht alleine. Normalerweise gab es eine Weitergabe in der Gemeinschaft der Dienerschaft oder Bauern, die in Abhängigkeit vom feudalen Adeligen arbeiteten. Alle Menschen wurden versorgt, wenn die jüngere Generation das Haus und die Bebauung des Landes übernahm. Dass diese Frauen alleine waren und bettelten, deutet genau auf eine Gesellschaft, die den Prozess der Einhegungen schon durchlaufen hat.

Also betteln sie und werden oft abgewiesen. Mit dem Kapitalismus entsteht eine neue Ideologie, die die Idee der Wohltätigkeit herabsetzt. Sie verfluchen dann, und nach dem Verfluchen werden sie beschuldigt, den Tod oder die Krankheit eines Kindes herbeigeführt zu haben, oder wenigstens die Krankheit eines Tieres usw. Oder sie werden für Stürme verantwortlich gemacht, z.B. Stürme, die die Ernte der Gemeinschaft zerstörten. Bestimmten Frauen wird dann vorgeworfen, den Sturm verursacht zu haben. Wenn man sich die Formen der Hexenverfolgung anschaut, fallen einige Dinge besonders auf. Erstens fällt auf, dass der erste Akt der Hexenverfolgung von oben kommt. Anders gesagt, sie kommen mit einer Gesetzgebung, die dann in die Dörfer und Städte gebracht wird. Sie wird vom Priester, von der Kirche vertreten, mit anderen Worten, sie wird als Ideologie und Angst von oben propagiert. Sie wird so propagiert, dass kein Zweifel besteht, dass du entweder kollaborierst oder selbst ins Netz der Beschuldigungen gerätst. Zweitens, wenn du die Ereignisse anschaust, erkennst du, dass die Hexenverfolgungen in einem Umfeld geschehen, das bereits eine große wirtschaftliche Umgestaltung erfahren hat. Es gibt bereits eine Polarisierung, indem die Distanz zwischen den Menschen viel größer geworden ist, als sie je zu Zeiten der feudalen Gemeinschaften war.

Es gibt bereits eine Bevölkerung, die landlos ist oder keine Subsistenzmittel hat. In der feudalen Gesellschaft war das sehr ungewöhnlich. Die Schaffung der Hexe hat also mit verschiedenen Aspekten zu tun. Auch die Schriften zur Dämonenlehre nehmen immer mehr zu und erzeugen nun die Figur der Hexe. Das ist sehr interessant. Sie sagen nun: Du musst dich vor diesen Leuten in Acht nehmen. Diese Leute verdienen keinerlei Hilfe, diese Leute sind gefährlich. Sie schaffen zunehmend eine Massenpsychose, mindestens in bestimmten Teilen der Bevölkerung, indem sie diese warnen, dass den Opfern der neuen Transformation der ökonomischen Verhältnisse nicht geholfen werden sollte und dass diese sogar gefährlich sein könnten. Dies das Umfeld, in dem sich die Anklagen der Hexerei ausbreiten.

Du brachtest das Buch 2004 heraus. Was ist nachher passiert? Wurde es in der feministischen Szene diskutiert?

Das Buch hatte einen gewissen Einfluss auf die feministische Szene und nicht nur auf die. Es ist sehr gut aufgenommen worden, was meiner Meinung nach damit zusammenhängt, dass es eine bestimmte historische Leerstelle ausfüllte, die für das Verständnis der ersten Phase kapitalistischer Entwicklung entscheidend ist. So hat es die Hexenverfolgungen für verschiedene soziale Bewegungen wieder in den Mittelpunkt des Interesses gerückt - besonders weil wir eine Rückkehr der Hexenverfolgung erleben. Das ist ein wichtiger Faktor, auf den wir uns konzentrieren müssen.

In den letzten drei Jahrzehnten hat es im Zusammenhang mit der Globalisierung in vielen Teilen der Welt, vor allem in Afrika, aber auch in Indien und Nepal, eine Wiederkehr der Beschuldigungen der Hexerei und auch der gewalttätigen Angriffe auf Frauen gegeben. Viele wurden getötet. Allein in Afrika sollen mindestens 20.000 bis 30.000 Frauen getötet worden sein, z.B. in Südafrika, Tansania, Ghana und vielen anderen Ländern. Viele Frauen wurden aus ihren Dörfern vertrieben, im Norden von Ghana, in Sambia, in Nigeria. Im Norden von Ghana gibt es Lager für Hexen, in die die aus ihren Gemeinschaften vertriebenen Frauen ziehen müssen. Sie leben dort unter miserablen Bedingungen, mit etwas Geld von NGOs und unter der Aufsicht lokaler Stammesführer.

Diese Frage ist auf einiges Interesse gestoßen, aber nicht in dem Maße, wie ich das erwartet habe. Die meisten, die dieses Phänomen untersuchen, sind vom Fachgebiet her Ethnolog_innen. Sie interessieren sich nicht so sehr für die Angriffe auf Frauen, als vielmehr dafür, wie das Okkulte in die politischen Diskurse Afrikas zurückgekehrt ist. Da sind z.B. Autor_innen wie [Jean and John] Comaroff, zwei durchaus bekannte Ethnolog_innen. Sie haben eine Reihe von Büchern geschrieben in denen sie untersuchen, warum Politiker in Afrika heute behaupten, magische Kräfte zu haben.

Das ist ein ganz anderes Thema als dieser besondere Angriff auf Frauen. Der erinnert ganz direkt an die Hexenverfolgungen im 16. und 17. Jahrhundert. Auch heute handelt es sich um ältere Frauen, die arm sind und vor allem in ländlichen Gegenden wohnen. Sie werden wieder beschuldigt, den Tod von Verwandten oder Leuten aus der Gemeinschaft durch böse Praktiken herbeigeführt zu haben.

Meine Arbeit zu den Hexenverfolgungen im 16. und 17. Jahrhundert ist sehr wichtig, weil sie mich bei der Analyse dieser neuen Hexenverfolgungen gleich auf den Zusammenhang mit der Transformation der wirtschaftlichen Verhältnisse gestoßen hat, die heute in Afrika und anderen Teilen der Welt vor sich geht. Es gibt massive Angriffe auf die Subsistenzmittel, Landenteignungen, Landraub. Die Auswirkungen dieser Entwicklungen auf das Verhältnis von Männern und Frauen, der zunehmende Ausschluss von Frauen von gemeinschaftlichem Eigentum, das Interesse lokaler Stammesführer und Behörden - mit Beteiligung ausländischer Firmen - die kommunalen Strukturen des Landes zu zerstören und die Menschen dort zu vertreiben, all das steht klar und deutlich hinter diesen neuen Hexenverfolgungen.

Ich möchte noch ein wichtiges Element hinzufügen: Hier spielt auch die Kampagne internationaler Institutionen eine Rolle gegen Formen der Subsistenz, die von Frauen getragen werden und die diese gegen die Strukturanpassungen verteidigen, z.B. als Reaktion auf Strukturanpassungen, die ganze Gemeinschaften auseinandergerissen haben. Viele Frauen haben Land besetzt, sogar in Städten, und haben begonnen, einige Nahrungsmittel zu produzieren und Subsistenzformen des Handels, der Nahrungsmittelproduktion usw. zu schaffen, die der Gemeinschaft ermöglichen, sich selbst zu versorgen. Sie werden jetzt stark angegriffen, von der Weltbank und allen möglichen Institutionen, die behaupten, dass genau diese Aktivitäten der Grund für die Armut der Welt wären, und dass die Frauen und Gemeinschaften Geld und Kapital brauchten, wie über die Grameen Bank, Mikrokredite usw. Ich habe eine Reihe von Artikeln darüber geschrieben. Ich habe versucht, einiges von der Methodik anzuwenden, die ich zum Verständnis der Hexenverfolgungen in der Vergangenheit benutzt hatte, um nun die in der Gegenwart zu verstehen. Ich sehe sie als Folgen der Globalisierung, nicht als kulturelle Ereignisse.

Abgesehen von diesen neuen Angriffen und Hexenverfolgungen, wie würdest du die Auswirkungen der Hexenverfolgungen beschreiben, dieser historischen Niederlage, ihre heutigen Auswirkungen auf Frauen im Allgemeinen?

Das ist eine sehr interessante Frage, weil ich zu der Ansicht gelangt bin... ... und hier ist ein anderes Feld. Ich hoffe, dass sich jemand... Wenn ich nur fünf Leben hätte! Meiner Meinung nach haben die Hexenverfolgungen nie aufgehört. Auch wenn das übertrieben klingen mag. Heute findet die Hexenverfolgung gegen Frauen auf viele Arten statt. Zunächst mal wird das Bild der Hexe weiter als Disziplinierungsinstrument gegen Frauen eingesetzt. Am Ende von "Caliban und die Hexe" habe ich einige starke Bilder, die zeigen, dass die weiblichen Kommunarden, die sogenannten "pétroleuses", als Hexen porträtiert wurden. Wenn also in der kapitalistischen Vorstellungswelt die Frauen angegriffen werden müssen, wird sofort auf das Bild der Hexe zurückgegriffen. Diese bestialische Kreatur, nur Sex und Lust, rein körperliche Substanz, ohne Verstand, bereit sich mit dem Teufel zu verbinden, so böse, irrational böse.

Dieses Bild gibt es. Über die Jahre schaute ich mir die Hollywood-Produktionen der 40er, 50er und 60er an und begriff mit der Zeit, dass das Bild der Hexe immer im Hintergrund stand. In so vielen Filmen. Wenn wir von der Hexe sprechen, muss sie nicht auf einem Besen oder auf einer Ziege gezeigt werden, es geht vielmehr um das Bild der vollkommen bösen Frau, die ohne erkennbare Gründe alle oder bestimmte Männer vernichten will. Bis heute zieht sich das als Thema z. B. durch viele Hollywood-Produktionen. Frauen wie in "Fatal Attraction", der Angriff auf eine Frau, der es nur um ihre Karriere geht und die ihre mütterlichen Pflichten vernachlässigt. Die mit diesem Thema verbundene Figur der Hexe ist zurückgekehrt. Es ist interessant, wie anders z.B. Harry Potter gesehen wird, der ein guter Junge ist und seine Magie auf gute Weise einsetzt. Dann gibt es da z.B. die böse Hexe Narnia, wie sie Filme beschreiben und Kindern gezeigt wird. Sie ist wieder die ganz und gar böse weibliche Figur.

In diesem Sinn haben die Hexenverfolgungen ideologisch nie aufgehört. Die Hexe ist immer noch ein sehr mächtiges Bild, eine Ideologie. Es gibt auch noch eine andere Hexenverfolgung. In den USA findet ein Angriff auf Frauen statt, mit dem der Staat die Kontrolle zurückgewinnen will, die Kontrolle der Männer über ihren Körper, ihre Arbeit.

Das nimmt insbesondere in Zeiten der globalen Krise zu, in denen von Frauen erwartet wird, dass sie nach Hause gehen und eine Menge unbezahlter Arbeit machen. Es gibt zum Beispiel in den USA ein neues Gesetz, das Frauen kontrollieren und bestrafen will für alles, was sie während einer Schwangerschaft machen. Frauen werden hier als Maschinen für die Produktion von Arbeitskraft gesehen. Es gibt Frauen in den USA, denen heimtückischer Mord vorgeworfen wurde, weil sie während der Schwangerschaft Drogen genommen hatten. Jetzt musst du also Angst haben, wenn du Wein trinkst oder Drogen nimmst, weil du wegen versuchtem Mord an dem Kind in deinem Bauch angeklagt werden kannst. Ähnliche Gesetze werden in vielen Staaten diskutiert. Besonders mit der Eskalation der globalen Krise gehen die Hexenverfolgungen und der Krieg gegen Frauen weiter.

Lass uns aus anderer Perspektive drauf schauen. Ich denke, das ist wichtig. Wenn wir uns die letzten Jahrzehnte anschauen, gab es eine starke Frauenbewegung, die Erfolge hatte, die wir heute noch sehen können, auch wenn es einen Backlash gegeben hat. Es gibt auch ein positives Bild der Hexe in der feministischen Bewegung...

Durchaus. Was ich beschrieben habe, ist genau eine Reaktion auf die Bewegung. Es war die Frauenbewegung, die das Interesse an den Hexen wieder geweckt hat und die Figur der Hexe neu bewertet. Ob das nun historisch fundiert ist oder nicht, die Hexe ist sicherlich ein Art Image, ein Symbol für die rebellische Frau geworden. Die Frauenbewegung hat das übernommen. In Rom formten z.B. italienische Feministinnen einmal im Rahmen einer großen Demonstration einen magischen Zirkel und sangen: "Tremate, tremate, le streghe son tornate!", "Zittert, zittert, die Hexen sind zurückgekehrt!"

Die Identifikation mit den Hexen ist stark und hat viele Bücher hervorgebracht, nicht zuletzt meins. Die Politisierung der Frage der Hexenverfolgung kam daher, dass sie vorher vollständig nicht nur aus der Geschichte gestrichen, sondern auch entpolitisiert und lächerlich gemacht wurden - in grotesker Weise lächerlich gemacht wurden. In den USA gehen die Kinder an Halloween herum und spielen "Süßes oder Saures!" Ein Genozid mit dem Mord und der schrecklichen Folter von Hunderttausenden Frauen und der Verwüstung ganzer Gemeinschaften wird auf ein kleines Spiel reduziert, das die Kinder spielen. Diese kleinen Mädchen setzen den Hut der Hexen auf, den diese in vielen Fällen tragen mussten, bevor sie verbrannt wurden. Sie stellen sie zur Schau, ohne zu wissen, dass viele Frauen so einen schrecklichen Tod starben. Es war sehr wichtig für die Frauenbewegung, das Schweigen zu brechen und dies wieder ans Tageslicht zu bringen und zu politisieren.

Ich frage nach dem positiven Bild, weil ich das für wichtig halte, wenn wir über "Hexen" sprechen. Hier gibt es z.B. jedes Jahr eine Walpurgisnacht als Frauendemonstration, in der sich positiv auf das Bild der Hexe bezogen wird. Alle Neudefinitionen, die du erwähnst über Sexualität usw., tauchen dort auf. Ob das gerechtfertigt ist oder nicht, das ist genau meine Frage an dich. Die Freiheit der Frauen, in allen Lebensbereichen selbst entscheiden zu können, was sie machen wollen, dafür steht die Hexe. Was denkst du darüber?

Ich unterscheide das Geschichtliche und das Politische oder das unterschiedliche Verständnis vom Politischen. Ich bin bereit, den Einsatz des Bildes von der Hexe in dieser Weise zu nutzen. Gleichzeitig kann ich die Form, wie die Hexenverfolgung und die Hexen in Teilen der Frauenbewegung verstanden werden, mit meiner Forschung nicht unterstützen, z.B. die Vorstellung, dass die Hexen in Europa eine Art alternative Religion darstellten, dass sie eine Sekte von Frauen waren, aus alter Zeit, mit Fruchtbarkeitsritualen. Das ist eine Theorie, die in den 20er Jahren von einem britischen Ethnologen begründet wurde. Diese Ansicht kann ich nicht [unterstützen]. Hexen waren in vielen Fällen Proletarierinnen - ich nenne sie proletarisch im weiten Sinne: arm, aus der Unterklasse, ländliche oder städtische Frauen. Sicherlich trugen sie alte Praktiken und Existenzformen einer vorkapitalistischen Sozialität. Z.B. führten die Frauen im ganzen Mittelalter in den städtischen und ländlichen Gemeinschaften in Europa die meisten Arbeiten gemeinsam aus. Wenn sie wuschen, taten sie das gemeinsam, wenn sie ernteten, dann gemeinsam. Es gab also ein intensives gemeinschaftliches Leben. Dieses gemeinschaftliche Leben war natürlich auch eine Quelle der Macht. Das wird durch die Hexenverfolgung zerstört. Dass die Frauen eine besondere Gruppe mit einer besonderen Kultur waren, und dass diese Frauen eine Art feministischen Bewusstseins hatten, dafür habe ich keine Belege finden können.

Es scheint, als würde das auch eine besondere weibliche Spiritualität wie die der Mutterschaft beinhalten...

Ja, genau, das auch. Ganz verschiedene Frauen wurden der Hexerei beschuldigt. Sie waren bäuerliche Frauen, die für Land kämpften, und sie waren Frauen, die tatsächlich Heilung praktizierten. Sie gingen von Haus zu Haus und markierten diese, usw. Sie vertraten nicht notwendigerweise eine spezielle Form der Spiritualität. Eine meiner Tanten, nein, meiner weiblichen Vorfahren in Italien, von der mir meine Mutter erzählte, lebte sogar noch im 19. Jahrhundert von der Markierung von Tieren. Mit anderen Worten, sie machte bestimmte Zeichen und sprach bestimmte Worte. Drei Jahrhunderte vorher wäre sie wahrscheinlich als Hexe verbrannt worden. Die Heilung von Tieren und Menschen war ein Beruf vieler Frauen, und sicherlich eine Quelle der Macht, durch die Vorhersage der Zukunft. Andere Frauen wurden wegen ihrer Sexualität beschuldigt, weil sie illegitime Beziehungen hatten, weil sie außerhalb der Ehe Kinder hatten, usw. Es gab also eine Vielzahl verschiedener Frauenfiguren. Dass die Verfolgungen den Angriff auf eine bestimmte Form der Spiritualität darstellten, dafür gibt es bisher keine historischen Beweise.

Die letzte Frage von mir. [Das Buch ist im Herbst 2012 auf Deutsch erschienen.] Hast du Vorschläge, wie diese Debatten neu aufgenommen und miteinander verbunden werden können? Du hast in deinem Vortrag schon Hinweise gegeben. Wie lässt sich dieses Buch und sein Inhalt mit heutigen Diskussionen verbinden? Hast du irgendwelche Vorschläge?

Mein Vorschlag wäre, und ich fände gut, wenn das Buch nach seinem Erscheinen ein neuer Anfang für die Erforschung und Analyse der Hexenverfolgung wird. Ich hoffe, dass das Buch ein Anfang sein wird, dass jemand dieses Buch nimmt, es liest und eine neue Arbeit beginnt. Dann könnte ein anderes "Caliban und die Hexe" herauskommen, in zehn Jahren oder so. Ich denke nämlich, dass es noch viele Fragen gibt, die untersucht werden sollten. Ich selbst würde [es gerne tun].

Es gibt jetzt so viel Arbeit zu tun, dass ich ständig hin und her gerissen bin zwischen dem Wunsch, diese Arbeit fortzuführen - was ich versuche, so gut ich es kann, besonders in Bezug auf die Gegenwart - und weiterzumachen mit dem, was heute besonders in den neuen Kämpfen passiert. Z.B. bin ich sehr interessiert, das Thema der Einhegungen weiter zu entwickeln. Auf welche besondere Weise die Hexenverfolgung mit den Einhegungen zusammenhängt, den Einhegungen von Land und von Waldgebieten. Das ist ein Teil davon, aber es ist ein wichtiger Teil. Hier liegt sicher auch eine direkte Verbindung zu dem, was heute passiert mit den neuen Hexenverfolgungen im Zusammenhang mit massivem Landraub. Heute wird allgemein angenommen, und sogar jeder Journalist erkennt das an, dass in den beiden wichtigsten Orten der neuen Hexenverfolgungen, in Afrika und in Indien die Frage des Landes die entscheidende, die Schlüsselverbindung ist. Natürlich geht es auch um die Geschlechterverhältnisse, die geschlechtliche Hierarchie, warum ginge es sonst um Frauen?

Die Frage nach Hierarchien und die nach einem bestimmten Konzeptes von Weiblichkeit spielen offensichtlich auch eine Rolle. Einhegungen und Landraub bilden jedoch einen entscheidenden Rahmen. Ich persönlich hoffe, dass jemand in diese Richtung weitermachen wird. Ich habe einige Arbeit gemacht und z.B. versucht zu zeigen, dass man vor allem mit Blick auf die Anklagen in der ersten Phase der Hexenverfolgung in Europa, die Anklagen im Zusammenhang mit Tieren, dass die Hexen Tieren verletzen oder der Ernte durch Stürme schaden, das lässt sich fast neu zusammensetzen, wie ein Puzzle. Du kannst alle Teile zusammensetzen und erkennst eine Bevölkerung, deren einer Teil enteignet wird und sein Land verliert, und der andere Teil sind die Enteigner.

Ich hoffe, dass diese Art der Analyse als Folge dieser neuen Veröffentlichung aufgenommen wird. Es geht natürlich in jedem Fall auch um die Verbindung zur Gegenwart, weil uns meiner Meinung nach die Hexenverfolgung immer noch begleitet. Eine Sache habe ich durch die Beschäftigung mit Geschichte gelernt: Diese großen Ereignisse, und besonders diese großen Ungerechtigkeiten, diese großen Verbrechen, die der Kapitalismus begangen hat, gehören nicht zur Vergangenheit. Sie können nicht archiviert werden. Wir müssen sie für immer im Blick behalten. Sie bieten eine Struktur für den Horizont, für ein gewisses Verständnis davon, was kapitalistische Gesellschaft ist und was kapitalistische Verhältnisse sind.

Vielen Dank!


Anmerkung

[1] Silvia Federici (2012): Caliban und die Hexe. Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation. Wien: Mandelbaumverlag kritik & utopie.

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Nadja Rakowitz:

Austeritätspraxen

Über gesundheitliche Nebenwirkungen der Troika-Politik in Griechenland

Vom 25.-28. Februar dieses Jahres ist eine Delegation des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte und von medico international nach Athen und Thessaloniki gefahren, um sich ein Bild von den Auswirkungen der Austeritätspolitik auf das Gesundheitswesen zu machen und um mit Leuten aus solidarischen Initiativen zu sprechen und die Möglichkeiten von konkreter praktischer Solidarität auszuloten. Ein weiteres Anliegen war es, mit Gesundheitspolitikern der Linken zu sprechen über die Pläne der EU, mit Hilfe des deutschen Gesundheitsministeriums genau jene Elemente des deutschen Gesundheitswesens in Griechenland zu implementieren, gegen die kritische (nicht nur) linke Kräfte zu kämpfen beginnen: die DRG-Finanzierung der Krankenhäuser. Nadja Rakowitz nahm als Geschäftsführerin des vdää[1] an der Reise teil und schildert ihre Eindrücke.[2]


Die Lichter gehen aus

Der erste Eindruck, den man von Athen, aber auch Thessaloniki hat, wenn man abends in die Stadt kommt, ist dunkel: Die Lichter sind ausgegangen. Man fährt an großen vier- bis fünf-stöckigen Wohnkomplexen vorbei und in kaum einem Fenster sieht man Licht. Das fällt richtig auf und als wir unsere griechischen Freunde fragten, erklärten sie, dass viele Leute inzwischen ohne Strom leben oder zumindest Strom sparen müssen. Das Nächste, was auffällt, sind die vielen geschlossenen kleinen Geschäfte und Werkstätten, von denen ein großer Teil der Griechen gelebt hat. Was machen all diese Leute, wenn sie arbeitslos werden oder ihr Geschäft schließen müssen? Was machen sie, wenn sie krank werden?

Als wir das größte Krankenhaus von Athen, Evangelismos, besuchten, konnten wir davon einen ersten Eindruck bekommen. Bei einem Treffen mit ca. 20 ÄrztInnen, Pflegekräften und Mitgliedern der Betriebsgewerkschaft erzählten diese, dass es im - öffentlich geführten - Krankenhaus an Arzneimitteln, Verbandsmaterial und einfachsten Dingen mangelt. Selbst Klopapier suchte ich in den Krankenhäusern, die wir in Athen und Thessaloniki besucht haben, vergeblich. Die ÄrztInnen und Pfleger tun, was sie können, sind aber heillos überlastet. Denn zum einen ist viel Personal entlassen worden oder gegangen (z.B. nach Deutschland), zum anderen haben die Krankenhäuser mehr zu tun, weil sich die Menschen Besuche beim niedergelassenen Arzt nicht mehr leisten können. Sie warten lieber, bis sie sich als Notfall ins Krankenhaus begeben können. »Therapie nach Leitlinien erhält kaum noch jemand«, erklärt ein junger Mediziner, »und Unversicherte schon gar nicht«.

Offiziell sind rund 30 Prozent der griechischen Bevölkerung nicht mehr krankenversichert. Viele Leute, die wir getroffen haben, gehen aber davon aus, dass bereits jeder Zweite aus der Absicherung herausgefallen ist. Seit die griechische Regierung auf Druck der Troika durchgesetzt hat, dass alle sozialstaatlichen Leistungen inklusive Krankenversicherung zwölf Monate nach Verlust des Arbeitsplatzes enden, ist die Zahl der Unversicherten dramatisch gestiegen, denn schließlich ist jeder vierte Grieche aktuell arbeitslos, bei Jugendlichen unter 24 Jahre ist es mehr als die Hälfte. Wer nicht krankenversichert ist, muss die Kosten einer Behandlung vor Ort in bar bezahlen oder aber die Rechnung wird dem Finanzamt gegeben, das versucht, das Geld am Ende des Jahres über die Steuer einzuziehen. Betroffene konsultieren also nur noch dann einen Arzt, wenn sie über Geldreserven verfügen - oder erst dann, wenn es gar nicht mehr anders geht. Für die Beschäftigten im Krankenhaus heißt das, dass sie zusätzlich zur offiziellen medizinischen Versorgung auch noch versuchen, Menschen ohne Versicherung irgendwie mit durchzuschleusen. Der Gedanke, Leute aus Geldgründen einfach unversorgt wieder nach Hause zu schicken, ist für viele von ihnen unerträglich. Die Beschäftigten stehen dadurch unter immensem Druck - und das bei Lohnkürzungen um 30 bis 50 Prozent seit letztem August, seit Monaten nicht bezahlten Bereitschafts- oder Nachtdiensten und bei Kürzung der Überstundenzuschläge. Sie gaben uns den dringenden Auftrag mit, darüber in Deutschland zu berichten und diese Zustände öffentlich zu machen. Gleichzeitig nutzten sie unseren Besuch, um ein Gespräch mit dem CEO, dem kaufmännischen Direktor des Krankenhauses, zu suchen und sich bei ihm zum einen zu beschweren über die katastrophale Lage und zum anderen an offizielle Zahlen heranzukommen, mit denen sie dann politisch argumentieren können. Schnell wurde die hitzige Diskussion nur noch auf Griechisch geführt. Für Übersetzung war der Druck im Kessel in diesem Moment zu hoch...

Wie weit die Ökonomisierung des - ehemals vorrangig öffentlich organisierten - Gesundheitswesens schon in die Strukturen und in den Kopf des kaufmännischen Direktors des Krankenhauses eingedrungen ist, zeigte sich, als dieser uns voller Stolz berichtete, dass dank der vor Kurzem eingeführten deutschen DRG die durchschnittliche Verweildauer im Evangelismos inzwischen bei 4,7 Tagen liege, man aber »wie die Besten« nur noch 3,5 Tage (in Deutschland aktuell 7,7 Tage) anstrebe. Ohne auf die gravierenden Probleme einzugehen, nahm er dieses eine Kriterium (das sehr gut messbar ist) als einzigen Maßstab für ein gutes Krankenhaus.

Wie dramatisch die Situation des Gesundheitswesens in Griechenland ist, wurde uns bei einer Demonstration (solche Demos finden einmal im Monat statt), an der wir in Thessaloniki teilnahmen, klar. Hinter einem Banner, auf dem stand: »Die Schließung von Krankenhäusern tötet«, gingen wir zusammen mit Leuten, die sich in der solidarischen Praxis dort (und z.T. auch bei Syriza) engagieren, in die Notaufnahmen von zwei großen Krankenhäusern und forderten den kostenlosen Zugang zu medizinischer Versorgung für alle - auch die Unversicherten. Das war erschütternd und ermutigend zugleich.

Solidarische Praxen - Notnagel oder Hoffnung für die Zukunft?

Sowohl in Athen (im Stadtteil Elliniko) als auch in Thessaloniki haben wir eine so genannte »Solidarische Klinik« bzw. Praxis besucht. Giorgos Vichas, ein Arzt und Mitbegründer der Praxis in Ellinko, berichtete, dass Ärzte des Sanitätsdienstes bei einer Demo im Sommer 2011 diese Idee entwickelt hatten. Sie wollten unabhängig vom Staat, aber auch von NGOs eine eigenständige Struktur schaffen, um in dieser »humanitären Krise« Menschen ohne Versicherung zu helfen - ob mit oder ohne griechischen Pass. Durch die Umsetzung der Maßnahmen der Troika kam es zu so großen finanziellen Einschnitten und hohen Selbstbeteiligungen, dass z.B. viele KrebspatientInnen keine Medikamente mehr bekommen (viele davon sind nach Auskunft unserer Gesprächspartner gestorben), dass Schwangere nicht mehr versorgt wurden (weil das in einem Krankenhaus 800 Euro kostet) und dass Kinder nicht mehr geimpft, manche sogar unterernährt seien (deshalb auch die Babynahrung im Lager der Praxis).

Dass sich die Situation mit dem letzten Memorandum im Herbst 2012 noch einmal ziemlich verschlechtert hat, zeigen alleine die Zahlen. Bis heute haben sie 6000 PatientInnen versorgt - 1000 von September 2011 bis August 2012, 1200 von August bis Oktober 2012 und die anderen 3800 von Oktober 2012 bis heute. Von dieser Zuspitzung in den letzten Monaten erzählten uns viele Leute in Griechenland. Auch dass im Zuge dieses letzten Memorandums viele Krankenhäuser geschlossen werden (sollen), macht die Versorgungssituation z.B. auf vielen Inseln noch schlechter. So soll das Krankenhaus auf der Insel Limnos ersatzlos zugemacht werden; die PatientInnen sollen die Fähre nach Lesbos nehmen und dort ins Krankenhaus gehen...

Ähnlich dramatisch ist auch die Situation bei der Versorgung mit Arzneimitteln. Seit 2012 bekommt man in Apotheken Tropfen, Tabletten oder Salben nur noch gegen Barbezahlung. Und hunderte Präparate sind überhaupt nicht mehr erhältlich. Das liegt unter anderem daran, dass Pharmafirmen nicht mehr liefern, weil die Refinanzierung aufgrund des Bankrotts des Nationalen Trägers für Gesundheitsleistungen (EOPYY) ungewiss ist. Die EOPYY soll Verbindlichkeiten von etwa zwei Milliarden Euro gegenüber Ärzten, Apotheken, Krankenhäusern und Pharmaherstellern bedienen, erhält gleichzeitig aber rund 500 Millionen Euro weniger staatliche Zuschüsse.

In der Praxis Elliniko arbeiten zur Zeit 200 Leute ehrenamtlich, darunter 75 ÄrztInnen und 15 ZahnärztInnen. Fast alle arbeiten zusätzlich zu einem anderen Job dort (in der Regel für ein paar Stunden die Woche). Sehr wichtig ist die kostenlose Abgabe von Arzneimitteln sowie von Babynahrung, Windeln etc., von der inzwischen auch Versicherte Gebrauch machen, die die Zuzahlungen nicht mehr leisten können. Es gebe, so berichteten uns Beschäftigte, drei Krankenhäuser in Athen, mit denen die Praxis zusammenarbeitet, die ebenfalls Unversicherte versorgen - so weit es geht und an den Gesetzen vorbei. Sowohl die Ärztekammer als auch die Regierung haben die Praxis anfangs bekämpft und schikaniert. Während die Ärztekammer ihre Drohung, den ÄrztInnen die Approbation zu entziehen, schnell zurücknahm, akzeptiert die Regierung die Arbeit immer noch nicht. Das linke Wahlbündnis Syriza unterstützt die solidarischen Praxen und andere solidarische Projekte und Netzwerke nach Kräften, die Kommunistische Partei (KKE) hingegen ist gegen die Praxen, da diese »den Staat entlasten«.

Über Letzteres sind sich Giorgos Vichas und seine KollegInnen durchaus im Klaren und es ist nicht ihre Absicht, langfristig ein öffentliches Gesundheitssystem zu ersetzen. Im Gegenteil: Parallel zu ihrer solidarischen Praxis kämpfen sie politisch für eine gute und ausreichende öffentliche Gesundheitsversorgung. Sie sind sich auch darüber im Klaren, dass sie nicht einfach zurück wollen zum status quo ante, denn dieser war geprägt von Korruption, Überversorgung (mit entsprechend hohen Arzneimittelausgaben) und Ineffizienz.[3] Diese Fehler seien schon vor der Krise von einigen Leuten, auch ÄrztInnen, kritisiert worden, aber mit wenig Erfolg. Giorgos beschreibt die Situation so: »Wir kämpfen gegen zwei Feinde: gegen die Troika und die 'Inlandstroika', die deren Politik umsetzt, und gegen uns selbst. Auch wir müssen uns ändern.« Die solidarischen und selbstorganisierten, gut funktionierenden Arbeitsformen könnten ein Vorbild für ein solidarisches Gesundheitswesen der Zukunft sein, so seine Hoffnung.

Von uns (wir waren übrigens die erste ausländische Ärzteorganisation, die ihre Praxis besucht hat!) erhoffen sich die KollegInnen in den solidarischen Praxen, dass wir in Deutschland verbreiten, wie die Situation ist, und diejenigen kritisieren, die für diese Politik verantwortlich sind. Finanzielle Unterstützung wollen sie übrigens explizit nicht. Sie brauchen Medikamente, aber kein Geld - auch weil sie nicht in den Ruch der möglichen Korruption geraten wollen.[4]

Die solidarische Praxis in Thessaloniki arbeitet praktisch ganz ähnlich wie die in Athen, hat aber eine andere Geschichte. Sie ist entstanden während eines Hungerstreiks von MigrantInnen, die medizinisch versorgt werden mussten. Sie war in ihrem Ursprung politisch und von Selbstorganisationsvorstellungen aus dem migrantischen Milieu geprägt. Hinzu kommt, so schien es uns, dass es in Thessaloniki eine Tradition an sozialmedizinisch geprägten ÄrztInnen gibt, die nicht erst durch die oder in der Krise Medizin als etwas Politisches verstehen. Lernen konnten sie das - und heutige Medizinstudierende können das immer noch - an der Uni Thessaloniki bei Alexis Benos, einem Professor für Sozialmedizin/Public Health, der auch für Syriza aktiv ist.

Die Rolle von Syriza

Mit Leuten von Syriza hatten wir mehrfach Kontakt. Theodoros Paraskevopoulos, der für die Parlamentsfraktion am Programm von Syriza mitarbeitet, machte eine Einführung in die polit-ökonomische Situation und betonte dabei, dass im Moment neben der Entwicklung eines Regierungsprogramms das wichtigste Anliegen von Syriza sei, die verschiedenen solidarischen Projekte und Netzwerke zu unterstützen. Dafür sei Solidarity for All [5] gegründet worden (die wir dann auch besucht haben). Dabei handelt es sich um eine Art Dachorganisation, die zum einen Gelder verteilt (jeder Parlaments-Abgeordnete der Syriza gibt 20 Prozent seines Gehalts an die Organisation ab), und zum anderen versucht, Netzwerke zwischen den verschiedenen Projekten zu knüpfen und diese miteinander in Kontakt zu bringen. Die Organisation arbeitet seit Oktober 2012 und alle MitarbeiterInnen betonen, dass sie nicht direkt für Syriza arbeiten und schon gar nicht an politische Weisungen gebunden sind... Das schien uns bezeichnend für die Beziehung von Syriza zu den sozialen Bewegungen. Sowohl die verschiedenen linken Strömungen in der »Partei« als auch diese selbst und soziale Initiativen bzw. unabhängige Gruppen bewegen sich - angesichts der ernsten Lage - aufeinander zu und müssen, wie es Alexis Benos in einem Interview formuliert, die alte Art zu arbeiten und Fraktionskämpfe auszutragen, aufgeben und zusammenarbeiten.[6] Dies bestätigten auch Jannis Milios, Parlamentsabgeordneter und Ökonomieprofessor in Athen, sowie die Mitarbeiter von Solidarity for All und von der solidarischen Praxis in Thessaloniki.

Dass sich die Bewegungen politisch zu verallgemeinern beginnen, zeigte sich uns auch daran, dass es für die KollegInnen von der solidarischen Praxis völlig klar war, uns auch kurz zur selbstverwalteten Fabrik VIO.ME in Thessaloniki zu fahren und die Gelegenheit zu geben, mit den Beschäftigten dort zu sprechen. Den Vorsitzenden der Betriebsgewerkschaft, Makis Anagnostou, trafen wir am Abend dann auch auf einer offenen Syriza-Versammlung, wo er und der Wirtschaftsexperte von Syriza, John Dragasakis, das ökonomische Programm im Falle einer Regierungsübernahme erläuterten.[7] Alle Beteiligten wissen, dass sie nur dann politisch erfolgreich sein können, wenn es in den anderen Ländern der EU Unterstützung bzw. Solidarität durch starke linke Bewegungen gibt.

Kritik übten unsere FreundInnen in Thessaloniki an Syriza, dass diese - anders als z.B. die KKE - in ihrer Öffentlichkeitsarbeit dem Gesundheitsthema nicht die Priorität einräumt, die es verdiente. An der humanitären Krise im Gesundheitswesen lassen sich die konkreten Auswirkungen der Austeritätspolitik gewissermaßen hautnah deutlich machen - und an der praktischen Arbeit der solidarischen Praxen lässt sich eine kollektive selbstorganisierte Arbeit als Hinweis für Wege aus der Krise ebenfalls erfahren.

Zur Lage der Flüchtlinge

Einer der traurigsten Momente der Reise war der Besuch des Netzwerks für politische und soziale Rechte Dyktio im Athener Stadtteil Exarchia: Dort trafen wir Nasim Lomani, der schon vor Jahren aus Afghanistan nach Griechenland geflohen ist und der dort politische Beratung für Flüchtlinge und Menschen ohne Papiere macht. Die massive Verarmung und die Arbeitslosigkeit machen die Lage für die hunderttausende Flüchtlinge in Athen noch schwieriger als früher. Selbst diejenigen, die legalisiert wurden verlieren mit dem Job auch die Legalisierung. Das macht die Lage für sie extrem schwierig.

Griechenland sei aber schon vor dem Ausbruch der Krise, ca. seit 2005, kein sicheres Land mehr für Flüchtlinge. Aber seit Ausbruch der Krise und dem damit einhergehenden wachsenden Rassismus - nicht nur der Anhänger der faschistischen Partei sondern auch der konservativen Regierungspartei und damit breiter Gesellschaftsschichten - seien politische Arbeit und politische Kampagnen kaum oder gar nicht mehr möglich. "Wir kämpfen nur noch ums Überleben", so das erschütternde Fazit von Nasim. Er demonstrierte uns dies an zwei Stadtplänen von Athen, in denen so genannte "No-Go-Areas", also Stadtteile, in denen sich Flüchtlinge nicht mehr sicher bewegen können, eingezeichnet waren. Alleine im letzten Halbjahr hat sich die Zahl dieser No-Go-Areas deutlich sichtbar erhöht...

Nach diesem Besuch wurde uns erst recht deutlich, wie wichtig es ist, die vielen solidarischen Projekte zu unterstützen und diesen rassistischen Tendenzen dort wie auch in Deutschland etwas entgegenzusetzen.


(Überarbeitung eines Textes, der im März im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 3/2013 erschienen ist.)


Anmerkungen:

[1] Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (Anm. der Redaktion).

[2] Mein Dank geht an Kirsten Schubert von medico international, die ebenfalls bei der Reise dabei war und mir viele Materialien zur Verfügung gestellt hat.

[3] Vgl. Alexis Benos / John Lister: »Syriza - Reality Is Forcing Us To Forget The Old Ways Of Working«, Socialist Resistance, September 14, 2012, in: www.zcommunications.org/

[4] Aufrufe der Klinik zu Soliaktionen finden sich auf der Homepage des vdää unter: Themen / Gesundheitspolitik international

[5] Ein Positionspapier von Solidarity for All und eine Analyse der Lage in Griechenland in Englischer Sprache findet sich unter:
www.solidarity4all.gr/sites/www.solidarity4all.gr/files/aggliko.pdf

[6] Vgl. Alexis Benos / John Lister: »Syriza - Reality Is Forcing Us To Forget The Old Ways Of Working«, a.a.O.

[7] Vgl. Auch Alexis Tsipras: »Unsere Lösung für Europa - ein Vorschlag«, in: Le Monde Diplomatique, Februar 2013

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Stefan Hölscher:

Das ZDF-Fernsehstudio im neuen Design oder:
Wie die Mitte besser sieht

Seit 2009 hat das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF), mit dem man angeblich schon vor dem Skandal um die direkte Einflussnahme auf dessen interne Entscheidungen durch den ehemaligen Ministerpräsidenten Hessens, den CDU-Politiker Roland Koch, glaubt man einem berühmten Werbeslogan, angeblich besser sehen konnte, ein neues Fernsehstudio, welches der interessierten Öffentlichkeit gegenüber einfach Grüne Hölle genannt wird. Dem ist nicht so, weil sich manche der Graswurzelrevolutionen der 1970er Jahre heute in ihr Gegenteil verkehrt hätten und die öffentlich-rechtlichen Anstalten ebenso wie manche Stadtteile vieler Metropolen der Bundesrepublik immer weiter in gentrifizierte Ghettos der Oberschicht verwandeln würden und man dort Bio kauft, weil Bio auf der Verpackung steht, sondern weil die Macher der Abendnachrichten auf die Idee gekommen sind, eine früher unter dem Namen Bluebox bekannte Filmtechnik weiter zu verfeinern, um mit den digitalen Programmiercodes des Internetzeitalters Schritt halten zu können.

Im neuen Fernsehstudio des ZDF werden die Kameras nur noch teilweise durch die lebendige Arbeit menschlicher Körper, sondern von zwei speziell für diese Aufgabe konstruierten Robotern bewegt. Die Moderatoren dürfen schon lange nicht mehr rauchen, wenn sie auf Sendung sind, haben aber als Ausgleich für ihre Strapazen einen Laptop der Marke Macintosh sowie ein sogenanntes Steuerpult erhalten - letzteres kann ebenso direkt die automatischen Kameras ansteuern wie es die von der Redaktion in Echtzeit übermittelten nächsten Einspielungen ankündigt. Beide sind dezent in einem geschwungenen, dreiflügeligen Tisch eingelassen, dessen Design an das Innere des psychedelisch gestalteten Raumschiffs aus Stanley Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum erinnert. Würde sich das mediale Environment des neuen Studios nicht in leider überhaupt nicht spaßige gesamtgesellschaftliche Entwicklungen einfügen, könnte man fast über seine an die Anfänge des Science Fiction-Genres erinnernden Momente schmunzeln. In einem Aufsatz mit dem Titel Das unerträgliche Bild vertritt der französische Philosoph Jacques Rancière die unkonventionelle These, dass uns die Fernsehanstalten keineswegs mit Bildern überschwemmen, sondern sie im Gegenteil deren Menge auf eine geordnete Anzahl und auf die redundante Veranschaulichung ihrer Bedeutung reduzieren würden. Das Problem sei nicht, dass wir zu viele Bilder sehen, sondern dass die Bilder, die wir präsentiert bekommen, zuvor ausgewählt worden sind von Menschen, die im Gegensatz zu uns für fähig gehalten werden, den Informationsfluss zu entziffern und zu übersetzen. Somit steht am Anfang der Politik der Medienbilder eine Trennung der Menschen in jene, die in der Lage wären zu sehen und zu sprechen über sie und die, welche dieses Vermögen nicht hätten. Daraus folgend ist Rancières zentraler Punkt im Hinblick auf den gegenwärtigen Medienwandel, dass es immer mehr einerseits das Sichtbare als Schicksal der Massen und andererseits das Sprachliche und die Kompetenz, über es zu urteilen, als Privileg einiger Weniger gibt.[1]

Das Problem ist jedoch, dass die Körper, die im Sichtbaren besprochen und beurteilt werden, ohne selbst die Möglichkeit des Sprechens zu haben, mit denselben Fähigkeiten ausgestattet sind wie die, von denen sie kommentiert und in ein System der redundanten Bedeutung - wie die von dem hauptberuflichen Moderator Claus Kleber Erklärräume genannten Winkel des ZDF-Nachrichtenstudios - integriert werden. Ein Bild kommt niemals allein. Es ist stets Teil einer Anordnung von Bildern, die gemeinsam eine bestimmte Wirklichkeit bezeugen: "Das Informationssystem ist ein 'Gemeinsinn' dieser Art: eine raumzeitliche Anordnung inmitten derer Wörter und sichtbare Formen zu gemeinsamen Gegebenheiten, gemeinsamen Wahrnehmungs-, Affektions- und Sinngebungsweisen zusammengesetzt sind."[2] Deshalb stellen die Massenmedien nach Rancière in erster Linie eine bestimmte Sichtbarkeit der Gemeinschaft her. Diese Sichtbarkeit ist aus vielen kleineren Sichtbarkeiten, die alle vermittels Ähnlichkeitsbeziehungen miteinander verbunden sind, zusammengesetzt und hat die Funktion, Zeugnis abzulegen über eine uns allen gemeinsame Welt. Die Gemeinschaft des uns gemeinsamen Erfahrungsfeldes wird schließlich von dem, was Rancière Archi-Ähnlichkeit nennt, zusammengehalten als "jene, die kein Abbild der Wirklichkeit liefert, sondern unmittelbar von dem Anderswo, aus dem sie kommt, zeugt."[3]

Ich möchte in diesem Zusammenhang vorschlagen, das neue ZDF-Fernsehstudio als Teil eines Symptoms zu lesen für solche gegenwärtige Entwicklungen, in denen sich die Gesellschaften zunehmend offensichtlicher in gesellschaftliche Mitten verwandeln und der Konsens als wortwörtliches Einvernehmen aller Sinne und Zusammenstimmen des Sichtbaren und dessen, was über es sagbar ist, zum Fundament für etwas wird, was Rancière an anderen Stellen wiederholt Post-Demokratie genannt hat. Es geht mir nicht darum, das neue Design des Studios unter apparativen, technischen Gesichtspunkten zu betrachten, sondern ich will fragen, was diese Apparate und diese Technik in ihren Effekten für das Gemeinsame einer Gemeinschaft bedeuten. Im Folgenden soll keine medientheoretische Analyse des neuen ZDF-Fernsehstudios im Vordergrund stehen, obwohl ich am Rande ein gewisses medientheoretisches Instrumentarium, das wohl am nächsten liegt, wenn es um Phänomene der in den letzten Jahren zunehmenden Verschmelzung von heterogenen medialen Apparaten und Techniken geht, aus einem skeptischen Winkel heraus beleuchten will.

Alle, die einmal die neuen Nachrichten des ZDF gesehen haben, wissen, dass sich deren Ingenieure nicht nur von Bildleisten wie denen in I TUNES oder YOU TUBE, sondern auch von der glatten, flächigen Kompositionsweise, bei der es keine harten Kanten zwischen den Bildelementen gibt und sie meistens fließend ineinander übergehen, aus MTV oder VIVA haben inspirieren lassen. Insofern könnte Henry Jenkins Recht haben, wenn er im Vorwort zu seinem 2006 erschienenen Convergence Culture - Where old and new media collide schreibt:

"By convergence, I mean the flow of content across multiple media platforms, the cooperation between multiple media industries, and the migratory behavior of media audiences who will go almost anywhere in search of the kinds of entertainment experiences they want. [...] In the world of media convergence, every important story gets told, every brand gets sold, and every consumer gets courted across multiple media platforms."[4]

Seit einiger Zeit macht die sogenannte Konvergenztheorie, deren Anhänger davon ausgehen, dass entweder die Medieninhalte, die medialen Dispositive oder beide immer mehr miteinander verschmelzen, viel Reden um sich. Was mich in diesem Zusammenhang jedoch mehr interessiert als die Anwendung dieses Instrumentariums auf ein empirisches Feld ist die Frage, inwiefern es selbst in erster Linie mit einer bestimmten Auffassung der gegenwärtigen Gesellschaften als Gesellschaften des Konsenses korrespondiert, also unentwirrbar in sein Untersuchungsfeld verwickelt ist. Ich möchte deshalb lieber, vor dem Hintergrund der Überlegungen Rancières zu dissensuellen Gemeinschaften, einen (etwas polemischen) Begriff der Divergenz einführen, den ich anschließend einer Konvergenz, zumindest der Medieninhalte, gegenüberstellen würde.

Rancière beschreibt in Das Unvernehmen den Zustand der Gegenwart als Post-Demokratie und rückt diese in starke Nähe zur platonischen Idee des Staates als mit sich selbst identischem, organisch gegliederten Körper. Prinzipiell basiert für ihn jeder politische Raum zuallererst auf dem, was er eine erste Ästhetik nennt, die festlegt, was sicht- und sagbar ist, wer die Kompetenz zum Sprechen hat, wer wie mitgezählt wird und wer nicht. Sie ist "die Aufteilung des Sinnlichen, durch welche die Körper sich in Gemeinschaft befinden"[5], wobei jede Gemeinschaft immer auch Gemeinsames in Teile unterteilt und Anteile daran ungleich verteilt. Im Gegensatz zu anderen Aufteilungen des Sinnlichen lässt die Post-Demokratie das Erscheinen eines Anteils der Anteillosen nicht zu. Alle sind hier an ihrem Platz und sollen der ihnen angemessenen Tätigkeit nachgehen. Niemandem ist es erlaubt, etwas anderes zu tun als das, was bestimmte Fähigkeiten vorschreiben. Die Arbeiter in Platons Staat haben ebenso wenig Zeit, sich um etwas anderes als um ihre Arbeit zu kümmern wie die heute immer weiter wachsende sogenannte "Schwellenbevölkerung"[6], deren Figur Michel Foucault in Die Geburt der Biopolitik hervorhebt, die die Fähigkeit hat, etwas anderes zu tun als zu warten auf Arbeit. Sie stellt eine von Foucault "Reserve der Handarbeit"[7] genannte Menge - "aus der man schöpfen kann, wenn es nötig wird, die man aber auch auf ihren unterstützten Status verweisen kann"[8] - dar für eine Wirtschaft, deren Ziel nicht länger die Vollbeschäftigung ist. In diesem ethischen Zustand einer Gemeinschaft fallen heute wie damals Seinsweisen und Tätigkeiten der Körper mit ihren Aufgaben und Plätzen unterschiedslos zusammen, ohne Abstand, ohne Lücken und ohne Löcher, aus denen etwas, das nicht seine klar umgrenzte Position im derart verrechneten Ganzen hat, entfliehen könnte.

Rancière verwendet zentral zwei Begriffspaare, anhand derer er entgegengesetzte Pole innerhalb jeder Aufteilung des Sinnlichen beschreibt. Erstens stellt er die Polizei der Politik gegenüber, zweitens die Identifizierung der Subjektivierung. Polizei ist für ihn der bereits konstituierte politische Raum als eine immer ungleiche Verteilung von Plätzen und Funktionen: "Für mich bezeichnet die Polizei eine Körperordnung, von der die Einteilungen zwischen den Weisen des Handelns, des Seins und des Redens definiert werden, eine Ordnung, durch die diesen bestimmten Körpern mittels ihres Namens diese bestimmten Stellen und diese bestimmten Aufgaben zugewiesen werden."[9] Politik dagegen hat keinen ihr eigenen Gegenstand, den sie als Ziel eines Projekts verwirklichen könnte, ihr Ausgangspunkt und ihr Einsatz ist jedoch stets die prinzipielle Gleichheit aller sprechenden Wesen. Diese Gleichheit lässt sich nicht berechnen oder einer gerechten Distribution unterziehen, sie kann immer nur aufs Neue und in singulären Akten verifiziert werden als Artikulation eines Anteils derer, die keinen Anteil haben (wozu potentiell jeder von uns gehört) und deshalb der einen, aufgeteilten Gemeinschaft eine andere, supplementäre entgegensetzen: "Als politisch kann jede Tätigkeit bezeichnet werden, die einen Körper von dem ihm angewiesenen Ort anderswo hin versetzt; die eine Funktion verkehrt; die das sehen lässt, was nicht geschah, um gesehen zu werden; die das als Diskurs hörbar macht, was nur als Lärm vernommen wurde."[10]

Die Konfrontation zwischen Polizei und Politik ist es deshalb, die für Rancière eine dissensuelle Gemeinschaft ins Spiel bringt und nach ihm das Herz der Demokratie ausmacht. Durch Bilder des Ganzen, die sich selbst und jedem möglichen Ganzen unähnlich werden und an der Grenze aller Verrechnungen der Körper, ihrer Orte und Aufgaben, wird jede Zählung und Aufteilung des gesellschaftlichen Raumes, wenn es Politik gibt, mit ihrer eigenen Kontingenz konfrontiert. Die Figur eines notwendigerweise supplementären demos steht dann der berechneten Bevölkerung gegenüber. Während das identitäre, polizeiliche Prinzip einen Körper auf seinen Platz verweist und ihn stets daran erinnert, dass, wie Sokrates und Glaukon es in Der Staat fordern, seine Aufgaben nicht warten und er deshalb keine Zeit hat, sich anderen Dingen zu widmen als den Tätigkeiten, für die er bestimmt ist, seine Augen, wie Platon sagt, also immer dort sein müssen, wo seine Hände beschäftigt sind, bewegen Subjektivierungen die Körper weg von den Orten, die für sie vorgesehen sind. Sie können nie aufgehen in einer bestimmten Aufteilung des Sinnlichen und sind immer verbunden mit einer Reihe von singulären Handlungen, die "eine Instanz und eine Fähigkeit zur Aussage erzeugen, die nicht in einem gegebenen Erfahrungsfeld identifizierbar waren, deren Identifizierung also mit der Neuordnung des Erfahrungsfeldes einhergeht."[11]

Was hat das alles nun mit dem neuen Design des ZDF-Nachrichtenstudios zu tun? Ich möchte behaupten, dass sich an ihm bestimmte Symptome ablesen lassen, die in einem engen Zusammenhang mit den Analysen zur Post-Demokratie stehen. In einer zentralen Passage seiner Untersuchungen über Das Unvernehmen setzt sich Rancière nämlich mit Jean Baudrillards Begriff der Simulation auseinander und kehrt dessen Behauptung, wir hätten es heute mit "Simulakren dritter Ordnung", die losgelöst wären von jeder Referenz und als referenzloser Code und pures "Strukturgesetz des Wertes"[12] frei zirkulieren würden, um. Rancière denkt das Problem der Simulation von einer anderen Richtung aus.

"Als Herrschaft der Meinung hat die Post-Demokratie zur Aufgabe, die verstörte und verstörende Erscheinung des Volkes und seiner immer falschen Zählung, hinter dem Verfahren einer allumfassenden Vergegenwärtigung des Volkes und seiner Teile und des Harmonisierens des Zählens der Teile und des Bildes vom Ganzen, zum Verschwinden zu bringen. Ihre Utopie ist jene einer ununterbrochenen Zählung, die das Ganze der 'öffentlichen Meinung' als eins mit dem Volkskörper vergegenwärtigt. Was ist denn die Gleichsetzung der demokratischen Meinung mit den Umfragen und Simulationen? Sie ist eigentlich die Widerrufung der Sphäre der Erscheinung des Volkes. Die Gemeinschaft wird darin unaufhörlich ihr selbst präsentiert. Das Volk ist darin niemals mehr ungerade, unberechenbar und undarstellbar. Es ist immer zugleich vollständig abwesend und anwesend. Es ist ganz in einer Struktur des Sichtbaren gefangen, einer Struktur, in der man alles sieht und alles gesehen wird, und in der es daher keinen Ort mehr für das Erscheinen gibt."[13]

Die Simulation ist deshalb nach Rancière nicht wie bei Baudrillard als Trugbild den Simulakren der Imitation und Produktion oder dem Realen entgegengesetzt, weil ihr Code referenzlos sei, sie ist vielmehr im Gegenteil ein Stadium der eindeutigen, höchsten und redundanten Referenz: Eine perfektionierte Archi-Ähnlichkeit der Bilder mit dem einen Bild der gut geordneten und organisch gedachten Gemeinschaft nach dem Modell Platons, in der die Köpfe denken und die Arme anpacken oder auf Arbeit warten, in neuem Gewand. Sie ist, wie Rancière weiter ausführt, kein Verlust der Wirklichkeit, sondern deren Reduktion auf das einzig Mögliche, das Notwendige und das kalkulierte Erscheinen, "die Herrschaft des All-Sichtbaren"[14]. An diesem Punkt lässt sich eine Begegnung zwischen Baudrillard und Rancière denken, denn gemeinsam ist ihnen die Problematisierung dessen, was von Theoretikern der Medienkonvergenz wie Jenkins an den neuen Medien euphorisch begrüsst wird, nämlich deren "implications for how we learn, work, participate in the [Hervorhebung d.A.] political process, and connect with other people all around the world."[15] Was dagegen sowohl für Baudrillard als auch für Rancière die Simulation ausschließt, ist gerade eine immer offene, dissensuelle Form von Politik, die jeden einheitlichen politischen Prozess von sich selbst abbringt und mit etwas konfrontiert, das in ihm unmöglich erscheint, eine in die Konvergenz jedes Prozesses eindringende Divergenz der Politik. Diese Divergenz, als das Erscheinen eines Anteils der Anteillosen im Raum derer, die bereits an ihm teilhaben und im Konsens ihre Teile und Anteile an dem, was sie zusammenhält aushandeln, ist der Abstand und die Trennung der Gemeinschaft von sich selbst. Auf diesen Abstand und auf diese Trennung wollen sowohl Baudrillard als auch Rancière hinaus, sie ziehen aber sehr unterschiedliche Schlussfolgerungen. Nach Baudrillard beruht der simulierte politische Prozess auf einem frei von jeder Referenz zirkulierenden Code, nach Rancière dagegen ist er es, der eine ethische Gemeinschaft begründet, indem er zu viel an Referenz mit sich bringt. Er verschmilzt untrennbar Wirklichkeit und Bild und verhindert dadurch eher die Erscheinung als dass er sie, wie bei Baudrillard, von jeder Referenz befreien und multiplizieren würde.

"Die Identität des Wirklichen mit seiner Reproduktion und Simulation ist das Nichtstatthaben der Verschiedenartigkeit des Erscheinens, das Nichtstattfinden also der politischen Konstituierung der nicht-identitären Subjekte, die die Gleichartigkeit des Sinnlichen stören, indem sie die getrennten Welten zusammen sehen lassen, indem sie Welten strittiger Gemeinschaften organisieren. Der 'Verlust des Wirklichen' ist tatsächlich ein Verlust des Erscheinens. Was er also 'befreit' ist nicht eine neue Politik der kontingenten Vielheit, sondern die polizeiliche Gestalt einer Bevölkerung, die genau identisch mit der Aufzählung ihrer Teile ist."

Indem also das demos, das immer ein supplementäres ist und in keinem Ganzen aufgehen kann, in die Figur der Bevölkerung umgerechnet, auf das Gesetz von Statistik und Wahrscheinlichkeit reduziert und allabendlich in den Nachrichten besprochen und als mit sich identische Sichtbarkeit präsentiert wird, kommt es ebenfalls nicht zu seiner Erscheinung in Form von strittigen Bildern. Denn die Erscheinung des Volkes wäre immer eine von sich selbst abweichende Gemeinschaft und die Artikulation eines prinzipiellen Dissenses über das ihr Gemeinsame innerhalb der Aufteilung des Sinnlichen. Rancière kann, weil nach ihm heute eine einzige Rechnung ohne Rest aufgeht und die Gemeinschaft vollends in die Auszählung ihrer Meinungen und in Interessen präzise zählbarer Teile verwandelt wird, zu dem Schluss kommen, dass die mediale Simulation politischer Prozesse etwas immer unmöglicher erscheinen lässt: Den Einsatz und die Verifikation der prinzipiellen Gleichheit aller sprechenden Wesen und somit die Bühne der Politik selbst. Durch die mediale Simulation von politischen Prozessen wird jeder potentielle Streithandel zwischen zuvor nicht festgelegten Parteien auf ein mögliches Problem und bestimmte Positionen innerhalb des polizeilich strukturierten Sinnlichen reduziert, jedes Ereignis mit einem zu ihm passenden Kommentar (und jeder Kommentar mit einem zu ihm passenden Kommentator) vernetzt und eingefügt in den einen gemeinsamen, ungleich verteilten Raum. Somit ist die arche als Einzäunung des Politischen der gegenwärtigen Gesellschaften, wie sie auch als Symptom am neuen Design des ZDF-Fernsehstudios abgelesen werden kann, eine Herrschaft des Vollen als der vollständigen Innerlichkeit einer Gemeinschaft, die nach Rancière letztlich mit ihrer eigenen Leere zusammenfällt, indem "das Leere ihrer Rede das Leere des politischen Schauplatzes überdeckt"[16].

Ich möchte diesbezüglich mit einer weiteren Anekdote enden: Der Moderator Claus Kleber sagt an einer Stelle, während er das neue ZDF-Nachrichtenstudio präsentiert, dass jetzt für Improvisation kein Platz mehr ist, weil die unterschiedlichen Videoeinspielungen, Graphiken und Live-Schaltungen zu Interview-Partnern genau getimt seien und sich die Nachrichtensprecher deshalb stets darüber bewusst sein müssten, auf welcher Wand der Grünen Hölle das folgende Material im "Klärraum" eingeblendet wird. Ebenso wenig könne man jetzt noch punktuell den gesprochenen Text verändern, während die Sendung laufe. Die Grüne Hölle als Symptom der ethischen, post-demokratischen Gemeinschaft bestimmt also einen Raum der Konvergenz, der alle Ereignisse umfasst und in sein Kalkül integriert. Sie ist deshalb auch ein Raum des reinen Möglichen, der alles verbietet, was unmöglich ist: "'Alles ist möglich', das heißt, 'nichts ist als das Mögliche'. [...] Das, was nicht möglich ist, hat kein Recht auf Existenz. [...] Das Mögliche wird heute dem 'einzig Möglichen' gleichgesetzt. In diesem Sinn wird es mit der Notwendigkeit gleichgesetzt"[17], wie Rancière schreibt. Es gibt also zwei einander entgegengesetzte Tendenzen, die sich heute aneinander messen könnten. Die Konvergenz, mögen ihre technischen und apparativen Dispositive, wie Jenkins betont, auch noch so sehr auseinander gehen, die alles auf eine einzige Seinsweise der vereinten und mit sich deckungsgleichen Gemeinschaft zusammenzieht einerseits und andererseits eine unmögliche, aber doch insistierende Divergenz, welche die Gemeinschaft von sich selbst entfernen und die Körper voneinander und von ihren berechneten Plätzen trennen würde. Diese heute mehr und mehr unmöglichere Gemeinschaft des Abstands und der Trennung ist es, die den auf ihre vollständige Sichtbarkeit reduzierten Gesellschaften andere Bilder entgegensetzten würde. Bilder, die sich selbst unähnlich sind. Aber doch immer nur Bilder. Um mit Rancière zu enden: "Es geht darum, andere Wirklichkeiten, andere Formen des Gemeinsinns zu erzeugen, das heißt andere raum-zeitliche Anordnungen, andere Gemeinschaften der Wörter und der Dinge, der Formen und der Bedeutungen."[18] Insofern finden momentan vielleicht Medienwandlungen statt, nicht aber ein Wandel der einen, einzigen, möglichen Wirklichkeit.

P.S.:
Wer nach dem Lesen dieses Artikels doch noch schmunzeln will... Hier erklärt Claus Kleber, einer der Moderatoren des heute journals, das neue Fernsehstudio des ZDF:

http://www.youtube.com/watch?v=cdb1T3H9oXY (Zugriff am 22.1.2013)


Anmerkungen

[1] Jacques Rancière, Das unerträgliche Bild, in: ders., "Der emanzipierte Zuschauer", Wien: Passagen Verlag, 2009, vgl. S. 116.

[2] Ebd., S. 120.

[3] Ders., Die Bestimmung der Bilder, in: ders., "Politik der Bilder", Berlin/Zürich: diaphanes, 2005, S. 16.

[4] Henry Jenkins, Convergence Culture - Where old and new media collide, London/New York: New York University Press, 2006, S. 2f.

[5] Jacques Rancière, Das Unvernehmen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002, S. 38.

[6] Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität II - Die Geschichte der Biopolitik, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006, S. 289.

[7] Ebd., ebd.

[8] Ebd., ebd.

[9] Jacques Rancière, Gibt es eine politische Philosophie?, in: ders./Alain Badiou, "Politik der Wahrheit", Wien: turia+kant, 2010, S. 82.

[10] Ebd., S. 83.

[11] Ders., Das Unvernehmen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002, S. 47.

[12] Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, München: Matthes&Seitz, 1991, S. 71.

[13] Jacques Rancière, Das Unvernehmen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002, S. 112 f.

[14] Ebd., S. 114.

[15] Henry Jenkins, Convergence Culture - Where old and new media collide, New York: New York University Press, 2006, S. 23.

[16] Jacques Rancière, Gibt es eine politische Philosophie?, in: ders./Alain Badiou, "Politik der Wahrheit", Wien: turia+kant, 2010, S. 80.

[17] Ders., Über den Nihilismus in der Politik, in: ders./Alain Badiou, "Politik der Wahrheit", Wien: turia+kant, 2010, S. 183.

[18] Ders., Das unerträgliche Bild, in: ders., "Der emanzipierte Zuschauer", Wien: Passagen Verlag, 2009, vgl. S. 120.

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Ioannis Kompsopoulos und Ioannis Chasoglou:

Griechenland und die EU:

Autoritäre positive Integration und der griechische Nationalstaat

Die Tatsache, dass konservative Journalisten das aktuelle Krisenmanagement der EU zum Anlass nehmen, ihre über Jahrzehnte vertretenen Auffassungen zu hinterfragen und die Demokratie in Europa bedroht zu sehen, verweist auf das offenbar außerordentlich problematische Verhältnis zwischen Europäischer Integration und Demokratie. Griechenland ist im fünften Jahr seiner schweren wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Krise ein besonders hervorstechendes Beispiel dieser Entwicklungen. Noch vor wenigen Jahren hätten es die meisten Kenner des Landes wohl eher für unwahrscheinlich gehalten, dass ausgerechnet dort innerhalb kurzer Zeit das Parlament weitgehend seine Entscheidungsbefugnis verlieren würde, während faschistische Banden auf den Straßen weitgehend ungehindert ihr Unwesen treiben können.

Nicht nur weiß jeder, wenn er auch sonst nichts weiß, dass die "Demokratie" in Griechenland vor langer Zeit einmal ihren Anfang nahm. Griechenland ist auch in den letzten Jahrhunderten ein Land gewesen, in dem der Widerstand gegen die Herrschenden - seien es nun die Osmanen, die Deutschen oder die herrschenden Eliten des eigenen Landes - eine große Tradition hat.

Aufgrund der langen Geschichte autoritärer Regime in Griechenland - im Wesentlichen durchgehend bis 1974 - und wegen der intensiven Einmischung des "ausländischen Faktors" ("xénos parágondas") in die Geschicke der Griechen ist das Land bis heute durch einen sehr hohen Grad an Politisierung und Mobilisierungsbereitschaft großer Teile der Gesellschaft gekennzeichnet. Zwar gab es auch vor der Krise schon Politikverdrossenheit in deutlich größerem Ausmaß als z.B. noch in den 70er- und 80er-Jahren, aber ein Besuch der Universitäten Athens oder Thessalonikis genügt, um zu erfahren, dass die weitgehend entpolitisierten mitteleuropäischen Verhältnisse dort immer noch weit entfernt sind: Die Universitäten sind ein Ort der politischen Organisierung und Diskussion, in jeder Fakultät gibt es ständige Informationstische der Jugendverbände der großen Parteien, aber auch der Kommunisten und verschiedener linksradikaler Gruppierungen, die um Einfluss unter den Studierenden konkurrieren. In Griechenland ist es kaum möglich, unpopuläre Reformen ohne erhebliche politische Kosten durchzuführen, wie die Beispiele der gescheiterten Rentenreform 2001 und des ebenso erfolglosen Versuchs einer Teilprivatisierung der Hochschulbildung durch Änderung von Artikel 17 der Verfassung, der bislang private Hochschulen verbietet, zeigen. Dieser Stand der Kräfteverhältnisse ist zu berücksichtigen, wenn Zielrichtung und Verlauf der derzeitigen Transformation des Staates analysiert werden.

Griechenland in der EU und Eurozone: asymmetrische Beziehungen

Die wettbewerbsstaatliche Integrationsweise, die seit den 80er-Jahren zur strategischen Orientierung der Europäischen Integration aufgestiegen ist, war mit dem Versprechen verbunden, allen Beteiligten große Vorteile zu bieten[1]. Insbesondere die Einführung des Euro sollte durch Angleichung der Refinanzierungsbedingungen von Staaten und Unternehmen zu einer Konvergenz der nationalen Volkswirtschaften führen. In der Tat glichen sich die Renditen für südeuropäische Staatsanleihen mit der Einführung des Euro rapide an die der anderen Mitgliedsländer an und waren real durch die hohe Inflation in den südeuropäischen Ländern sogar noch niedriger. Griechenland z.B. wies zwischen 2001 und 2008 eine Inflationsrate von durchschnittlich 3,4% auf, die damit deutlich über der von Deutschland und Frankreich (beide etwa 1,9%) lag.[2]

Märkte tendieren grundsätzlich dazu, Disparitäten zu vergrößern. Zwischen Staaten kann diese Tendenz normalerweise wenigstens teilweise durch Auf- bzw. Abwertung der Währung kompensiert werden. Der Euro macht diesen Anpassungsmechanismus unmöglich. Ebenso schließt der acquis communautaire der EU tarifäre und nichttarifäre Handelshemmnisse für Waren und Dienstleistungen aus, verbietet also den Mitgliedsländern Protektionismus zum Schutz der eigenen Industrie. Schließlich trugen auch die stagnierenden Reallöhne in Deutschland dazu bei, die Wettbewerbsfähigkeit des produktiven Sektors in den südeuropäischen Ländern immer weiter zu verschlechtern, was sich in einem stetigen Niedergang des primären und sekundären Sektors ausdrückte. In Griechenland war 2010 der Anteil des sekundären Sektors mit 12,2% der drittniedrigste in der EU, gleichzeitig machte der tertiäre Sektor 70% aus. Die griechischen Exporte, vor allem landwirtschaftliche Produkte, Nahrungs- und Tierfuttermittel sowie einige Halbfertigprodukte, betrugen 2008 deshalb nur noch 28,6% der Importe.[3]

Der Konkurrenzdruck auf die EU-Mitgliedsstaaten wird zudem durch die forcierte Finanzialisierungsstrategie [4] weiter verschärft, weil so der Ausgleich der Profitraten zwischen den nationalen Standorten und den Sektoren der Ökonomie erleichtert wird.[5] Die europäische Integration stellt sich seit den 80er-Jahren als spezifisch europäische, forcierte Verlaufsform der Transformation des Wohlfahrtsstaates der Nachkriegszeit (bzw. in Südeuropa der postfaschistischen Ära) hin zum "nationalen Wettbewerbsstaat" dar.[6] Die EU beruht auf einer liberalen Wirtschaftsverfassung, deren Kernstück die Konkurrenz der nationalen Produktions- und Distributionsregime in einem weitgehend ungehinderten Standortwettbewerb ist.

Die liberale wettbewerbsstaatliche Wirtschaftsausrichtung der EU ist auch als "Neomerkantilismus" bezeichnet worden, weil sie die Produktion für den Weltmarkt zu konkurrenzfähigen Preisen und so erzielte Handelsüberschüsse zur zentralen Antriebsfeder der Kapitalakkumulation erhebt.[7] Dabei handelt es sich natürlich um ein Nullsummenspiel, weil den Überschüssen der konkurrenzstarken Länder notwendigerweise Defizite der schwachen Länder gegenüberstehen. Die Konstruktion der EU, die substanzielle Transfers, die über die Struktur- und Kohäsionsfonds hinausgehen, ausschließt, vergrößert daher zwangsläufig die Kluft zwischen den stärker und geringer entwickelten Ländern. Unter diesen Bedingungen führten verbesserte Kreditkonditionen nur dazu, dass das Leistungsbilanzdefizit mit Krediten finanziert und damit die strukturellen Widersprüche der kapitalistischen Integration Europas für einen gewissen Zeitraum zugedeckt werden konnten. In Griechenland bildete sich so ein spezifisches, vor allem auf kreditfinanzierten staatlichen und privaten Konsum gestütztes Akkumulationsregime heraus, das in den Jahren zwischen der Einführung des Euro und dem Ausbruch der Krise eine der höchsten Wachstumsraten der Eurozone ermöglichte. Durch Krise und Austeritätspolitik sinkt der private Konsum seit Jahren; sein Anteil am BIP stieg jedoch von 65,8% 2009 auf 77,4% 2011.[8].

2009 brachen die Staatseinnahmen ein und wurde die Krise im Finanzsektor wie in allen Industriestaaten durch die Rekapitalisierung der Banken auf die Ebene der Staatsfinanzen verschoben, nachdem die Ableitung der langfristigen Überakkumulationstendenzen in den Finanzsektor durch einen globalen "spatio-temporal fix"[9] sie nicht mehr hinauszögern hatte können. Die EU hatte in der Implementierungsphase ihres Krisenmanagements kurzfristig ihre langjährige angebotsorientierte Politiktradition mit Elementen expansiver Fiskalpolitik angereichert. In Reaktion auf die explosiv anwachsende Staatsverschuldung folgte wiederum Austeritätspolitik pur.

Autoritärer Wettbewerbsetatismus

Die Europäische Integration hat auf breiter Front zur Konzentration ökonomischer Macht bei einigen führenden mittel- und nordeuropäischen Ländern mit Deutschland an der Spitze und bei den großen, transnational operierenden Unternehmen beigetragen.[10] Die Finanzialisierung der nationalen Volkswirtschaften in der EU trägt entscheidend zu dieser Beschleunigung der Konzentration und Zentralisation des Kapitals bei. Das ist der wesentliche Zweck des Integrationsprojektes. Die ökonomische Machtkonzentration bei den dominierenden Fraktionen des Kapitals findet ihren Ausdruck auch in entsprechenden politischen Entwicklungen.

Anzeichen für eine Zentralisierung politischer Entscheidungsbefugnisse in den Händen der Exekutive muss man nicht lange suchen. Eine radikale Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zugunsten oben genannter Kapitalfraktionen, wie sie nach Auffassung der Autoren mit der aktuell praktizierten Wirtschaftsregierung angestrebt wird, ist nicht möglich ohne eine Beschneidung der Einflussmöglichkeiten der davon in ihren Lebenschancen beeinträchtigten Bevölkerungsmehrheit auf die Wirtschaftspolitik. So wird etwa die sogenannte "Unabhängigkeit" der Zentralbanken explizit deshalb gefordert, damit diese ihre auf Preisstabilität ausgerichtete Geldpolitik frei von Einwirkungen der Arbeiterorganisationen oder Parlamente umsetzen können. Auf diesem Modell beruht auch die Europäische Zentralbank.

Die autoritäre Rekonfiguration der wirtschaftspolitischen Instanzen durch Verankerung von Beschränkungen der Handlungsfreiheit nach Maßgabe eines "disciplinary neoliberalism" ist in der neogramscianischen Integrationsforschung als "new constitutionalism" bezeichnet worden.[11] Da jedoch mittlerweile auch die durch die Verfassung gesetzten Grenzen überschritten werden, wo sie hinderlich sind - so z.B. im Fall des Fiskalpaktes [12] - konstatiert Oberndorfer eine weitere neue Qualität, die er als "autoritären Konstitutionalismus" und im Anschluss an Poulantzas als "autoritären Wettbewerbsetatismus" fasst.

Die Europäische Union als Herrschaftsprojekt der europäischen Eliten [13] spielt eine maßgebliche Rolle bei den Restrukturierungsprozessen. Zwar sind die Nationalstaaten auch heute noch die Hauptarena gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, da die Staatsmacht immer noch vor allem auf nationaler Ebene konzentriert ist.

Die Europäische Integration führt aber in zunehmendem Maße zu einer Delegation von typischerweise nationalstaatlichen policy-Kompetenzen auf die supranationale Governance-Ebene. Diese oberflächlich betrachtet klassenneutrale Umverteilung von Macht liegt darin begründet, dass die nationalstaatliche Arena, die mit Poulantzas als "materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen"[14] begriffen werden kann, trotz einiger "Roll-Backs" im Großen und Ganzen immer noch Ausdruck der Kräfteverhältnisse vom Ende des Zweiten Weltkriegs ist. Damals hatte die durch den antifaschistischen Widerstand mobilisierte und organisierte Arbeiterschaft denselben Bewusstseinsstand wie die rasch wieder an die Macht kommenden Eliten: Dass Kapitalismus, Krise, Faschismus und Krieg in einem unauflöslichen Zusammenhang stehen.[15]

Diese Konstellation war ausschlaggebend bei der Organisation der Produktion und Distribution im Westen Europas in der Nachkriegszeit sowie im Süden Europas bei der Rekonstitution der bürgerlichen Demokratien nach dem Sturz der Diktaturen in den 70er-Jahren. Auf europäischer Ebene ist die Durchsetzungsfähigkeit der Interessen der subalternen Schichten strukturell deutlich geringer als auf nationalstaatlicher Ebene, weshalb jede Übertragung politischer Kompetenzen an supranationale Instanzen eine Schwächung des Einflusses "von unten" und damit eine Stärkung der Position multinational organisierter Akteure der Privatwirtschaft darstellt. Die europäische Governance-Ebene ist im Anschluss an Poulantzas als "Verdichtung zweiter Ordnung"[16] bezeichnet worden. Die Stärkung dieser Ebene hat die Umgehung der nationalstaatlich verdichteten Kräfteverhältnisse zum Ziel, um diese dann schließlich mit den auf europäischer Ebene zur Verfügung stehenden Instrumenten radikal umzuwälzen.

Zentrales Ziel der europäischen Eliten ist die Stärkung der EU als "Globalisierungsakteur",[17] ihre Konsolidierung als eines der führenden kapitalistischen Zentren in der weltweiten Konkurrenz. Die Reorganisation des europäischen Kapitalismus nach britischem und US-amerikanischem Vorbild schließt vor allem auch eine signifikante Schwächung der Gewerkschaften und anderer Interessenvertretungen der lohnabhängigen Bevölkerungsmehrheit ein, wie sie in Großbritannien unter Thatcher und in den USA unter Reagan sehr erfolgreich durchgesetzt wurde.

Wie drückt sich die dargelegte allgemeine Tendenz im Konkreten aus? - Es gibt in letzter Zeit eine ganze Reihe von Beschlüssen und Entwicklungen, die sich in die allgemeine Tendenz zur verstärkt autoritären Herrschaftsdurchsetzung, insbesondere auf dem strategischen Gebiet der Wirtschaftsregierung einordnen:

Die Entscheidungsfindung und Verständigung des Herrschaftspersonals jenseits der formell vorgesehenen Organe wie etwa in der "Frankfurter Gruppe". Diese informelle Versammlung, die sich aus den führenden Funktionären der europäischen Institutionen und der dominanten europäischen Staaten zusammensetzt, trifft weitreichende Entscheidungen außerhalb der langsameren formalen Kanäle.[18] Das Konzept "Europäische Wirtschaftsregierung", das im Herbst 2011 in Kraft getreten ist, wertet die Exekutive in Gestalt der Europäischen Kommission sehr auf, indem sie die Kompetenz zur Setzung makroökonomischer Ziele und zur Verhängung von Sanktionen gegen abweichende Wirtschaftspolitik erhält. Die Europäische Wirtschaftsregierung ist ein weiterer Baustein der konstitutionellen Festlegung der EU auf permanente Austeritätspolitik.[19]

In dieselbe Richtung weisen eine Reihe weiterer Mechanismen des Krisenmanagements, die die EU hastig eingerichtet hat, um nationale Wirtschaftspolitiken supranational zu vereinheitlichen und verbindlich festzulegen: Da gibt es die "Excessive Imbalance Procedure" und die "Macroeconomic Imbalance Procedure", die eine ständige supranationale Kontrolle und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte ermöglichen. Hierbei gilt dank deutscher Intervention ein Leistungsbilanzdefizit bereits ab 3 % als exzessive Überschreitung, aber ein Leistungsbilanzüberschuss erst ab 6 %. Mit dem "Europäischen Semester" wird die nationale Haushaltspolitik der Mitgliedsstaaten ex ante überwacht und vom Europäischen Rat für sechs Monate im Voraus festgelegt. Der "Euro-Plus-Pakt" verstärkt die Koordination der Fiskalpolitik, der "Sixpack" legt Referenzwerte für die Einhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspakts fest, sieht ein "Verfahren bei übermäßigem Defizit", ein Frühwarnsystem für Ungleichgewichte und einen Korrekturmechanismus vor. Die Verfügungsgewalt des nationalstaatlichen Souveräns über den Staatshaushalt, im 19. Jahrhundert als große Errungenschaft der Demokratie gefeiert, wird durch all diese Maßnahmen substanziell beschnitten.

Der Fiskalpakt beschneidet die Haushaltsrechte der EU-Mitgliedsstaaten (außer Großbritannien und Tschechien, die beide den Fiskalpakt nicht unterschrieben haben), denen fortan Haushaltsdefizite über 0,5 % des BIP untersagt sind. Bei Verstoß greift ein "automatischer Korrekturmechanismus", der dann zu "Strukturreformen" unter Aufsicht der Kommission verpflichtet. Als völkerrechtlicher Vertrag außerhalb des Rahmenwerks der EU verpflichtet er zur Festschreibung austeritätspolitischer Leitlinien in den nationalen Rechtsordnungen unter Umgehung der europarechtlich eigentlich zwingenden Konsenserfordernisse. Ähnlich war das Vorgehen schon bei der Europäischen Wirtschaftsregierung.[20]

Die freiwillige Abtretung wirtschaftspolitischer Souveränität der überschuldeten europäischen Staaten an europäische Institutionen und den IWF unter dem Dach der Troika ermöglicht es den nationalen Regierungen, unter Verweis auf die Weisungen "von oben" eine umfassende Umstrukturierung der nationalen Arrangements der Produktion und Distribution auf Kosten der Lohnabhängigen in Angriff zu nehmen.

Der Rücktritt der gewählten Regierungen in Griechenland und Italien, nachdem auf europäischer Ebene entsprechender Druck ausgeübt worden war und die Einsetzung von "technokratischen" Regierungen. Als der griechische Premierminister Georgios Papandreou im Herbst 2011 ein Referendum über die Austeritätspolitik ankündigte, hatten die in der "Frankfurter Gruppe" versammelten europäischen Führer endgültig genug von ihm und strichen Griechenland die Zahlung der nächsten Kredittranche. Dies hat Papandreou endgültig zerstört und die Bahn frei gemacht für einen genehmeren Kandidaten, nämlich den "technokratischen" ehemaligen griechischen Zentralbanker und zuständigen Beamten für die Eingliederung Griechenlands in die Eurozone Loukas Papadimos.

Die Verschiebung des Diskurses hin zu offener Propagierung autoritärer Problemlösungsstrategien, so etwa Merkels Versprechen, eine "marktkonforme parlamentarische Mitbestimmung" zu erreichen [21] oder einschlägige Kommentare in den Mainstream-Zeitungen, die zum Zweck höherer Effizienz einem Rückbau der bürgerlichen Demokratie das Wort reden.[22]

Die europäische Integration war seit der Konstitution des EG-Binnenmarkts in den 80er-Jahren immer dem Muster "negative Integration"[23] gefolgt, die nationalstaatliche Regulierungen im Zuge der Schaffung des gemeinsamen Marktes abbaute, ohne dies durch eine "positive Integration" zu ergänzen, die auf supranationaler Ebene neue Regulierungskompetenzen geschaffen hätte. Nunmehr entsteht jedoch ein Netz von Governance-Instanzen, das sich schon im letzten Jahrzehnt vage andeutete und durch die gegenwärtige Krisenlösungspolitik in rascher Abfolge extrem verdichtet wurde. Hiebei handelt es sich um "positive" Integrationsschritte in einer "Post-Ricardianischen", auf institutionelle Konvergenz der Mitgliedsstaaten abzielenden Logik.[24]

Angesichts der Stärkung der Exekutive und der damit beabsichtigten verbesserten Fungibilität des europäischen Systems nach den Imperativen des global wirkenden Wertgesetzes könnte man diese Tendenzen als "autoritäre positive Integration" bezeichnen. Dadurch werden vermeintlich neutral-"technokratische" Entscheidungsstrukturen, die in Wirklichkeit aber alles andere als neutral sind, sondern durchaus bestimmte ökonomische Interessen repräsentieren, an die Stelle von politisch wenigstens bis zu einem gewissen Grad rechenschaftspflichtigen Parlamenten, staatstragenden Bewegungen und Parteien gesetzt. Dies alles geschieht freilich, ohne dass sie deshalb auch formell verschwinden würden. Die technokratische Effizienz-Ideologie fungiert dabei als Verschleierung des ansonsten offensichtlichen sozialen Charakters dieser Regierungsprojekte.

Autoritäre Entwicklungen in Griechenland

In keinem anderen europäischen Land gehen zurzeit so radikale wirtschaftliche Umstrukturierungen vor sich wie in Griechenland. Die mit der Troika vereinbarte Krisenlösungspolitik legt den hauptsächlichen Nachdruck auf Zweierlei: interne Devaluation und Kürzung der Staatsausgaben.

Ersteres soll die Kosten des Faktors Arbeit senken und damit auch die Ansprüche der Arbeiterklasse an Lohnniveau und materiellem Lebensstandard. Das wird neben einer direkten Lohnsenkung im öffentlichen Sektor, dessen Abschlüsse als Leitwert für die gesamtwirtschaftliche Lohnfindung fungieren, vor allem durch eine Änderung des Tarifsystems ins Werk gesetzt. Das bisher dominante System der sektoralen Tarifabschlüsse wird zerschlagen und durch Tarifabschlüsse auf individueller Ebene ersetzt. Letzteres soll laut dem zwischen Troika und griechischer Regierung abgeschlossenen Memorandum und dem darin ausgeführten ökonomischen Anpassungsprogramm zu 63 % zur Senkung des griechischen Schuldenstandes beitragen. So wird aber auch die Fähigkeit des Staates vermindert, den Ansprüchen auf soziale Sicherung, soziale Mobilität durch Bildung und öffentliche Gesundheit gerecht zu werden. Der Staat wird sich als glaubwürdiger Adressat solcher Ansprüche dementsprechend immer mehr verabschieden. Die EU fungiert dabei als eine Art Blitzableiter, auf die zur Durchsetzung unpopulärer Politiken immer wieder verwiesen werden kann, die aber gleichzeitig außerhalb der Reichweite des Widerstands der davon Betroffenen liegt.

Die sozialen Folgen der Austeritätspolitik sind verheerend: Ende 2012 ist mehr als jeder Vierte arbeitslos, bei jungen Arbeitnehmern zwischen 18 und 25 sind es ungeheure 60%.[25] Etwa 30% der Bevölkerung lebt in absoluter Armut und das Pro-Kopf-Einkommen fällt rapide.[26] Diese "Schocktherapie" der Troika ist nahezu vergleichbar mit derjenigen, die die mittel- und osteuropäischen Länder bei ihrer Systemtransformation über sich ergehen lassen mussten.

Derartig einschneidende Verschlechterungen des Lebensstandards konnte die hegemoniale Struktur Griechenlands nicht unberührt lassen. Die griechische Elite hatte sich seit dem Sturz der Diktatur 1974 auf ein Zweiparteiensystem gestützt, das dank mehrheitsförderndem Wahlrecht kaum der Konkurrenz kleinerer Parteien ausgesetzt war.[27] Die zwei Pole dieses Systems, die konservative Nea Dimokratía und die sozialdemokratische PASOK, banden den weitaus größten Teil der Wählerschaft durch Klientelbeziehungen an sich und konnten sich fast ohne Unterbrechung als jeweils alleinige Regierungspartei abwechseln. Dieses System ist nun vermutlich endgültig kollabiert: Zwar bescherte das erpresserische Klima der Juni-Wahl im vergangenen Jahr der Nea Dimokratía einen knappen Vorsprung, aber sie verfehlte bei Weitem die für eine Alleinregierung erforderliche Mehrheit im Parlament und musste daher mit der PASOK und der ebenfalls sozialdemokratischen DIMAR ("Demokratische Linke") koalieren.

Während die Nea Dimokratía noch vergleichsweise glimpflich davonkam, ist die PASOK mit 12,3% (in aktuellen Umfragen liegt sie etwa zwischen 5 und 9%) auf einen Bruchteil ihres ehemaligen Stimmenanteils zusammengeschrumpft. PASOK und Nea Dimokratía haben ihr Wählerpotential, das überwiegend aus Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes und der Staatsbetriebe bestand, durch die Sparpolitik strukturell zerstört. Der PASOK hat das offenbar mehr geschadet als der Nea Dimokratía.

Die Wähler der PASOK wanderten in erster Linie zur "Koalition der radikalen Linken", SYRIZA. Diese Partei, die in deutschen Medien oft fälschlich als "linksradikal" gebrandmarkt wurde, verfolgt einen wesentlich moderateren Politikansatz als die PASOK in der Post-Diktatur-Ära. Trotzdem versuchten auch Teile der griechischen Massenmedien, SYRIZA als radikal darzustellen, sodass deren Regierungsübernahme Griechenland in eine Katastrophe stürzen würde: Die von den Sparmaßnahmen um Lohn und Brot gebrachten Wähler schenkten entweder den Medien Glauben und wählten die konservative Option oder sie klammerten sich an die Hoffnung einer sofortigen Lösung ihrer Probleme durch eine von SYRIZA getragene oder geführte Linksregierung.

Die KKE bezeichnet sich als marxistisch-leninistisch und propagiert den revolutionären Sturz des Kapitalismus. Sie setzt zu diesem Zweck nicht auf Parteienbündnisse, sondern auf eine Allianz gesellschaftlicher Bewegungen mit der ihr nahestehenden Gewerkschaftsfront PAME als Kern. Obwohl die KKE ein hohes und tendenziell wachsendes Mobilisierungspotential "auf der Straße" aufweist und seit Jahrzehnten in allen gesellschaftlichen Kämpfen präsent ist, verlor sie in der Juniwahl 2012 fast die Hälfte ihrer Wähler.

Aus den Verlusten der Nea Dimokratía und der rechtsradikalen LAOS, die den Einzug ins Parlament 2012 verpasste, speist sich der rasante Aufstieg der nationalsozialistischen Chrysi Avgi ("Goldene Morgendämmerung"), die bei den Wahlen 7% der Stimmen erreichte, aber in allen aktuellen Umfragen bereits deutlich darüber liegt. Die Faschisten üben ihre in Griechenland traditionelle Rolle als parastaatliches Repressionsorgan und Ausgangspunkt rassistischer und nationalistischer Hetze aus. Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass die gewaltsamen Übergriffe der Neonazis auf Migranten und Andersdenkende oft die Rückendeckung der Polizei genießen.[28] Erwiesen ist ebenfalls, dass in Athen jeder zweite Polizist seine Stimme der Chrysi Avgi gab.[29]

Stichwortgeber der Faschisten waren über lange Zeit PASOK und Nea Dimokratía, die durch repressive und rassistische Maßnahme gegen Immigranten sowie den dazugehörigen Legitimationsdiskurs viele zentrale Positionen der Chrysi Avgi salonfähig gemacht haben - so z.B. durch die Operation "Xenios Zevs" ("gastfreundlicher Zeus"), im Zuge derer Zehntausende ausländisch aussehende Menschen verhaftet und in "Sammellagern" konzentriert wurden und werden. Für den Aufstieg der griechischen Faschisten ist die Rolle der LAOS als Türöffner nicht zu unterschätzen: Nach dem Sturz der Militärdiktatur gehörte zur politischen Mehrheitskultur Griechenlands auch ein antifaschistischer Konsens, der die Faschisten als ideologische Erben des Obristenregimes für lange Zeit zu einer unbedeutenden Randgruppe degradierte. Mit LAOS gelang 2004 zum ersten Mal einer Partei der Einzug ins Parlament, auf deren Listen bekannte Rechtsextreme wie Kostas Plevris, Adonis Georgiadis und Makis Voridis [30] kandidierten und deren Hetze sich gegen Migranten, Juden, Homosexuelle und Kommunisten richtete. Die Technokraten-Regierung von Loukas Papadimos machte Voridis 2011 zum Minister für Infrastruktur und Georgiadis zum Staatssekretär für Entwicklung.

Die Politik des Kabinetts Papadimos bescherte der ehemaligen Protestpartei LAOS zwar den Absturz in die Bedeutungslosigkeit, machte aber rechtsextremes Gedankengut salonfähig. Die Chrysi Avgi, die ihren Platz einnahm, gab sich immer schon bedeutend weniger Mühe, ihren faschistischen Charakter zu verbergen. In älteren Ausgaben ihrer Zeitung findet man noch Hakenkreuze und Hitlerbilder, aber auch heute grüßt man sich bei der Chrysi Avgi vorschriftsmäßig mit ausgestrecktem rechtem Arm.

Die griechische Polizei ist nicht erst seit neuestem bekannt für ihre Brutalität. In den vergangenen Jahren nahmen Fälle von exzessiver Gewalt gegen Demonstrationen, politisch motivierte Festnahmen und Foltervorwürfe zu. Durch die gewaltsame Räumung von Hausprojekten geht die Polizei in letzter Zeit auch verstärkt gegen das anarchistische Milieu vor. Diese Entwicklung erinnert an vergangen geglaubte Zeiten (20er- bis 70er-Jahre), als parastaatliche Organisationen und einzelne bezahlte Gewalttäter ungesühnt missliebige Personen umbringen konnten. In den späten 1940er- und frühen 1950er-Jahren wurden so ganze Regionen entvölkert, weil die Menschen vor der politischen Verfolgung in die Großstädte oder ins Ausland flohen. Der international bekannteste und später vom Regisseur Costa-Gavras verfilmte Fall solcher Gewaltwillkür betraf den Parlamentsabgeordneten Grigoris Lambrakis, der vor den Augen einer gesamten Einsatzmannschaft der Polizei von einem staatlich beauftragten Killer zu Tode geknüppelt wurde.

Das Ende der Demokratie in Griechenland?

Der Zustand der politischen Systeme in Europa ist mit dem Attribut "postdemokratisch" zu fassen versucht worden. Colin Crouch bezeichnet mit diesem Begriff eine Degeneration der Demokratie in einen Zustand, der nicht mehr im engeren Sinne demokratisch ist, sich aber durch diverse Residuen der demokratischen Periode dennoch von vordemokratischen Zuständen abhebt. In einer "Postdemokratie" herrschen nach Crouch in der Bevölkerung Unzufriedenheit mit dem politischen System und Resignation vor, was es den "Repräsentanten mächtiger Interessengruppen" erleichtert, das politische System für ihre Ziele "einzuspannen".[31]

Der kontemporäre Autoritarismus ist aber nicht einfach nur ein Übergewicht wirtschaftlicher Interessen über demokratische Institutionen. Eine solche Lesart lässt außer Acht, dass kapitalistische Gesellschaften ihrem Wesen nach auf asymmetrischen sozialen Beziehungen beruhen. Der Staat ist auch kein neutrales Werkzeug, das prinzipiell von jedem für die eigenen Interessen verwendet werden könnte, sondern bereits strukturell Ausdruck bestimmter Macht- und Gesellschaftsverhältnisse.[32]

Ein Demokratieverständnis, das Demokratie formal über das Vorhandensein bestimmter Institutionen wie Wahlen, Parlamente, Verfassungsmäßigkeit usw. definiert, erweist sich als unzureichend, um Facetten des heutigen Autoritarismus wie Elitennetzwerke, Konzernmacht oder die Imperative globalen und regionalen Standortwettbewerbs zu erfassen. Wenn Demokratie hingegen als gleicher Zugang zu allen wichtigen gesellschaftlichen Entscheidungen verstanden wird, erscheint die Konzentration ökonomischer Macht grundsätzlich auch demokratiepolitisch problematisch. In diesem Sinne müsste die von Crouch konstatierte Tendenz dann auch weniger als Verfall eines demokratischen Idealzustands konzipiert werden denn als funktionale Restrukturierung der kapitalistischen Herrschaft, die immer schon nur bei bestimmten theoretischen Vorannahmen als demokratisch bezeichnet werden konnte.

Das bedeutet jedoch nicht, dass zwischen verschiedenen Ausprägungen kapitalistischer Herrschaft keine Unterschiede zu machen seien oder dass die aktuellen Entwicklungen nichts qualitativ Neues enthielten. Im Sinne eines Mehr oder Weniger an institutionalisierten realen Einflussmöglichkeiten weist die gegenwärtige Entwicklung der politischen Herrschaftsausübung und ihrer Apparate deutlich autoritäre Merkmale auf. Viele davon hatte Poulantzas bereits in den 70er-Jahren als Phänomene der Krise bürgerlicher Herrschaft diagnostiziert: Die Stärkung der Exekutive auf Kosten der Legislative zur besseren Ausübung der monopolkapitalistischen Hegemonie durch die Staatsapparate; die Untergrabung des Öffentlichkeitsprinzips, indem Entscheidungen hinter verschlossenen Türen getroffen werden; die Funktionsweise der Parteien als Transmissionsriemen der Exekutive, weshalb es bei den Wahlen nicht einmal mehr auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaftsordnung verschiedene Optionen zur Auswahl gibt; das Vorherrschen der technokratischen Effizienz-Ideologie.[33]

All diese Aspekte des "autoritären Etatismus" lassen sich im Fall Griechenland heute beobachten. Die schon von Poulantzas beschriebene Assimilation der großen Parteien an das System zeigt sich etwa darin, dass die Austeritätspolitik bisher von vier Parteien aus unterschiedlichen ideologischen Lagern (von rechtsradikal bis sozialdemokratisch) ohne erkennbare Unterschiede durchgeführt wird, und dies durchaus auch von Parteien der Linken: Die DIMAR unter Fotis Kouvelis ist gegenwärtig im Bündnis mit den beiden Trägern des alten Zweiparteiensystems mit der Umsetzung der Troika-Vorgaben beschäftigt, aber auch SYRIZA sieht sich dazu veranlasst, ihre Programmatik ständig abzumildern, um die "europäischen Partner" und die Investoren nicht zu verschrecken. Der Parteivorsitzende Alexis Tsipras hat immer wieder die Bedeutung eines "guten Klimas für Unternehmer" hervorgehoben und die Politik von Obama und Hollande angepriesen.[34] All dies spricht dagegen, dass von einer "Linksregierung" unter Führung von SYRIZA eine signifikant abweichende Politik zu erwarten wäre.

Es ist, entgegen einer vor allem in Griechenland weit verbreiteten Auffassung, keineswegs so, dass die Krisenpolitik dem Land ausschließlich von außen aufgezwungen wird. Wäre es so, dann hätten die liberalen Reformen keine Chance auf Umsetzung, denn Griechenland ist - ebenfalls im Widerspruch zur landläufigen Meinung der dortigen Bevölkerung - nach wie vor ein durchaus souveräner Staat, dem Politiken dieser Art nicht aufgezwungen werden können. Der griechische Unternehmerverband SEV setzte sich von Anfang an für die Austeritätspolitik in vollem Umfang ein, weil er sich davon eine dauerhafte Ausschaltung der Arbeitnehmerorganisationen und eine Steigerung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit durch "interne Abwertung" erhofft.[35] Die Teilnahme an der Eurozone wird von den dominierenden Kapitalfraktionen des Landes als strategisches Ziel eingestuft, für das tiefe soziale und politische Verwerfungen in Kauf genommen werden müssen. Die Willfährigkeit der Athener Regierung gegenüber Brüssel und Berlin ist also vor allem Ausdruck einer Interessenkonvergenz und nicht Auswirkung von äußerem Zwang oder einer bereits erfolgten Aufhebung der nationalen Unabhängigkeit. Das verbreitete Gefühl, eine neue deutsche Besatzung zu erleben, trägt zur Ausbreitung antideutscher Ressentiments bei, die die Problemwahrnehmung auf Ebene des griechischen Nationalstaats behindern. Das gezielte Schüren nationalistischer und chauvinistischer Befindlichkeiten im Süden wie im Norden Europas ist ebenfalls ein Charakteristikum der neueren autoritären Entwicklungen.

Zunehmende Polizeigewalt, staatliche Verfolgung von Migranten, Aufstieg des Faschismus und Entmachtung des Parlaments zeigen unzweideutig, in welche Richtung sich das politische System Griechenlands bewegt: In Richtung einer zunehmend auch gewaltsamen Ausübung der Herrschaft zugunsten einer privilegierten Minderheit und ihrer politischen Agenda.

Die Legitimation der aktuell implementierten Politik und des gegebenen wirtschaftlichen und politischen Systems schwindet stetig und die Unterwerfung einigermaßen majoritärer Bevölkerungsteile darunter gelingt zunehmend nur noch durch Repression und gezielte Verbreitung von Angst: Angst vor der explodierenden Kriminalität, vor sozialem Absturz, vor einem Bürgerkrieg, vor dem Faschismus, vor dem Kommunismus, vor einem Austritt aus EU und Euro, einem Wahlsieg von SYRIZA, vor "illegalen Einwanderern" oder der Türkei.

Die regierenden Parteien werden überhaupt nur noch wiedergewählt, um vermeintlich oder tatsächlich größere Übel zu vermeiden, nicht aber ihrer Politik wegen: nur noch 18% der Bevölkerung sprechen sich für das Memorandum aus, dagegen hoffen 63% auf tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen und zusätzliche 23% auf einen radikalen Bruch durch eine Revolution.[36] Trotzdem ist nicht auszuschließen, dass die brodelnde Unzufriedenheit mit dem parteipolitischen Establishment und der sozialen Katastrophe letzten Endes außer Resignation und Verbitterung nichts Neues hervorbringen wird.

Griechenland ist durch die besondere Tiefe der Krise ein Extremfall der autoritären Tendenz. Daher ist auch nicht davon auszugehen, dass sich in den nächsten Jahren dieselbe Entwicklung in vergleichbarer Intensität in allen EU-Mitgliedsstaaten abspielen wird. Als Extremfall zeigt aber am klarsten, wohin die Reise geht. Autoritäre positive Integration auf europäischer Ebene und die autoritäre Entwicklung des Nationalstaats stehen in einem wechselseitigen ursächlichen Zusammenhang: Die auf die Prioritäten des Standortwettbewerbs festgelegte Wirtschaftspolitik kann nur mit nicht-konsensualen Mitteln durchgesetzt werden und man beschneidet daher auf nationaler Ebene die Einflussmöglichkeiten auf die Politik. Umgekehrt schränkt die autoritäre Transformation des Nationalstaats die Möglichkeiten zum Widerstand gegen die Politik der EU ein.

Von autoritärer positiver Integration zu sprechen impliziert keineswegs, dass die negative Integration der vergangenen Jahrzehnte außer Kraft gesetzt oder auch nur abgeschwächt würde. Beide Tendenzen widersprechen einander nicht, sondern wirken im Gegenteil komplementär in dieselbe Richtung. Die Folgenschwere dieser Entwicklung für die Gesellschaften Europas lässt sich kaum abschätzen.


Anmerkungen

[1] Cecchini 1988
[2] Milios/Sotiropoulos 2010; IMF World Economic Outlook
[3] Brenke 2012
[4] Bieling 2003, 2006a
[5] Zeise 2012, 23
[6] Hirsch 1995
[7] Becker 2011
[8] GTAI 2010, 2012
[9] Harvey 2003
[10] Chasoglou 2012, Becker/Jäger 2012
[11] Gill 1998
[12] Oberndorfer 2012
[13] Chasoglou 2012
[14] Poulantzas 2002, 159
[15] Abendroth 1965, Canfora 2006
[16] Brand et. al. 2007
[17] Bieling 2010
[18] Nelson 2011
[19] Klatzer/Schlager 2011, 62f, Oberndorfer 2012a, 418
[20] Oberndorfer 2012a, 418f, 2012b, 63ff
[21] Löwenstein 2011
[22] Krauss 2011, Frey 2011
[23] Scharpf 2008
[24] Höpner/Schäfer 2010
[25] SPIEGEL 2012
[26] Poelchau 2013
[27] Egner 2009 [28] Amnesty International 2012
[29] Lambropoulos 2011
[30] Plevris ist ein Neonazi und Holocaustleugner, der sich in seinem Buch "Juden - die ganze Wahrheit" explizit für die Vernichtung der Juden ausspricht. Georgiadis pries dieses Buch öffentlich im Fernsehen und ist mittlerweile genau wie Voridis, dem ehemaligen Vorsitzenden der Jugendorganisation der faschistischen EPEN, bei der Nea Dimokratía gelandet.
[31] Crouch 2008, 30
[32] vgl. Poulantzas 2002
[33] Poulantzas 2002, 246-272
[34] To Pontiki 2012, Kakoulidis 2012
[35] Frangakis 171
[36] Skai/Kathimerini 2013


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*

Karsten Schubert:

Foucaults Verflüssigung

Postfundamentalistische Kritik und normative Institutionentheorie

Wir wissen nicht, wie eine emanzipative und kritische Institutionentheorie aussehen kann, weil wir in einem theoretischen Dilemma stecken: Traditionelle politische Theorie, von Liberalismus bis Marxismus, ist machtblind und damit unrealistisch - dies hat Foucaults Kritik gezeigt. Unrealistische Theorie kann nicht die Basis für die Konzeption guter Institutionen sein. Foucaults eigener Ansatz ist zwar realistisch, weil er unsere Normierung durch Macht thematisiert, aber antiinstitutionalistisch. Deshalb eignet auch er sich nicht ohne Weiteres für den Aufbau einer normativen Institutionentheorie. Ein dritter Weg ist nötig.

Ich denke, dass jeder ernstzunehmende Versuch, heutzutage normativ über Institutionen zu sprechen, die Einsichten foucaultscher Ansätze, vor allem zu Macht, Freiheit und Subjektivierung, berücksichtigen muss. Der erste Schritt zum Aufbau einer solchen "machtsensiblen" und normativen Institutionentheorie ist eine genaue Analyse des foucaultschen Antiinstitutionalismus, die ich im ersten Abschnitt unternehme. Dabei führe ich den Antiinstitutionalismus auf ein "Verflüssigungsprimat" zurück. Auf dieser Grundlage ist eine interne Kritik des foucaultschen Antiinstitutionalismus möglich, die ich im zweiten Abschnitt skizziere. Daraus ergeben sich die Grundzüge einer von Foucault inspirierten Institutionentheorie: die doppelte Aufhebung des Verflüssigungsprimats.


1. Das Verflüssigungsprimat. Woher kommt der foucaultsche Antiinstitutionalismus?

"Verflüssigungsprimat" bedeutet annäherungsweise eine Skepsis gegenüber jeglichen Verfestigungen, seien es politische Institutionen, Normen oder Theoriensysteme. Diese Skepsis zeigt sich bei Foucault in einer Bevorzugung von widerständiger Macht gegenüber zu Herrschaft verfestigter Macht und mikropolitischen Kämpfen gegenüber theoriegeleiteter Strategie. Ich vermute darüber hinaus, dass sich eine solche Skepsis nicht nur bei Foucault finden lässt, sondern sich auch im diskursiven Feld anderer aktueller französischer Theorien niederschlägt, auf je unterschiedliche Weise: in einer Bevorzugung von Politik gegenüber Polizei (Rancière), Gerechtigkeit gegenüber Recht (Derrida), Politik gegenüber Staat (Badiou), Werden gegenüber Sein (Deleuze), Multitude gegenüber Empire (Hardt/Negri), und Demokratie gegenüber Staat (Abensour).[1]

Ich analysiere das Verflüssigungsprimat anhand zweier Begriffspaare - Form/Inhalt und Flüssig/Fest. In dieser Analytik meint das Verflüssigungsprimat, dass erstens sozialontologische Fragen nach der Form gegenüber Fragen nach dem Inhalt bevorzugt werden. Das führe ich im Folgenden auf die antiessentialistische Annahme zurück, dass über Inhalte (der Politik) keine starken normativen Aussagen getroffen werden können, sondern nur über die Form (des Politischen). Zweitens wird die Frage nach der Form normativ vorentschieden zugunsten des Flüssigen. Das führe ich auf die antinormativistische Intuition zurück, dass traditionelle normativ-positive politische Philosophie potentiell repressive Effekte hat. Diese Auffassung bildet den Kern von Foucaults Vorstellung von kritischer Philosophie und erklärt seine genealogische Vorgehensweise. Das Verflüssigungsprimat führt zu theoretischem Antiinstitutionalismus, also der Ablehnung der Frage nach guten politischen Institutionen.

Verflüssigungsprimat:

1 (Sozialontologie) Antiessentialismus → (Form → Inhalt)
2 (Normativität) Antinormativismus → (Flüssig → Fest)
→ Antiinstitutionalismus

Sozialontologie: Form statt Inhalt

Foucault stellt die Frageweise der politischen Philosophie von Inhalt auf Form um. Es geht ihm nicht um das "Was" von Essenzen, sondern um das "Wie" von Relationen oder Entwicklungen. Diesen Antiessentialismus, dessen Kern ein "Prozess unabschließbarer Infragestellung metaphysischer Figuren der Fundierung und Letztbegründung"[2] ist, teilt Foucault mit dem, was heute als "Postfundamentalismus" gehandelt wird. Den systematischen Zusammenhang zwischen Antiessentialismus und dem Umstellen von Inhalt auf Form zeige ich durch eine Analyse der postfundamentalistischen Debatte um die politische Differenz[3] zwischen der Politik und dem Politischen, in der er besonders deutlich wird. Diese Differenz findet sich bei Foucault nicht explizit, ist aber in seiner Machtanalytik angelegt, während viele Autor_innen des Postfundamentalismus wiederum von Foucault beeinflusst sind.

Im Gegensatz zur Frage nach dem Inhalt der Politik, die "man 'machen' sollte"[4], die auch die Frage nach der Einrichtung der Grundinstitutionen der staatlichen Politik erfasst, im Gegensatz zu dieser Beschäftigung mit "Haupt- und Staatsaktionen, Verfassungsnormen und Gemeinschaftsappellen", teilen die postfundamentalistischen Autor_innen "ein Verständnis des Politischen, das auf die unhintergehbaren Momente des Dissenses und Widerstreits, des Ereignisses, der Unterbrechung und Instituierung abhebt."[5] Sie untersuchen also abstrakte Formen des Politischen, und nicht die Inhalte der Politik: Widerstand als Form kann es gegen alle politischen Inhalte geben und das Besondere an Ereignissen, Unterbrechungen und Instituierungen ist, dass sie gerade nicht inhaltlich festgelegt sind, sondern die Form des Schaffens neuer Inhalte meinen. Diese Umstellung von Inhalt auf Form bedeutet eine Betonung von Offenheit, die schon auf die unten diskutierte Bevorzugung des Flüssigen hinweist: "Das Politische, wie es hier verhandelt wird, zeigt sich gerade darin, die Frage danach offen zu halten. Die vorgestellten Positionen sind insofern kritisch: Sie insistieren darauf, dass die definitorischen wie praktischen Schließungen des Politischen nicht das letzte Wort sein können."[6] Das foucaultsche Erbe ist unverkennbar - doch wie hängt das postfundamentalistische Fragen nach der Form genau mit Antiessentialismus zusammen?

Dies wird klarer durch eine Analyse der theoretisch-politischen Situation, in der das foucaultsche bzw. postfundamentalistische Denken in die Welt gekommen ist. Es geht also um "die Frage des Grundes oder der Gründung postfundamentalistischen Denkens"[7]. Oliver Marcharts These ist, dass dieser Grund in einer "Sackgasse, in die konventionelle politische Theorien und Sozialtheorien geraten waren",[8] begründet ist. Er konkretisiert "konventionell" als "fundamentalistisch" und kennzeichnet damit essentialistische Theorien, die von der Möglichkeit eines "endgültigen positiven Grundes" des Sozialen ausgehen - als Beispiele führt er ökonomischen Determinismus, Behaviorismus, Positivismus und Soziologismus an, wobei nach meiner Auffassung auch liberale und deliberative Essentialisierungen von Vernunft oder anerkennungstheoretische Anthropologisierungen darunter fallen. Postfundamentalistisches Denken hingegen reagiert auf das Symptom des "abwesenden Grundes von Gesellschaft", das mit dem Ende der großen fundamentalistischen Erzählungen offenkundig geworden ist. Die ontologische These des Postfundamentalismus ist, dass es keinen notwendigen Grund gibt. "Wenn kein Grund notwendig ist (und jeder somit kontingent), dann ist die Kontingenz des Grundes notwendig. Kontingenz - als notwendige - ist ihre eigene Ausnahme."[9] Diese antiessentialistische Sozialontologie ist der Hintergrund der Umstellung von Inhalt auf Form.

Denn die postfundamentalistische politische Theorie wäre wenig brauchbar, wenn sie mit der Einsicht in die notwendige Kontingenz aller Gründe enden würde. Das tut sie auch nicht. Stattdessen kreisen die Theorien von Foucault und anderen Postfundamentalisten um eine komplexere Beschreibung der kontingenten Gesellschaft und der verschiedenen auf der Ebene der Politik benutzten Begründungsversuche. Anstatt also gar nichts zu sagen oder partikulare Letztbegründungsversuche (Inhalt) anzubieten, untersuchen sie die kontingente Form des Politischen anhand verschiedener Begriffe, wie Macht, Hegemonie, Instituierung, Ereignis, usw.

Nimmt man den Postfundamentalismus ernst und geht von notwendiger Kontingenz, dem stets anwesend-abwesenden Abgrund aus, so muss er auch auf sich selbst angewandt werden. Es kann also keine letztbegründete Ontologie über das "wahre" Politische geben, sondern die zahlreichen postfundamentalistischen Vorschläge einer antiessentialistischen Ontologie des Politischen sind selbst immer politische Einsätze, meist aus links-emanzipatorischer Stoßrichtung. Postfundamentalistische politische Philosophie arbeitet also notwendig mit strategischen Essentialismen.

Marchart behauptet, dass aus dem Postfundamentalismus keine, auch keine demokratische, Politik notwendig folge - weil es keine Letztbegründungen mehr gibt. Die normative Zurückhaltung bei Foucault und einigen postfundamentalistischen Autor_innen scheint ein Indiz für diese These zu sein. Meiner Ansicht nach fällt sie aber hinter die Einsicht in systematische Notwendigkeit von strategischen Essentialismen im Postfundamentalismus zurück. Ich denke, dass aus Marcharts Rekonstruktion des Postfundamentalismus gerade ein stärkeres Bemühen um die Rechtfertigung bestimmter demokratischer und egalitärer Inhalte der Politik folgen kann,[10] wie ich im zweiten Teil erläutern werde. Bestimmte (natürlich kontingente) Einsichten in die Form des Politischen können also durchaus verbunden werden mit der Forderung nach konkreten politischen Inhalten, wodurch die Form/Inhalts-Differenz im doppelten Sinne aufgehoben wird. Zunächst aber drängt sich die Frage auf, was die normative Zurückhaltung überhaupt motiviert, warum also nicht nur von Inhalt auf Form, sondern auf der Formseite auch von Fest auf Flüssig umgestellt wird.

Normativität: Flüssig statt Fest

Aus der sozialontologischen Betonung der Kontingenz bei Foucault und anderen postfundamentalistischen Theoretiker_innen ergibt sich zwar schon das Wandelbare als wesentliches Moment des Politischen, was die postfundamentalistische Philosophie für eine normative Bevorzugung der Verflüssigung disponiert. Doch diese sozialontologischen Weichenstellungen alleine können den bei Foucault und einigen Postfundamentalisten vorherrschenden Antiinstitutionalismus nicht erklären. Dieser wird erst verständlich, wenn man nachvollzieht, dass die durch den Antiessentialismus eröffneten Formfragen aus spezifisch normativen Gründen mit einer Bevorzugung des Flüssigen beantwortet werden. Dieser normative Antinormativismus geht davon aus, dass starke normative Theorien leicht zu repressiven bzw. totalitären Effekten führen und dass bestehende Ordnungen notwendig Ausschlüsse produzieren, woraus sich eine Bevorzugung der Verflüssigung sowohl in der politischen Theorie wie auch in der politischen Praxis ergibt. Er ist das zentrale Element von Foucaults Ethos der Kritik und begründet seine genealogische Methode.

Foucault versteht seine Arbeit als Kritik, durch die das, was für selbstverständlich gehalten wird, problematisiert werden kann, um Veränderung überhaupt erst zu ermöglichen und "durch die die gegenwärtige Ordnung des Seins an ihre Grenze geführt wird."[11] Foucaults Methode, um diesen entselbstverständlichenden Effekt zu erzielen, ist die radikale Befragung der Gegenwart, die er durch historische Untersuchungen vornimmt, die die Kontingenz unserer geronnenen Weisen, zu denken und zu handeln und uns selbst zu verstehen, offenbaren. Solche historischen Untersuchungen hat er beispielsweise zum Wahnsinn, zur Wissensordnung der Humanwissenschaften, zum Strafsystem, zur Regierungsrationalität und zur Sexualität durchgeführt. Dieses Projekt einer "historischen Ontologie der Gegenwart" oder genealogischen Kritik[12] soll nicht positiv "formale Strukturen mit universaler Geltung",[13] Wahrheit und Letztbegründungen feststellen, also nicht Festes etablieren oder entdecken. Sondern es soll die Historizität und Kontingenz unserer Denkweisen untersuchen, dadurch ihre Grenzen aufweisen und sie überschreitbar machen, mithin: sie verflüssigen, um "der unbestimmten Arbeit der Freiheit einen neuen Impuls zu geben."[14] Dieser radikale Bruch mit der positiven Methode und Frageweise der etablierten Philosophie erklärt Foucaults Bedeutung für den Postfundamentalismus. Dabei hängt die verflüssigende Methode mit Foucaults normativer Zurückhaltung zusammen, was in seiner Auffassung des Verhältnisses der Philosophie zur Politik sichtbar wird.

"Philosophie, [...] wäre [im Unrecht], wenn sie sagen wollte, was im Bereich der Politik zu tun und wie zu regieren sei. [...] Die Philosophie hat nicht zu sagen, was in der Politik geschehen soll. Sie muß in einer ständigen und widerstrebenden Exteriorität gegenüber der Politik sein."[15]

Kritische Philosophie soll nach Foucaults Ethos also nicht sagen, was zu tun sei, was wahr sei oder wie das Subjekt zu befreien sei - sie soll normativ zurückhaltend bzw. antinormativ sein. Sie soll nicht Wissens- und Wertsysteme erschaffen um politisch direkt zu intervenieren, also Festes erschaffen, vielmehr soll sie die vorhandenen hinterfragen und verflüssigen, und dabei in einer "Exteriorität gegenüber der Politik" bleiben. Keine Politikberatung also. Doch was sind die Gründe für dieses kritische Ethos und die damit verbundene Methode?

Foucaults Ethos der normativ zurückhaltenden Kritik speist sich einerseits aus seinen (theorie-)politischen Erfahrungen und ergibt sich andererseits theorieintern aus seiner problematisierenden Methode selbst. Die Erfahrung des intellektuellen Umfeldes, in dem er aufwuchs, und der Katastrophen des 20. Jh. veranlassen ihn zu großer Skepsis gegenüber normativen Setzungen - denn er hält sie für gefährlich. Seine normative Zurückhaltung begründet Foucault damit, dass eine starke normative politische Theorie, die Anspruch auf praktische Wirksamkeit hat, unerwünschte politische Machteffekte nach sich ziehe. So führten gerade Theorien, die politische Verbesserung intendierten, leicht zu neuer repressiver Verfestigung von Macht und nicht zu 'Freiheit'. Foucault beruft sich an mehreren Stellen auf die Erfahrung der Geschichte, die gezeigt habe, dass totalitäre Systeme meist aus normativ starken und am 'Guten' interessierten Theorien entstanden seien.[16] Diese Skepsis gegenüber Normativität generalisiert Foucault auf jegliche normative Sozialphilosophie und folgert daraus den Kernpunkt seines Ethos: die normative Zurückhaltung.

"[Ich gehöre] einer Generation von Leuten an, die nacheinander die Mehrzahl der Utopien zusammenbrechen sahen, die im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts errichtet worden waren, und die auch sahen, welche perversen und mitunter verhängnisvollen Wirkungen aus den in ihren Absichten großherzigsten Projekten folgen konnten. Ich habe immer darauf Wert gelegt, nicht die Rolle des prophetischen Intellektuellen zu spielen, der den Leuten vorab sagt, was sie tun müssen, und ihnen den Denkrahmen, Ziele und Mittel vorschreibt."[17]

Die Wachsamkeit gegenüber unerwünschten Machteffekten ist nicht nur Ausgangspunkt, sondern auch Ergebnis von Foucaults Methode. Denn Foucault untersucht Wissen und Normativität als grundsätzlich machtvolle Phänomene: Es geht ihm um die Analyse der Machteffekte von Wissen und der Wissenseffekte von Macht. Insofern seine Methode darauf aufmerksam macht, dass Normensetzung grundsätzlich mit Machteffekten gekoppelt ist, die oft unerwünscht sein können, ergibt sich die Skepsis gegenüber Normativität auch immanent aus Foucaults Methode. Ethos und Methode stehen insofern in einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis. Foucault fasst die daraus resultierende Rolle des spezifischen Intellektuellen zusammen, der nicht normative Vorgaben machen, sondern problematisieren soll:

"Die Rolle eines Intellektuellen ist nicht die, anderen zu sagen, was sie zu tun haben. Mit welchem Recht sollte man das tun? Und denken Sie nur an all die [...] Programme zurück, die die Intellektuellen im Verlauf der beiden letzten Jahrhunderte formuliert haben und deren Auswirkungen man jetzt gesehen hat. Die Arbeit eines Intellektuellen ist nicht die, den politischen Willen anderer zu formen, sondern durch die auf seinen eigenen Gebieten durchgeführten Analysen die Selbstverständlichkeiten und die Postulate neu zu befragen, die Gewohnheiten und die Handlungs- und Denkweisen zu erschüttern, die übernommenen Vertrautheiten zu zerstreuen, wieder die Auseinandersetzung mit den Regeln und Institutionen zu suchen [...]."[18]

Der Grund für die Trennung von Politik und Philosophie im Sinne einer normativen Zurückhaltung ist also die durch Foucaults Erfahrung und seine Methodik gespeiste Einsicht, dass normativ starke Theorien oft unerwünschte Machteffekte nach sich ziehen. Dieser Antinormativismus ist der Grund für Foucaults Ablehnung des Festen zugunsten des Flüssigen in Ethos und Methode. Damit sind die Gründe dafür geklärt, warum die politische Philosophie keine normativ positiven Aussagen über Institutionen machen sollte, also verflüssigen statt verfestigen sollte. Dies ist eine Seite des verflüssigungsbasierten Antiinstitutionalismus. Die andere Seite ist die institutionstheoretische These, dass Institutionen, grob verstanden als Herrschaft - die Verfestigung von Macht -, notwendig zu Repression und Ausschlüssen führen. Diese bei Foucault implizit enthaltene These liegt Rancières stark von Foucault beeinflusster Politphilosophie zugrunde.[19] Nach Rancière schließt politische Ordnung immer Menschen aus, und zwar nicht nur interessenbasiert, sondern fundamentaler: auf der epistemischen Ebene. Er führt als Beispiel die Sklaven im antiken Griechenland an, die nicht einfach so unterdrückt wurden, sondern die nicht als Menschen zählten, deren politische Partizipation also durch die bestehende Wissensordnung gar nicht denkmöglich war. Dies liegt nach Rancière daran, dass die herrschende Ordnung, also vor allem politische Institutionen, notwendig mit einem epistemischen Regime der Sichtbarkeit und Sagbarkeit verbunden sind - damit schließt er direkt an Foucaults epistemologische These der Verschränkung von Macht und Wissen an. Die Pointe ist, dass politische Institutionen notwendig Ausschlüsse produzieren und keine grundsätzlich gute Ordnung vorstellbar ist, um die sich beispielsweise die liberale politische Philosophie bemüht. Politisch emanzipatorische Akte sind für diese Theorie immer nur das eruptive Stören von Institutionen im Namen der Gleichheit - die Verflüssigung der vorhandenen Ordnung -, aber nicht das Bemühen um den geplanten Aufbau von guten politischen Institutionen - die Etablierung des Festen. Dies ist die institutionstheoretische Umsetzung des Antinormativismus, die sich nicht nur bei Foucault angelegt und bei Rancière ausformuliert findet. Sie ist strukturähnlich auch bei anderen französischen Theoretikern vorhanden, wie Badiou (Politik vs. Staat), Hardt/Negri (Multitude vs. Empire) und Abensour (Demokratie vs. Staat) und wird von post-anarchistischen Denker_innen dankbar aufgenommen.[20]

Zusammenfassung: Postfundamentalistische Sozialontologie und antinormative Normativität

Foucault und die postfundamentalistische Sozialontologie spannen die Differenz von Form und Inhalt aufgrund der antiessentialistischen Einsicht in die notwendige Abwesenheit eines letzten Grundes auf, aus der sich die einfache Beschäftigung mit dem Inhalt (der Politik) verbietet, und fokussieren deshalb die Form (des Politischen). Die spezifisch normative Intuition, dass starke normative Theorien und Verfestigungen von Macht in Institutionen zu repressiven und ausschließenden Effekten führen, führt zu Antinormativismus in der Theoriebildung und Antiinstitutionalismus als politisches Programm. Antinormativismus bedeutet, keine festen normativ positiven Theoriegebäude aufzustellen, sondern durch eine spezifische philosophische Methode bestehende Theorien zu verflüssigen. Antiinstitutionalismus bedeutet, politische Institutionen als notwendig ausschließend zu beschreiben und deshalb deren Störung anzuregen. Das Verflüssigungsprimat verstellt dadurch die Frage nach guten Institutionen aus einer foucaultsche Perspektive und ist ein Grund dafür, dass es keine machtsensible und normative Institutionentheorie gibt.


2. Die doppelte Aufhebung des Verflüssigungsprimats. Wie mit Foucault nach guten Institutionen fragen?

Der erste Schritt zu einer machtsensiblen und normativen Institutionentheorie ist die doppelte Aufhebung des Verflüssigungsprimats. Dazu zunächst zwei Prämissen: Erstens bleibt die Frage nach guten politischen Institutionen relevant, auch wenn Foucaults Methode auf der Intuition beruht, dass sie zu stellen potentiell repressive Effekte haben kann. Zweitens ist es für das Ziel einer kritischen, antitotalitären und emanzipativen Theorie guter Institutionen nötig, von Foucault und anderen Postfundamentalisten auszugehen. Der Hintergrund dieser zweiten Prämisse ist, dass nur diese Tradition der politischen Philosophie sensibel genug für die potentiell repressiven Machteffekte ist, die politische Philosophie erzeugt - mit anderen Worten: gerade weil sie auf dem Verflüssigungsprimat basiert.

Doppelte Aufhebung des Verflüssigungsprimats heißt: Fragen nach dem Inhalt wieder zu stellen, also neben den sozialontologischen Fragen nach der Form des Politischen auch die eher normativen Fragen nach dem Inhalt der guten Einrichtung der Politik zu stellen; und hierbei zu fragen, wie das Flüssige mit dem Festen in Institutionen vermittelt werden kann. Die Vermutung ist, dass die geforderten Institutionen so konstruiert sein müssen, dass sie das Flüssige grundsätzlich eingeschrieben haben, das heißt auf der Abwesenheit von Letztbegründungen beruhen und ihre eigene Kritik ermöglichen.

Eine normative Institutionentheorie auf Foucault aufbauen zu wollen scheint gerade nach der Rekonstruktion des Verflüssigungsprimats kontraintuitiv, weshalb ich im Folgenden erläutere, warum sich die dafür vorgeschlagene doppelte Aufhebung des Verflüssigungsprimats aus zentralen Einsichten von Foucault und der postfundamentalistischen Politphilosophie ergeben kann.

Form/Inhalt: Mehr Inhalt

Die Einsicht des postfundamentalistischen Denkens ist, dass es keinen letzten Grund gibt, sondern nur kontingente und konkurrierende Begründungsschemata. Auch die durch diese Einsicht aufgespannte politische Differenz zwischen dem tieferliegenden Politischen und der partikular-kontingenten Politik selbst und jede Aussage über die Form des Politischen ist immer schon verankert in einer bestimmten Politik - denn wenn eine Theorie behaupten würde, das wahre Wesen der Politik gefunden zu haben, würde sie fundamentalistisch und nicht postfundamentalistisch sein. Anders gesagt: Wenn Foucault der Normierung durch Macht sozialphilosophisch großes Gewicht zuspricht, dann ist das ein konkreter politischer Einsatz und nicht die Ausgrabung der letzten Wahrheit des Sozialen. Der Weg ist also, politische Kritik postfundamentalistisch zu betreiben, und im Bewusstsein der Unmöglichkeit von Letztbegründungen strategische Essentialismen aufzustellen, beispielsweise eine plausiblere - machtsensiblere - Theorie politischer Institutionen und der daraus abzuleitenden Politik. Genau dies meine ich mit der verschiebenden Aufhebung der Form/Inhalts-Differenz. Sie darf nicht einfach wieder geschlossen werden, denn das wäre ein Rückfall in den Fundamentalismus, sondern der Inhaltspol soll im Bewusstsein der Differenz stärker ausbuchstabiert werden. Damit können Fragen der konkreten politischen Ordnung machsensibel und normativ in den Blick genommen werden, die im aktuellen Diskurs der Foucault-Orthodoxie oft als oberflächlich, alltäglich und rein herrschaftsstabilisierend angesehen und deshalb a priori ausgeschlossen werden.

Flüssig/Fest: Das Flüssige verfestigen

Der Einsatz von Foucaults Ethos der Kritik ist die Vermeidung von totalisierenden Effekten normativer Theoriebildung, weshalb er die Kritik verflüssigend konzipiert. Er verzichtet auf feste normative Großkategorien wie Freiheit, gerade um Freiheit im Konkreten zu verteidigen. Doch die Theorien, die er für ihre repressiven Effekte kritisiert, sind bestimmte: Sie sind essentialistisch und haben keinen wachsamen Blick für die Gefahr von theoriepolitischen Machteffekten. Foucault kritisiert vor allem einen dogmatischen Marxismus, der auf einer unhinterfragten teleologischen Geschichtsphilosophie beruht und einen Humanismus, der auf ausschließenden Setzungen über den Menschen beruht. Foucault ist in seiner Kritik dieser Theorien insofern zuzustimmen, als dass solche Theorien tatsächlich leicht zu unerwünschten Machteffekten führen. Daraus folgt jedoch nicht, dass alle Theorien mit normativen Ansprüchen quasi automatisch in totalitären Systemen enden, wie Foucaults Kritik es zu suggerieren scheint. Dies festzustellen käme dem Aufstellen eines universalen historischen Gesetzes gleich und wäre deshalb mit Foucaults Ethos und Methode inkompatibel, die eine grundlegende Skepsis gegenüber solchen ahistorischen Setzungen begründen. Viel eher öffnet Foucault durch seine komplexitätssteigernden Problematisierungen den Blick dafür, genauer zu unterscheiden, welche theoriepolitischen Interventionen welche Machteffekte hab en, um diese beurteilen zu können. Es ist also nicht nötig, gänzlich auf normative Theoriebildung zu verzichten; es gilt vielmehr, die normative Theorie so zu gestalten, dass sie die von Foucault geäußerten Bedenken berücksichtigt. Daraus folgt bezüglich Institutionen (das Feste), sie so zu gestalten, dass sie die Verflüssigung integrieren, also ihre eigene Kritik ermöglichen. Auch wenn man mit Rancière einsieht, dass Institutionen grundsätzlich zu Ausschlüssen führen, so lässt sich immer noch zwischen besser und schlechter ausschließenden Institutionen unterscheiden. Diese realistische Frage wäre die eigentlich kritische, während eine zu starke Betonung des Verflüssigungsprimats bei einigen zeitgenössischen Theoretiker_innen zu einer regelrechten Entpolitisierung führt.

Eine solche doppelte Aufhebung des Verflüssigungsprimats ist die nötige Vorarbeit, um mit Foucault und anderen postfundamentalistischen Theoretiker_innen die Frage nach guten Institutionen zu stellen, mithin eine machtsensible und normative Institutionentheorie zu entwickeln. Damit können wir uns aus dem theoretischen Dilemma befreien, in dem wir durch den langwährenden Lagerkampf zwischen traditionell-normativer Sozialphilosophie und postfundamentalistischer Theorie geraten sind, und das unseren Blick für eine emanzipativ-kritische und realistische Konzeption von Institutionen verstellte.


Anmerkungen

[1] Es versteht sich, dass sich diese Autoren nicht über einen Kamm scheren lassen. Zu ihren Differenzen gibt es umfangreiche Literatur, siehe Fußnote 3. Die meisten würden ihren Einsatz weniger in einer Bevorzugung einer Seite der jeweiligen Differenz verorten, als im Aufmachen der Differenz selbst, und sie sind reflexiv genug, um sich gegen den Vorwurf einer simplen "Bevorzugung" zu immunisieren.

[2] Marchart (2011): Die politische Differenz, S. 16. Oliver Marchart, der den Begriff "Postfundamentalismus" geprägt hat, geht in seiner Analyse auf Foucault nur am Rande ein und konzentriert sich auf Nancy, Lefort, Badiou, Laclau, Agamben und Rancière.

[3] In Anlehnung an Heideggers ontisch-ontologische Differenz bezeichnet "das Politische" die ontologische Dimension der politischen Beziehungen - dasjenige, was sie im Kern ausmacht und das Gegenstand der politischen Theorie ist - während "die Politik" die ontische Dimension bezeichnet - die alltägliche Art und Weise, wie politische Beziehungen praktisch-institutionell eingerichtet sind, die von der empirischen Politikwissenschaft untersucht wird (vgl. Heidegger (1967): Sein und Zeit, S. § 3-5). Die Konzepte der politischen Differenz unterscheiden sich bei verschiedenen postfundamentalistischen Ansätzen erheblich; Überblicke und Vergleiche finden sich in drei aktuellen Sammelbänden: Bröckling (Hg.) (2010): Das Politische denken, Bedorf, Röttgers (Hg.) (2010): Das Politische und die Politik und Flügel, Heil, Hetzel (Hg.) (2004): Die Rückkehr des Politischen.

[4] Bröckling, Feustel (2010): Einleitung, S. 7.

[5] Ebd., S. 8.

[6] Ebd., S. 9.

[7] Marchart (2010): Politische Theorie als Erste Philosophie, S. 144.

[8] Ebd., S. 144.

[9] Ebd., S. 147.

[10] Trotz seiner wiederholten Feststellung, dass Demokratie nicht notwendig aus dem Postfundamentalismus folge, stellt Marchart eine politische Ethik der Demokratie auf, die auf der postfundamentalistischen Einsicht in die generelle Grundlosigkeit und in die fundamentale "Selbstentfremdung" jeder sozialen Entität beruht. Daraus leitet er einen Solidaritätsbegriff ab, der auf eine Kritik von Identitätspolitik abstellt und der es verbietet, einen Fremden "an die Ketten seiner mutmaßlichen Identität zu legen" (S. 361). "Selbstinfragestellung" als ein wichtiges Element demokratischer Praxis hervorzuheben und mikropolitische Zusammenhänge von freiheitseinschränkender Identitätsfestschreibung zu kritisieren ist zwar richtig, aber Marchart verpasst es, stärkere Schlüsse über dafür notwendige demokratische Institutionen zu ziehen. Vgl. Marchart (2011): Die politische Differenz, S. u.a. 245-253 und 329-365.

[11] Butler (2009): Was ist Kritik?, S. 237.

[12] Martin Saar hat diese Methode der "genealogischen Kritik" systematisch untersucht, vgl. Saar (2007): Genealogie als Kritik.

[13] Foucault (1990): Was ist Aufklärung?, S. 49.

[14] Ebd., S. 49.

[15] Foucault (2009): Sitzung vom 9. März 1983, erste Stunde, S. 444-445.

[16] Foucault (1990): Was ist Aufklärung?, S. 49. Vgl. auch Ebd., S. 47.

[17] Foucault (2005): Was heißt Strafen?, S. 785. Vgl. auch Foucault (1996): Der Mensch ist ein Erfahrungstier, S. 105-106 und Foucault (2005): Strukturalismus und Poststrukturalismus, S. 544f.

[18] Foucault (2007): Die Sorge um die Wahrheit, S. 236.

[19] U. a. Rancière (2002): Das Unvernehmen.

[20] Vgl. bspw. May (2011): Is Post-Structuralist Political Theory Anarchist? und Koch (2011): Post-Structuralism and the Epistemological Basis of Anarchism.


Literaturverzeichnis

Bedorf, Röttgers (Hg.) (2010): Das Politische und die Politik. Berlin: Suhrkamp.

Bröckling (Hg.) (2010): Das Politische denken. Zeitgenössische Positionen. Bielefeld: transcript.

Bröckling, Ulrich Feustel, Robert (2010): Einleitung. In: Bröckling, Ulrich (Hg.): Das Politische denken. Zeitgenössische Positionen. Bielefeld: transcript.

Butler, Judith (2009): Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend. In: Jaeggi, Rahel; Wesche, Tilo (Hg.): Was ist Kritik? Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 221-246.

Flügel, Heil, Hetzel (Hg.) (2004): Die Rückkehr des Politischen. Demokratietheorien heute. Darmstadt: Wiss. Buchges.

Foucault, Michel (1990): Was ist Aufklärung? In: Erdmann, Eva; Forst, Rainer; Honneth, Axel (Hg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung. Frankfurt am Main: Campus, S. 35-54.

Foucault, Michel (1996): Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit Ducio Trombadori. Mit einem Vorwort von Wilhelm Schmid. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Foucault, Michel (2005): Strukturalismus und Poststrukturalismus. Gespräch mit G. Raulet, Frühjahr 1983. 330. In: Foucault, Michel: Schriften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, Bd. 4, S. 521-555.

Foucault, Michel (2005): Was heißt Strafen? Gespräch mit F. Ringelheim, Dezember 1983. 346. In: Foucault, Michel: Schriften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, Bd. 4, S. 782-795.

Foucault, Michel (2007): Die Sorge um die Wahrheit. Gespräch mit F. Ewald, 1984. In: Foucault, Michel: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 226-238.

Foucault, Michel (2009): Sitzung vom 9. März 1983, erste Stunde. Vorlesung 10. In: Foucault, Michel: Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de France 1982/83. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 424-446.

Heidegger, Martin (1967): Sein und Zeit. 11., unveränderte Aufl. Tübingen: Niemeyer.

Koch, Andrew M. (2011): Post-Structuralism and the Epistemological Basis of Anarchism. In: Rousselle, Duane; Evren, Süreyyya (Hg.): Post-anarchism. A reader. London: Pluto [u.a.], S. 23-40.

Marchart, Oliver (2010): Politische Theorie als Erste Philosophie. Warum der ontologischen Differenz die politische Differenz zugrunde liegt. In: Bedorf, Thomas; Röttgers, Kurt (Hg.): Das Politische und die Politik. Berlin: Suhrkamp, S. 143-158.

Marchart, Oliver (2011): Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben. 1. Aufl. Berlin: Suhrkamp.

May, Todd (2011): Is Post-Structuralist Political Theory Anarchist? In: Rousselle, Duane; Evren, Süreyyya (Hg.): Post-anarchism. A reader. London: Pluto [u.a.], S. 41-45.

Rancière, Jacques (1995): Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Saar, Martin (2007): Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault. Frankfurt: Campus.

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Gabriele Michalitsch:

Regierung der Freiheit: Die Formierung neoliberaler Subjekte

Neoliberale Transformation zielt/e nicht nur auf grundlegende Restrukturierung von Ökonomie, Staat und Gesellschaft, sondern auch auf profunden Wandel von Denkweisen und Redefinition des Subjekts, an dem sich zu einem "permanenten ökonomischen Tribunal" (Foucault) verdichtende neoliberale Postulate von Selbstverantwortung, Konkurrenzdenken, Marktverwertbarkeit, Leistungsdruck, Erfolgszwang und Versagensangst kristallisieren. Solche in schier endloser Wiederholung propagierten neoliberalen Parolen lassen sich - wie zahlreiche andere wesentliche Elemente neoliberaler Ideologie (Michalitsch 2004, 2006) - auf wirtschaftstheoretische Entwürfe zurückführen. Diese Verknüpfungen von (wirtschafts-)wissenschaftlicher Wissensproduktion und Subjektformierung stehen im Zentrum des vorliegenden Beitrags. Hintergrund ihrer Thematisierung bildet die Frage nach - insbesondere im deutschsprachigen Raum weitestgehend ausbleibendem - Widerstand gegen die Exklusion, Marginalisierung, soziale Polarisierung verschärfenden politischen Reaktionen auf die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008: Was macht postdemokratische Austeritätspolitik akzeptabel? Und welche Rolle spielt Wirtschaftswissen dabei?

Theoretisch schließe ich hierbei an Foucaults Konzeptionen von Macht, Wahrheit und Regierung an. Dabei fokussiere ich auf die von Foucault hervorgehobene produktive Dimension von Macht und die enge Verknüpfung von Macht und Wahrheit: Macht zwingt Foucault folgend stets zu Wahrheitsproduktion, durch sie wird Macht ausgeübt (Foucault 2001/1996, 38). In westlichen Gesellschaften ist Wahrheit um den wissenschaftlichen Diskurs und die diesen produzierenden Institutionen zentriert. Permanenten ökonomischen und politischen Anforderungen ausgesetzt, wird sie vorrangig unter Kontrolle einiger weniger großer politischer und ökonomischer Apparate wie Universitäten, Militär und Massenmedien produziert und verteilt, in Erziehungs- und Informationsapparaten zirkulierend verbreitet und konsumiert (Foucault 1978, 52). Die Produktion von Wahrheit stellt schließlich einen Schlüssel von Regierung dar. Regierung bezeichnet eine Form von Machtausübung, die Individuen durch die Produktion von Wahrheit anleitet, führt und so zu Subjekten formt (vgl. Foucault 1996).

Wirtschaftswissen lässt sich in diesem theoretischen Kontext als spezifische Wahrheit zur Ausübung von Macht deuten, mit der nicht zuletzt Subjekte formiert und solcherart regiert werden. Um diese Zusammenhänge im neoliberalen Kontext zu verdeutlichen, beleuchte ich im Folgenden wirtschaftstheoretische Wahrheit, die, so meine These, im Zuge ihrer Verallgemeinerung durch Zirkulation in Bildungsapparaten und Medien neoliberale Subjektivität hervorbringt und damit Subjekte nicht primär mittels Zwang, sondern mittels Freiheit regiert. Dabei sollen materielle Verhältnisse und deren Zwangscharakter keinesfalls ausgeblendet werden, vielmehr begreife ich diese als mit entsprechenden Diskursen und deren Imperative verwoben, ich trenne diese lediglich analytisch, um einen meines Erachtens wesentlichen Aspekt der Frage nach Akzeptanz bestehender politökonomischer Verhältnisse und deren Veränderungspotenzial mit Blick auf die Mikroebene von Individuen zu beleuchten. Gleichzeitig wird dabei auch die Kohärenz von unmittelbar subjektorientierten und strukturorientierten politökonomischen Strategien neoliberaler Provenienz deutlich.


1. Wahrheitsproduktion: Ökonomisierte Subjekte

Sicher stellt das Modell des im Sinne eines Kosten-Nutzenkalküls stets rational seinen individuellen Nutzen maximierenden homo oeconomicus neoklassischer Wirtschaftstheorien einen wesentlichen Anker neoliberaler Subjektivität dar (Michalitsch 2002, 2006), doch fokussiere ich im Folgenden einerseits auf Joseph A. Schumpeters im Neoliberalismus besonders einflussreiches Unternehmermodell und andererseits auf jene spezifische Variante des homo oeconomicus, die mir für neoliberale Subjektformierung geradezu paradigmatisch scheint: auf Gary Beckers - 1992 mit dem Gedenkpreis an Alfred Nobel, dem "Nobelpreis" für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet - Entwurf des "Humankapitalisten".


1.1. Der Unternehmer

Im Gegensatz zur statischen Analyse der Neoklassik rückt Schumpeter, der keiner ökonomischen Schule zuzurechnen ist, die Dynamik des Marktes in den Vordergrund. Schumpeters 1911 in der Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung konzipierte Idee des innovativen Pionierunternehmers weist dem Unternehmer (nicht zufällig ist hier nur von dem Unternehmer, nicht aber der Unternehmerin die Rede: Unternehmer sind Schumpeter zufolge stets zur ökonomischen Führerschaft bestimmte Männer), der nicht nur die Nachfrage befriedigt, sondern für Innovationen sorgt, eine besondere Rolle im Wirtschaftsprozess zu. Entscheidend hierfür sind nicht Erfindungen oder Ideen, sondern deren Durchsetzung im Konkurrenzkampf. Eine Innovation kann in der Produktion und im Verkauf eines neuen Gutes oder einer neuen Qualität desselben, in der Einführung neuer Produktionsverfahren, der Erschließung neuer Märkte, eines neuen Angebots an Produktionsfaktoren oder der Reorganisation eines Industriezweigs bestehen. Die Innovationen durchsetzenden Unternehmer treiben, motiviert von der Aussicht auf Pioniergewinne, die wirtschaftliche Entwicklung voran, denn der Innovator erringt eine vorübergehende Monopolstellung, ihm fallen entsprechende Monopolgewinne zu, bis Konkurrenten die Neuerung imitieren und die Monopolstellung verloren geht. Der dynamische Unternehmer beginnt von neuem seine Suche nach Innovation. In diesem Prozess liegt Schumpeter zufolge das wesentliche Charakteristikum von Kapitalismus. Zwar sah Schumpeter in Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (1942) dreißig Jahre später das Ende des von ihm beschriebenen Unternehmertypus unter dem Eindruck ökonomischer Konzentrationsprozesse, der Vormachtstellung verbürokratisierter Konzerne und der Ausweitung des Finanzsektors gekommen, doch die in den 1980er Jahren verstärkt einsetzende Schumpeter-Rezeption blendete dies weitgehend aus - Schumpeter selbst hatte den Bedeutungsverlust der Unternehmerpersönlichkeit nicht nur als Zeichen schwindender Dynamik der Ökonomie interpretiert, sondern als Symptom des nahenden Untergangs des Kapitalismus (Schumpeter 1993/1942, 252ff).


1.2. Der Humankapitalist

Gary Becker bestimmt die Ökonomie der neoklassischen Tradition entsprechend über Allokation. Die Definition der Ökonomik als Wissenschaft, die sich der Zuweisung knapper Mittel zu konkurrierenden Verwendungszwecken widmet, begrenzt das Ökonomische nicht auf den Marktbereich, sondern bestimmt Ökonomie über die Art des Problems, das es zu lösen gilt. Fragen der Knappheit und Wahl stellen sich Becker zufolge etwa in privaten Haushalten, Gewerkschaften oder Parteien ebenso wie in Unternehmen: "The economic approach is clearly not restricted to material goods and wants, nor even to the market sector" (Becker 1976, 6). Becker unterwirft folglich sämtliche Lebensbereiche der Logik ökonomischer Optimierung und entsprechender individueller Nutzenmaximierung. Familie, Ehe, Kinderzahl ebenso wie Kriminalität und Politik werden Gegenstand der ökonomischen Analyse. Die Ehe wird hierbei als Zwei-Personen-Firma zur Produktion von Kindern definiert, auf dem Heiratsmarkt konkurrieren Männer bzw. Frauen um PartnerInnen, um durch Heirat ihr individuelles Nutzenniveau zu erhöhen (Becker 1976, 169ff.), aber auch die Quantität - und Qualität - von Kindern wird über deren Schattenpreis ökonomisch verhandelbar (Becker 1976, 195ff.).

Das rationale Kosten-Nutzen-Kalkül wird damit zur universellen Grundlage menschlichen Verhaltens.[2] Das Kalkül gilt Becker folgend jedoch nicht nur für Beziehungen zu anderen, sondern mit der Humankapitaltheorie auch für das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst. Neben schulischer Ausbildung und On-the-Job-Training wird Humankapital auch durch Verbesserungen von "emotional and physical health" (Becker 1975, 40) gebildet. Das Ausmaß der Investition in Humankapital hängt wie bei jeder Investition vorrangig von deren erwarteter Rentabilität ab, dem - monetären und psychischen - return on investment: "Persons investing in human capital can be considered 'firms' that combine such capital perhaps with other resources to produce earning power" (Becker 1975, 102). Daher investieren Menschen mit besseren Fähigkeiten und folglich besseren Marktchancen auch mehr in ihr Humankapital. Investitionen in Humankapital werden sehr weit gefasst. Zu ihnen zählt auch gesunde Lebensführung, denn "a decline in the death rate at working ages may improve earning prospects by extending the period during which earnings are received; a better diet adds strength and stamina, and thus earning capacity" (Becker 1975, 40). Zumindest drei Fünftel des persönlichen Einkommens werden Becker zufolge über das Humankapital und individuelle Fähigkeiten bestimmt (Becker 1975, 237).

Die Bildung von Humankapital lässt sich nicht vom Prozess der Selbst-Konstituierung trennen. Das Wirtschaftssubjekt wird damit nicht nur als Konsumfaktor oder Arbeitskraft, sondern in seiner Entität zur ökonomischen Einheit, die menschliche Existenz in ihrer Gesamtheit auf die Ökonomie gerichtet, die Marktlogik ins Individuum verlagert. Das Individuum avanciert zum Unternehmer seiner selbst, Selbst-Formierung koppelt sich an Marktverwertbarkeit.

Becker selbst betrachtet die Ordnung der Wirtschaft folgerichtig auch unter dem Aspekt der Subjektproduktion: "Wirtschaftsordnungen, die auf Privatinitiative und Wettbewerbsmärkte setzen, sind effizienter als solche, die auf umfangreiche staatliche Kontrolle setzen. Langfristig gesehen sind jedoch die Auswirkungen einer marktwirtschaftlichen Ordnung auf die Selbstverantwortung, die Initiative und andere Tugenden vielleicht sogar von noch größerer Bedeutung" (Becker/Becker 1998, 117).


2. Wahrheitszirkulation: Neoliberale Imperative

Diese hier nur ansatzweise skizzierten Konzeptionen Beckers und Schumpeters werden in vereinfachter Form von Bildungssystem und Medien popularisiert und verallgemeinert. Aus seinem Theoriekontext gelöstes Wissen zirkuliert in Form repetitiver Postulate, die letztlich als Anker von Selbsttechnologien dienen und so Prozesse von Subjektformierung regulieren. Damit wird deutlich, wie Zwang und Freiheit, wie Herrschafts- und Selbsttechnologien ineinander übergehen und sich Macht keineswegs auf ihre repressive Dimension beschränken lässt. Im Folgenden skizziere ich sieben letztlich auf Becker und Schumpeter rekurrierende, meines Erachtens zentrale Postulate, die öffentliche Diskurse der letzten beiden Jahrzehnte in permanenter Wiederholung durchzogen und sich solcherart im Alltagsdenken verfestigten. Als Imperative adressieren sie partiell zwar auch Kollektive, primär jedoch Individuen, gerade mit ihnen verbindet sich die Lösung der Einzelnen aus ihren sozialen und gesellschaftlichen Kontexten. Dabei zielen sie auf Aushöhlung von sozialer Kohäsion und Solidarität und sind demnach auch auf Individualisierung und Entpolitisierung gerichtet.

- Selbstverantwortung: Das Postulat der Selbstverantwortung fokussiert Verantwortung auf das je eigene Selbst, dies impliziert einerseits die Zuweisung alleiniger Verantwortung für die eigene Existenz und gesellschaftliche Positionierung an die Einzelnen, andererseits schließt sie Verantwortung für andere aus. Im Gegensatz zum bis dato dominanten Bedeutungsgehalt von Verantwortung werden gerade deren soziale und gesellschaftliche Dimensionen dabei ausgeblendet. Solcherart auf Eigenverantwortung reduziert, wird diese zunehmend zu einer Frage von Management eines offenen, multiplen Selbst, das in allen seinen Facetten zugleich zu optimieren, zu perfektionieren ist. Während (Erwerbs-)Arbeit als Selbstverwirklichung gedeutet wird, wird auch Essen zu Arbeit, stellt doch allein die Frage der "richtigen" Ernährung angesichts wuchernden und sich kontinuierlich wandelnden ernährungswissenschaftlichen Wissens eine ebenso permanente wie umfassende Herausforderung dar (Fach 2004, 231).

Selbstverantwortung schließt demnach auch den eigenen Körper ein: Das Subjekt trägt die Verantwortung für seine Gesundheit. Krankheit wird zum Zeichen defizitärer Selbstführung und mangelnder Prävention. Sie impliziert daher nicht zwangsläufig das wohlfahrtsstaatliche Recht auf ärztliche Behandlung, sondern obliegt vermehrt individueller "Problemlösungskompetenz". Damit wird schließlich nicht nur die Grenze von Arbeit und Freizeit flüssig, auch die zwischen Leben und Tod scheint, wenn auch nicht aufhebbar, so doch individuell verschiebbar. Die Forderung nach Selbstverantwortung, Selbstmanagement, Selbstoptimierung mündet in ein "humankapitalistisches" Selbst-Verständnis als "Eigen-Produkt" (Hondrich 2001, 8), in dem von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ebenso wie individuellen biographischen Voraussetzungen abstrahiert wird. Damit werden gesellschaftliche Marginalisierung und Exklusion mit persönlicher Schuldzuschreibung verknüpft, somit individualisiert und Subjekte enthistorisiert. Dies spiegelt sich auch in gesellschaftlicher Enthistorisierung, mit der (Lebens-)Zeit auf ein - primär konsumtives - Jetzt verkürzt wird.

- Wettbewerb: An Selbstverantwortung koppelt sich das universalisierte Marktprinzip des Wettbewerbs, demzufolge auch soziale Beziehungen vorrangig als Konkurrenzverhältnisse definiert werden. Das Soziale wird ökonomisiert, die Gemeinsamkeit der Individuen besteht primär im Kampf aller gegen alle, in dem die Marktförmigkeit des Subjekts zur Existenzfrage mutiert. Wer sich der allgemeinen Vermarktung nicht einzupassen vermag, auf dem Kampffeld des Konsums nicht mithalten kann, ist denn nicht nur zu Recht arm, sondern auch schwach und minderwertig. Als Zeichen der Unterlegenheit wird Armut denn mit Scham besetzt, tabuisiert, versteckt: Wer im Wettbewerb bestehen will, darf keine Schwäche zeigen. Private Beziehungen, persönliche Kommunikation bleiben davon nicht unberührt: Was lässt sich noch sagen, wenn alle bloß Stärke demonstrieren? Mit der Einschränkung offener Kommunikation verbindet sich die Unterminierung sozialen Zusammenhalts, den vielfach der durchaus politische Rückzug ins engste Private begleitet.

Kulturindustriell in unzähligen Sportevents und Shows, die den Kampf darum, der/die Beste, der Stärkste, die Schönste, schlicht SiegerIn zu "sein", in der massenmedialen TV-Arena inszenieren, vorexerziert, wird Wettbewerb nicht nur zur Folie alltäglichen Verhaltens, sondern auch die Apologie des Humankapitals betrieben: Der Sieg ist stets nur mein Verdienst. In den Niederungen des Alltags lässt sich denn die politische Standardbotschaft, nur mit entsprechender "Qualifikation" sei ein Arbeitsplatz zu erlangen, leicht übersetzen. Während Arbeitslosigkeit so zum individuellen Mangel transformiert wird, bleiben Arbeitskräftenachfrage von Seiten der Unternehmen oder die Fragen, was als Arbeit gesellschaftlich anerkannt oder wie Arbeit organisiert wird, dethematisiert.

- Fairness: Die Funktionsfähigkeit von Wettbewerb als gesellschaftliches Organisationsprinzip setzt die Einhaltung von Regeln voraus. Entsprechend verbindet sich das Konkurrenz- mit dem Fairnesspostulat, das vor allem mit Hilfe von Sport als Masseninszenierung eingängig gemacht wird. Entsprechend hart werden sportliche Regelverstöße exemplarisch geahndet: Keine Gnade bei Doping-Sünden. Nur der faire Kämpfer kann Held sein. Ganz im Gegensatz zu Gerechtigkeit bezieht sich Fairness lediglich auf die Einhaltung von Spielregeln, ohne das Spiel selbst in Frage zu stellen. Fairness setzt die Anpassung der spielenden KonkurrentInnen stets voraus. Damit wird Wettbewerb grundlegend legitimiert, aber auch als gesellschaftliches Leitprinzip gestützt, indem Gerechtigkeit als Fairness reinterpretiert wird und so letztlich zu Immunisierung sozialer Hierarchien und politökonomischer Verfasstheit beiträgt.

- Unternehmertum: An Selbstverantwortung und Wettbewerb schließt das Postulat universeller Entrepreneurship nahtlos an. Es fordert von den Individuen, nicht nur ihre Arbeit, sondern ihre gesamte Existenz unternehmerisch zu gestalten, sich als "unternehmerisches Selbst" (Bröckling 2007) zu konstituieren. Damit werden nicht nur Marktprinzipien im Individuum verankert, sondern auch gesellschaftliche Konflikte. Schließlich ist jede/r UnternehmerIn seiner/ihrer selbst zugleich die Ware, die es als Produkt zu vermarkten gilt. Der Widerspruch von Arbeit und Kapital wird somit ins Subjekt verschoben, an die Stelle von Klassengegensätzen und gesellschaftlichen Interessenkonflikten tritt nur noch als individuelle Konkurrenz wahrnehmbarer Wettbewerb in scheinbarer gesellschaftlicher Harmonie.

- Aktivität: Der Unternehmer verkörpert das Gegenteil des nunmehr als passiv, risikoavers und sicherheitsbedürftig gezeichneten, traditionell weiblich konnotierten, zunehmend auf Empfangen von Sozialleistungen reduzierten Menschenbildes des Wohlfahrtsstaates. Dessen vermeintlicher Passivität wird denn allgemeine Aktivität entgegengehalten. Unproduktiver Muße steht aktive Freizeit gegenüber, in die keinesfalls Ruhe einkehren darf. Fitness und Wellness (Greco 2004) ergänzen einander und sichern vorrangig im Wettbewerb effiziente Reproduktion für Wettbewerb. Wie Kapital kennt auch Humankapital keine Grenzen.

- Flexibilität: Omnipräsenter Wettbewerb und allumfassendes Unternehmertum fordern stete Beobachtung der Konkurrenzsituation, entsprechend schnelle Anpassung, unerschöpfliche Kreativität (Bröckling 2004) und permanente Innovation. Flexibilität lautet denn der neoliberale Imperativ. Wo Stabilität mit Erstarrung und Regelmäßigkeit mit Veränderungsunfähigkeit gleichgesetzt werden, haben sich die Einzelnen als "biographisch offene, örtlich ungebundene und unbeschränkt anpassungsfähige Subjekte zu präsentieren" (Lemke 2004, 85). Der geforderte "flexible Mensch" (Sennett 1998) kennt keine langfristigen Bindungen und keine definitiven Festlegungen. Erfahrungswissen, Traditionen und Routinen werden zu überflüssigem, beschränkendem Ballast, Vergangenheit mutiert zum Hemmnis einer offenen, scheinbar beliebig gestaltbaren Zukunft. Das Selbst bleibt flexibel, unbestimmt - und umso leichter bestimmbar.

- Erfolg: Gleichsam gekrönt wird die Ver-/Befolgung neoliberaler Imperative mit dem Postulat des Erfolgs, der zunehmend als Persönlichkeitseigenschaft präsentiert wird - verbunden mit der impliziten Aufforderung unermüdlicher Arbeit an sich selbst. Im Strahlen des Erfolges erscheint das vermeintlich selbstproduzierte Subjekt als Souverän, das sich im (a)sozialen Wettbewerb durchgesetzt hat. Die Indikatoren des Erfolgs sind, obgleich bevorzugt marktgebundene Siegeszeichen wie Geld und Macht, austauschbar, wenn die gesamte Lebensführung zum Wettbewerb avanciert. Der Erfolg an sich entscheidet - während die Erfolglosen noch ihr Scheitern erfolgreich zu bewältigen haben (Neckel 2004). Je mehr nach Erfolg streben, umso öfter bleibt dieser zwangsläufig versagt, denn stets kann er nur wenigen zukommen - und so wird er, mit Leistung legitimiert und eingebunden in umfassende Diskurse von Freiheit und Wahl, zur perfekten Rechtfertigung sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Hierarchisierung.


3. Selbst-Regierung

Die hier dargestellten Postulate sind in die "großen neoliberalen Erzählungen" von Freiheit und Wahl eingelagert, sie ergänzen und stützen einander und charakterisieren den neoliberalen Subjektentwurf. Insbesondere im Kontext gesellschaftlicher Verhältnisse zeigt sich dessen klassenspezifischer und maskulinistischer Charakter. Es liegt auf der Hand, dass ökonomische Verhältnisse Entrepreneurship oder Aktivität im Allgemeinen klare Grenzen setzen oder Chancen im Wettbewerb und Erfolg hochgradig von ökonomischen Ausgangsbedingungen bestimmt werden. Schließlich bleibt nicht nur etwa Frauen zugewiesene, unbezahlte, "private" Versorgungsarbeit gänzlich ausgeblendet, sie erweist sich als mit diesem Subjektentwurf ebenso unvereinbar wie nach wie vor dominante Weiblichkeitskonstruktionen, die Frauen mit Liebe, Schwäche, Gebundenheit, Emotionalität assoziieren. Zugleich lassen sich die skizzierten, auf Subjektformierung gerichteten Postulate vielfach als politische Restrukturierungsprinzipien identifizieren. Sie avancierten zu zentralen Leitlinien von Politik und bestimm(t)en insbesondere die neoliberale Neuausrichtung von Arbeits- und Sozialpolitik, an ihnen wird der enge, mehrdimensionale Zusammenhang von Wirtschaftswissen und neoliberaler Politik, von Wahrheit, Macht und Regierung deutlich. Neoliberale Regierung ist demnach spezifische "Selbst-Regierung": Neoliberale Subjekte steuern sich selbst. Markt und Individuum sind über das Prinzip der Selbststeuerung aneinander gekoppelt. Herrschaft "des Marktes" bedeutet Wettbewerb und impliziert damit individuelle Unterwerfung unter "Marktgesetze", die staatliche Gesetze ersetzen oder ergänzen. Dem Staat bleibt diesbezüglich die bloß residuale Funktion der Sicherung entsprechender Rahmenbedingungen. Der "Apparat" des Marktes besteht in der Gesamtheit seiner TeilnehmerInnen, mit dem sich neue Formen von Kontrolle jenseits autoritärer Repression und wohlfahrtsstaatlicher Integration verbinden und die "Freiheit" der Einzelnen konstituieren. Neoliberalismus bedeutet demnach Regierung durch "Freiheit". - Und wie soll sich Widerstand gegen Freiheit formieren? Wie sollen neoliberal formierte Subjekte Widerständigkeit entwickeln? Im Zuge der anhaltenden Wirtschaftskrise mag "Freiheit" an Zuverlässigkeit, mögen die genannten Postulate an appellativer Kraft verloren haben, doch sie haben sich in den letzten beiden Dekaden den Subjekten eingeschrieben, werden von diesen verkörpert. Wo sie dennoch brüchig zu werden drohen, verstärken sich repressive Herrschaftstechniken. Bei den Marginalisierten, Ausgegrenzten, den großen VerliererInnen neoliberaler Transformation lässt sich wohl vielfach nicht (mehr) auf adäquate Selbststeuerung bauen. Gegen sie wird gerüstet.


Literatur

Becker, Gary S. (1975): Human Capital. A Theoretical and Empirical Analysis, with Special Reference to Education, New York/London.

Becker, Gary S. (1976): The Economic Approach to Human Behaviour, Chicago/London.

Becker, Gary S./Becker, Guity Nashat (1998): Die Ökonomik des Alltags. Von Baseball über Gleichstellung zur Einwanderung: Was unser Leben wirklich bestimmt, Tübingen.

Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt/Main.

Bröckling, Ulrich (2004): Kreativität, in: Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart, Frankfurt/Main, 139-144.

Fach, Wolfgang (2004): Selbstverantwortung, in: Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart, Frankfurt/Main, 228-235.

Greco, Monica (2004): Wellness, in: Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart, Frankfurt/Main, 293-299.

Hondrich, Karl Otto (2001): Der Neue Mensch, Frankfurt/Main.

Kocyba, Hermann (2004): Aktivierung, in: Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart, Frankfurt/Main, 17-22.

Lemke, Thomas (2004): Flexibilität, in: Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart, Frankfurt/Main, 82-88.

Michalitsch, Gabriele (2004): Was ist Neoliberalismus? Genese und Anatomie einer Ideologie, in: Graf, Daniela/ Kaser, Karl (Hg.): Vision Europa. Vom Nationalstaat zum europäischen Gemeinwesen, Wien, 144-163.

Michalitsch, Gabriele (2006): Die neoliberale Domestizierung des Subjekts. Von den Leidenschaften zum Kalkül, Frankfurt/Main.

Neckel, Sighard (2004): Erfolg, in: Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart, Frankfurt/Main, 63-70.

Schumpeter, Joseph A. (1993/1942): Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Tübingen/Basel.

Schumpeter, Joseph A. (1987/1912): Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Berlin.

Sennett, Richard (1998): Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin.

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Buchbesprechung von Philippe Kellermann

Felix Schnell: Räume des Schreckens. Gewalt und Gruppenmilitanz in der Ukraine 1905-1933.
Hamburg: Hamburger Edition 2012, 575 Seiten, Euro 28

Martin Baxmeyer: Das ewige Spanien der Anarchie.
Die anarchistische Literatur des Bürgerkriegs (1936-1939) und ihr Spanienbild.

Berlin: Edition Tranvia 2012, 599 Seiten, Euro 36


Der wohl gängigste Einwand, der dem Anarchismus gemacht wird, ist, dass er zwar eine schöne Idee, aber nicht zu realisieren sei. Oder wenn, dann "erst in 200 oder vielleicht 500 Jahren", wie jener "russische Gendamerieoberst" meinte, von dem Kropotkin einmal erzählte, und der daraus den Schluss zog, dass "man vorläufig" die PropagandistInnen des kommunistischen Anarchismus zur Bestrafung "einsperren müsse" (Kropotkin 1881: S.151). Folgerichtig bemühte man sich darum, die Realisierbarkeit des Anarchismus spekulativ zu beweisen oder eben an ihn zu glauben. Nicht zuletzt infolge der sich weltweit durchsetzenden Dominanz der Sozialdemokratie seit Ende des 19. Jahrhunderts und des Bolschewismus seit der Oktoberrevolution wurden diese Ansätze immer unbefriedigender und es gelang dem Anarchismus kaum, etwas den greifbaren "Erfolgen" ihrer sozialistischen Widersacher entgegenzuhalten. Umso wichtiger wurden für die anarchistische Geschichts- und Gedächtnispolitik dann real existierende Ereignisse, die diese Möglichkeit zur Verwirklichung demonstrierten oder demonstrieren sollten. Vor allem zwei Ereignisse wurden und werden in diesem Zusammenhang immer wieder angeführt: die Machno-Bewegung während der Russischen Revolution und der Spanische Bürgerkrieg. Nun sind zwei Bücher erschienen, die diese Ereignisse kritisch hinterfragen.


Felix Schnell: Räume des Schreckens

Schnell widmet sich in seiner Studie über "Gewalt und Gruppenmilitanz in der Ukraine 1905-1933" vor allem drei Zeitabschnitten: (1) den Jahren nach der ersten Russischen Revolution 1905, die als "erste konjunkturelle Hochphase kollektiver Partikulargewalt" und "eine Art 'Laboratorium der Gewalt'" beschrieben werden und welche durch "Schwäche und Wegfall staatlicher Autorität" (S.14) ermöglich wurden; dann (2) der Zeitspanne, die vom Ersten Weltkrieg bis zum anschließenden Bürgerkrieg reicht. Der Krieg hatte nicht nur die Bevölkerung des Zarenreiches "entwurzelt", die "Funktionsfähigkeit der Regierung" untergraben, sondern er war auch eine "Schule der Gewalt" gewesen, "die Millionen von Bauern das Kämpfen lehrte und sie dem friedlichen Leben entfremdete" (S.14). Im Bürgerkrieg waren die "Gewalträume (...) nicht mehr Einsprengsel in einer lediglich erschütterten Ordnung, sondern" wurden "vielmehr selbst zur herrschenden Ordnung" (S.15); (3) der Zeit der stalinistischen Kollektivierung Anfang der 1930er Jahre.

Es geht in Räume des Schreckens um weit mehr, als um Machno und die Machno-Bewegung. Aber sie spielt in seinen Ausführungen eine wichtige Rolle, weil sie als "Lehrstück von Gruppenmilitanz in Gewalträumen" verstanden (S.365) und als "zentrales Fallbeispiel" diskutiert wird (S.287). Hierauf konzentrieren sich meine Ausführungen.[1] Das Verhältnis von Machno zu den zeitgenössischen russischen AnarchistInnen war keineswegs ungetrübt. Der Anarchist Arschinoff, Chronist und Teilnehmer an der Bewegung, teilte heftige Hiebe gegen die russischen AnarchistInnen aus, weil diese die Bewegung "verschlafen" hätten (Arschinoff 1923: S.244). Und dies, obwohl doch die Machno-Bewegung "eine anarchistische Massenbewegung der Werktätigen" gewesen sei, die, wenngleich "nicht ganz abgeschlossen, nicht ganz durchkristallisiert, dennoch aber dem anarchistischen Ideal zugewandt (...) und den Weg des Anarchismus beschritten" habe (Arschinoff 1923: S.243). Immer wieder den volkstümlichen Charakter der Bewegung hervorhebend, beklagte er vor allem, dass sich "von allen intelligenten und theoretisch gebildeten Anarchisten nur Volin sich mit Entschiedenheit der Bewegung" angeschlossen habe (ebd. S.244f.).[2] Jener Volin war es dann, der Jahre später die wohl wichtigste anarchistische Darstellung der Russischen Revolution aus der Perspektive eines Beteiligten verfasste.[3] Dort schreibt Volin, der sein Kapitel über die Machnobewegung als das "wichtigste und interessanteste" bezeichnet (Volin 1976: S.177): "Die Bolschewiki machten schließlich Machno und der Aufständischen Bewegung [neben dem angeblichen Antisemitismus] noch etwas anderes zum Vorwurf: sie behaupteten, daß Machno, wenn nicht ein Bandit, so doch ein Abenteurer (...) gewesen sei (...). Sie behaupteten, daß Machno in der Bewegung persönliche Ziele verfolgte und dies mit der anarchistischen Ideologie bemäntelte; daß er den großen Mann spielte, indem er sich über alle Komitees, Kommissionen und Sowjets lustig machte; daß er tatsächlich eine gnadenlose Diktatur ausübte und daß die besten Genossen, die an der Bewegung teilnahmen sich bewußt oder unbewußt täuschen ließen; daß er sich mit eine[r] Clique von Kommandanten umgab, die heimlich übelste Gewalttaten, Raubzüge und anderes unternahmen und daß Machno diese Verhaltensweisen deckte und hinter dem Rücken der 'Ideologien' selbst daran teilnahm, die er im Grunde verachtete und über die er sich lustig machte, etc." (ebd. S.168) Damit ist recht exakt das Bild skizziert, das Schnell von Machno und der Bewegung zeichnet. Aber er kritisiert die bolschewistische, bzw. sowjetische Machno-Interpretation: "Die sowjetische Geschichtsschreibung stellte Machno als gewissenlosen Banditen und Konterrevolutionär dar und übersah dabei gerne, wie viel er im Grunde mit der Revolution zu tun hatte, ja dass er in gewisser Weise aus demselben Holz geschnitzt war wie die Bolschewiki, die im Bürgerkrieg und dann später bei der Kollektivierung die Sowjetmacht behaupteten und die sowjetische Staatsbildung durchsetzten." (S.289)[4]

Nach Schnell sei Machno mit "hoher Wahrscheinlichkeit" schon in frühen Jahren eine "psychisch unausgeglichene Person" gewesen, der als "Bandit[.]" seine Laufbahn begann (S.286) und Teil einer Gruppe war, deren Tun "mehr mit kriminellem als mit revolutionärem Handeln zu tun" hatte (S.79). Nach der Februarrevolution aus dem Gefängnis entlassen, habe er dort angeknüpft, "wo er vor seiner Verhaftung und Verurteilung aufgehört hatte: Bandenbildung und Bandenaktivität. Dazu griff er auf Verwandte, Freunde und Bekannte zurück, mit denen er eine Art verschworene oder besser gesagt mafiöse Gemeinschaft bildete" (S.291). In "relativ kurzer Zeit" habe er einer "regelrechte[n] Armee" vorgestanden (S.304), deren Stärke unterschiedlich geschätzt wird, auf jeden Fall aber in die Zehntausende ging - Anfang der 20er Jahre aber vor allem auf Grund von Typhuserkrankungen wieder "auf das Format einer großen Bande" zurückging (S.310). Bei alledem war Machno vor allem eins: ein "Tatmensch" (S.318) und "Genie der Praxis" (S.319), ein "brillanter Taktiker" (S.324), der "stets vorn dabei war und sich nicht schonte" (S.325). Mit Anarchismus habe all das nichts zu tun, es sei gerade Machnos Vorteil gewesen, dass ihm "das großformatige Denken fremd war" (S.365).[5] Zwar habe Machnos Denken irgendwie mit der Bauernutopie zu tun (vgl. S.293) und einmal schreibt Schnell sogar: "Anfang 1919 hatte der Bat'ko noch große Ziele und sah sich als Exponent einer umfassenden Bauernrevolution" (S.197) Hiervon erfahren wir im Hauptteil der Auseinandersetzung mit Machno dann nichts mehr. Stattdessen heißt es: "Machno vermochte sich sehr bald breiter Zustimmung und Sympathie unter den Bauern der südöstlichen Ukraine zu versichern und konnte buchstäblich als Haupt einer regionalen agrarrevolutionären Bewegung erscheinen." (S.286; H.v.m.) Diese doch merkwürdige 'breite Zustimmung und Sympathie' erklärt aber kein politisches Programm, denn er habe "keine politische Alternative anzubieten" gehabt (S.313). Vielmehr gelte "die nüchterne Feststellung, dass Machno im Grunde kein politisches Ziel und kein Programm hatte (...). Er war im wahrsten Sinne des Wortes ein Sohn des Krieges und der modernen russischen smuta, der 'Zeit der Wirren'. Gewalträume waren für Menschen wie Nestor Machno eine Art Biotop und die Machnovscina war vor allem eines: Selbstzweck." (S.313f.) Damit ist die Brücke zu Schnells eigentlichem Thema gebaut: der Gewalt.

Die Machno-Armee sei eine "Gewaltkultur" gewesen (S.316), die "durch Gewalt zusammengehalten" wurde (S.358).[6] Machno selbst habe es geliebt, "Furcht zu verbreiten." (S.317), erwiesen sei es, "dass Machno sehr oft tötete und sowohl im Kampf als auch bei Exekutionen grob geschätzt mehrere hundert Menschen mit eigener Hand umbrachte" (S.325). Machno erscheint als unangefochtener Führer, der diktatorisch herrschend, seine Anweisungen mit: "oder ich bringe dich um!" beendete (S.326). Exzesse seiner Untergebenen wurden nicht aufgrund ethischer Impulse verurteilt, sondern weil es dabei um "Kontrolle und Macht" (S.328) ging - stellten diese doch "seine Ausnahmestellung als Herr über Leben und Tod" (S.329) infrage. Exekutionen und Gnadensakte werden interpretiert einerseits als sehr passend "zur Art und Weise, in der Machno seine vermeintliche Allmacht repräsentierte" (S.350), andererseits auch als Aspekt von Vergemeinschaftung: "Er entschied, wer mit dem Leben davonkam und wer nicht. Zugleich schufen diese Hinrichtungen eine durch Gewalttaten zusammengeschmiedete Tätergemeinschaft." (S.352) Begleitet von einem "fürstlichen Gefolge" (S.335), darunter einer "Art charismatische[r] Aristokratie nach dem Prinzip des Jüngertums" (S.321), gelte für diese, dass "[j]eder von ihnen" sich bemüht habe, "den anderen mit seiner Kühnheit zu übertreffen - über Menschen sprachen sie dabei wie Schlachter über Vieh: umgebracht, erstochen, mit dem Messer abgestochen, Bauchaufschlitzen. Diese Worte wurden mit Gelächter begleitet", wie eine Gefangene berichtet (zit.n. S.353). Zum "Wettbewerb der Grausamkeit" (S.354) gesellt sich dann noch die kontinuierliche "Leichenschändung" (S.355). Bisweilen erscheint Machno schlimmer als die Bolschewiki, denn: "Anders als die Bolschewiki oder auch die Weißen brauchte Machno keine Gefängnisse. Der Terror seiner Truppe war direkt und ohne Umschweife." (S.195) Und wie ein deutscher Kolonist berichtete: "Die Bolschewiki seien im Vergleich zu den Anarchisten Engel gewesen" (S.204).[7]

Einige überlieferte Beispiele für die Gewalt werden angeführt.[8] Folgerichtig meint dann ein Rezensent: "Nestor Machno war ein brutaler Warlord mit psychotischen Zügen, wie Schnell immer wieder eindrucksvoll belegt." (Chiari 2012: S.192)[9] Womit sich die Frage nach der Machno entgegengebrachten Sympathie noch dringlicher stellt, zumal nach Schnell auch Machno eine "reine Beuteökonomie" (S.259) betrieben habe und "die Bevölkerung ausrauben musste" (S.311). Vage heißt es: "Obwohl Machno (...) den Bauern eigentlich nur eine weniger intensive und vor allem unsystematischere Variante des sowjetischen Verfahrens zu bieten" hatte, konnte er "doch die Illusion bäuerlicher Freiheit aufrechterhalten, so dass die Bauern ihnen oft freiwillig gaben, was sie brauchten." (S.188; H.v.m.) Sie hätten die "Wahl zwischen zwei Übeln" gehabt und "wählten das vermeintlich geringere" (S.188; H.v.m.). Die betroffenen Bauern scheinen also nicht so recht gewusst zu haben, was sie taten. Jedenfalls schätzten sie an Machno den Alkoholkonsumenten[10] und hasserfüllten Visionär: "Auf jeden Fall konnte Machno anderen Menschen Orientierung geben, Ordnung ins Chaos bringen. Er war in der Lage, den eigenen Leuten klarzumachen, wer sie waren, und ihnen zu sagen, wer ihre Feinde waren, die vernichtet werden mussten." (S.319) Und wie es sich für einen Vernichtungsfeldzug gehört, gilt: "Es wurde gegen alles Mögliche gekämpft, aber selten für etwas. Etwas, für das man kämpfen konnte, war, Schwächeren seinen Willen aufzuzwingen." (S.359)

Aus anarchistischer Perspektive ist die Lektüre des Buches ernüchternd, sogar erschütternd. Zwar erscheinen manche Ausführungen des Autors über den Anarchismus[11] oder auch Machno[12] bisweilen etwas bizarr, dennoch: Sollte nur ein Bruchteil der erwähnten Quellen zutreffendes Beschreiben, muss man schon zusammenzucken. In diesem Sinn ist Schnells Arbeit wichtig und nicht einfach so beiseite zu schieben. Das Problem aber ist, dass fast alle der erwähnten Aspekte schon von Volin geschildert wurden. Dieser hatte im Anschluss an das bolschewistische Zerrbild nämlich festgehalten, dass es gelte "einige Tatsachen klar herauszustellen, die der bolschewistischen Version den Schein von Wahrheit vermittelten und so ihre Verbreitung und ihr hartnäckiges Fortbestehen ermöglichten" (Volin 1976: S.160), wobei es sich hier um "gewisse wirkliche Mängel und Schwächen der Bewegung und ihres Führers" handele (Volin 1976: S.168). Es ist eine große Schwäche der Arbeit Schnells, dass er Volin als eine Art Trottel hinstellt, dessen Ausführungen überhaupt keinen historischen Wert hätten: "Intellektuelle wie Vsevolod Volin oder Petr Arsinov warteten bereits Anfang der 1920er-Jahre mit Schriften über die vermeintliche Machno-Bewegung auf, bei denen es sich nicht ausschließlich, aber in hohem Maße um eine Apologetik der eigenen politisch-philosophischen Positionen handelte. Der Anarchismus oder als seine besondere Spielart: der Anarchosyndikalismus figurierten hier als Wesen der Bewegung und als Alternative zum Bolschewismus." (S.292)[13] Nicht nur bleibt unerwähnt, dass Volin Arschinoff kritisiert (vgl. Volin 1977: S.172), sondern auch, was an den Darstellungen der beiden nicht ausschließlich als Apologetik gelten kann.[14] Indem Schnell diese Diskussion nicht führt, kann er Machno und die Machno-Bewegung mit Hilfe seines Gewaltkonzeptes in eins setzen: alle Ambivalenzen und Differenzierungen, die Volin für wichtig erachtet, gehen dabei verloren. Das ist wohl leider insofern verständlich, als dass Schnell mit dieser Bewegung einfach fertig ist, während Volin daran festhielt, dass man "über die Fehler und Irrtümer dieser Revolution des Volkes nachdenken" solle (Volin 1977: S.177). Dennoch: Ein wichtiges Buch, dem eine breite und kontroverse Diskussion zu wünschen ist und es ist ja keineswegs ausgemacht, ob in dieser Schnell nicht recht behalten wird.[15]


Martin Baxmeyer: Das ewige Spanien der Anarchie

Martin Baxmeyer ist selbst in anarchistischen Zusammenhängen aktiv. Wenngleich ein kritischer Blick auf die 'eigene' Geschichte eigentlich selbstverständlich sein müsste - schließlich fordern wir das ja auch immer von MarxistInnen ein -, gilt es lobend hervorzuheben, dass Baxmeyer als Ziel seiner "Arbeit" und auch seiner "zukünftigen Forschungen" angibt, den "kritischen Blick auf die Vergangenheit auch innerhalb der anarchistischen Bewegung etwas zu fördern".[16] Und fürwahr: Baxmeyer macht mit seiner "Hauptthese" sogleich deutlich, dass in seiner Dissertation keine Nebensächlichkeiten behandelt werden: "Die anarchistische Bürgerkriegsliteratur war nicht die Verwirklichung der kulturellen Utopie der Anarchisten im Sinne einer neuartigen, freien und kollektiven Praxis, die anarchistische Ideologeme aktualisierte, gestaltete und zu verbreiten half. Zwar veränderten sich während des Bürgerkriegs in der Tat die literarischen Produktions- und Rezeptionsbedingungen. Inhaltlich und formal jedoch entfernte sich die libertäre Bürgerkriegsliteratur in signifikanter Weise von ihren ideologischen 'Wurzeln'. Sie näherte sich stattdessen der profranquistischen Bürgerkriegsliteratur an, aktualisierte nationalistische, kolonialistische und sogar rassistische Theoreme und schuf ihren eigenen Spanienmythos." (S.30) Nachdem Michael Seidman in Gegen die Arbeit schon über Abgründe der CNT-Politik informierte, geht es nun also auch noch den LiteratInnen an den Kragen.[17]

Der Diskurs, den Baxmeyer untersucht, darstellt und kritisch diskutiert kreist um das Bild des "ewigen Spaniens", wobei es darum geht, zu analysieren "ob, wie und vor allem warum sich eine kollektive Identität, nämlich jene der spanischen anarchistischen Bewegung in all ihren politischen Schattierungen, die wesentlich durch ihre Ablehnung des Nationengedankens definiert war, in ihrer literarischen Selbstdarstellung während des Bürgerkriegs" solchermaßen verschieben konnte (S.50). Absolut faszinierend jedenfalls sind die Ausführungen über die "anarchistischen Vorstellungen zur Genese eines revolutionären pueblo (...) von einer ästhetischen (Selbst-)Erziehung der Anarchisten" (S.106), wie sie Baxmeyer anhand des spanischen Vorkriegsanarchismus erläutert. Er meint: "Das Besondere an den bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unbestreitbar revolutionären kulturpolitischen Zielen der Anarchisten war, dass sie stets die schichtenübergreifende kulturelle Produktion miteinbezogen [haben] und niemals nur die Rezeption." (S.107) Wieder einmal gelingt es einem Autor, die Attraktionskraft und den besonderen Charme des spanischen Anarchismus darzustellen. Mit dem Bürgerkrieg aber wendet sich in gewisser Weise das Blatt: "Für eine langsame und geduldige ästhetische (Selbst-)Erziehung, wie sie die Anarchisten bis zum Bürgerkrieg propagiert und realisiert hatten, war ab dem 18. Juli 1936 ihrem Verständnis nach keine Zeit mehr. Von nun an galt der unmittelbare Nutzen - auch von Literatur." (S.241) Nun habe die "anarchistische Bürgerkriegsliteratur (...) eine ahistorische Essenz 'wahren Spaniertums'" postuliert und konstruiert, der "sie eine Neubewertung des pueblo-Begriffs während des Bürgerkriegs zugrunde legte und die die nationale anstelle der sozialen Zugehörigkeit in den Vordergrund rückte" (S.244). Der Bürgerkrieg wurde so "auch zum dichterischen Kampf darum, wer im Namen der spanischen Geschichte zu sprechen und zu handeln berechtigt sei" (S.244), "ein regelrechter Kampf um Deutungs- und Definitionsmacht in der Literatur" (S.328). Dabei seien "zum Teil offen reaktionäre Konzepte, die mit Kollektivsymbolen wie den Reyes católicos oder den conquistadores verbunden waren, (...) keiner kritisch-ideologischen Prüfung mehr unterzogen, sondern im literarischen Diskurs auf jene Aspekte reduziert" worden, "die das Bild des 'ewigen', revolutionären Spaniens stützten. Das 'ewige Spanien der Anarchie' wurde von genau den gleichen historischen Helden gestützt und getragen wie das der autoritären Rechten." (S.334) Kurz: "Was immer auch nur eine Ahnung nationaler, kriegerischer Größe transportierte, wurde, bildlich gesprochen, in der anarchistischen Literatur des Bürgerkriegs in eine Milizuniform gesteckt, notdürftig ideologisch bewaffnet und an die Front geschickt." (S.333) Der wohl "radikalste[.] Bruch mit der universalistischen und egalitären Menschheitsutopie, den die anarchistische Literatur während des Bürgerkriegs vollziehen konnte" war dabei die "rassistische Verteuflung afrikanischer Menschen als einer Horde unzivilisierter, blutrünstiger Bestien" (S.363) - was sich auf die afrikanischen Soldaten im Gefolge Francos bezog.

Wie konnte es zu diesem "nationalistischen 'Schwenk' in der anarchistischen Literatur" kommen (S.245)? Baxmeyer präsentiert folgende "Hypothesen" (S.485): Erstens, als "sicherlich wichtigste Ursache": "der Bürgerkrieg selbst. Genauer: die Notwendigkeit, der Behauptung der putschenden Militärs, im Namen und zum Wohle Spaniens zu handeln, propagandistisch etwas entgegenzusetzen." (S.486) Woraus folgt: "Der Nationalismus der anarchistischen Literatur war ein reagierender Nationalismus." (S.487) Zweitens: "der Konformitätsdruck innerhalb der republikanischen Zone (...). Praktisch vom ersten Tage an verlegte sich die republikanische Propaganda auf eine nationalistische Agitation, wenn es darum ging, Machenschaften und Ziele des Kriegsgegners auch international zu delegitimieren" (S.494). Möglicherweise sei dabei der "anarchistische Nationalismus (...) nicht nur der Versuch, sich von der kommunistischen, sozialistischen oder republikanischen Propaganda nicht delegitimieren und als 'unspanisch' hinstellen zu lassen, sondern auch deren vielversprechende Mobilisierungsstrategie zu kopieren" gewesen (S.499f.). Drittens: "Die nationalistische Utopie war nicht bloß von außen, als 'ideologischer Fremdkörper', in das kulturelle Spektrum der Anarchisten eingedrungen. Sie hatte dort seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bereits eine feste Heimstatt" (S.505) - wenngleich sie vor dem Bürgerkrieg äußerst marginal war. Viertens: "Eine letzte, wiewohl nicht zu vernachlässigende Ursache für den nationalistischen 'Schwenk' in der anarchistischen Bürgerkriegsliteratur liegt womöglich in der neu definierten Funktion, die diese während des Bürgerkriegs zu erfüllen hatte. (...) Die anarchistische Literatur des Bürgerkriegs war in ihrer überwältigenden Mehrheit weder Revolutionskunst noch revolutionäre Kunst. Sie war Kriegskunst, literatura de combate. Sie sollte agitieren, aufrütteln, ermutigen, zur Beteiligung an Krieg und Revolution auffordern. Die Bilder und Symbole, die sie dafür nutzte, mussten ihren Adressatinnen und Adressaten unmittelbar einsichtig sein. Eine neue, womöglich eigenständigere oder differenziertere Bildsprache zu entwickeln, unternahmen während des Kriegs nur wenige Autorinnen und Autoren." (S.514f.)

Festzuhalten sei aber auch: "Die nationalistische Utopie konstituierte sich während des Bürgerkriegs auf der Ebene der Bilder und Symbole, und kaum einmal wurde sie zu einem politischen Programm ausgearbeitet: dem einer populären, anti-elitären, demokratischen, anti-imperialistischen, säkularen oder sogar atheistischen spanischen Volksnation beispielsweise. Diesen Kontext mussten die Rezipienten sozusagen im Stillen 'mitlesen', und wenn die Medialität der anarchistischen Bürgerkriegsliteratur eine solche Lektüre auch ohne Zweifel erleichterte, so wurde sie durch die noch zu analysierenden logischen Zwänge, die sich bei der Übernahme einer nationalistischen Topologie in einen libertär-revolutionären Kontext ergaben, gleichzeitig deutlich erschwert." (S.479f.) Und Baxmeyer zieht als Möglichkeit auch in Betracht: "Allein die Häufung nationaler Kollektivsymbole in der libertären Bürgerkriegspoesie ließe sich ebenso gut als Indiz dafür deuten, dass die neue, nationalistische Deutung von Krieg und Revolution keine selbstverständliche Akzeptanz fand. (...) Hier zeigt sich, dass vor allem ältere, streng syndikalistisch und antinationalistisch geprägte Anarchistinnen und Anarchisten (...) den patriotischen Zungenschlag ihrer (nicht nur literarischen) Propaganda eher mürrisch oder überhaupt nicht zur Kenntnis nahmen." (S.485)

Man muss sich bei alledem auch vor Augen führen, dass Baxmeyer seine Aufmerksamkeit einem streng eingegrenzten Gegenstand widmet. So meint er beispielsweise auch, dass "in der anarchistischen Prosa und auf dem Theater (...) Raum für eine differenziertere Auseinandersetzung mit nationalistischen Topoi" blieb, und dieser auch genutzt wurde (S.516). Und das Verhältnis, bzw. der wechselseitige Einfluss von Dichtung und anarchistischer Politik müsste erst noch geklärt werden. So zeigen Beispiele, dass es hier auch spürbare Differenzen gab. Beispielsweise wurde die Heiligengestalt der Virgen [Jungfrau] del Pilar - als "am stärksten propagandistisch wie literarisch umkämpfte[s] religiöse[s] Kollektivsymbol des Bürgerkriegs" (S.465) - von der anarchistischen Bürgerkriegsliteratur positiv besetzt, während die anarchistische Presse "in der Figur der Heiligen und ihrer Basilika (...) kaum etwas anderes als Symbole des verhassten Katholizismus" sahen (S.468).

Kurz und gut: Baxmeyers Buch diskutiert auf anschauliche und spannende Weise ein hochinteressantes Thema und ist weit entfernt von irgendwelchen billigen Lobeshymen oder Verteufelungen. Mal von einer anderen Seite her gibt er einen Einblick in jenes so außergewöhnliche Ereignis Ende der 30er Jahre, das - so merkwürdig das nach den obigen Ausführungen klingen mag - meines Erachtens nach wie vor etwas absolut Faszinierendes hat. Vielleicht ist es die in ihr enthaltene Ambivalenz... das "menschliche"?

Schluss

Nun hilft Faszination für sich genommen kaum jemandem. Und beide Bücher verweisen vor allem auf ein Problem, dem sich der Anarchismus zu stellen hat: dem Handeln in Räumen verdichteter Gewalt, bzw. im Krieg. Felix Schnell hatte lapidar gemeint: "Schlichte Tatsache ist wohl, dass Anarchismus im Krieg ein schlechter Ratgeber ist, und Machno verhielt sich entsprechend, denn er war zwar ein Draufgänger und Revolutionär, aber kein Idiot." (S.297) Tatsächlich haben sich die "idiotischen" AnarchistInnen immer wieder am Problem des Krieges gerieben. So wies Volin mit Hinblick auf Machno auf die "Gefahr" hin, die selbst "eine freie und volkstümliche Armee, die aus Freiwilligen zusammengesetzt ist" darstelle, wenn sie "Gefallen an der Machtausübung" findet (Volin 1976 S.169f.). Rudolf Rocker meinte ganz ähnlich: "Nicht bloß, daß der Krieg im allgemeinen verheerend auf die Natur des Menschen wirkt, indem er fortgesetzt an seine brutalsten und grausamsten Triebe appelliert, die militärische Disziplin, die er erfordert, erstickt auch jede freiheitliche Regung im Volke und züchtet systematisch jenen Ungeist des Kadavergehorsams, der noch immer der Vertreter jeder Reaktion gewesen ist." (Rocker 1949: S.100) Und es war Simone Weil, die das klassische Dilemma benannte: "Es scheint, als habe eine im Krieg befindliche Revolution nur die Wahl, den tödlichen Schlägen der Konterrevolution zu erliegen oder durch den Mechanismus des militärischen Kampfes selbst zur Konterrevolution zu werden. Die Aussichten der Revolution scheinen dadurch sehr begrenzt, denn kann eine Revolution den Krieg vermeiden? (...) Solange wir nicht erkennen können, wie diese Herrschaft der Apparate über die Massen im Akt des Produzierens oder des Kämpfens selbst zu vermeiden ist, hat jede revolutionäre Anstrengung etwas Verzweifeltes" (Weil 1933: S.16 und S.18). Tröstet über diese Verzweiflung hinweg, dass der Anarchismus zunehmend in die öffentliche Debatte gerät und auch vermehrt in der akademischen Forschungslandschaft wahrgenommen zu werden scheint.[18] Nein, das hilft nicht, denn: "Wer will - vor allem innerhalb der Linken - schon gegen Herrschaftsfreiheit, soziale Gerechtigkeit und gegenseitige Hilfe Stellung beziehen? Der Knackpunkt ist in der Regel nicht die Idee, sondern das Realisierungspotential. (...) Es ist die Aufgabe der Apologet_innen des Anarchismus, diesen als tatsächlich ernstzunehmende revolutionäre Bewegung zu beweisen bzw. mehr sein zu lassen als idealisierter historischer Referenzpunkt, moralisches Hoheitsgebiet oder identitär-subkultureller Rückzugsraum." (Kuhn 2012) Dass ein unreflektierter Verweis auf "Machno" oder "Spanien" dazu nicht ausreicht, sollte mehr und mehr selbstverständlich sein.


Anmerkungen

[1] Am Rande sei vermerkt: Viele hier nicht thematisierte Aspekte in Schnells Studie sind interessant - so z.B. seine Skizzierung bäuerlicher Widerstandsstrategien, wenngleich manches kontrovers diskutiert werden könnte: z.B. die sehr stark an eine Sichtweise bei Hobbes erinnernden Aspekte, wobei Schnell, anders als sein Förderer Jörg Baberowski (Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt) den modernen Staat nicht aus der Gewaltgeschichte herausnimmt, sondern - bei allem Fokus auf "staatsferne Räume" und deren Gewaltpotential - festhält, dass - wie das sowjetische Beispiel vor allem der 1930er Jahre zeige -, "ein staatliches Gewaltmonopol keineswegs eine Garantie für die Abwesenheit von Gewalt" ist, es vielmehr "Grundlage systematischer Terrorgewalt von oben" sein kann (S.541f.).

[2] Emma Goldman berichtet über ein Zusammentreffen mit den Anarchisten Aaaron Baron und Joseph Goodman, die ihr mitteilten: "Wiederholt hatte er [Machno] die Anarchisten im ganzen Land aufgefordert, die Möglichkeiten der Propaganda, die der Süden bot, auszunutzen. Er würde uns alles Notwendige zur Verfügung stellen, Geldmittel, eine Druckmaschine, Papier und Boten, sagten unsere Genossen und drängten auf eine schnellere Entscheidung." (Goldman 1931: S.742)

[3] Der Anarchismusforscher Paul Avrich nennt sie "the most important anarchist history of the Russian Revolution in any language" (Avrich 1988: 132).

[4] Bemerkenswert ist, dass Schnell damit im Grunde nahelegt, dass Machno selbst eine Art Stalin gewesen sei. Tatsächlich ist es erstaunlich, wie sehr bestimmte Muster, die Schnell bei Machno herausarbeitet, denjenigen ähneln, die Baberowski an Stalin beschreibt (siehe dessen Verbrannte Erde). Möglicherweise bestehen hier Ähnlichkeiten, möglicherweise verweist dies aber auch auf die Abstraktheit eines analytischen Konzeptes von Gewaltforschung, mit dem kaum mehr differenziert analysiert werden kann. Bei Baberowski jedenfalls erscheint Machno am Rande als "Anarchist und Bandit" (Baberowski 2012: S.50) und gewöhnlicher "Warlord[.]" (ebd. S.75).

[5] Schnell meint aber auch, dass Machno für jemanden aus der Unterschicht über einen "überdurchschnittlichen Wissenstand" verfügt habe, was auch "von großer Bedeutung für seine Entwicklung als Anführer" gewesen sei (S.290).

[6] "Diese Funktionen kompensierten die Tatsache, dass die Machnovscina, die auch als Speerspitze einer agrarrevolutionären Bewegung angetreten war, im Verlauf des Bürgerkriegs kein höheres Ziel mehr verfolgte. Der Anarchismus war kein sinnstiftendes Element - selbst in seiner auf die bäuerliche Freiheit (volja) reduzierten Form. Man wollte keine Herren, wollte selbst Herr, wollte frei sein. Und solange es andere gab, die sich zu Herren aufwarfen, konnte man nur kämpfen. Es mag sein, dass die volja oder volnica der Welt zumindest eines Teils der Machno-Soldaten eine gewisse utopische Tiefe verlieh. Aber wahrscheinlich ist, dass es für die meisten so etwas wie eine konkret denkbare Zukunft kaum gab und die Welt buchstäblich auf das Hier und Jetzt zusammenschmolz. Die nackte Existenz, das Überleben wurde so zum Ziel." (S.359)

[7] Bedenkenswert sind Schnells Ausführungen, dass es sich bei antisemitischen Pogromen durch Angehörige der Machno-Armee "eher um Einzelfälle" gehandelt habe und Neigungen zu Pogromen, wenn überhaupt, dann nur "in Bezug auf die deutschen Kolonisten und Mennoniten" zu konstatieren seien (S.347). In gewisser Weise, so Schnell, "kann man sagen, dass die Mennoniten und deutschen Siedler eine ähnliche Funktion hatten wie die Juden im Westen und im Zentrum der Ukraine: Sie waren eine fremde, wenn nicht feindliche Minderheit, der gegenüber alles erlaubt war." (S.348)

[8] Zwei Beispiele: "Die Offiziere wurden nacheinander erschossen, einer von ihnen, der gewagt hatte, angesichts Machnos Auftritt zu lächeln, als letzter. Als man mit den Offizieren fertig war, zeigte Machno auf einen jungen Soldaten: 'Das ist ein Offizier, er hat eine Herrenfresse!' Der Soldat sagte, er sei Regimentsschreiber, das könnten die anderen bezeugen. Er könne schreiben?, fragte Machno, dann sei er wohl Gutsbesitzersohn, und befahl, ihn abzuführen. Der Soldat sah sich in Panik hilfesuchend um. Ein Machno-Soldat nahm ihn ein Stück zur Seite, hielt ihm sein Gewehr hin und forderte ihn auf, das Laufende zu küssen - dann werde er leben. Der Soldat tat wie ihm geheißen. In diesem Moment knallte es trocken" (S.351) Oder: "Auf der Straße wurde buchstäblich auf alles geschossen, was sich bewegte, danach das Geschäftszentrum der Stadt geplündert und größtenteils in Schutt und Asche gelegt. Inmitten des Tumults stand Machno an einem kleinen Feldgeschütz und ließ auf die höchsten Gebäude feuern." (S.198)

[9] Eine andere Rezension weist in die gleiche Richtung: "Basierend auf der Auswertung umfangreicher bisher noch nicht bzw. wenig genutzter Archivmaterialien kann Schnell belegen, dass etwa das bis in die Gegenwart virulente Bild von den Bauernanarchisten und ihrem Traum von einer herrschaftsfreien Welt literarische Konstrukte ex post darstellen, die mit der Wirklichkeit der Machno-Armee wenig gemein haben." (Mark 2012)

[10] So meint Schnell zu Machnos "berühmt-berücksichtigt[en]" Alkoholexzessen, dass diese "eine wichtige Funktion für die Reproduktion seiner Autorität spielten und seinem Ansehen bei den Bauern gerade nicht schadeten" (S.343): "Mit Alkoholismus hat dies vermutlich weniger zu tun als mit der traditionell wichtigen Rolle, die Alkohol als ländliche Alltagsdroge und Vergemeinschaftungsmittel spielte." (S.321)

[11] Was soll man beispielweise von folgender Anekdote halten: "Zwei Anarchisten, denen - man muss sagen: seltsamerweise [!] - die Bewachung der Kriegskasse anvertraut worden war und die als eine ihrer ersten Amtshandlungen - nicht ganz unerwarteterweise [!] - einen Geldschrank aufbrachen, erschoss Machno Cubenko zufolge buchstäblich in derselben Minute, in der er davon erfuhr." (S.326)

[12] So, wenn Schnell meint, dass das von Machno in der Regel fast schulterlang getragen Haar, dessen "Negation zivilisierter Erscheinungsformen" verkörpere (S.317).

[13] An anderer Stelle nennt er sie - wohl abschätzig - "Schreibtisch-Anarchisten" (S.308), um zu unterstreichen, dass sie kaum so recht wüssten, wovon sie sprechen. Dies obwohl er anfangs Arschinoff als "autodiktatisch gebildete[n] [Metall]Arbeiter" vorgestellt hatte, "der später auch schriftstellerisch tätig" geworden sei (S.290).

[14] Dieser Hinweis auf Volin soll aber nicht nahelegen, dass dessen Kritik im Anarchismus breit rezipiert worden wäre, Schnells Arbeit also offene Türen einrennen würde. Eher das Gegenteil ist wohl zutreffend.

[15] Mit einiger Spannung ist deshalb auch eine als mehrbändig konzipierte Dokumentation zu Machno und der Machno-Bewegung zu erwarten, die vom Verlag Edition AV angekündigt wird.

[16] So Martin Baxmeyer im Gespräch mit mir, das demnächst erscheinen wird, in: Philippe Kellermann (Hg.). Anarchismusreflexionen. Zur kritischen Sichtung des anarchistischen Erbes. Verlag Edition AV.

[17] Generell sei angemerkt: Da ich selbst kein spanisch kann und die meisten Gedichte etc. nicht übersetzt sind, musste ich mich weitgehend auf Baxmeyers Ausführungen zu den jeweiligen Gedichten verlassen.

[18] So meint Baxmeyer: "Das wissenschaftliche Interesse am Anarchismus als politischer Kraft hat in den vergangenen 20 Jahren einen Aufschwung erlebt, der im Grunde nur mit dem wiedererwachten Interesse an nicht-marxistischen bzw. -kommunistischen Widerstandsbewegungen während der 60er Jahre zu vergleichen ist." (S.20)

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Buchbesprechung von Martin Birkner

"Die Macht kann nicht überleben, wenn ihre Subjekte ihre Angst ablegen."

Michael Hardt / Antonio Negri: Demokratie! Wofür wir kämpfen.
Campus Verlag 2013, 127 S., EUR 12,90; auch als ebook um EUR 10,99 erhältlich


Nach der Trilogie "Empire - Multitude - Common Wealth" legten Hardt und Negri nun eine ganz andere Sorte Text vor: Eine Deklaration. So lautet übrigens der - treffendere - englische Titel des schmalen Bändchens. Anlass der veränderten Tonlage - der Text ist viel näher an der Alltagssprache verfasst - sind einerseits die langanhaltende Krise des kapitalistischen Weltsystems, andererseits die aktuellen sozialen Bewegungen rund um den Erdball. Im Gegensatz zur Empire-Trilogie ist "Demokratie!" weniger theoretisch-analytisch ausgerichtet, sondern vielmehr eine unmittelbare politische Intervention in diese Bewegungen.

Zunächst greifen Hardt/Negri einen Aspekt der Krise auf, der im Rahmen ihrer Entwicklung und der damit verbundenen Protestbewegungen immer stärker ins Zentrum rückte: Schulden bzw. die durch diese produzierte Form von Subjektivierung, jene der Verschuldeten. Verschuldet-Sein wird zu einem Kernbestandteil postfordistischer Herrschaft, die Bedienung von GläubigerInnen und die Allgegenwart von Schulden formen heute ein ähnliches Dispositiv wie die Fabrik und die damit einhergehende Ausbeutung in der fordistischen Ära.

Darüber hinaus werden im ersten Kapitel drei weitere Subjektivierungsweisen des gegenwärtigen Krisenkapitalismus umrissen: die Vernetzten, die Verwahrten und die Vertretenen. Unausgesprochen selbstkritisch werden bei deren Vorstellung die negativen Auswirkungen der gegenwärtigen Krise(npolitik) ins Zentrum gerückt. Bemerkenswert ist dabei die offensichtliche Abkehr vom operaistischen Paradigma der Privilegierung sozialer Kämpfe vor der Reaktion der Herrschenden. Vom oft ins triumphalistische abgleitenden Ton früherer Texte ist in "Demokratie!" nur wenig zu spüren. Die Vernetzten sind eben nicht - oder zumindest nicht nur - die kommunizierenden und interagierenden kämpfenden Subjekte, sondern die durch Fernsehen und Internet unentwegt zum Vernetzt-Sein gezwungenen vereinzelten Individuen, beständig einem Zwang zum Kommunizieren-Müssen unterworfen. Die Verwahrten sind nicht nur die in Gefängnissen inhaftieren Massen rassistischer, autoritär-kapitalistischer Systeme, sondern auch die den mannigfaltigen Mechanismen der postfordistischen Kontrollgesellschaft Unterworfenen und Überwachten der "gesellschaftlichen Fabrik". Last but not least beschreiben Hardt und Negri in der Figur der "Vertretenen" die Ohnmacht der zur repräsentativen Demokratie gezwungenen Subjekte nach dem Verschwinden aller Möglichkeiten, über die Institutionen der repräsentativen Demokratie auch nur kleine massenwirksame Reformen zum Besseren durchzusetzen. Was bleibt, ist die Permanenz des parlamentarischen Spektakels, dass in all seinen Facetten doch nur immer zu einem Ziel führt: Dass die Reichen reicher, die Armen ärmer und die "Anderen" systematisch ausgegrenzt und diskriminiert werden.

Genau dagegen richten sich die Rebellionen der Multitude. Spätestens hier, beim zweiten von drei Kapiteln, "Rebellion gegen die Krise" betitelt, fällt dann doch eine Parallele zur Empire-Trilogie auf: auch sie beschäftigte sich zunächst mit der Herrschaftsweise des Empire, um anschließend Genese und Entwicklung der Multitude als rebellischer Subjektivität zu analysieren, welche schließlich in der absoluten Demokratie des Commonwealth - aller gegenteiliger Beteuerungen der Autoren zum Trotz ganz hegelianisch - zu sich kommt. So verwundert denn auch kaum, dass der dritte und abschließende Teil der Deklaration mit "Eine Verfassung für das Gemeinsame" überschrieben ist. Zunächst aber werden im zweiten Kapitel den Figuren der Unterwerfung jene der Befreiung entgegengeschleudert: "Verweigert die Schulden!", "Schafft neue Wahrheiten!", "Befreit Euch!" und "Verfasst Euch!" lauten die imperativen Empfehlungen, die wohl nicht ganz zufällig an die Bestseller-Titel des kürzlich verstorbenen Stéphane Hessel angelehnt sind. Doch entgegen dem etwas anmaßenden Befehlston versuchen die Autoren lediglich jene Tendenzen innerhalb der gegenwärtigen Bewegungen herauszuschälen, die über die mehr oder weniger kreativen Wiederholungen so bekannter wie wirkungsloser linker Traditionsbestände hinausgehen. Anhand unterschiedlicher Bewegungen der letzten Jahre, von den Aufständen in den Pariser Banlieus über die Occupy-Bewegung(en) bis zum "Arabischen Frühling" untersuchen sie die Gemeinsamkeiten in den neuen Formen real praktizierter unmittelbarer Demokratie. "Wir müssen Widerstand, Aufstand und konstituierende Macht als einen untrennbaren Prozess denken", schrieben Hardt und Negri vor mehr als 10 Jahren. Jetzt versuchen sie, diese schlaue, jedoch abstrakte Parole durch die Kampferfahrungen und strategischen Tendenzen realer Bewegungen zu konkretisieren. Ob kollektiv organisierter Widerstand gegen die Zwangsräumungen Verschuldeter, spontane und nichtsdestotrotz äußerst gut koordinierte Kommunikationsformen der Jugendrevolte in England oder des "Arabischen Frühlings", oder aber die Praxen realer Demokratie in der Bewegung der Platzbesetzungen: Hardt und Negri geht es letztlich um die Verbindung einer kollektiven, nicht aber vereinheitlichenden Politik gegen die Angst und für die Wiedereroberung, Verfassung und kollektive Nutzung des gemeinsam produzierten gesellschaftlichen Reichtums, kurz: des Kommunen.[1]

Das Kommune unterscheidet sich von der traditionellen sozialistischen Vorstellung öffentlichen/staatlichen Eigentums ebenso wie vom kapitalistischen Privateigentum. Wie auch die Form der Demokratie sich aus den kollektiven Übereinkünften der Vielen (quasi als Form der Demokratie des Rousseauschen "Volonté de tous" gegen den vereinheitlichenden und repräsentierten "Volonté genéral") speist, so ist der Horizont der Verfassung des Kommunen nicht mehr jener des Eigentums, sondern die gemeinsame Nutzung des gemeinsam Produzierten. Leider findet sich im gesamten Text keine Reflexion auf die Transformation der Arbeitsteilung sowie jene der Produktionsweise im biopolitischen Kapitalismus, und so stellt sich im Laufe der Lektüre ein gewisses Unbehagen ob der "politizistischen", d.h. Arbeitsverhältnisse vernachlässigenden Schlagseite des Textes ein. Nichtsdestotrotz prägen den Schlussteil viele instruktive Ideen einer Neukonfiguration gesellschaftlicher Konstitution, die schließlich gar in Vorschlägen zu einer "Agenda für eine neue Gewaltenteilung" münden, die allerdings den Charakter des Neuen, der die Kraft vieler Gedanken von "Demokratie!" ausmacht, vermissen bzw. zumindest im nebulösen Grau verschwimmen lässt. Trotz des einen oder anderen Wermutstropfens aber weist der Band in die richtige Richtung, nämlich über die modernen Dichotomien von Staat vs. Privat und "Chaos" vs. Repräsentation hinaus, hin zu den Formen einer Politik des Kommunen, die aus den gegenwärtigen Kämpfen und bereits existierenden nicht-kapitalistischen Vergesellschaftungsweisen heraus ihre Kraft bezieht, und nicht aus antiquierten linken Gewissheiten oder abstrakt-utopischen Modellen.

John Holloway schrieb vor einigen Jahren einen Essay über die "Zwei Zeiten der Revolution", in dem er - ganz zapatistisch - der Zeit des unumgänglich zu beseitigenden kapitalistischen Wahnsinns (Jetzt!) jene des "Wir gehen langsam, denn wir haben einen langen Weg zu gehen!" zur Seite stellte. Diesen doppelten Einsatz der Revolution als Prozess und Ereignis (bei Hardt/Negri: Kairos) in den Blick genommen zu haben, ist die Stärke von "Demokratie!": "Wir stehen [...] vor einer paradoxen Aufgabe: Wir müssen uns auf ein Ereignis vorbereiten, dessen Datum ungewiss ist." "Die Macht kann nicht überleben, wenn ihre Subjekte ihre Angst ablegen."


Anmerkung

[1] An dieser Stelle erscheint mir eine Bemerkung zur deutschsprachigen Übersetzung unumgänglich; diese zeigt nämlich gerade in der Verwendung wichtiger Begriffe zum Teil deutliche Unsicherheiten. Manifest wird dies an der Kategorie des Kommunen: Dies wird, offenbar völlig beliebig als Gemeinsames, Gemeines oder Gemeinschaftliches übersetzt. Um die kommunistische Potenzialität des Begriffs und auch die strikte Unterscheidung zum von Tönnies geprägten Konzept der Gemeinschaft deutlich zu machen, verwende ich ausschließlich den Begriff des Kommunen.

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IMPRESSUM

Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 17. Mai 2013,
Redaktionsschluss der Nr. 47: 31.08.2013

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MitarbeiterInnen dieser Nummer: Martin Birkner, Bernhard Dorfer, Robert Foltin, Maria Gössler, Markus Grass, Stefan Junker, Franz Naetar, Karl Reitter, Paul Pop, Gerold Wallner, Walter S.

Layout: Stefan Junker.

Erscheinungsort: Wien. Herstellerin: Digidruck, 1100 Wien

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Quelle:
grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
sommer 2013, nr. 46
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juni 2013