Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

GRUNDRISSE/027: zeitschrift für linke theorie & debatte, herbst 2010


grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
nr. 35, herbst 2010


INHALT

Editorial

Ulrich Brand:
Organisierungsschwäche und relative Orientierungslosigkeit

Juliane Spitta:
Gemeinschaft, Multitude oder das Kommune -
Begriffsperspektiven im Spannungsfeld zwischen nationaler Identifikation und kollektiver Aneignung

Isabell Lorey:
Gemeinsam Werden. Prekarisierung als politische Konstituierung

Gerald Raunig:
Etwas Mehr als das Commune. Dividuum und Condividualität

Karl Reitter:
Produktivität als Autonomie?
Zum Abschluss der Trilogie Empire, Multitude, Commonwealth von Antonio Negri und Michael Hardt

Carlo Vercellone:
Die Krise des Wertgesetzes. Der Profit wird zur Rente
Bemerkungen zur systemischen Krise des kognitiven Kapitalismus

Jens Kastner:
Delegation und politische Dilemmata
Mit Pierre Bourdieu auf zapatistischem Gebiet

Max Henninger:
Nach dem Operaismus?

Rezensionsessay von Anton Pam:
Elitenbildung und Hochschulen im chinesischen Sozialismus:
Überlegungen zu "Rise of the Red Engineers" und darüber hinaus

Rezensionsessay von Elmar Flatschart:
Tobias ten Brink: Geopolitik. Geschichte und Gegenwart kapitalistischer Staatenkonkurrenz

Buchbesprechung von Andreas Exner:
Mattersburger Kreis für Entwicklungspolitik an den österreichischen Universitäten (Hg.):
"Solidarische Ökonomie zwischen Markt und Staat. Gesellschaftsveränderung oder Selbsthilfe?",
Journal für Entwicklungspolitik 2009/3

Buchbesprechung von minimol:
Jens Erik Ambacher & Romin Khan (Hg.): Südafrika. Die Grenzen der Befreiung

Buchbesprechung von Paul Pop:
Walden Bello: Politik des Hungers

Raute

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

Vorweg möchten wir uns bei Philippe Kellermann in aller Form entschuldigen. Sein Artikel Marxistische Annäherung an den Anarchismus?, erschienen in der # 33, wurde ohne seine Zustimmung beim Korrekturlesen verändert. Auf unserer Webseite ist die richtige Version zu finden.

Eigentlich wäre ja für die Nummer 35 kein Themenheft geplant gewesen, dennoch ist es eines geworden! Aus diesem Überschwang heraus haben wir auch gleich beschlossen, ab sofort jede Ausgabe mit einem Schwerpunkt zu versehen. Dazu findet ihr am Ende des Editorials einen "Call for papers"!

Der Schwerpunkt dieser Nummer lautet das commune als alternative? debatten und kritiken des gemeinsamen. Damit wollen auch wir den in letzter Zeit verstärkten Diskussionen über gesellschaftliche Alternativen Rechnung tragen. Neben den Debatten über "Solidarische Ökonomie" und Commons als nicht-kapitalistische Gemeingüter (mehr darüber in der Buchbesprechung von Andreas Exner) wird vor allem in postoperaistischen Zusammenhängen seit geraumer Zeit die Auseinandersetzung über "das Commune" geführt. Was aber macht das Gemeinsame der Multitude aus und legt somit die Basis für ein Common Wealth - so lautet ja der Titel des neuesten Buches von Michael Hardt und Toni Negri? Juliane Spitta zeigt in ihrem Beitrag die Fallstricke der historischen Diskussion über Gemeinschaft auf und eröffnet eine dezidiert nicht-autoritäre Perspektive des Diskurses zum "Communen". Isabell Lorey wiederum nähert sich dem Gemeinsam Werden über die Organisierung der Prekären - nicht zuletzt in der Euro-Mayday-Bewegung, Gerald Raunig hingegen stellt in seinem Text Etwas Mehr als das Commune die Brauchbarkeit des Diskurses zum Communen für eine Perspektive der Befreiung selbst in Frage, bietet jedoch eine überraschende Alternative an. Der Text von Karl Reitter setzt sich - wenngleich unter einem doch sehr anderen Gesichtspunkt - ebenfalls kritisch mit den Debatten zum Communen auseinander; und zwar mit dem oben bereits erwähnten Buch Common Wealth von Hardt und Negri. Unseren Schwerpunkt beschließt ein Text von Carlo Vercellone, der die Transformation des Profits in Rente im Rahmen der postfordistischen Transformation des Kapitalismus in den Blick nimmt. Aus einer darauf aufbauenden Analyse der gegenwärtigen Krise des Kapitalismus verweist er auf die kollektive Aneignung des Communen als politische Perspektive. Letztgenannter Text ist ein Vorabdruck aus den in Kürze im Unrast-Verlag erscheinenden Buch Die Krise denken. Finanzmärkte, soziale Kämpfe und neue politische Szenarien. Dieser von Andrea Fumagalli und Sandro Mezzadra herausgegebene Sammelband entstand im Rahmen eines Seminars des italienischen Netzwerks UniNomade. Der Entschluss zur Übersetzung des Bandes wurde im Rahmen von Diskussionen innerhalb der grundrisse-Redaktion gefasst und gemeinsam mit Thomas Atzert und Sandro Mezzadra verwirklicht. Darauf sind wir schon ein wenig stolz und freuen uns schon auf die Präsentationsveranstaltungen im Herbst. Darüber werden wir gesondert informieren - nicht zuletzt in unserem Newsletter, zu dem mensch sich unter www.grundrisse.net anmelden kann.

Außerhalb des Schwerpunkts liegt die Arbeit Nach dem Operaismus? von Max Henninger. Darin wird die Geschichte des Operaismus bilanziert und kritisch nach dessen Zukunft gefragt. Jens Kastner reflektiert in Delegation und politische Dilemmata über Probleme und offene Fragen des zapatistischen Organisationsverständnisses. Buchbesprechungen und Rezensionsessays zu unterschiedlichen Themen beschließen diese Ausgabe.

Abschließend wollen wir euch noch auf die Online Zeitschrift Sozial.Geschichte hinweisen, die kostenlos unter
http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DocumentServlet?id=22626 abgerufen werden kann.

Weiterhin prekär ist die finanzielle Situation des Kulturzentrums Amerlinghaus am Spittelberg, in dem nicht nur die Redaktionssitzungen der grundrisse stattfinden, sondern sich auch viele andere politische, kulturelle und soziale Initiativen und Gruppen treffen. Die Verhandlungen mit der Gemeinde Wien um die Inflationsanpassung der Subvention scheinen gescheitert zu sein. Wer seine Solidarität mit diesem für die selbstorganisierte, nicht konsumorientierte Wiener Kultur- und Politszene wichtigen Ort ausdrücken will, findet auf der Website des Amerlinghauses nicht nur nähere Informationen zum aktuellen Stand der Dinge, sondern auch eine Online-Petition, einen Vorschlag für ein Mail an Herrn Bürgermeister Michael Häupl sowie die Bitte um und Erläuterungen zur Beteiligung an einer Aktion zur Überbrückung des Finanzloches bis zum Ende dieses Jahres - vor allem um die Gehälter der vier Angestellten finanzieren zu können! Amerlinghaus bleibt!
http://www.amerlinghaus.at


Call for Papers:

Nicht zuletzt die aktuelle Krise des kapitalistischen Systems in ihrem Zusammenfallen mit dem Abschwung der globalen Protest- sowie der Sozialforenbewegung hat die Frage nach politischer Kollektivität und Organisierung erneut auf die Tagesordnung gesetzt. Wie kann den Auf- und Abwärtsbewegungen sozialer Kämpfe antizyklisch Dauer verliehen werden? Wie können Widerstands- und Emanzipationserfahrungen kommuniziert und unterschiedliche Bewegungen miteinander verbunden und somit effektiver werden? Was können, was müssen wir aus dem Scheitern der parteimäßig verfassten Organisationen lernen? Schließen sich Repräsentationskritik und politische Organisierung gegenseitig aus? Warum sprechen wir von Organisierung und nicht von Organisation? Wie kann politische Kollektivität nach dem Ende des demokratischen Zentralismus aussehen? Und last but not least: was ist der POLITISCHE Einsatz von Organisierung angesichts der Krise der Politik? Fragen über Fragen, die wir uns und hiermit auch euch stellen. Sachdienliche Hinweise, argumentative Provokationen und weitere Fragestellungen sind erwünscht, solange sie 50.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen und Fußnoten) nicht überschreiten und bis 30. Oktober 2010 bei uns eintreffen. Diskussions- und Überarbeitungsmodus finden sich hier: http://www.grundrisse.net/wir_ueber_uns.htm

Eure grundrisse-Redaktion


*


Solidarität mit allen von der Repression betroffenen AktivistInnen!

In der letzten Zeit gehen die staatlichen Repressionsorgane verstärkt gegen soziale Bewegungen vor. Der Prozess gegen die Tierrechtler_innen (die 2008 monatelang in U-Haft genommen wurden) läuft bis jetzt mit ungewissem Ausgang, aber mit einer offensichtlich "dünnen Suppe", was die Beweislage betrifft. Am 29. Jänner wurde eine Demonstration gegen den rechtsextremen Ball des Wiener Korporationsrings untersagt, eingekesselt und von hunderten Personen die Personalien aufgenommen. Viele davon haben schon Anzeigen wegen der Beteiligung an einer untersagten Veranstaltung bekommen. Bei einer Demonstration gegen antifeministische Väterrechtler_innen am 12. Juni wurde eine Person festgenommen und zwei Wochen in U-Haft gehalten. Und auch gegen antirassistische Demonstrant_innen, die am 29. April durch einen Sitzstreik den Abtransport eines Fußballers des migrantischen Sportklubs FC Sans Papiers verhindern wollten, haben bereits Verfahren stattgefunden.

Am 6. Juli fanden in Wien Hausdurchsuchungen in mehreren Wohnungen und einem selbst verwalteten Raum statt, drei Personen wurden festgenommen, am 20. Juli eine vierte Person. Den Verhafteten wird vorgeworfen, Mistkübel vor dem AMS Redergasse angezündet und eine "antikapitalistische Erklärung" dazu auf indymedia gestellt zu haben. Diese vier Personen blieben bis 23. August in Untersuchungshaft, obwohl die Beweislage sehr dürftig war und ist. Auffällig ist, dass es sich dabei um Personen handelt, die alle in der letzten Zeit sehr aktiv waren, z.B. in der Bewegung der Studierenden im Herbst 2009 oder als Antirassist_innen. Angeblich soll gegen sie wie gegen die Tierrechtler_innen einer der "Mafiaparagraphen" 278ff angewendet werden, der sich immer mehr als Werkzeug zur Verfolgung sozialer (emanzipatorischer) Bewegungen herausstellt.

Die Betroffenen benötigen eure finanzielle Unterstützung, auch wenn sie jetzt wieder in Freiheit sind (etwa um Anwält_innen zu bezahlen)!

Kontonummer: 28257989807
Bankleitzahl: 20111 (Erste Bank)
Name: Grünalternative Jugend Wien
Verwendungszweck: Antirep2010
IBAN: AT872011128257989807
BIC: GIBAATWWXXX

Raute

Ulrich Brand

Organisierungsschwäche und relative Orientierungslosigkeit

Das sechste Europäische Sozialforum in Istanbul

Im Mittelpunkt des sechsten Europäischen Sozialforums in den ersten Julitagen in Istanbul - nach Florenz 2002, Paris, London, Athen und Malmoe 2008 - stand natürlich die aktuelle Krise. Schwerpunkte waren die Wirtschafts- und Finanzkrise, dieses Mal besonders prominent die Klimakrise und, bedingt durch den Austragungsort, Energie- und Wasserkonflikte. Etwa 3000 Menschen aus unterschiedlichsten politischen Spektren und Unorganisierte nahmen teil. Im Vorfeld fand eine feministische Balkankarawane statt, die in eine bunte Auftaktdemonstration für Frauenrechte mündete, am Ende eine Abschlussdemo und die politisch wichtige Versammlung sozialer Bewegungen.

Wie immer wurden inhaltlich eine breite Palette von Themen diskutiert und Strategien entwickelt: Neben den oben erwähnten Themen ging es um die Konflikte um eine emanzipatorische Migrations- und Bildungspolitik, Arbeits- und Gewerkschaftsrechte, antirassistische Kämpfe und die Offensive der Rechten, um regionale Erfahrungen von neoliberalen und Krisenpolitiken und mögliche Alternativen. Und wie immer waren die Themen unterschiedlich stark besetzt.

Und wie auf früheren Sozialforen prägt der lokale Austragungsort zum Teil die Themen: Dieses Mal waren das die Repression in der Türkei und insbesondere in Kurdistan sowie die wenig zukunftsgerichtete Energiepolitik in der Türkei: geplante Atomkraftwerke und hydroelektrische Energieerzeugung mittels der Privatisierung von Flüssen und Großprojekten.

Der Vorsitzende des Verbandes der türkischen KleinbäuerInnen beschrieb in einem Workshop, wie sich die EU im türkischen Beitrittsprozess die dortige Umstrukturierung der Landwirtschaft vorstellt, nämlich über eine Reduktion der Beschäftigung im Landwirtschaftssektor von derzeit 20 Prozent der Erwerbsbevölkerung auf 5 Prozent. Das geschieht über Gesetze, die bewusst die KleinbäuerInnen in den Ruin treiben: Staatliche Agrarhilfen werden nur an mittelgroße und große Betriebe gezahlt, staatliche Abnahme- und Preisgarantien wurden abgeschafft und Konzentrationsprozesse forciert.

Auf dem WSF waren Umweltthemen und insbesondere lokale Umweltkonflikte, aber auch die transnationale Dimension - wie beispielsweise bei der Wasserprivatisierung - stets präsent. Neu waren auf dem ESF die Diskussionen und Aktionen der Bewegung für Klimagerechtigkeit, die in Kopenhagen erstmals und kräftig agierte. Dabei wurden wichtige Fragen präzisiert: Sei die Bewegung noch zu unentschieden hinsichtlich ihrer Strategien (etwa in der Ablehnung oder Anerkennung der UNO-Klimarahmenkonvention) oder ist auch hier Diversität eine strategische Stärke? Soll die Linke, so ein zweiter Punkt, den mit Peak Oil, klimatischen Kipppunkten und "5 vor 12"-Aufrufen verbundenen zeitlich knappen Korridoren folgen oder wird damit ein herrschaftlicher Katastrophismus reproduziert, den wir seit 20 Jahren kennen und der dazu führt, dass sich politisch kaum etwas bewegt, vielleicht aber autoritären und expertokratischen Umweltpolitiken Vorschub leistet? Überaus kontrovers wurden schließlich die Strategien eines "Grünen New Deal" eingeschätzt. Besser als nichts? Analysiert und kritisiert die Linke mal wieder nur, während anderswo Alternativen entwickelt werden, oder handelt es sich um ein Managementmodell, das so tut als ob es alternativlos sei und die vielen existierenden Ansätze und zahllosen radikaleren Vorschläge abschattet?

Deutlich wurde aus sozial-ökologischer Perspektive, dass Fragen sozialer Gerechtigkeit, radikal anderer Formen von Produktion und Lebensweise verbunden werden müssen mit jenen der Kontrolle über Produktionsmittel, Forschung und Entwicklung, und, allgemeiner gesprochen, den Formen gesellschaftlicher Wissensproduktion. Ein Teil der europäischen Linken scheint das weiterhin zu ignorieren oder oberflächlich zu postulieren. Die vielschichtige Debatte in Istanbul zeigt aber, dass Bewegung ins linke Spektrum gekommen ist. Gleichzeitig laufen die KlimaaktivistInnen Gefahr, sozial-ökologische Fragen auf jene des Klimawandels und der Klimagerechtigkeit zu reduzieren. Damit schatten sie jedoch andere sozial-ökologische Konflikte ab oder hierarchisieren sie auf der politischen Agenda nach unten. Die Stärke des ESF liegt aber darin, dass solche Widersprüche produktiv ausgetragen werden können.

Das ESF war keine Zusammenkunft breiter europäischer sozialer Bewegungen und es versprühte, was angesichts der Weltlage nicht verwundert, keine Aufbruchstimmung. Das hatte aber auch "ESF-interne" Gründe:

Die organisatorischen Probleme in Istanbul waren offensichtlich und drückten aus, dass es im türkischen Vorbereitungsprozess einige Unstimmigkeiten gab. Das war selbst zwischen den protagonistischen trotzkistischen Gruppen, die das ESF nach Istanbul holten und die über beste Kontakte nach Europa verfügen, der Fall. Die zugesagte organisatorische und politische Unterstützung linker türkischer Gewerkschaften blieb eher schmal. Eine Umweltaktivistin aus der Türkei meinte, dass sie vom ESF von einer Freundin aus der Ukraine mitbekam. Die eher geringe Mobilisierung in der Türkei mag auch damit zusammenhängen, dass linke Politik sich dort weniger in sozialen Bewegungen, sondern gewerkschaftlich und parteipolitisch ausprägt, es dort aber offenbar erhebliche Konkurrenzen gibt. Der ESF-Prozess hätte hier katalytisch wirken können, indem nämlich die schwachen Ansätze nicht-parteiförmiger und nicht-gewerkschaftlicher linker Politik gestärkt worden wären. Das war jedoch nicht der Fall.

Aber auch der europäische Vorbereitungsprozess war nicht in der Lage, dem Forum einen breiten und an der Entwicklung breiter Mobilisierung und radikaler Strategien orientierten Charakter zu geben: es wirkte bei den SprecherInnen einiger Workshops und Vernetzungstreffen teilweise wie ein Funktionärstreffen. Gleichzeitig nahmen aber viele junge Menschen am ESF teil, die an Austausch und Kooperation interessierten TeilnehmerInnen kamen oft außerhalb der vorgesehenen Orte zusammen.

Methodologisch waren viele Workshops eher Old School angelegt, nämlich in Form von langen Statements, meist von Männern vorgetragen und Wahrheiten verkündend. Das spiegelte sich auch darin wider, dass die offenbar gut eingespielte Gruppe der ESF-Köpfe sich tendenziell eher selbst auf den Podien zu den "großen Themen" äußerte und es keinen Mut oder keine Bereitschaft gab, bekannte linke europäische Intellektuelle einzuladen. Daher entstand mitunter der Eindruck, dass bestimmte Strömungen wenig Interesse hatten an offenen, Widersprüche berücksichtigenden und emanzipatorisch bearbeitenden Perspektiven.

Dem ESF fehlte - ganz im Gegensatz zum wenige Tage vorher in Detroit stattgefundenen Nordamerikanischen Sozialforum - zudem eine partizipatorische und offene politische Methodologie. Es war, wie eine bewegungserfahrene Teilnehmerin meinte, zudem ein starkes Übergewicht der Organisierten, was dem Treffen ein Stück weit seinen offenen und lebendigen Charakter nahm.

Es kam zwar zu vielen spannenden themenspezifischen Diskussionen, aber zu keiner wirklich wegweisenden, möglicherweise kontroversen Debatte über Krisenstrategien. Die Analysen der kriseninduzierten Transformation des Kapitalismus blieben weitgehend oberflächlich. Die Funktion eines ESF sollte es aber bleiben, sich thematisch spezifisch und übergreifend zu orientieren und zu organisieren. Aber vielleicht ist das weniger dem ESF anzulasten als den gegenwärtigen Diskussionsständen in der Linken.

Auch eine andere Schwäche des ESF spiegelt möglicherweise die relative Orientierungslosigkeit europäischer Bewegungen: Viele Menschen und Spektren fühlten sich offenbar im Vorfeld des ESF nicht für eine Teilnahme angesprochen, sie begriffen das Sozialforum nicht als "ihr" Sozialforum, wo es sich zu treffen, Einschätzungen auszutauschen und Strategien zu entwickeln lohnt. Das kann damit zusammenhängen, dass es dafür andere Orte gibt. Für einige Spektren mag das stimmen (etwa die Bewegung für Schuldenstreichung, städtische Kämpfe oder eben Migrationsnetzwerke), für andere aber nicht.

Es gab viele Verabredungen und Aktionsvorschläge in den bestehenden oder sich konstituierenden thematischen Netzwerken. Der abwertende Ton einiger Gruppen, dass das ESF ein talking club ohne Aktionsorientierung sei, ist politisch billig und zeugt von fehlender Lernbereitschaft. Die vielen konkreten Anregungen für Aktionen in den unterschiedlichsten Konfliktfeldern waren und sind nach wie vor die Stärke der Sozialforen. Faszinierend ist auch das enorme inhaltliche und konkret-strategische Wissen in den spezifischen Konflikten um emanzipatorische Veränderungen.

Die strategische Schwäche des ESF als ESF drückte sich dennoch in der sehr verhaltenen zentralen Abschlusserklärung aus: nämlich am 29. September die europaweiten Mobilisierungen der Gewerkschaften zu unterstützen. Es ist erstaunlich, dass es keine eigenen Initiativen des ESF als Ganzem gibt, wie etwa Forderungen nach der Vergesellschaftung von Banken.

Zudem drückt sich in der Unterstützung des 29. September ein Dilemma aktueller Kämpfe aus: Das Mobilisierungslabel der Gewerkschaften "Gegen Kürzungen, für mehr Wachstum" ist für nicht wenige problematisch; Einwände wurden bei der Schlussversammlung zurückgewiesen und es gibt längst keinen Konsens über den engen Zusammenhang zwischen sozialen und sozial-ökologischen Fragen. Das ESF ist natürlich auch ein Ort der Gewerkschaften. Daher, so der Eindruck, bleibt es zurückhaltend gegenüber deren produktivistischen und Lohnarbeits-Orientierungen, die die Interessen der informalisierten Lohnabhängigen oder sozial-ökologische Fragen nur sehr am Rande berücksichtigen.

Die politische Reife des ESF, so eine Teilnehmerin, würde sich darin ausdrücken, dass die unterschiedlichen Spektren in ihren Differenzen sich anerkennen und Gemeinsamkeiten suchen. Wenn dies nicht der Fall ist, weil Gruppen bzw. Spektren auf ihren Positionen bestehen und diese inkompatibel sind mit anderen, dann sollte das anerkannt und nicht die eigene Position um jeden Preis "durchgedrückt" werden.

Die aktuelle Relevanzschwäche des ESF sollte nicht dazu führen, diesen Prozess einzustellen. Jedoch sollte es auch viele andere Orte geben von Austausch und Strategieentwicklung geben - und diese gibt es auch längst. Das Spezifikum des ESF ist, dass es ein Ort ist, an dem sehr unterschiedliche politische Spektren und in vielen Konfliktfeldern aktive Gruppen und Organisationen zusammenkommen. Es bleibt ein Ort politischer Sozialisation und gegenseitiger Kenntnisnahme. Es ist aber - im Gegensatz zum Weltsozialforum - kein symbolischer Ort, an dem die Anliegen sozialer Bewegungen in eine europäische Öffentlichkeit getragen werden.

In Istanbul wurden viele Probleme deutlich, die es in einem breiten Prozess zu bearbeiten gilt. Das Grundproblem jenseits des ESF bleibt für die europäischen sozialen Bewegungen jedoch bestehen: Neben den vielen Protesten gegen Sozialabbau gelingt es bislang nicht, die politischen und gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse in Europa nach links zu verschieben. Die ungewollte Stärke des ESF lag darin, dass es nicht so tat, solch eine Verschiebung während einiger Tage in Istanbul zu simulieren.


Der Autor dankt der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die seine Teilnahme am 6. ESF ermöglichte.

Raute

SCHWERPUNKT

Juliane Spitta

Gemeinschaft, Multitude oder das Kommune

Begriffsperspektiven im Spannungsfeld zwischen nationaler Identifikation und kollektiver Aneignung

In den letzten Jahre ist es deutlich geworden: Gemeinschaft, ein Begriff, der besonders in Deutschland einige Jahrzehnte diskreditiert war, ist wieder im Kommen. Das Problem der Gemeinschaft stellt sich heute auf vielfache Weise und es beansprucht auch im politischen Vorstellungsraum der Linken wieder Relevanz. Diese neue Relevanz ist den Debatten im Anschluss an Negri und Hardts Begriff der Multitude, dem Erfolg der Commons-Theorien und nicht zuletzt den im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise (wieder-)erstarkten Debatten um Gemein-Eigentum und solidarische Ökonomie geschuldet, in denen der neoliberalen Privatisierungslogik Forderungen nach Vergesellschaftung, nach kommunalem, gemeinsam besessenen Eigentum und nach demokratischer Teilhabe gegenübergestellt werden. In diesem Kontext verspricht der Begriff der Gemeinschaft neue Perspektiven für politisches Denken und für eine Praxis fernab von individualistischer Profitlogik.[1]

Gemeinschaft ist ein ambivalenter Begriff, der die Variabilität und die Bindekraft seines Vorstellungshorizonts historisch vielfach unter Beweis gestellt hat. Er bleibt auch 65 Jahre nach dem Nationalsozialismus und nach einer scheinbar erfolgreichen Emanzipation des Begriffs von seiner eigenen Geschichte problematisch, da er mit den Traditionslinien der Nationalbewegung, mit Naturromantik und völkischem Denken verbunden und sein politisches Sinnfeld bis heute maßgeblich auf kollektive Identität ausgerichtet ist. Zwar wird Gemeinschaft auch im Deutschsprachigen nicht mehr unmittelbar mit Volksgemeinschaft und einem Nationalbewusstsein im Bann vermeintlicher Ursprünge assoziiert, doch der hegemoniale Konzeptions- und Vorstellungsrahmen der Gemeinschaft bleibt der eines nationalen Identifikationsbegriffs. Verknüpft mit dem entstehenden Nationalismus wurde seit dem frühen 19. Jahrhundert in unzähligen Debatten um nationale Identität und Einheit gerungen, zugleich begann die Gemeinschaft sich als politischer Kampfbegriff herauszubilden. Im Namen der Gemeinschaft wurden seither Massen gegen vermeintliche Entfremdungen der modernen Gesellschaft, für nationale Unabhängigkeit, völkische Einheit und kollektive Identität mobilisiert, aber auch gegen die herrschende Ordnung, für Gleichheit, Partizipation und Emanzipation gekämpft. Das Zusammenspiel einer neuen und abstrakten Form kapitalistischer Unterwerfung mit romantischem Gemeinschaftsenthusiasmus, demokratischen Gleichheitspostulaten und einem spezifisch-deutschen Volksbegriff drückte den identitätspolitischen Debatten fortan ihren Stempel auf.

Im Hinblick auf das aktuelle Ringen um einen neuen Begriff des Gemeinsamen (Kommunen), stellt sich die Frage, ob und unter welchen Bedingungen es Sinn macht zu versuchen, die Gemeinschaft von ihrer (deutschen) Tradition als nationaler Identitätsbegriff zu lösen und Gemein-Begriffe (wieder) als kritische Handlungsbegriffe im Politischen in Stellung zu bringen. Das Problem wird verständlicher, wenn die Schwierigkeiten erwähnt werden, mit denen diejenigen ringen, die im Namen einer entwerkten, grundlosen, kommenden, bezuglosen oder uneingestehbaren Gemeinschaft versuchten, den Begriff neu zu besetzen. Ihnen hält bspw. Derrida - ein expliziter Gegner neuer Gemeinschaftsenthusiasmen - vor, dass auch sie sich letztlich als unfähig erwiesen hätten, einen Gemein-Begriff jenseits vom Denken des individuellen oder kollektiven Subjekts, fernab von Einheit und Identität sowie abseits von Brüderlichkeit und Abstammung zu denken. "Bejaht, verneint oder neutralisiert, stets gingen diese gemeinschaftlichen, "kommunitaristischen" oder "kommunalen" Werte mit dem Risiko einher, den Bruder wiederkehren zu lassen."[2] Dennoch versuchen in jüngster Zeit mehr und mehr poststrukturalistische, (post-)marxistische, kommunitaristische und demokratietheoretische AutorInnen den Begriff jenseits seiner nationalbewegten Traditionslinien zu verwenden und das Sinnfeld des Gemeinen für eine emanzipatorische politische Praxis fruchtbar zu machen. Zur Debatte steht, welche Traditionslinien eines übergeordneten Gemein-Diskurses[3] einer solchen Begriffspolitik entgegenstehen, bzw. wie die vermeintliche Originalität der Gemeinschaft im Rahmen einer bestimmten politischen Rationalität (Foucault) überhaupt erst er- und nicht ge-funden wurde. Derartige Fragen müssen gestellt werden, um die Möglichkeiten eines neuen Denkens des Gemeinsamen auszuloten.


Geschichte und Traditionslinien des Gemein-Diskurses

Wagen wir einen Blick zurück: Unterschiede zwischen der tiefenhermeneutischen, romantisch-erbaulichen Sehnsucht nach einer naturwüchsigen Volksgemeinschaft im 19. und den biologistischen und antisemitischen Selbst-Verwirklichungsphantasien der Nationalsozialisten im 20. Jahrhundert, zwischen der Anrufung eines scheinbar vorpolitischen und überstaatlichen Kollektivsubjekts "Deutsches Volk" nach 1945, zwischen der aggressiven Betonung einer neu-alten, "wiedervereinigten" Normalität in den 1990er Jahren und der derzeitigen Beliebigkeit des Massennationalismus in der neoliberalen Gesellschaft des Spektakels sind unübersehbar. Ebenso ist es offensichtlich, dass die gegenwärtig auf- und abflauenden nationalistischen Begeisterungsschübe, bei denen wenig Unterschied dazwischen besteht, ob "man" gerade Papst, schwarz-rot-geil, Lena oder einfach nur deutsch ist, obgleich auch massenwirksam und Exklusionsmechanismen vorantreibend,[4] weniger Gemeinsamkeiten mit romantisch-essentialistischer Ernsthaftigkeit haben als mit der kollektiv spektakularisierten Angst vor der Schweinegrippe.

Anfang des 19. Jahrhunderts waren es Romantiker und Nationalisten, die sich mit Bezug auf Rousseaus Naturverherrlichung bemühten, Gemein-Begriffe auszudifferenzieren. In dieser Zeit avancierte Thomas Hobbes zum Hauptfeind einer gemeinschaftsenthusiastischen Bewegung, da sein kontraktualistischer Konstruktivismus mit dem Gedanken einer natürlichen Gemeinschaftsdisposition des Menschen gebrochen hatte. Im Rahmen einer souveränitätszentrierten Lehre hatte Hobbes postuliert, dass Menschen als Subjekt und Objekt ihrer politischen Wirklichkeit den Staat und das Gemeinwohl hervorzubringen hätten. Diesem Rechtspositivismus stellten Romantiker und Nationalisten im deutschsprachigen Raum einen politischen Essentialismus entgegen, der mit einem überdeterminierten Verständnis der Natur einherging und fortan einen scheinbar natürlichen Gemeinschaftsbegriff mit einer ursprungsmetaphysischen Idee des Volkes identifizierte. In einer Zeit, in der die Nation im Zuge von Kämpfen gegen die absolutistische Ordnung zu einem Leitbegriff der politischen Deutungskultur avanciert war, wurden Volk und Volks-Gemeinschaft die zentralen Kategorien im Kampf um einen deutschen Staat. Sie wurden - wie der Begriff der "Nation" in Frankreich - mit politischen Forderungen verknüpft, in Deutschland aber zugleich mit einer vorpolitisch-natürlichen Ordnung assoziiert und in Opposition zu gegenwärtigen politischen Realitäten gebracht. Noch jenseits rassistisch-biologistischer Deutungsmuster begann sich hier ("avant la lettre") ein entfremdungstheoretisch aufgeladener Gegensatz zwischen einer primären, gemeinschaftlichen Seinsweise und einer sekundären, künstlich-scheinhaften Gesellschaftsform auszubilden.

Bereits jetzt werden erste Problemfelder offenbar: 1. Der Gemeinschaftsbegriff besetzt im politischen Denken der Moderne einen paradoxen Platz: Die Sehnsucht nach gemeinschaftlicher Eigentlichkeit hat sich zusammen mit natur- und ursprungsmetaphysischen Phantasmen und mit identitätsstiftenden Narrationen auf dem Rücken eines aufgeklärten, politischen Diskurses fortgeschrieben, obgleich die erbaulichen Bebilderungen immer eine unübersehbare Diskrepanz zur Gegenwart aufgewiesen haben. Das setzt eine Verschiebungsleistung voraus: eine Art eigentlicher Realität der Gemeinschaft (eine wahrhaft-natürliche, nicht-entfremdete gemeinschaftliche Seinsweise) wird postuliert und zugleich als abwesend und verlustig markiert, so dass der Diskurs auf das Spannungsfeld eines doppelten Einst zwischen Verlust und Versprechen fixiert wird. Die Disparität von Gemeinschaftsromantik und einer krisenhaften Gegenwart politischer Konstruktionen setzt die Verortung des Gemeinschaftsbegriffs auf einer vorpolitischen, dem politischen Diskurs scheinbar vorgängigen, quasi-natürlichen Ebene voraus. Das, was seit dem 19. Jahrhundert als Gemeinschaft das politische Denken beflügelt, stützt sich auf Fetischisierung und Überdeterminierung und kann ob einer phantasmatischen Vorstellung von Geschichtlichkeit als Garant für Natürlichkeit erscheinen. Derartige Gemeinschaftsvorstellungen sind an die Abwesenheit ihres Sehnsuchtsobjekts gebunden und auf das unmögliche Streben nach einer nie gewesenen, gleichwohl verloren geglaubten Ursprünglichkeit fixiert.

2. Der Gegensatz zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, der sich Ende des 19. Jahrhunderts ausdifferenzierte,[5] ist ein deutschsprachiges Phänomen. Er ist untrennbar mit den damaligen Wirrungen der politischen Realität, mit natur- und volksromantischem Denken und mit der sprichwörtlich gewordenen Identitätskrise der Deutschen verbunden. Die Aufspaltung der Realität in eine vorpolitische, organisch-gemeinschaftliche und eine politische, mechanisch-gesellschaftliche Dimension ist in andere Sprachen nicht übersetzbar.[6] Sie ist erst vor dem Hintergrund der Abwesenheit eines deutschen Nationalstaates und der gleichzeitigen Naturalisierung eines scheinbar vorpolitischen Kollektivsubjekts "Deutsches Volk" jenseits der politischen Realitäten zu verstehen. Die Unübersetzbarkeit betrifft sowohl die identitätspolitische Tiefendimension, die das deutsche Wort "Gemeinschaft" seit Herder impliziert, als auch die Verbindung von Gemeinschaft und Volk. Eine tragende Säule alternativer Ansätze muss es sein, den Gegensatz mit seinen dichotomen Assoziationsketten und einschließlich der Assoziation der Gemeinschaft mit Ursprünglichkeit und Organizität zu überschreiten. Die vermeintliche Notwendigkeit einer Entscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft[7] ist ebenso zurückzuweisen wie das Konzept des Vorpolitischen, sprich die Vorstellung einer vordiskursiven, vorrechtlichen Seinsweise, einer nicht von Macht- und Herrschaftsbeziehungen geprägten Sphäre natürlicher Gemeinschaftlichkeit. Dem entgegen plädiere ich in Anlehnung an Laclau/Mouffe bzw. Lefort für einen umfassenden Begriff des Politischen. Im Unterschied zur Politik, die konkrete Diskurse und alles das bezeichnet, was zur faktischen Praxis der Regierungskunst gehört, wird mit dem Begriff des Politischen das allgemeine und durch fundamentale Immanenz gekennzeichnete Feld der Kräfteverhältnisse benannt, das es einem spezifischen Gemeinwesen erst ermöglicht, sich zu inaugurieren. Diesem Verständnis zufolge gibt es keinen neutralen Bereich außerhalb des Politischen, da die Konstruktion von Staat und Gesellschaft, von Subjekten und Objekten, Sinn, Bedeutung und Praktiken immer eine politische Dimension impliziert. Ohne ein derartiges Verständnis des Politischen besteht die Gefahr, sich positivistischen oder naturalistischen Illusionen zu überlassen und die Gesellschaft gewissermaßen vor sich selbst zu stellen.[8]

Der Gemein-Diskurs veränderte sich Ende des 19. Jahrhunderts durch die Verbreitung von biologistischen Deutungsparadigmen: Die romantisch-erbauliche Naturmetaphysik wurde von einem Ideal der Wissenschaftlichkeit verdrängt, das Ursprung, Finalität und Zugehörigkeitskriterien anhand eindeutiger und objektiver Gesetze zu verifizieren versuchte. Eugenik, Rassenhygiene und Sozialdarwinismus wandten biologistische Deutungsparadigmen auf das Politische an und bildeten eine umfassende Weltanschauung heraus, die über romantisch-pangermanische Auserwähltheitsphantasien (Fichte) hinausreichte und an das eigene Theoriegebäude den Anspruch auf überhistorische, wissenschaftliche Gültigkeit formulierte. Die Verbreitung biopolitischer Theorien im Gemeinschaftsdiskurs war enorm. Sie ging einher mit einer neuartigen Verbindung von Voluntarismus und Essentialismus. Der scheinbar unausweichliche Determinismus der Rasse ist ein politischer Essentialismus in Extremform; zugleich trieben Rassenhygiene und Sozialdarwinismus jedoch eine konstruktivistisch und voluntaristisch fundierte Form biopolitischen Denkens voran: Sie propagierten sozialhygienische Maßnahmen, biologistische Menschen-Zuchtgedanken und die Notwendigkeit zur aktiven Gestaltung der eigenen Rasse.

Der Nationalsozialismus trieb diese neuartige Verbindung von Essentialismus und Voluntarismus mit seinen Konstruktionsphantasien auf die Spitze. Das Streben nach Einheit und Identität wurde mit handlungsaktiven Selbst-Verwirklichungsgedanken verbunden. Die Nazis vertrauten nicht mehr auf Gott oder den natürlich-biologischen Lauf der Natur, sondern entwickelten eine Philosophie, die das fehlende Ereignis fabrizieren und Natur schaffen wollte. Statt auf die Wiederkehr eines verlorenen Ursprungs zu warten, intendierten sie, Identität gewaltsam zu produzieren. Die nationalsozialistische Bewegung verband philosophisches Sendungsbewusstsein, biologischen Determinismus und erlösungstheoretische Phantasien mit einer aus vereinfachtem Nietzscheanismus abgeleiteten Metaphysik des Willens. Der Leitbegriff dieser Art von Essentialismus, der mit Voluntarismus und selbstbewusstem Konstruktivismus zusammenging, war die "Selbstverwirklichung". Das Konzept der gemeinschaftlichen und zugleich individuellen Selbstverwirklichung muss dabei im doppelten Sinn des Wortes - sich selbst verwirklichen und die Verwirklichung, die Neuordnung der Wirklichkeit selber in die Hand nehmen - begriffen werden.[9]

An derartige Bestrebungen wurde nach 1945 nicht angeknüpft, obwohl übergeordnete Strukturen des Gemeinschaftsdenkens in der BRD, der DDR und auch in Österreich nicht aufgearbeitet wurden. Gerade in den beiden deutschen Staaten blieb die Verbindung von gemeinschaftspolitischem Essentialismus mit Voluntarismus wirkungsmächtig: Jenseits rassistischer Selbstverwirklichungsphantasien war die politische Rationalität beider Länder auf die vorpolitische Evidenz eines "Deutschen Volkes" fixiert und die politische Wegstrecke auf die "Wieder-Kehr" zur Einheit ausgerichtet. Daran änderte auch die begriffliche Wende vom "Volk zur Nation" nichts, die von der sozialliberalen Regierung in den 1970ern eingeleitet wurde und die sich realpolitisch mit einer neuen Akzeptanz der Zweistaatlichkeit verband. Die Trennung einer vorpolitisch-gemeinschaftlichen Dimension der Einheit von einer gesellschaftlich-staatlichen Ebene der Getrenntheit wurde mithilfe der Unterscheidung zwischen Kultur- und Staatsnation begründet.[10] Die Ereignisse 1989/1990 verkehrten die Paradigmen des Diskurses, ließen seine Strukturen aber unangetastet: Zuvor war staatliche Einheit gefordert worden, während eine gemeinschaftlich-innere Zusammengehörigkeit trotz Trennung als immer anwesend erschienen war. Nach dem Zusammenschluss galt nun die innere Einheit, das zuvor Vorausgesetzte, das Grundlage der identitätspolitischen Forderungen gewesen war, als verlustig und abwesend.

In den letzten Jahren hat sich der identitätspolitische Diskurs im internationalen Vergleich "normalisiert". Er ist dabei in die eingangs beschriebene Spektakularisierung gemündet. Nichtsdestotrotz teilten gegenwärtige Gemein-Diskurse ihre Ausrichtung auf das Vorpolitische, auf Identität, Einheit und gemeinschaftliche Identifizierung mit vergangenen Debatten. Besonders in Deutschland und Österreich ist die Fixierung auf eine an- oder abwesende Form gemeinsamer Identität, die Orientierung am individuellen Subjekt als Modell der Identifikationspraxis und die Vision einer vom Politischen unabhängigen Existenzweise der Gemeinschaft ein wirkungsmächtiges Unterpfand des Gemeinen. Diese Signifikations- und Traditionslinien sind ein Hindernis für den Versuch, den Gemeinschaftsbegriff in eine emanzipatorische politische Praxis einzubinden.


Das Politische Imaginäre

Wir stehen also vor der Aufgabe, den Gemein-Diskurs um Perspektiven zu erweitern, die Prekarität, Heterogenität, Differentialität und Krise als produktive Parameter des Politischen anerkennen und eine Politik der Gemeinschaft abseits der Orientierung am Modell der individuellen und kollektiven Subjektivität in der Gegenwart erproben. Es gilt, die erfolglose Suche nach positiv-vollendeter, kollektiver Identität zu beenden und Alternativen in die Praxis zu überführen, die keinen Bezug zu einer subpolitischen Ebene "wahrhafter" Gemeinschaftlichkeit mehr haben. Die Postulate der Anwesenheit, der Präsenz und der Vollendung müssen zur Disposition gestellt werden, um das Gemeinschaftsdenken aus seiner Verankerung im romantischen Begehren zwischen Verlust und Versprechen zu lösen. Ebenso wie das Verlangen nach Ankunft in einer erfüllten Gemein-Identität, also das Streben nach einem utopischen Endpunkt, muss auch das Konzept des Ursprungs zur Debatte stehen. Es geht um die Verwirklichung einer Vorstellung gemeinsamen Werdens, die um die eigene Fundamentlosigkeit weiß, also weiß, dass das Vertretene nicht vor seiner Vertretung existierte, dass Einheit und Identität weder gegenwärtig noch vertagt sind, dass sie stattdessen konstitutiv abwesend, aufgeschoben und beständig im Kommen bleiben werden.

Um die Verbindung von Gemein-Diskurs und Nationalismus zu unterbrechen ist es im Rahmen einer antiessentialistischen Theorie notwendig, darauf zu insistieren, dass Gemein-Begriffe ihren Konstruktionsprozessen nicht vorausgehen. Doch das Problem der Gemeinschaft ist nicht nur durch die Rede von der "Erfindung der Nation" zu lösen. Die historischen Dimensionen des Gemein-Diskurses zeigten, dass der Wille ein politisches Ordnungsmodell zu errichten, wiederholt mit politischem Determinismus einherging. Konstruktivismus allein bietet keine Handhabe gegen Nationalismus, Essentialismus und identitätspolitischen Gemeinschaftsenthusiasmus. Wenn das Wissen um die Möglichkeit das Politische gemeinsam zu gestalten, jedoch mit konkreter Praxis und einer Politik fernab der Spaltung in vorpolitische und politische Dimensionen einhergeht, kann er ein Ansatzpunkt für kritisches Denken sein.

Die anstehende Diskussion impliziert zwei Ebenen: Die erste geht mit der Einschreibung des Gemein-Diskurses in eine Theorie des Politischen Imaginären (Castoriadis)[11] einher und insistiert darauf, Gemein-Konstruktionen im Modus der konstitutiven Verkennung[12] anzuvisieren. Darauf basierend kann in einem zweiten Schritt eine revolutionäre Realpolitik (Luxemburg)[13] vorangetrieben werden, die das Gemeinsame mit Negri/Hardt und Arendt nicht mehr am Modell der Identität, sondern am Konzept des Gemein-Eigentums, des gemeinsamen Handelns und an der Möglichkeit zu radikaler, im Sinne von umfassender und demokratischer Teilhabe orientiert. Als Politisches Imaginäres wird der Raum bezeichnet, in dem Gemein-Begriffe sich konstituieren, zur Wirkung gelangen, ihre Narrationen, ihre Selbst- und Fremdbilder und ihre Ein- und Ausschlussmechanismen justieren. Das Politische Imaginäre ist keine natürliche oder anthropologische Disposition des Menschen, es entspricht einer historisch-politischen, einer gewordenen Struktur von Identifizierung und Subjektivierung. Politisch-imaginäre Modi der Wahrnehmung strukturieren die Beschaffenheit der Gegenwart, da keine tiefere, ursprünglichere Ebene der Erkenntnis existiert. Die Krisenhaftigkeit, die den Identitätsdiskurs bestimmt und bedingt, dass Einheit, Selbsttransparenz und Geschlossenheit des Kollektivsubjekts beständig aufgeschoben bleiben, wird demzufolge als konstitutiv aufgefasst. Einheit und volle Identität, das, was scheinbar abhanden gekommen ist, wurde nie besessen, gleichwohl strukturiert der imaginäre Verlust die Ausgestaltung des Politischen in der Gegenwart. Das Politische Imaginäre ist also keine Einbildung oder falsches Bewusstsein, denn Gemein-Konstrukte haben durchaus reale und materielle Wirkungsmacht. Das begründet die These der konstitutiven Verkennung: Wie bei klassischen Verkennungstheorien wird zunächst ein verzerrtes, von Fetischisierung, Überdeterminierung und Naturalisierung geprägtes Bewusstsein diagnostiziert. Im Unterschied zur herkömmlichen Theorie der Verkennung, die durch (individuelle oder kollektive) rationale Erkenntnis in die Falschheit der Wahrnehmung beendet werden kann, ist das Problem im Fall der konstitutiven Verkennung komplexer. Verkannt wird keine richtige, (natürliche, nicht-entfremdete, rationale oder wahre) Realität, die Verkennung par excellence besteht nun in der folgenreichen Illusion, etwas Wahres und Unverkanntes, etwas ursprüngliches jenseits der Ebene politisch-imaginärer Konstruktionen überhaupt für möglich zu halten. Gemein-Begriffe sind also politisch-imaginär, das "falsche Bewusstsein" besteht aber nicht darin, die falsche Form der Gemeinschaft als richtig zu begreifen, sondern darin, eine richtige, unverkannte, natürliche oder vorpolitische Form des Gemeinen überhaupt für möglich und der politischen Gegenwart entgegengesetzt anzusehen. So wenig wie das vermeintliche Naturverhältnis der Warenform einer menschlich-weltlichen Eigentlichkeit entspricht, tun es die romantischen Vorstellungen der Natur. Damit wendet sich die Theorie des Politischen Imaginären von der ideologiekritischen Tradition ab, die versuchte, den Fetisch, die Verkennung und die Überdetermination der Realität durch eine objektivere Dimension der Erkenntnis zu ersetzen. Doch die Theorie des Politischen Imaginären mündet nicht in einen unkritischen Euphemismus. Dass es keinen Ursprung jenseits des Politischen Imaginären gibt, impliziert nicht, dass die Art und Weise der gemeinsamen Gestaltung der Realität beliebig wäre. Obwohl das Neue ebenso konstruiert ist wie das Alte, kann für eine gerechte Assoziation freier und gleicher Menschen, gegen Ausbeutung, Unterdrückung und für eine Überwindung kapitalistischer Entfremdung gekämpft werden - doch nicht im Namen einer essentialistischen Finalität, in der Freiheit und eine Rousseauistische, nicht-entfremdete, natürlich-gemeinschaftliche Seinsweise verwirklicht wären.

Eine solche Theorie drängt statt auf eine aufklärerische Kritik des falschen Bewusstseins darauf, Marx' Begriff des Materialismus ernst zu nehmen: Menschen handeln und gestalten gemeinsam diese Welt. "Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen."[14] Weder ist es das individuelle, autonome Subjekt, das handelt, noch handeln Menschen unabhängig von ihrer Geschichte, von den machtgestützten und fetischisierenden Strukturen, die ihre Lebensbedingungen, ihre Subjektivierungspraktiken und die Wahrnehmung der Welt, in der sie leben, strukturieren. Aber sie haben Wirkungsmacht und können ihre Realität verändern. Mit dem Begriff des Politischen Imaginären wird vom Konzept einer übergeordneten Ebene der Anschauung abgerückt, ohne zu bestreiten, dass Ideologien, Überdeterminationen, Waren- oder Gemeinschaftsfetisch das Politische fundieren. Gemein-Begriffe sind materiell und politisch relevant, sie spiegeln Ideologien und Machtverhältnisse, sind daran beteiligt, sie hervorzubringen und zu garantieren und sie sind in konstitutiver Weise politisch-imaginär. Die Verknüpfung der Theorie des Politischen Imaginären mit Marx' Materialismus unterstreicht die materielle Wirkungsmacht des Politischen Imaginären, verhindert eine subjektivistische Lesart und verbietet es die Frage des Imaginären auf ein idealistisches Problem zu reduzieren.

Aus dieser Feststellung kann paradoxerweise eine hoffnungsvolle Konsequenz gezogenen werden: Eine andere Welt ist möglich! Der Gemein-Diskurs ist unabgeschlossen und wir haben bereits an dem kurzen historischen Einblick sehen können, dass seine Paradigmen und Imaginationen wandelbar sind. Das neoliberal-thatcheristische Diktum "There is no alternative" wird an der Wirklichkeit blamiert. Wenn Menschen Neues in die Welt bringen und handeln können, gibt es eine Welt zu gewinnen und Gemeinsames jenseits von Nationalismus, Einheits- und Identitätsfetisch wird erreichbar. Dieses positive Diktum ist der Ausgangspunkt von Hannah Arendt. Ihre politische Handlungstheorie möchte ich als Modell für ein alternatives Denken des Gemeinsamen in die Pflicht nehmen und sie mit Aspekten des Konzepts der Multitude von Antonio Negri und Michael Hardt erweitern. Folgen soll der Ausblick auf eine Theorie des Gemeinsamen, die im Sinne einer revolutionären Realpolitik den überkommenen Dualismus von Reform und Revolution überwindet sowie Artikulationen und Praktiken gemeinsamen politischen Handelns ermöglicht, die inmitten gegenwärtiger Problemfelder situiert sind und im Gegensatz zu einer vorpolitisch-essentialistischen Fundierung der Gemeinschaft stehen.


Gemein-Eigentum, Multitude und "Acting in Concert"

Im Anschluss an Foucault sind Negri und Hardt bestrebt, mit ihrem Projekt der Multitude aktiv in Subjektivierungsprozesse einzugreifen. Sie wollen das Gemeinsame, das die global Unterdrückten vereint, produzieren und eine widerständige und zugleich wandlungsfähige Subjektivität der Menge hervorbringen. Die politische Analyse, die dem vorangeht, ist bekannt: Ausgangspunkt ist die These einer neuartigen globalen Form von Souveränität, dem Empire.[15] Dieses ist ausgezeichnet durch das Fehlen unmittelbarer Grenzziehungen. Es ist kein einzelner Staat, sondern eine umfassende Form globalisierter, kapitalistischer Herrschaft. Bei Negri und Hardt wird das Empire zu einem weltumspannenden, dynamischen und netzwerkartigen System, das konkrete Machtstrukturen und seine Herkunft verschleiert, sich als alternativlos darstellt und nicht auf Integration, sondern auf biopolitische Kontrolle sowie auf eine Fraktierung der Gesellschaft abzielt.[16] Ausgehend von der postoperaistischen These, dass die Kämpfe der Unterdrückten der Motor historischer Entwicklung sind,[17] sehen Negri und Hardt in der Multitude, der dem Empire entgegenstehenden Menge der Ausgebeuteten und Deplazierten, einen widerständigen Bereich innerhalb der neuen Souveränitätsform. Sie setzen auf die (biopolitisch) produktive Kraft des Gemeinsamen,[18] zielen aber nicht darauf, eine neue Identität zu erlangen: "Da die Menge sich weder durch Identität (wie das Volk) noch durch Uniformität (Masse) auszeichnet, muss die Multitude, angetrieben durch die Differenz, das Gemeinsame entdecken, das es erlaubt, miteinander in Beziehung zu treten und gemeinsam zu handeln. Das Gemeinsame, das Kommune, wird dabei allerdings weniger entdeckt, als vielmehr produziert."[19]

Negri und Hardt verweisen auf die gemeinsame Grundlage des alltäglichen, politischen und sozialen Lebens. Wir produzieren und kommunizieren, handeln, lieben, leben, denken und sprechen auf Grundlage von geteilten Sprachen, Codes, Gewohnheiten, Strukturen, Symbolen und Ideen. Ohne das unendliche Set an geteiltem Wissen, ohne die Berge von gemeinsamen Informationen und Praktiken, auf die wir tagtäglich zurückgreifen, käme unsere Welt zum Erliegen. Für Negri/Hardt stehen die Produktion von Subjektivität und die Produktion des Gemeinsamen in einer spiralförmigen Wechselbeziehung.[20] Sie heben die wirklichkeitsschaffende Macht der Multitude hervor und bezeichnen sie als "demokratische Potenz des Gemeinsamen".[21] Die Vorstellung dieser gründenden Kraft und die Annahme, es sei Bedingung und Aufgabe demokratischer Politik, diese Potenz offen zu halten, verbindet sie mit Hannah Arendt. Auch für Arendt steht die Fähigkeit des Menschen zu handeln, konstruktiv und konstitutiv tätig zu sein, im Mittelpunkt. Der Tenor ihres Werkes lautet: Wir sind nicht verurteilt, zu akzeptieren, da wir handeln und neu beginnen können.

Handeln gilt Arendt als speziell menschliche Tätigkeit, die auf das Gemeinsame hinweist.[22] Gemeinsam handelnd (acting in concert) gründen und erhalten Menschen Gemeinwesen, schaffen Kontinuität und Geschichte. Handeln sei eine originär politische Tätigkeit, die zwischen Menschen stattfindet und auf den Bereich des Öffentlichen verweist. Mit Aristoteles geht Arendt davon aus, dass Menschen nicht alleine, nur gemeinsam existieren (men not man). Doch sie zieht aus dieser Sozialität keine essentialistischen, metaphysischen oder naturalistischen Schlüsse, denn ihr Ausgangspunkt ist nicht die natürliche, sondern die künstlich-politische Gemeinschaft. Menschen müssen gemeinsam handeln und die Welt, in der sie leben, gestalten, weil es keinen vorgängigen oder präpolitischen Bereich der Gemeinschaft gibt. Da Arendt annimmt, Handeln gehe mit der Potenz einen Anfang zu machen einher und zugleich davon überzeugt ist, ein Einzelner könne keinen Neuanfang bewirken, wird die Pluralität zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Handlungstheorie.[23]

Arendt argumentiert nicht ausgehend vom Beschluss eines Subjekts, ein Ereignis zu produzieren. Sie kritisiert den Subjektzentrismus, den sie mit Descartes beginnen sieht und zu dem sie auch den Rousseauistischen Privatismus, die Romantik der Innerlichkeit und die damit einhergehende gemeinschaftsenthusiastische Kritik der modernen Gesellschaft zählt. Sie hätten dazu geführt, dass Menschen sich von der Welt abgewendet und in einen Bereich des vermeintlichen Inneren zurückgezogen hätten. Diesen Rückzug in die Innerlichkeit des Bewusstseins im Gefolge des Konzepts des modernen Individuums macht sie verantwortlich für eine umfassende Deformation des Politischen. Konformismus und Homogenisierung, nicht die Zunahme von (individueller) Freiheit und Selbstverwirklichung seien die Folge gewesen.[24] Die Moderne ist für Arendt geprägt von einer Abwertung des Politisch-Öffentlichen zugunsten des Ökonomisch-Privaten. Dem entgegen betont sie die Bedeutung des Öffentlichen für die Möglichkeit von Gestaltung, hebt die Künstlichkeit und den Konstruktionscharakter des Politischen hervor und stellt sie als Errungenschaften heraus. Bei Arendt kann sich das Politische auf keine vorhergehende Bedeutung oder eine natürliche Disposition zurückziehen. Diese Annahmen haben unmittelbare Konsequenzen für ihr Verständnis des Gemeinsamen: "A further consequence of Arendt's stress on the artificiality of political life is evident in her rejection of all neo-romantic appeals to the "volk" and to ethnic identity as the basis for political community."[25] Statt das Gemeinsame im Namen von Innerlichkeit, Wärme, Identität, Authentizität und im Rekurs auf einen (kollektiven oder individuellen) Subjektbegriff anzurufen, adressiert Arendt es in Begriffen von Freiheit, Neuanfang und Handeln.[26] Die Affirmation der Künstlichkeit des Politischen und die Betonung der konstitutiven Macht, die Menschen nicht dazu verurteilt, in einer vorgefertigten Welt zu leben, vereinen Arendt, Negri und Hardt und sie sind Dreh- und Angelpunkt eines neuen Begriffs des Gemeinsamen.

Dennoch ist Arendt nur bedingt anschlussfähig: Problematisch ist ihr Versuch das Politische vom Ökonomischen, Privaten oder Sozialen zu scheiden und letztgenannten politische Produktivität abzusprechen. Ich schließe mich der Feststellung an,[27] dass eine solche Trennung nicht tragbar ist. Arendts Dichotomisierung begreift weder die Wechselwirkungen zwischen Staat, Ökonomie und Gesellschaft mit dem, was sie Soziales, bzw. Privates nennt, noch kann sie Probleme, die auf dieser Ebene verortet sind, erkennen. Sie lässt jede Sensibilität für soziale Gerechtigkeit vermissen und erkennt nicht, dass Politik und Ökonomie, Soziales, Öffentliches und Privates mit Macht und Herrschaft zusammenhängen. Ausgeblendet wird dadurch die produktive Kraft des Kapitalismus und die Erkenntnis, dass dessen Wirkungsweisen nicht vom Aufkommen der modernen Gesellschaft und dem bürgerlichen Subjektbegriff zu trennen sind. Schlussendlich ist Arendt blind für die politische Relevanz von Eigentums- und Produktionsverhältnissen.

Negri und Hardt stellen sich der einfachen Opposition von Ökonomie/Privatheit Politik/Öffentlichkeit entgegen: "Heute geht es darum, eine Vorstellung von Produktion und Produktivität des Gemeinsamen zu entwickeln, die sich gleichermaßen vom Politischen auf das Ökonomische und auf alle Bereiche der Produktion ausdehnen lässt."[28] Dieses Diktum muss als Ausgangspunkt für alternatives Denken sein, wenn Arendts Theorie des acting in concert adaptiert werden soll. Interessant an Arendt bleibt, dass sie für eine Politiktradition steht, in der die Öffentlichkeit der Ort von Politik ist. In der neoliberalen, postfordistischen Gesellschaft, in der jenes Öffentliche zunehmend verdrängt wird, macht es Sinn mit Arendt über Arendt hinaus zu denken.


Der Rückzug des Politischen im neoliberalen Kapitalismus

Der gegenwärtige Rückzug des Öffentlichen verweist auf einen tiefgreifenden gouvernementalitätsrelevanten Strukturwandel, dessen Grundtendenz Arendt mit ihrer These von der Verdrängung des Öffentlich-Politischen vorwegnahm: Ein Resultat des neoliberal-kapitalistischen Diktums des Marktes ist die Tendenz zur Privatisierung und Teilprivatisierung immer weiterer Sphären des Lebens und der öffentlichen Infrastruktur. Staatliches, bzw. kommunales Eigentum wird verkauft und zunehmend Einfluss und Kontrolle an private Unternehmen und Investoren abgegeben. Dass die öffentliche Infrastruktur an Kriterien des Marktes ausgerichtet wird, betrifft vorrangig die Güter der Daseinsvorsorge (Wohnen, Nahverkehr, Kultur, Gesundheit, Bildung), also Bereiche, die zuvor als Teil des Gemeinwohls rezipiert wurden. Zu beobachten ist ein Rückzug des Staates von bestimmten öffentlichen Aufgabenbereichen. Indem das vormals Öffentliche am "freien Markt" ausgerichtet wird, werden Möglichkeiten demokratischer Kontrolle und staatlich-demokratisch-legitimierter Einflussnahme an private Investoren und Unternehmen abgegeben, so dass die Privatisierung der öffentlichen Infrastruktur nicht nur mit einer Ökonomisierung und Privatisierung des Politischen einhergeht, sondern auch mit einer Ent-Demokratisierung der Gesellschaft. Es ist ein Perspektivwechsel, der sich vollzieht, wenn Städte ihren kommunalen Wohnungsbaubestand, Kultur- und Freizeiteinrichtungen, öffentlichen (Naherholungs-)Raum, die Energieversorgung und den Nahverkehr an private Unternehmen verkaufen oder die Gesundheitsversorgung, Bildung, (Eisenbahn-)Verkehr oder die Altersvorsorge privatisiert wird. Denn es ist ein Unterschied, ob Wohnungsbauunternehmen, Krankenhäuser, Gefängnisse oder Universitäten mit öffentlichen Geldern haushalten, oder ob sie warenförmig und als Unternehmen organisiert werden, die Profit erwirtschaften sollen.

Dieses roll out des Staates ist mit einer Neuausrichtung staatlicher Politik verbunden. Der Staat zieht sich nicht einfach zurück, staatlich-politisches Agieren selber wird an den Gesetzen des Marktes ausgerichtet. Eine Folge ist, dass Städte als Unternehmen betrachtet und der Logik eines Geschäftsbetriebes folgend regiert und organisiert werden. Das bringt eine Vernachlässigung unrentabler Teile und Klientel in der Stadt und einen Rückzug aus Bereichen, die vormalig als städtische Aufgaben im Sinne des Gemeinwohls galten, mit sich. Letztlich verstärkt diese Politik die Spaltung der Gesellschaft entlang von Herkunfts-, Klassen- und Einkommenslinien. Diese Spaltung überträgt sich wiederum auf die Teilhabe an dem, was als öffentliches und politisches Leben rezipiert wird.[29] Eine zweite Facette, durch die das neoliberale roll out des Staates scheinbar konterkariert wird, kann als roll back beschrieben werden. Der Staat zieht sich nicht einfach zurück, er agiert auf anderen Ebenen - ein Konzentrationspunkt ist der Bereich der Sicherheit.[30] Der politische Diskurs über globale und nationale Bedrohungen, über kriminelle, dekadente und arbeitsunwillige Arme bzw. MigrantInnen rückt ins Zentrum des politischen Interesses. Jenseits von realen Bedrohungsszenarien und sinkenden Verbrechensstatistiken steigt das subjektive Unsicherheitsempfinden, so dass die aktuellen Formen neoliberaler Gouvernementalität auch im Rahmen einer Regierungsrationalität durchgesetzt werden, die im Namen der Abwehr von Bedrohung argumentiert. Negri und Hardt bringen diese nur scheinbar paradoxe Spannung zwischen roll out und roll back auf den Punkt: "Im Bereich des Sozialen geht die Tendenz dahin, alles öffentlich zu machen und damit für die Überwachung und Kontrolle von Seiten der Regierung zu öffnen; im ökonomischen Bereich hingegen soll alles privat und dem Eigentumsrecht unterworfen werden."[31] Sie fordern die scheinbare Opposition zwischen öffentlich und privat hinter sich zu lassen und drängen auf eine Politik des Gemeinsamen, die mit einer Vorstellung von Privatheit einhergeht, die die Singularität sozialer Subjektivitäten (nicht das Privateigentum) zum Ausdruck bringt, sowie eine Vorstellung vom Öffentlichem, die auf gemeinsamer Teilhabe, nicht auf staatlicher Kontrolle beruht.

Im Hinblick auf das übergeordnete Thema dieses Beitrags bedeutet das, nicht nach der Identität des Gemeinsamen zu fragen, sondern explizit danach, wie sich das "Gemeinsame" in unserer heutigen Welt politisch gestalten lässt. Dazu ist eine Kritik der fortschreitenden Kommodifizierung und der neoliberalen Logik der Privatisierung nötig, zugleich muss ein politisch relevantes Konzept des Gemeinsamen mit einem radikalen Begriff des Öffentlichen einhergehen. Nur so können wir dagegen arbeiten, dass das Immanenzverhältnis zwischen Öffentlichem und Gemeinschaftlichem durch die transzendentale Macht des Privateigentums ersetzt wird. Die Konsequenzen einer solchen Analyse wären gravierend: Es hieße, den Rückzug des Staates vom "Gemeinwohl" bzw. den Einfluss privater InvestorInnen auf vormals (zumindest indirekt) demokratisch kontrollierte und gemeinsam besessene Bereiche als fundamentale Enteignung zu begreifen. Es würde bedeuten, auch die Wirtschaft als Bereich aufzufassen, dessen Gesetze gemeinsam und demokratisch gestaltet werden müssen[32] und die Welt in der wir leben, buchstäblich als Gemeinsame aufzufassen und daraus politische Forderungen abzuleiten.

Das impliziert die Forderung nach gemeinschaftlich-demokratisch-öffentlicher Kontrolle, nicht aber den Wunsch nach einer Rückkehr des Staates. Vorstellungen des Gemeinsamen, die an Teilhabe und gemeinsamem Eigentum ausgerichtet sind, zielen weniger auf Verstaatlichung, als auf Formen von Vergesellschaftung. Ziel eines solchen Handelns wäre es, dem Öffentlichen einen Rahmen zu geben, der eine kollektive Verwaltung der gemeinsam bewohnten Sphären, der Güter und Dienstleistungen überhaupt erst ermöglicht. Daher ist der Begriff des Gemeinsamen untrennbar mit der Forderung nach einer Politisierung der Gesellschaft verbunden, die sich konkret als Forderung nach Demokratisierung in den öffentlichen Diskurs einschreibt. Vor diesem Hintergrund drängt der Begriff des Demokratischen auf Strukturveränderungen. Demokratisierung schließt dann umfassende Konzepte von Gestaltungsmacht und Teilhabe ein, die formüberwindende Konsequenzen implizieren. Hinsichtlich der Frage des Gemeinsamen geht es um mehr als um die Wahl zwischen feststehenden Alternativen. Im Kontext der Theorie des Politischen Imaginären hieße das, in einer Weise zu handeln und konstruktiv tätig zu werden, in der die Frage nach dem Gemeinsamen von ihrer Orientierung auf Identität, Einheit, Natürlichkeit, Brüderlichkeit oder Abstammung gelöst wird und stattdessen mit dem Begriff des gemeinsamen Eigentums kurzgeschlossen wird.[33] Dieser kann - ohne auf neue politische Eigentlichkeiten zu verweisen - im Zusammenhang mit einer revolutionären Realpolitik transformatorische Perspektiven implizieren, die auf eine Überwindung von kapitalistischen Eigentums- und Produktionsverhältnissen und auch auf eine Dekonstruktion des Warenfetischs hindeuten.

Der Gemein-Diskurs wird aus seiner vorpolitischen Fundierung gelöst und der Begriff des Gemeinsamen mit der Orientierung am Gemein-Eigentum an demokratietheoretische und realpolitische Fragen gekoppelt. Anders als herkömmliche Diskurse um den Begriff der Gemeinschaft zielt das Gemeinsame weder auf einen nationalstaatlichen Rahmen, auf kulturelle, sprachliche oder ethnische Gemeinsamkeiten, auf Erbauung, Erhebung oder Sublimierung, sondern auf die gemeinsame Gestaltung und Verbesserung der Lebensbedingungen. Rosa Luxemburgs Begriff der revolutionären Realpolitik rückt ins Zentrum der strategischen Ausrichtung einer Politik des Gemeinsamen. Er beschreibt das Verhältnis von Gemeinsamem und Politischem: Eine Theorie des Gemeinsamen, die an der wirklichkeitsschaffenden Kraft gemeinsamen Handelns orientiert ist und mit der Forderung nach einem radikalen Denken des Öffentlichen, nach Politisierung und Demokratisierung kurzgeschlossen wird, muss nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch die Ebene des Vorpolitischen überschreiten. Politisches Handeln im Namen des Gemeinsamen kann kleinteilige, umsetzbare und "realpolitische" Forderungen mit der Perspektive auf weitergehende Veränderungen verbinden.

Eine solche Politikform verabschiedet sich von der Vorstellung eines einfachen revolutionären Umschlagpunktes, nicht aber von der Idee eines grundlegenden Strukturwandels der Gesellschaft. "Emanzipation" wird zu einem unabschließbaren Prozess, der sich in konkreten politischen Artikulationen manifestiert. Kämpfe wie die um Re-Kommunalisierung sind ein Beispiel dafür, wie zwischen Reform und Revolution, zwischen Protest und Gestaltung vermittelt werden kann. Sie induzieren nachhaltige Verschiebungen von Machtverhältnissen und ermöglichen Neugewichtungen. Ihre Kraft liegt darin, mit Teilbestrebungen und Einstiegsprojekten über den Rahmen der bestehenden Ordnung hinauszuweisen. Im Rahmen einer solchen Strategie ginge es um eine Demokratisierung, die darauf ausgerichtet wäre, alle relevanten Bereiche der Gesellschaft, also alle politischen Institutionen und auch alle Bereich der politischen Ökonomie zur Abstimmung zu stellen.

Im Angesicht der Geschichte des Gemein-Diskurses sowie im Kontext der voranschreitenden Ökonomisierung des Politischen und der Offensichtlichkeit der Ungleichheiten in dieser Welt ist eine im originären Sinne des Wortes emanzipatorische Politik des Gemeinsamen dazu verpflichtet, statt von Einheit und kollektiver Identität von globaler Gerechtigkeit zu sprechen. Ein politischer Begriff des Gemeinsamen muss auf den Zugewinn von Freiheit und Handlungsfähigkeit derjenigen zielen, die keinen Anteil am Gemeinsamen haben.[34] Mit Derrida bleibt kurz vor Schluss zu sagen: Man muss "es herausschreien: Noch nie in der Geschichte der Erde und der Menschheit haben Gewalt, Ungleichheit, Ausschluss, Hunger und damit wirtschaftliche Unterdrückung so viele menschliche Wesen betroffen. Anstatt in der Euphorie das Endes der Geschichte die Ankunft des Ideals der liberalen Demokratie und des kapitalistischen Marktes zu besingen, anstatt das "Ende der Ideologien" und des Ende der großen emanzipatorischen Diskurse zu feiern, sollten wir niemals diese makroskopische Evidenz vernachlässigen [...]: Kein Fortschritt der Welt erlaubt es, zu ignorieren, dass in absoluten Zahlen noch nie, niemals zuvor auf der Erde so viele Männer, Frauen und Kinder unterjocht, ausgehungert oder ausgelöscht wurden." [35]

Diese Feststellung ist und bleibt Motivation für politisches Handeln und für eine Praxis des Gemeinsamen. Über eine ethisch-moralische Empörung hinaus konfrontiert sie den politischen Diskurs in der Linken wieder und wieder mit der Notwendigkeit und der Aktualität einer umfassenden und denaturalisierenden Kapitalismuskritik.


email: j.spitta@fu-berlin.de


Literatur

Arendt, Hannah: Freiheit und Politik. In: dieselbe: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München 2000. S. 201-226.

Arendt, Hannah: Men in dark times, New York 1968.

Arendt, Hannah: The Human Condition, Chicago 1959.

Arendt, Hannah: Über die Revolution, Gütersloh/München 1965.

Arendt, Hannah: Vita Activa oder Vom Tätigen Leben, München 2008.

Benhabib, Seyla: Hannah Arendt die melancholische Denkerin der Moderne, Hamburg 1998.

Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution, Frankfurt Main 1990.

D'Entreèves, Maurizio Passerin: The political philosophy of Hannah Arendt, London/New York 1994.

Demirovic, Alex: Demokratie in der Wirtschaft. Positionen - Probleme - Perspektiven, Münster 2007.

Dietz, Mary G: Hannah Arendt and Feminist Politics. In: Hinchman, Lewis P and Sandra: Hannah Arendt - critical essays, New York 1994 S. 231-260.

Hardt, Michael/Negri, Antonio: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt Main 2002.

Hardt, Michael/Negri, Antonio: Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt/New York 2004.

Hardt, Michael/Negri, Antonio: Commonwealth, Cambridge 2009.

Häusermann, Hartmut/Läpple, Dieter, u.a.: Stadtpolitik, Bonn 2008.

Helfich, Silke: Wem gehört die Welt? Zur Wiederentdeckung der Gemeingüter, München 2009.

Lacan, Jacques: Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion. In: Lacan, Jacques: Schriften I. Weinheim Berlin 1991. S. 62-69.

Laclau, Ernesto: Tod und Wiederauferstehung der Ideologietheorie. In: Laclau, Ernesto: Emanzipation und Differenz. Wien 2002. S. 174-200.

Lacoue-Labarthe, Philippe/Nancy, Jean-Luc: Der Nazi-Mythos. In: Weber, Elisabeth/Tholen, Georg Christoph (Hg.): Das Vergessen(e). Anamnesen des Undarstellbaren. Wien 1997. S. 158-190.

Lefort, Claude: Fortdauer des Theologisch-Politischen, Wien 1999.

Luxemburg, Rosa: Sozialreform oder Revolution. In: Flechtheim, Ossip (Hg.): Rosa Luxemburg. Politische Schriften I, Frankfurt Main 1996. S. 47-34.

Marchart, Oliver: Neu Beginnen. Hannah Arendt, die Revolution und die Globalisierung, Wien 2005.

Marx, Karl: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. In: MEW Bd. 8, Berlin 1988.

Meinecke, Friedrich: Weltbürgertum und Nationalstaat. München 1915.

Negri, Antonio: Politische Subjekte. Multitude und konstituierende Macht. In: Atzert, Thomas/Müller, Jost (Hg.): Immaterielle Arbeit und imperiale Souveränität. Analysen und Diskussionen zu Empire. Münster 2004. S. 14-28.

Ostrom, Elinor (Hg.): The drama of the commons, Washington 2003.

Ostrom, Elinor: Governing the commons: the evolution of institutions for collective action, Cambridge 1990.

Voß, Elisabeth: Wegweiser Solidarische Ökonomie: Anders Wirtschaften ist möglich!, Wasserburg/B. 2010.


Anmerkungen

[1] Vgl. u.a. Negri/Hardt 2002, 2004, 2009. Ostrom 1990, 2003. Helfich 2009. Voß 2010.

[2] Derrida 2002:399.

[3] Im Kontext eines übergeordneten Gemein-Diskurses ist die Gemeinschaft nur eine begriffliche Variable, anhand derer an die Zusammengehörigkeit eines sozialen Gefüges appelliert werden kann. Gemeinschaft ist wie Gesellschaft, Volk, Nation, (National-)Staat, Rasse und auch Klasse eine Möglichkeit, Verbindlichkeit im Themenfeld politischer Kollektivität zu benennen.

[4] Vgl. u.a. die Kampagne "Boateng umhauen! 82 Millionen gegen Kevin" nach dem Foul am Fußballspieler Michael Ballack oder die kollektiv-nationalistischen Stigmatisierungen der GriechInnen im Zuge der Euro-Krise.

[5] Begrifflich ist diese Entgegensetzung ein Produkt des Soziologen Ferdinand Tönnies. Theoretisch wurde sie sowohl von den Neuen Romantikern, der Jugendbewegung als auch von den Rassentheorien und den Nationalsozialisten verwendet. Der sozialdemokratische, marxistisch geschulte Tönnies begünstigte eine derartige Rezeptionsgeschichte durch undifferenzierte Naturalisierungen, begriff sie jedoch als Enteignung und verwehrte sich gegen die Einbindung seiner Schriften in einen rechtsnationalen und nazistischen Kontext.

[6] So ergibt es keinen Sinn, die community der society oder die commauté der société entgegenzustellen. Dasselbe gilt für andere europäische Sprachen.

[7] Versuche den Fallstricken des Gemein-Diskurses durch ein Ethos der Gesellschaft (Plessner, Habermas) zu entkommen scheiterten, da sie in hierarchisch-dichotomen Argumentationsmustern verblieben und lediglich Primär- und Sekundärbegriff gegeneinander ausspielten.

[8] Vgl. Lefort 1999.

[9] Vgl. u.a. Lacoue-Labarthe/Nancy 1997.

[10] Die Unterscheidung stammt von Meinecke 1915. Jürgen Habermas lieferte mit dem Verfassungspatriotismus den einzigen populären Gegenentwurf. Sein Konzept ist ob seines Ethos der Gesellschaft, durch seine Nähe zu Regierungsrationalitäten, Staatspositivismus und nicht zuletzt durch seinen unkritischen Bezug auf die Möglichkeit, sich als Kollektiv positiv identifizieren zu können, dennoch kein Alternativmodell.

[11] Vgl. Castoriadis 1990.

[12] Vgl. Lacan 1991, Laclau 2002.

[13] Vgl. Luxemburg 1996:114.

[14] Marx 1988:115.

[15] In Empire setzen Negri und Hardt diese neue Souveränität der nationalstaatlichen Ordnung entgegen und erklären, das Empire hätte die Nationalstaaten abgelöst. (Hardt/Negri 2002:10) Im letzten Buch der Reihe, Commonwealth, weichen sie diese These auf und sprechen davon, dass kein Widerspruch zwischen der Herrschaft des Empire und dem Fortbestand der nationalstaatlichen Logik bestünde. Sie erkennen, dass De- und Re-Nationalisierung sich nicht ausschließen und der Nationalstaat sich durch die Prozesse der Globalisierung verändert, nicht aber auflöst oder seine Bedeutung einbüßt. (Hardt/Negri 2009:184)

[16] Vgl. Hardt/Negri 2002:349f.

[17] Durch die Ausdifferenzierung des Begriffs der immateriellen Arbeit und der Theorie des kognitiven Kapitalismus wurde die postoperaistische Sichtweise erweitert. Es sind nicht mehr nur die Kämpfe, sondern auch der objektive Charakter der immateriellen Arbeit, der das Kapital in die Defensive drängt. Für diesen Hinweis danke ich Karl Reitter.

[18] Die Dimension der biopolitischen Produktivität ist bei Negri/Hardt zentral. Sie kann hier jedoch aus Gründen des Umfangs nicht weiter ausgeführt werden.

[19] Hardt/Negri 2004:11.

[20] Hardt/Negri 2004:223.

[21] Negri 2004:19f.

[22] Arendt 1959:23.

[23] Vgl. Arendt 2008.

[24] Vgl. Arendt 2008:364, 373, Arendt kritisiert "Sie [die gebildeten Bürger] flüchteten in die neue Innerlichkeit des Bewusstseins als der einzig angemessenen Domäne menschlicher Freiheit. Vor dem Druck der Gesellschaft, die ihrem Wesen nach konformistisch ist, wichen sie in ein Innenleben aus, das sie um so reicher und individualistischer gestalten konnten, als es überhaupt keine Folgen hatte oder haben wollte." Vgl. Arendt 1965:202. Hervorhebungen im Original.

[25] D'Entrèves 1994:145.

[26] Vgl. Arendt 1968:13f:

[27] Zur Kritik vgl. u.a. Benhabib 1998. D'Entrèves 1994. Dietz 1994. Hardt/Negri 2004. Marchart 2005.

[28] Hardt/ Negri 2004:224.

[29] Zu Auswirkungen der neoliberalen Politik auf die Städte, vgl. Häusermann, Läpple 2008:279.

[30] Obgleich auch im Bereich der Sicherheit die Logik der Privatisierung eine wichtige Rolle spielt. Vgl. die zunehmende Bedeutung von privaten Sicherheitsdiensten in Kriegsgebieten, aber auch die mit der Privatisierung des öffentlichen Raums einhergehenden Ausschlüsse von nicht-kaufkräftigen Teilen der Bevölkerung aus innerstädtischen Erlebniswelten.

[31] Hardt/ Negri 2004:229.

[32] Vgl. Demirovic 2007

[33] "By the common we mean first of all, the common wealth of the material world." Hardt/Negri 2009:X.

[34] Das ist ein Grund für die Orientierung an den Kämpfen um Commons, Almende und Gemein-Eigentum. Diese werden heute vielfach in den Ländern des globalen Südens geführt und haben dort konkrete politische Relevanz.

[35] Derrida 2004:121.

Raute

Isabell Lorey

Gemeinsam Werden. Prekarisierung als politische Konstituierung

Politisch-kulturelle Durchqueerungen

Im Laufe der 2000er Jahre hat sich ein in erster Linie in Europa geführter Diskurs zu Prekarisierung herausgebildet, in dem ein außerordentlich komplexes Verständnis von sozialer Unsicherheit und deren Produktivität entstanden ist. Diese Diskurse wurden immer wieder durch politischen Aktivismus und theoretische Reflexionen im Kontext der Bewegung der europäischen Prekären, wie der EuroMayDay-Bewegung[1] zusammengeführt und auch neu angestoßen. Diese transnationale Bewegung, die seit dem Beginn der 2000er Jahre existiert, thematisiert prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse als Ausgangpunkt für politische Kämpfe und sucht nach politischen Handlungsmöglichkeiten in neoliberalen Verhältnissen. Das Außergewöhnliche an dieser sozialen Bewegung ist nicht nur, auf welche Weisen darin neue Formen politischer Kämpfe erprobt und neue Perspektiven auf Prekarisierung vorangetrieben worden sind. Vielmehr - und das ist auffallend im Verhältnis zu anderen sozialen Bewegungen - hat sie immer wieder die scheinbar getrennten Felder des Kulturellen und des Politischen durchqueert und gequeert. Im vergangenen Jahrzehnt fand der Austausch über das zum Teil subversive Wissen der Prekären, die kommunikative Suche nach dem Gemeinsamen, um eine politische Konstituierung zu ermöglichen, weniger in sozialen, politischen oder auch universitären Kontexten, sondern auffallend häufig in Kunstinstitutionen statt.

2004 beispielsweise brachte das Forschungs-, Ausstellungs- und Veranstaltungsprojekt Atelier Europa im Kunstverein München[2] AktivistInnen, TheoretikerInnen und KünstlerInnen zusammen, um einen Austausch über prekäre Lebens- und Arbeitsverhältnisse und damit einhergehende Widerspenstigkeiten zu ermöglichen. Im Fokus standen nicht nur zunehmende und veränderte Formen von Prekarisierung in der Kulturproduktion[3], sondern auch in anderen sozialen Bereichen, vor allem im anhaltend Frauen zugeordneten Bereich der Pflege-, Care- und allgemein der Reproduktionsarbeit. Die Madrider feministische Aktivistinnengruppe 'Precarias a la deriva' lieferte in dieser Hinsicht sehr wichtige Impulse.[4]

Ein weiteres Beispiel aus dem Jahr 2004: Am Vortag des 1. Mai trafen sich auf Einladung des Museums für zeitgenössische Kunst MACBA in Barcelona AktivistInnen von Indymedia-Gruppen aus ganz Spanien, um eine intensive Debatte über ihre medienaktivistischen Praxen zu betreiben. Am 1. Mai beteiligten sie sich nicht nur an der EuroMayDay-Paraden, sondern trugen die Problematisierung von prekären Arbeitsverhältnissen kritisch an den Ort des MACBA zurück. Die Kritik an der ambivalenten Rolle von Kunstinstitutionen wurde artikulierbar: Institutionen im Kunstfeld waren einerseits Orte der kritischen Auseinandersetzungen über neoliberale Transformationsprozesse und zugleich wichtige Players im Spiel des kognitiven Kapitalismus und zunehmender Prekarisierungstendenzen.[5]

Im Januar 2005 - ein letztes Beispiel - fand in Berlin die internationale Konferenz Klartext! im Künstlerhaus Bethanien und der Volksbühne in Berlin zum "Status des Politischen in aktueller Kunst und Kultur" statt.[6] Viele der Eingeladenen waren gleichzeitig AktivistInnen im transnationalen EuroMayDay-Netzwerk, das sich am Vortag der Konferenz in Berlin traf. Sie brachten die aktuellen Problematisierungen von Prekarisierung in die Konferenz ein und konnten darüber zugleich ihre Reisekosten abrechnen. Darüber hinaus wurden theoretische Analysen zu Prekarisierung, die sich mit aktivistischen Praxen beispielsweise im Kontext des EuroMayDay-Netzwerks verschränkten, verstärkt in Online-Zeitschriften geführt, die Kunst, politische Theorie und Aktivismus verbinden, wie beispielsweise mute magazine oder transversal[7] - lange Jahre bevor Prekarität zum Topthema der institutionalisierten sozialwissenschaftlichen Forschung avancierte.

Diese Einordnung der linken aktivistisch-theoretischen Diskurse und Praktiken erscheint mir wichtig, um auf die Durchqueerungen verschiedener gesellschaftlicher Felder zu verweisen, die meist als separiert wahrgenommen werden. Diese Durchqueerungen, permanenten Überschreitungen und nicht gewohnten Zusammensetzungen von Personen und Feldern sind eine grundlegende Erfahrung und Perspektive auf die Problematisierung von Prekarisierung als einem transnationalen wie gesamtgesellschaftlichen Phänomen.


Normalisierung und Steuerung von Differenzen

Prekarisierung ist keineswegs ein Phänomen, das nur an den Rand imaginierte gesellschaftliche Gruppen betrifft und von diesen Rändern her ins Zentrum überzugreifen droht - auf die so genannte Mittelschicht, diejenigen also, die bisher gut abgesichert in das kapitalistische Produktionsregime integriert waren und darüber ihre gesellschaftliche Stellung untermauern und verbessern konnten. Ein solches Modell zwischen prekärem Rand und bedrohtem Zentrum wird dem Um- und Abbau sozialer Sicherungssysteme in Europa nicht gerecht. Es handelt sich um eine Entwicklung, die das so genannte Zentrum längst erfasst hat: der massive Rückgang unbefristeter Arbeitsverträge und die Zunahme befristeter, zum Teil eine hohe Mobilität erfordernder Jobs, ohne oder mit nur minimalen sozialen Absicherungen wie Kranken- und Urlaubsgeld oder Altersvorsorge.

Vor diesem Hintergrund ist Prekarisierung ein neoliberales Regierungsinstrument. Neoliberale Gesellschaften werden gegenwärtig innenpolitisch durch soziale Unsicherheit, das heißt durch das Austarieren eines Minimums an sozialer Sicherheit regiert. Soziale Unsicherheit ist kein Phänomen, das nur bestimmte gesellschaftliche Gruppen betrifft. Prekarisierung befindet sich gegenwärtig vielmehr in einem Prozess der Normalisierung und schließt damit an soziale Unsicherheiten an, die bereits vor dem Fordismus beklagt wurden, ohne damit identisch zu sein. Der fordistische Sozialstaat offenbart sich als historische Ausnahme und keineswegs als Norm, von der aus prekäre Arbeitsverhältnisse als Abweichung und Anomalie verstanden werden können.[8]

Die Kunst des Regierens besteht gegenwärtig darin, ein wahrscheinlich nicht exakt zu kalkulierendes Maximum an Prekarisierung, das mit einem Minimum an Absicherung korreliert, einzuführen und an diesem Grat dafür zu sorgen, dass das Minimum gesichert wird. Normalisierte maximale Prekarisierung bedeutet keineswegs Gleichheit in der Unsicherheit, Ungleichheiten werden nicht abgeschafft. Die neoliberale Logik will aus gutem Grund keine Reduktion, kein Ende der Ungleichheit, weil sie mit diesen hierarchisierten Differenzen spielt und auf deren Grundlage regiert. Der Fokus dieser Regierungslogik liegt nicht mehr auf der Regulierung festgesetzter identitärer Differenzen. Sie reguliert nur noch die 'absolute Armut', die die Einzelnen tendenziell daran hindern könnte, das Spiel der Konkurrenz zu spielen.[9]

Versteht man Prekarisierung in diesem Sinne auch als Normalisierung und Steuerung von Differenzen in der Unsicherheit, dann ist es nicht hilfreich, in kritisch emanzipatorischer Absicht gruppenbezogene Unterscheidungen von Prekarität zu konstruieren. Mit feuilletonistischen Kategorisierungen in Luxus- und Armutsprekäre wird letztlich eine neoliberale Konkurrenzdynamik zwischen unterschiedlichen Graden von Prekarisierung reproduziert.

Wenn Prekarisierung zu einem Regierungsinstrument der Normalisierung geworden ist und damit als Gruppen und Schichten übergreifendes Phänomen verstanden werden muss, dann sollten sich soziale und politische Kämpfe nicht an separierenden und hierarchisierenden Differenzierungen beteiligen. Ohne die unterschiedlichen Ausmaße von Prekarisierung zu negieren, sollten sie gerade nach Gemeinsamkeiten in der Normalisierung suchen: um die Produktivität prekärer Lebens- und Arbeitsverhältnisse zur Veränderung dieser Regierungsweisen zu nutzen, um sie gemeinsam zu verweigern und ihnen zu entgehen.


Auseinandersetzungen um neue politische Praxen

Um die vielfältigen Prekären nicht erneut zu individualisieren und zu separieren, haben sich die kritischen Diskurse und widerständigen Praxen im Kontext von Prekarisierung im vergangenen Jahrzehnt immer wieder auf das konzentriert, was den Prekären in aller Differenz gemeinsam ist. Eine solche Suche nach Gemeinsamkeiten geht von Differenzen aus und endet nicht in Gleichheit, sondern ist begleitet von permanenten Auseinandersetzungen darüber, was als Gemeinsames gilt.

Die theoretischen Reflexionen wie auch die sozialen Bewegungen zu Prekarisierung bedienen sich weitgehend dem Denken und Begriffsgefüge des Poststrukturalismus und Post-Operaismus und suchen damit zugleich nach Praxen jenseits traditioneller Repräsentationspolitik. Diese Politik, in der Repräsentation in erster Linie als Stellvertretung verstanden wird, zeigt sich nicht nur in parlamentarischen Demokratien, sondern auch in linken Politikverständnissen, die ein identitäres kollektives Subjekt, das mit einer Stimme (stellvertretend) Forderungen artikulieren können soll, für politische Praxen als notwendig erachten. Wenn es aber um die Suche nach Gemeinsamkeiten in den unterschiedlichen Formen von Prekarisierung geht, um die Möglichkeiten, sich in der Differenz zu Bündnissen zusammenzuschließen, dann ist eine identitäre, subjektorientierte Politik offensichtlich nicht geeignet, denn sie verhindert die Suche nach dem Gemeinsamen in der Differenz.[10]

Gerade in der Linken muss zudem immer wieder auch darum gestritten werden, dass Solidarisierungen mit den meist migrantischen 'Anderen' nicht nur oft die 'eigene' Position unreflektiert lassen, sondern 'die armen Anderen' viktimisieren und ihnen eine eigene politische Handlungsfähigkeit absprechen. Im Gegensatz zu festschreibenden Identitätskategorien, die in prekäre Kreative auf der einen und ausgeschlossene Prekäre auf der anderen Seite unterscheiden, um letztere mit weißer 'Unterschicht', MigrantInnen oder illegalisierten Personen zu identifizieren, wurden im Rahmen des EuroMayDay Schicht und Status übergreifende unterschiedliche Bündnisse konstituiert: zwischen prekären KulturproduzentInnen, WissenarbeiterInnen, MigrantInnenorganisationen, Arbeitsloseninitiativen, Organisierungen von illegalisierten Personen oder auch Gewerkschaften.

Die Auseinandersetzungen wurden also immer wieder auch darum geführt, auf welche Weisen die Refigurierung des Subjekts und damit identitäre Logiken dekonstruiert werden können, um eine neue Sprache der Politik zu finden, die das Feld politischer Möglichkeiten öffnen kann.


Nicht vollständig ökonomisierbare Produktivität

Es existiert eine wichtige Vorannahme für eine politische wie theoretische Perspektive auf das Gemeinsame: Die neue Figur der auf Kommunikation, Wissen, Kreativität und Affekt basierenden Arbeitskraft[11] ist keineswegs ausschließlich für eine neue Phase kapitalistischer Akkumulation produktiv. Die Ökonomisierung des Sozialen, das Ineinsfallen von Arbeit und Leben, die Anforderungen, bei immaterieller und affektiver Arbeit die gesamte Person einzubringen, also die Kapitalisierung von Subjektivierungsweisen - all diese Prozesse sind keineswegs total, umfassend oder vollkommen determiniert. Immer entstehen Überschüsse, Möglichkeiten der Artikulation und Potenzialitäten von Widerständigkeit. Subjektivierungsweisen gehen nicht in den normativen staatlichen und ökonomischen Anrufungen nach Flexibilität, Mobilität und affektiver wie kreativer Arbeit auf. In unsicheren, flexibilisierten und diskontinuierlichen Arbeits- und Lebensverhältnissen entstehen Subjektivierungen, die nicht zur Gänze einer neoliberalen Verwertungslogik entsprechen, die sich auch widersetzen und verweigern. "Prekarisierung steht also für ein umkämpftes Terrain: ein Terrain, auf dem die Ansätze, einen neuen Ausbeutungszyklus in Gang zu setzen, auf die Wünsche und subjektiven Verhaltensweisen treffen, in denen das Aufbegehren gegen das 'alte', fordistisch genannte Arbeitsregime und die Suche nach einem anderen, freien, ja auch 'flexiblen' Leben sich äußert."[12] Die Prozesse der Prekarisierung sind ein umkämpftes soziales Terrain, in dem sich die Kämpfe der Arbeitenden und die Wünsche nach anderen Formen des Lebens und Arbeitens artikulieren. Die Prozesse der Prekarisierung sind nicht nur im ökonomisch verwertbaren Sinne produktiv. In postfordistischen prekären Produktionsverhältnissen werden immer wieder neue Lebensformen, neue soziale Beziehungen entwickelt und erfunden.[13] Auch in diesem Sinne sind die Prozesse der Prekarisierung produktiv.

Jene Arbeitsformen, die in erster Linie auf Kommunikation und Affekten, auf Austausch mit anderen basieren, sind nicht zur Gänze berechenbar. Der messbare Charakter der Produktion wird überschritten, Produktion wird so im Vergleich zur fordistischen Industriearbeit tendenziell unkalkulierbar.[14] In den Prozessen der Prekarisierung entsteht in vielen Momenten Unvorhergesehenes, Kontingentes und auch in diesem Sinne Prekäres. Dieser Aspekt von Prekarisierung birgt die Potenzialität von Verweigerung und produziert zugleich eine Neuzusammensetzung von Arbeit und Leben, von Sozialität, die nicht so, nicht sofort, nicht so schnell und vielleicht gar nicht ökonomisierbar ist. In solchen Neu-Zusammensetzungen geschehen Unterbrechungen im Prozess der Normalisierung, das heißt der Kontinuität von Verwertbarkeit. In diesem Sinne ist das Bedeutungsgefüge von Prekarisierung in den Diskursen um die EuroMayDay-Bewegung nicht ausschließlich negativ konnotiert, sondern beinhaltet immer auch die Potenzialität gemeinsamer Verweigerungen, die Potenzialität des Exodus und der Konstituierung.[15]


Das Wissen der Prekären und die Praxis des Durchqueerens

Produktive Unterbrechungen, das heißt die Faltungen des Prekären in die Potenzialität von gemeinsamer Konstituierung, können freilich nicht einfach theoretisch konstatiert, sondern müssen in den sozialen und politischen Auseinandersetzungen gefunden und erfunden werden. Dazu brauchte es am Beginn der 2000er Jahre (und bis heute noch) ein Wissen über unterschiedliche Formen von Prekarisierung und die darin neu entstehenden Praktiken der Verweigerung und der Subversion. Um dieses unterschiedliche Wissen der Prekären zusammenzutragen, wurden viele militante Untersuchungen - etwa in kulturellen und künstlerischen (wie von kpD[16]) oder in unterschiedlichen sozialen Kontexten (wie von Precarias a la deriva) - durchgeführt. Die Praxis der militanten Untersuchung oder auch Mituntersuchung schließt an die ArbeiterInnen(selbst)befragungen an, wie sie vor allem in den 1970er Jahren im Rahmen des italienischen Operaismus durchgeführt wurden. Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse sollen durch die davon Betroffenen, also die ExpertInnen selbst untersucht und deren spezifisches Erfahrungs-Wissen inklusive subversiver Praktiken und Widerspenstigkeiten artikulierbar gemacht werden. Solche gegenseitigen Befragungen der ArbeiterInnen gelten "als Voraussetzung für eine politische Intervention"[17], so Marta Malo von Precarias a la deriva. Die Praxis der militanten Untersuchung hat das Interesse, Emanzipation, Auseinandersetzungen, soziale Kämpfe zu initiieren und Suchbewegungen nach besseren Weisen des Lebens und Arbeitens zu potenzieren. Es geht darum, "den unterirdischen und häufig unsichtbaren Faden des Unbehagens und der täglichen Aufstände zu erforschen"[18], damit sich das Vermögen, die potentia der Prekären zu einer konstituierenden Macht zusammensetzen kann.[19]

Prekäre haben keine gemeinsame Identität, aber gemeinsame Erfahrungen. Prekarisierung, so kpD, lässt sich über die ökonomische Dimension hinausgehend als vielfältige Erfahrung verstehen, die mit "einer nicht funktionierenden identitären Zuschreibung oder Anrufung und den damit verbundenen Vereindeutigungen zu tun hat, die sich dennoch auf bestimmte Weisen in Subjetivierungsverhältnissen materialisieren. [...] Häufig müssen verschiedene berufliche, statusbezogene, geschlechtliche, sexuelle und ethnisierende Positionen, die sozial sehr widersprüchlich sind, gleichzeitig oder nacheinander eingenommen werden."[20] Prekarisierung bezieht sich auf die sehr anstrengende Praxis, mehrere Positionierungen und Anrufungen gleichzeitig und nacheinander zu durchqueeren.[21]

In diesem Verständnis verweist Prekarisierung also auch auf die Unmöglichkeit der Vereindeutigung, die Unmöglichkeit eines identitären Stillstands. Prekarisierung meint hier auch die Erfahrung, mit der simultanen Vielfältigkeit, mit der Heterogenität von Zuschreibungen und Anrufungen umzugehen. Differente Singularitäten sind nicht durch Individualität, also Unteilbarkeit konstituiert, sondern viel eher durch das, was sie mit anderen teilen, woran sie Teil haben, zu welchem Teil und wie sie mit anderen gemeinsam werden, zu einer konstituierenden Macht.


Prozess der Konstituierung statt ontologische Konstitution des Gemeinsamen

Um dieses Gemeinsam-Werden als politische Handlungsfähigkeit denken zu können, möchte ich anstelle des Begriffs des Gemeinsamen als sozialer ontologischer Konstitution (wie es Michael Hardt und Antonio Negri noch einmal jüngst in Common Wealth angeboten haben[22]) einen anderen, mittlerweile etwas aus dem Blickfeld verschwundenen Begriff von Negri, nämlich den der konstituierenden Macht[23], in den Vordergrund rücken. Für Forderungen nach politischen und sozialen Rechten kann es durchaus notwendig sein, sich (strategisch) auf ein ontologisch begründetes Gemeinsames zu beziehen, eines, das die Gleichheit im Sinne von Gleichstellung in der Differenz anstrebt. Um aber überhaupt mit anderen zusammen agieren zu können, muss dieses Gemeinsame etwas anderes bedeuten, als eine grundlegende ontologische Kategorie. Denn dieses "common" ist etwas, das erst entstehen muss, das sich zu allererst zu etwas zusammen-setzt, was es noch nicht gibt. Keine Gemeinschaft entsteht hier, keine Vereinigung oder Vereindeutigung, sondern eine Gemeinschaftsvorstellungen fliehende Zusammensetzung.

Eine solche Neu-Zusammensetzung, eine solche Konstituierung[24] ist wie ein Mosaik zu verstehen, das sich aus vielen einzelnen, bereits bestehenden Teilchen, aus Singularitäten zusammenfügt und in der Weise des Arrangements Neues entstehen lässt. Nicht das Arrangement selbst ist innovativ, sondern die Auseinandersetzungen, die in den unterschiedlichen Zusammensetzungen entstehen. Konstituierung, die Entfaltung einer konstituierenden Macht ist nicht ohne Konflikte, deshalb ist sie politisch im Grund legenden Sinne. Der Grund ist nicht das Gemeinsame, und damit nicht der Konsens, sondern der Konflikt. Konflikte und Auseinandersetzungen sind aber nicht allein die Grundlage dessen, was sich zusammen-setzt. Auseinander-Setzungen sind auch Ausdruck von Verweigerungen und Widerständigkeiten, auf Grund derer sich eine konstituierende Macht überhaupt entfalten kann. Ohne Konflikte, ohne soziale Kämpfe bleibt die konstituierende Macht, die es braucht um einen Prozess der Konstituierung in Gang zu setzen, lediglich vereinzeltes Vermögen in der Latenz.


Precariousness und Precarity

Kommen wir vor diesem Hintergrund zurück zum Thema Prekarisierung und verbinden wir das bisher Gesagte mit den diesbezüglichen Überlegungen von Judith Butler. Sie hat nämlich einen ontologischen Begriff von precariousness angeboten, von existienzieller Gefährdetheit[25], der mit dem ontologischen Begriff des Gemeinsamen von Negri und Hardt produktiv zusammengedacht werden kann. Im Anschluss daran wird deutlich, dass das ontologisch Gemeinsame von Gefährdetheit nicht ausreicht, um ein politisches Verständnis von precarity zu entwickeln.[26]

Butler konzipiert die allgemeine Gefährdetheit des Lebens, die Verletzlichkeit des Körpers nicht einfach als Bedrohung oder als Gefahr, vor der unbedingt geschützt werden muss. Precariousness bezeichnet das, was Leben im Allgemeinen - menschliches wie nicht-menschliches - ausmacht. Butler formuliert eine Ontologie, die nicht losgelöst von sozialen und politischen Verhältnissen verstanden werden kann. Verletzbarkeit wird mit der Geburt extensiv, denn das erste Überleben hängt bereits von sozialen Netzwerken ab, von Sozialität und Arbeit.[27]

Zu sagen, dass das Leben prekär ist, bedeutet also, darauf zu verweisen, dass es nicht unabhängig und autonom besteht und mit keinen daraus abgeleiteten Identitäten begriffen werden kann. Vielmehr erfordert das Leben soziale Unterstützung und politische und ökonomische Bedingungen, die seine Fortdauer ermöglichen, um ein lebbares Leben zu sein. Eine "ontology of individualism"[28] sei nicht in der Lage, die precariousness des Lebens zu erkennen. Butler zufolge stellt eine soziale Ontologie der Gefährdetheit genau diesen Individualismus in Frage. "[W]e are [...] social beings from the start, dependent on what is outside ourselves, on others, on institutions, and on sustained und sustainable environments, and so are, in this sense, precarious".[29] Die Bedingungen, die das Leben ermöglichen, sind zugleich genau jene, die es als prekäres bewahren. Deshalb gilt es, so Butler, die politischen Entscheidungen und sozialen Praxen zu fokussieren, unter denen manche Leben geschützt werden und andere nicht. Die sozialen und materiellen Unsicherheiten, die aus solchen Entscheidungen und Praxen entstehen, nennt Butler precarity.

Diese precarity lässt sich als ein funktionaler Effekt aus jenen politischen und rechtlichen Regulierungen verstehen, welche gerade vor der allgemeinen precariousness schützen sollten. Precarity entsteht durch bestimmte Herrschaftsverhältnisse, die sich seit Thomas Hobbes im hegemonialen okzidentalen politischen Denken über den Schutz vor precariousness legitimieren und zugleich auf der precarity all jener, die als anders und fremd konstruiert werden, basieren. Precarity als funktionaler Effekt spezifischer Sicherungssysteme ist nicht beschränkt auf ein nationales politisches Phänomen, sondern stellt eines von globalem Ausmaß dar. Precarity - so Butler mit Verweis auf Achille Mbembe - "is at once a material and a perceptual issue, since those whose lives are not 'regarded' as potentially grievable, and hence valuable, are made to bear the burden of starvation, underemployment, legal disenfranchisement, and differential exposure to violence and death"[30].

Precarity - oder in meiner Begrifflichkeit: Prekarisierung - als Effekt spezifischer Herrschaftsverhältnisse heißt zum einen - das macht Butler deutlich -, dass es sich hier nicht um den ontologischen Begriff der precariousness, sondern um einen politischen Begriff handelt. Precarity ist damit allerdings nicht als determinierend zu verstehen, sondern im Gegenteil - das wird bei Butler nicht deutlich genug - als ausgesprochen produktiv: in seiner Produktivität als Regierungsinstrument und ökonomisches Ausbeutungsverhältnis auf der einen wie auch als produktive, immer auch unkalkulierbare und potenziell ermächtigende Subjektivierung auf der anderen Seite.[31]

Auch wenn sie im Kontext von precarity keine politische Handlungsfähigkeit von Singularitäten denkt, liefert Butler ein ausgesprochen wichtiges Argument, wie precariousness und precarity verwoben sind: Die Tatsache, dass sich precarity ausweitet statt minimiert, heißt - das ist Butlers politischer Fokus -, dass die allgemein geteilte Verletzbarkeit des Lebens, dass precariousness nicht anerkannt wird und damit keinen affirmativen Ausgangspunkt von Politik darstellt.

Butler ruft deshalb vor allem linke Politik dazu auf, die (gemeinsam) geteilte precariousness anzuerkennen und daran normative Verbindlichkeiten von Gleichheit und universellen Rechten auszurichten.[32] Anders als precariousness auf einer ontologischen Ebene, kreuzt auf einer politischen Ebene auch der Begriff der precarity alle Identitätskategorien und lässt sich nicht mit solchen bändigen und ordnen.

Die europäischen Bewegungen der Prekären sowie die damit verwobenen theoretischen Diskurse haben Gemeinsamkeiten durch Prekarisierung - die Zumutungen wie die Chancen - herausstellen können und Identitätspolitiken hinter sich gelassen. Auch wenn es gegenwärtig so aussieht, als habe zumindest die EuroMayDay-Bewegung ihren Zenit mittlerweile überschritten, ist es wichtig daran zu erinnern, dass in diesem Kontext nicht nur neue Formen des Politischen entstanden, sondern wichtige Mosaiksteinchen zusammengesetzt worden sind, die einen Prozess gemeinsamer politischer Ermächtigung in Gang gesetzt haben. Auch wenn diese Zusammensetzungen sich wieder auflösen, bleiben die Erfahrungen und das Wissen. Auch wenn heute wieder eine Bewegung ihre Kraft zu verlieren scheint, dann gilt es das nicht zu betrauern. Viel interessanter erscheint es mir, den Prozess der Konstituierung zu verstehen, der sich woanders fortsetzen und weitere Unterbrechungen sowie unvorhersehbare Brüche hervorbringen wird.


E-Mail: lorey@niatu.net


Anmerkungen

[1] Seit Beginn der 2000er Jahre finden in über 20 europäischen Städten am 1. Mai EuroMayDay-Paraden mit bis zu 150.000 TeilnehmerInnen statt, um am traditionellen Tag der Arbeit die Prekarisierung von Lebens- und Arbeitsverhältnissen zu problematisieren. Die AktivistInnen setzen sich aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Positionierungen zusammen. Die Paraden des transnationalen Netzwerks EuroMayDay sind allerdings nur ein Ereignis neben ganzjährlichen Veranstaltungen, Befragungen und Publikationen. Es geht bei EuroMayDay sowohl um neue Formen der Organisierung als auch um die Selbstverständigung über unterschiedliche Prekarisierungsweisen und kollektive Wissensproduktionen (siehe u.a. http://www.euromayday.org; sowie die Online-Zeitschriften: transversal: "Precariat" (2004), http://eipcp.net/transversal/0704 (31.08.2010); transversal: "Militante Untersuchung" (2006), http://eipcp.net/transversal/0406 (31.08.2010); mute magazine - culture and politics after the net (2005), http://metamute.org/en/Precarious-Reader (31.08.2010); Gerald Raunig: Tausend Maschinen. Eine kleine Philosophie der Maschine als sozialer Bewegung, Wien 2008.

[2] Vom 13. März bis 13. Juni 2004, siehe http://www.ateliereuropa.com (31.08.2010).

[3] Besonders einflussreich waren die Praktiken und Diskurse der Intermittents du Spectacle in Frankreich. Vgl. Global Project/Coordination des Intermittents et Précaires d'Ile de France: "Spektakel diesseits und jenseits des Staates. Soziale Rechte und Aneignung öffentlicher Räume: die Kämpfe der französischen Intermittents", übers. v. Michael Sander, in: transversal: "Precariat" (2004), http://eipcp.net/transversal/0704/intermittents/de; Antonella Corsani, Maurizio Lazzarato: Intermittents et Précaires, Paris 2008.

[4] Vgl. Precarias a la deriva: "Streifzüge durch die Kreisläufe feministischer prekärer Arbeit", übers. v. Therese Kaufmann, in: transversal: "Precariat" (2004), http://eipcp.net/transversal/0704/precarias1/de (31.08.2010).

[5] Vgl. Raunig: Tausend Maschinen, a.a.O.

[6] Organisiert von Marina Sorbello und Antje Weitzel, siehe http://klartext.uqbar-ev.de. Vgl. auch "Another Relationality (second part): On Poetry in Incurable Times", organisiert von Marcelo Expósito und Jorge Ribalta in Kooperation mit dem eipcp im MACBA in Barcelona (17./18. März 2006), http://marceloexposito.net/pdf/exposito_otrarelacionalidad_en.pdf; "WORK TO DO! Self-organisation in Precarious Working Conditions: An Exhibition Project in 3 Chapters", organisiert von Sønke Gau und Katharina Schlieben, Shedhalle Zürich (2007/2008). Im Kontext von Bildung siehe zum Beispiel Universidad Nómada in Spanien, http://www.universidadnomada.net/; "Radical Education Collective" in Ljubljana, http://radical.temp.si/; Chto Delat, http://www.chtodelat.org; Street University in Saint Petersburg,
http://www.streetuniver.narod.ru/index_e.htm; Free/Slow University of Warsaw, http://www.wuw2009.pl/wuw.php?lang=eng; Edu-Factory,
http://www.edu-factory.org/edu15/.

[7] Sieh Fußnote 1.

[8] Mitropoulos, Angela: "Precari-Us?", in: transversal: "Precariat" (2004),
http://eipcp.net/transversal/0704/mitropoulos/en (31.08.2010); Brett Neilson, Ned Rossiter: "Precarity as a Political Concept, or, Fordism as Exception", in: Theory, Culture & Society 7-8 (2008), S. 51-72.

[9] Maurizio Lazzarato: Le gouvernement des inégalités. Critique de l'insécurité néolibérale, Paris 2008.

[10] Vgl. auch Antonio Negri: "Logik und Theorie der Befragung. Die militante Praxis als Subjekt und als Episteme" [2003], übers. v. Klaus Neundlinger, in: transversal: "Militante Untersuchung" (2006), http://eipcp.net/transversal/0406/negri/de (31.08.2010)

[11] Vgl. Maurizio Lazzarato: "Immaterielle Arbeit. Gesellschaftliche Tätigkeiten unter den Bedingungen des Postfordismus", in: Toni Negri, Maurizio Lazzarato, Paolo Virno: Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion, hrsg. v. Thomas Atzert, Berlin 1998, S. 39-52; Michael Hardt, Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung, übers. v. Thomas Atzert, Frankfurt/M., New York 2002. Die Begriffe der immateriellen oder affektiven Arbeit wurden vor allem von feministischer Seite immer wieder kritisiert, weil sie Arbeit erneut aus der Perspektive kapitalistischer Akkumulation beschreiben und Nicht-Arbeit, care-Arbeit, die Produktion des Sozialen etc. nicht genug reflektieren (vgl. unter anderem das Heft zur Ausstellung Atelier Europa: Beilage der Drucksache. Zeitschrift des Kunstvereins München 4 (2004); Precarias a la deriva: "Streifzüge durch die Kreisläufe feministisch prekärer Arbeit", in: transversal, a.a.O.; Susanne Schultz: "Biopolitik und affektive Arbeit bei Hardt/Negri", in: Das Argument 248 (2002), S. 696-708; George Caffentzis, Silvia Federici: "Anmerkungen zur edu-factory und zum kognitiven Kapitalismus", übers. v. Klaus Neundlinger, in: transversal: "knowledge production and its discontents" (2009), http://eipcp.net/transversal/0809/caffentzisfederici/de (31.08.2010).

[12] Frassanito-Network: "Prekär, Prekarisierung, Prekariat. Bedeutungen, Fallen und Herausforderungen eines komplexen Begriffs, und was das mit Migration zu tun hat..." [2005],
http://www.labournet.de/diskussion/arbeit/realpolitik/prekaer/frassanito.html (31.08.2010)

[13] Vgl. Michael Hardt, Antonio Negri: Common Wealth. Das Ende des Eigentums [2009], übers. v. Thomas Atzert u. Andreas Wirthensohn, Frankfurt/M., New York 2010.

[14] Ebd.

[15] Zu Exodus und Konstituierung siehe Paolo Virno: "Virtuosität und Revolution" [1994], in: Paolo Virno: Exodus, übers. u. eingel. v. Klaus Neundlinger u. Gerald Raunig, Wien 2010; Isabell Lorey: "Versuch, das Plebejische zu denken. Exodus und Konstituierung als Kritik", in: transversal: "the art of critique" (2008), http://eipcp.net/transversal/0808/lorey/de); Isabell Lorey: "Konstituierende Kritik. Die Kunst, den Kategorien zu entgehen", in: Birgit Mennel, Stefan Nowotny, Gerald Raunig (Hg.): Kunst der Kritik, Wien 2010, S. 47-65; Isabell Lorey: Figuren des Immunen, Zürich, Berlin 2011 (im Erscheinen).

[16] "kpD" ist die Abkürzung für die feministische Forschungs- und Aktivistinnengruppe "kleines postfordistisches Drama". kpD sind Brigitta Kuster, Katja Reichard, Marion von Osten und die Autorin.

[17] Marta Malo de Molina: "Gemeinbegriffe, Teil 1: ArbeiterInnenbefragung und ArbeiterInnen-Mituntersuchung, Selbsterfahrung", übers. v. Birgit Mennel, in: transversal: "Militante Untersuchung" (2004), http://eipcp.net/transversal/0406/malo/de (31.08.2010)

[18] Ebd.

[19] Vgl. Antonio Negri, Michael Hardt: Die Arbeit des Dionysos. Materialistische Staatskritik in der Postmoderne [1994], übers. v. Thomas Atzert u. Sabine Grimm, Berlin 1997; Antonio Negri: Insurgencies. Constituent Power and the Modern State, übers. v. Maurizia Boscagli, Minneapolis, London 1999.

[20] kpD: "Prekarisierung von KulturproduzentInnen und das ausbleibende 'gute Leben'" [2005], in: transversal: "Militante Untersuchung" (2004), http://eipcp.net/transversal/0406/kpd/de (31.08.2010).

[21] Siehe auch Renate Lorenz und Brigitta Kuster: Sexuell arbeiten. Eine queere Perspektive auf Arbeit und prekäres Leben, Berlin 2007.

[22] Vgl. Hardt/Negri: Common Wealth, a.a.O.; Negri: "Logik und Theorie der Befragung", in: transversal, a.a.O.

[23] Siehe Anm. 18.

[24] Von dem lateinischen Wort constituo für 'zusammensetzen'.

[25] Judith Butler: Gefährdetes Leben. Politische Essays, übers. v. Karin Wördemann, Frankfurt/M. 2005; siehe auch Isabell Lorey: "Prekarisierung als Verunsicherung und Entsetzen. Immunisierung, Normalisierung und neue Furcht erregende Subjektivierungsweisen", in: Alexandra Manske, Katharina Pühl (Hg.): Prekarisierung zwischen Anomie und Normalisierung? Geschlechtertheoretische Bestimmungsversuche, Münster 2010, S. 48-81.

[26] Ich behalte hier die englischen Begrifflichkeiten aus zwei Gründen bei: Zum einen geht in der deutschen Übersetzung der Bezug zur Prekarisierungsdiskussion verloren, zum anderen gibt es für Butlers Begriff der precariousness in der deutschsprachigen Debatte noch keinen Begriff, der auf 'prekär' verweist. Butlers Verwendung des englischen Neologismus precarity, der seit einigen Jahren vor allem in den politisch-theoretischen und aktivistischen Diskursen zu Prekarisierung benutzt wird, entspricht auch meiner Verwendung von 'Prekarisierung' (siehe ausführlich Lorey: "Prekarisierung als Verunsicherung und Entsetzen", in: Prekarisierung zwischen Anomie und Normalisierung?, a.a.O.).

[27] Judith Butler: Frames of War. When is Life Grievable?, London, New York 2009, S. 1-32. Diese Überlegungen Butlers verweisen nicht nur auf die existentielle Bedeutung von reproduktiver Arbeit, precariousness unterstreicht auch die radikale Ersetzbarkeit jeden Lebens.

[28] Ebd., S. 19.

[29] Ebd., S. 23.

[30] Ebd., S. 25.

[31] Diese vielfältige Produktivität habe ich an anderer Stelle als "gouvernementale Prekarisierung" bezeichnet (Lorey: "Prekarisierung als Verunsicherung und Entsetzen", in: Prekarisierung zwischen Anomie und Normalisierung?, a.a.O.).

[32] Vgl. Butler: Frames of War, a.a.O., S. 28f.

Raute

Gerald Raunig

Etwas Mehr als das Commune
Dividuum und Condividualität

Welches Mit für die Vielen? Welche Form, welche "Mit-Förmigkeit" kann die Verkettung von Singularitäten annehmen? Wie kann eine solche Mit-Förmigkeit gedacht werden, ohne sie aus dem Einen herzuleiten oder zum Einen zu verschmelzen? Welche Begrifflichkeit ist adäquat für eine spezifische Form der Assoziierung, die auf das Teilen und die Teilung insistiert? Wie kann diese Verkettung sich den traurigen Figuren des Opfers, der Schuld und der Pflicht entziehen? Wie verketten sich schließlich die sozialen und die begrifflichen Singularitäten, ohne zum bloßen glättenden Gleitmittel für die Transformationen kapitalistischer Produktionsweisen zu verkommen?

Es gibt für diese Fragen, die in aktuellen post-operaistischen, post-marxistischen und post-strukturalistischen Forschungen eine zentrale Rolle spielen, sicherlich keine perfekte und metahistorische Lösung. Dennoch scheinen dies Begriffe wie jene im Umkreis der Begriffsfamilie des lateinischen communis oder des deutschen Gemeinschaft zu versprechen - und selbst in der Form einer "herausgeforderten", "uneingestehbaren", "entwerkten" oder "kommenden Gemeinschaft". Die Probleme der Begriffe um communitas/Gemeinschaft bestehen noch vor und jenseits ihres Anklangs an totalitäre Ur- und Volksgemeinschaften, und ebenso vor und jenseits der problematischen Dichotomie von Individuum und Gemeinschaft: Auf der einen Seite hängen sie unkritischen, identitären Formen der Zusammensetzung an, auf der anderen Seite bleiben sie dem Modus der Reduktion, der Subtraktion, der Minuierung verpflichtet. Und sogar dort, wo beide Aspekte dialektisch miteinander verbunden werden - wie etwa in den Arbeiten des italienischen Philosophen Roberto Esposito[1] - verharren sie diesseits der Kommunion. Die gesamte begriffliche Linie des Communen, die Gemeinschaft, das Gemeinsame, ja selbst der Kommunismus, insofern in seinem Namen Dogmatismen und Geständniszwang praktiziert wurden und werden, geraten dadurch in das Zwielicht einer doppelten Genealogie des Identitarismus und der Reduktion.

Wie können dagegen transversale Formen der Verkettung von Singularitäten gedacht und auf den Begriff gebracht werden, ohne die Singularitäten individuell zu stratifizieren und/oder zu totalisieren? Mein Vorschlag geht in die Richtung, nach Begrifflichkeiten zu suchen, die beide Komponenten als explizite Begriffskomponenten berücksichtigen: die Komponente des Singulären, der affirmativen Weise der Trennung und Teilung und die Komponente der Zusammensetzung, des Teilens, der Verkettung, des Mit.


Dilemmata der Gemeinschaft

In den letzten dreißig Jahren hat sich neben der umfangreichen Literatur zu Fragen der Gemeinschaft im Bereich der Kommunitarismus-Theorien auch eine Anzahl von AutorInnen aus dem linken Spektrum der politischen Philosophie für den Gemeinschaftsbegriff zu interessieren begonnen. In etwas verspäteter Rezeption wurden schließlich auch im deutschsprachigen Raum Bücher zunehmend wahrgenommen, deren Titel die Begriffe communauté, communità, communitas enthalten und diese Begrifflichkeit gern mit verschiedenen Adjektiven ausdifferenzieren. Jean-Luc Nancys (1983, 2001), Maurice Blanchots (1983) oder Giorgio Agambens (1990) Arbeiten über die entwerkte, die herausgeforderte, die uneingestehbare oder die kommende Gemeinschaft sind wahrscheinlich die bekanntesten Beispiele für diese Tendenz.

Hier gibt es ein ganzes Bündel von Dilemmata, das ich fürs erste mit den Worten von Jean-Luc Nancy umschreiben möchte, jenem französischen Philosophen, der mit der "entwerkten" und der "herausgeforderten Gemeinschaft" zwei kleine, aber prägende Texte für diesen Diskurs verfasst hat. Im zweiten, 2001 erschienenen Text schrieb Nancy, in kritischer Absetzung von seinem ersten Text von 1983 - und überhaupt in kritischer Absetzung von der Verwendung des Begriffs communauté, Gemeinschaft - einige Sätze, die deutlicher kaum sein konnten: "Tatsächlich zog ich es allmählich vor, es [das Wort 'Gemeinschaft'] durch die unschönen Ausdrücke des 'Zusammen-Seins', des 'Gemeinsam-Seins' und schließlich des 'Mit-Seins' zu ersetzen. [...] Von mehreren Seiten her sah ich von dem Gebrauch des Wortes 'Gemeinschaft' Gefahren ausgehen: Unweigerlich klingt es von Substanz und Innerlichkeit erfüllt, ja aufgebläht; recht unvermeidlich hat es eine christliche Referenz (geistige oder brüderliche, kommunielle Gemeinschaft) oder eine im weiteren Sinne religiöse (jüdische Gemeinschaft, Gemeinschaft des Gebets, Gemeinschaft der Gläubigen - 'umma); es wird zur Bekräftigung vorgeblicher 'Ethnizitäten' verwendet - all dies konnte nur Warnung sein. Es war klar, dass die Akzentuierung eines notwendigen, doch stets ungenügend geklärten Konzeptes zu jener Zeit zumindest einherging mit einem Wiederaufleben kommunitaristischer und zuweilen faschistoider Triebkräfte."[2] Soweit die klaren Worte der Abgrenzung eines derjenigen Autoren, die noch immer als Proponenten der Gemeinschaftsphilosophie missverstanden werden.

Sowohl in der antiken römischen Tradition und der Etymologie der communitas als auch in der christlichen Gemeinschaftstradition zwischen Kommunion und (Ur-)Gemeinde kehren zwei problematische Aspekte immer wieder. Der eine ist wohl bekannt und oft diskutiert worden, im Wesentlichen auch wiedergegeben in der zitierten Kritik Nancys: die Gemeinschaft als Begriff für einen identitären Modus der Schließung, des Schutzes und gleichzeitigen Ausschlusses, Grundlage und Boden auch für die heterosexuelle, patriarchale Geschlechterordnung.

Die andere, weniger beleuchtete Seite der communitas betrifft die Frage des verpflichtenden Bandes, das die Singularitäten an die Gemeinschaft bindet. Der lateinische Begriff communitas lässt sich aus dem Präfix con- für "mit", "zusammen", und dem Substantiv munus herleiten. munus bedeutet im Allgemeinen eine Gabe, ein Geschenk. Jedoch im römischen Gebrauch finden sich weniger Hinweise auf Gaben im Sinne eines auf Freiwilligkeit basierenden Austausches, sondern vielmehr auf die Verpflichtung zur Leistung von Abgaben. Diese "Steuerpflicht" konstituiert die Gemeinschaft, ebenso wie sie die Aufnahme der Einzelnen in die Gemeinschaft begründet. Isabell Lorey spricht daher in ihrer historischen, etymologischen und politisch-theoretischen Analyse von munus und communitas von einer "Logik der Ab-gabe", die im Übrigen auch im römischen Recht keineswegs auf Gleichheit beruhte.[3]

Schon aus historischer und etymologischer Perspektive lässt sich also sagen, dass der Minuierungsaspekt des Gemeinschaftsbegriffs eine essenzielle Komponente seiner Verwendung ist. Die Gemeinschaft kann in dieser Hinsicht nie als Surplus verstanden werden, als ein vermehrendes Teilen, als Zusammenschluss und zugleich Zugewinn. Es dreht sich vielmehr alles um eine Logik der Schuld und der Verpflichtung, des Ab-, manchmal auch des Sich-Aufgebens. Das munus ist ein Minus. Die Gemeinschaft impliziert ein Weniger-Werden, um Mehrere zu werden.[4]

Vor diesem Hintergrund zweier Problemlinien, die die gesamte Begriffsfamilie des Gemeinsamen durchziehen, möchte ich kurz die Dilemmata aktueller (linker) Gemeinschaftsdiskurse beleuchten.

1. Dilemma: Vagheit. Agambens Communità che viene (1990)[5], "die kommende Gemeinschaft" also, ist ein kleines Büchlein, das einigermaßen eklektisch Fragmente aus der Philosophiegeschichte heraus bricht und sich dabei äußerst wenig um die Gemeinschaft schert. Viel eher steht das Kommende im Zentrum, das, was im Begriff steht zu kommen, das was kommen soll. Das kommende Sein (9), die kommende Politik (79), eine kommende Welt (51). Gerade in Bezug auf letztere bezieht sich Agamben auf den Messianismus Walter Benjamins: "In der kommenden Welt", zitiert Agamben (51) Benjamin, wird "alles eingerichtet sein wie bei uns. Wie unsre Stube jetzt ist, so wird sie auch in der kommenden Welt sein; wo unser Kind jetzt schläft, da wird es auch in der kommenden Welt schlafen. Was wir in dieser Welt am Leibe tragen, das werden wir auch in der kommenden Welt anhaben. Alles wird sein wie hier - nur ein klein wenig anders." Das ist der Einsatz auch Agambens, wenn er vom Kommenden spricht, die kleine Differenz, das "Beliebige". Etwas unerwartet und aus dem philosophischen Duktus des Büchleins ausbrechend, beschreibt Agamben die kommende Politik auch als einen Kampf zwischen dem Staat und dem Nicht-Staat, genauer: als die "unüberwindbare Teilung in beliebige Singularitäten und staatliche Organisation" (79). Doch neben diesem Anspruch des messianisch-Kommenden als Überwindung des Staatsapparats von schützender Identität und verpflichtendem sozialen Band bleibt der Begriff der kommenden Gemeinschaft seltsam undeutlich und unbelegt. Das macht ihn auch offen für alle möglichen romantisch-affirmativen Interpretationen und verstärkt die Ausformung einer viel zu vagen Anrufung dessen, was kommt oder was kommen soll, ohne diesem Kommenden eine begrifflich klarere Ausprägung zu geben - übrigens ganz im Gegensatz zu den durchaus deutlichen rechten Versuchen, den Gemeinschaftsbegriff zu besetzen (ich komme darauf zurück).

2. Dilemma: Minus. Maurice Blanchot (Die uneingestehbare Gemeinschaft)[6] bringt 1983 im Dialog mit Jean-Luc Nancy eine kritische Reflexion der Arbeiten seines Freundes Georges Bataille über die Gemeinschaft in Gang. Ausgehend von Batailles durchaus auch problematischen Versuchen der Einsetzung von konkreten Gemeinschaften in den 1940ern beschreibt Blanchot das Problem der Gemeinschaft, die "in ihrer Kommunion" "aufgeht" (18), aber auch die Suche nach anti-identitären Formen der Verkettung von Singularitäten, nach jenem "Durcheinander, das die Zusammenstellung des Verschiedenen veranstaltet" (16). Er schreibt: "Einer befindet sich neben dem anderen, und dieses Nebeneinander, das alle Arten einer leeren Intimität durchdringt, bewahrt sie davor, die Komödie eines 'verschmelzenden und kommuniellen' Einverständnisses zu spielen." (86) Blanchot erkennt also die Notwendigkeit, anstelle der Aufhebung der Differenzen in eine höhere und universelle Einheit das paradoxe Band der Singularitäten in ihrer Unverbundenheit zu benennen, aber - und hier findet sich eine Resonanz der Figur des munus als Minus - er kann dieses Band nur als negatives verstehen. Deswegen ist in seinem Schreiben über Gemeinschaft so viel über Ungenügen, Unvollständigkeit, Unmöglichkeit, Abwesenheit, Undarstellbarkeit, Unzulänglichkeit, Uneingestehbarkeit die Rede. Es braucht die "Preisgabe", das "Opfer", das erst "die Gemeinschaft stiftet" (31). Hier zeigen sich allzu deutlich die Spuren der etymologischen Genealogie der communitas. Die Gemeinschaft des munus kann nur als Abgabe und Preisgabe, als Pflicht und Verpflichtung, als Schuld und Verschuldung verstanden werden. Diese Defizienz- und Minuierungsfiguren kulminieren explizit in Batailles und Blanchots zweifellos eleganter Formulierung der "negativen Gemeinschaft" als einer "Gemeinschaft derer, die keine Gemeinschaft haben" (47).

3. Dilemma: Appropriation. Nicht erst in Nancys später Selbstkritik, sondern schon in Blanchots Schreiben aus dem Jahr 1983 liegt eine implizite Warnung, eine Abgrenzung, eine Antwort auf die kritiklose Affirmation der Gemeinschaft. Diese Warnung, diese vorsichtige Haltung schützte Blanchot allerdings mitnichten vor der Vereinnahmung durch einen ganz anderen Gemeinschaftsbegriff, der wieder anknüpft an die faschistisch-totalitäre Figur der "Volksgemeinschaft". Es ist nicht ohne Ironie, dass gerade Blanchots Text Die uneingestehbare Gemeinschaft von einem konservativ-rechtsradikalen Denker der einst "Neuen Rechten" ins Deutsche übertragen wurde. Gerd Bergfleth, der Blanchots Text für den Berliner Verlag Matthes & Seitz übersetzt hat, ist einschlägig bekannt für antisemitische und rechts-nationale Rülpser. Solche explizit rechten Töne finden sich zwar nicht direkt in der Übersetzung von Blanchots Text, es wäre aber möglicherweise interessant, den deutschen Text in Bezug zu seiner französischen Vorlage sprachlich genauer zu untersuchen. Das, was allerdings in unserem Zusammenhang überdeutlich wird, ist die Vereinnahmung und Wendung Blanchots durch seinen Übersetzer in einem recht durchsichtigen Verfahren. Bergfleth schließt den ca. 90 Seiten des Blanchot-Textes nämlich einen ca. 70-seitigen Kommentar an, der zugleich Kritik und Entwendung darstellt. Entwendung insofern, als nicht nur der bekannte Text eines prominenten Autors als Podium für eine neuerlich deutlich rechte Konnotierung des Gemeinschaftsbegriffs missbraucht wird, sondern indem die persönliche und theoretische Beziehung zwischen Blanchot und Bataille in ein raunendes Amalgam von "einsamer Gemeinsamkeit" und "erhabener Idee der Todesleidenschaft" verwandelt wird. Kritik insofern, als Bergfleth Blanchots Gemeinschaftsbegriff nur als "Karikatur von Gemeinschaft" fassen kann und zu einer allgemeinen Polemik gegen die Dekonstruktion ansetzt. Das klingt bei Bergfleth so: "Man nehme dem Gemeinschaftswerk jeden Sinn und Zweck und operiere so lange, bis der Patient seinen Geist aufgegeben hat." (172) In gewisser Weise hat dieses Zitat den Vorzug der Deutlichkeit. In der Tat ist das Aufgeben jedweden "Gemeinschaftswerks" durchaus ein Effekt der linken Gemeinschaftsdebatten, allerdings kein beklagens-, sondern ein begrüßenswerter.


Gilbert de la Porrée und die Erfindung des Dividuums

Mit meiner ersten Ausgangsfrage habe ich einen besonderen Anklang gewählt. "Welches Mit für die Vielen?" variiert eine theologisch-philosophische Debatte, die seit der Antike relevant und vor allem in den scholastischen Diskursen des Mittelalters zentral geworden ist. Die Frage nach der Form des "Mit für die Vielen" spielt nicht nur auf das con- in communitas an, und auch nicht nur auf die Aufnahme des Heidegger'schen "Mit-Seins" durch Jean-Luc Nancy, sondern vor allem auf die alte Frage des Verhältnisses zwischen dem Einen und dem/n Vielen. Natürlich besteht eine Differenz zwischen der Frage nach dem Einen für die Vielen und jener nach dem Mit. Die Alternative, ob das Viele sich aus dem Einen entfaltet, vervielfältigt oder umgekehrt nach dem Motto e pluribus unum das Eine anstrebt, lässt sich zwar scheinbar auch mit dem Mit und den Vielen durchspielen, ist aber - wie sich implizit im Folgenden zeigen wird - einer grundsätzlicheren Kritik zu unterziehen. Um diese Differenz klarer herauszuarbeiten und schließlich zu einer neuen Begrifflichkeit des "Mit für die Vielen" zu gelangen, wird es im Folgenden unerlässlich sein, eine längere Schleife zu ziehen, die uns vor allem in theologisch-philosophische Debatten des Hochmittelalters eintauchen lässt.

Bei einem sehr frühen Exponenten der mittelalterlichen Diskussion um das Eine und das Viele findet sich eine Begriffserfindung, die für die Konzeptualisierung meines Textes ausschlaggebend ist. Diese Begriffserfindung, die über Jahrhunderte bis heute unterschätzt und nahezu unentdeckt geblieben ist, verdankt sich einem ebenso unterschätzten Außenseiter der theologischen Diskurse der frühen Scholastik. Gilbert de la Porrée (Gilbertus Porretanus, ca. 1080-1155), Bischof von Poitiers, war Theologe, Logiker und Sprachtheoretiker in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts.[7] Er entwickelte eine spezifische Terminologie, die sich an der Aristotelischen Kategorienlehre orientierte, im Transfer der griechischen Philosophie in die früh-scholastische Theologie allerdings konzeptuelle Originalität gewann. Gilberts "Lehre" breitete sich durch den Einfluss seiner "Schüler" um die Mitte des 12. Jahrhunderts zu einer kleinen Geografie der Nachwirkung aus; wie die meisten Theologen der Frühscholastik gerieten Gilbert und sein Werk allerdings durch die Dominanz Thomas' von Aquin und des hochscholastischen Schrifttums in Vergessenheit.[8]

Es waren allerdings auch theologische und kircheninterne Konflikte, die Gilbert ebenso Zeit seines Lebens zu Schaffen machten, wie sie seine Nachwirkung behinderten. Auf Betreiben von Bernard de Clairvaux wurde er vor dem päpstlichen Konsistorium von Paris 1147 und einem weiteren Konsistorium nach der Synode von Reims 1148 der Häresie angeklagt. Er kam aber - anders etwa als sein Zeitgenosse Abaelard, der auf Anklage Bernards 1141 mit Klosterhaft und lebenslangem Schweigen bestraft worden war - zu Lebzeiten ohne Verurteilung davon.

Wahrscheinlich lag ein wesentlicher Grund für diese Nichtverurteilung in einer mehrfachen Vorsicht Gilberts. Zunächst war Gilberts Sprache selbst für Gelehrte seiner Zeit schwer verständlich, vor allem durch den für seine Zeitgenossen ungewohnten, strikt logischen Duktus seiner Arbeiten. Dazu kommt, dass Gilbert auch keine explizit eigenständigen Schriften verfasste. Er wirkte vor allem in mündlicher Form durch Predigten und Vorträge. In schriftlicher Form bediente er sich des oberflächlich besehen servilen und marginalen Genres des Kommentars, und zwar als Kommentator des spätantiken Neuplatonikers und Aristoteles-Übersetzers Boethius aus dem frühen 6. Jahrhundert. Das Genre des Kommentars erlaubte es Gilbert, die Autorität des von ihm erörterten Kirchenvaters zu nutzen, zugleich daraus seine eigene Theorie zu entwickeln und dabei weit über die seinem Kommentar zugrunde liegenden Texte hinaus zu gehen.

Wenn es am Beginn des 12. Jahrhunderts um scheinbar rein theologische Fragen wie etwa die Einheit der Dreifaltigkeit oder die Christologie ging, dann waren das immer auch sehr konkrete Fragen der Legitimierung und Infragestellung von Herrschaftsverhältnissen. Genau diese gefährlichen Grenzgebiete sind auch die Operationsräume der theoretischen Arbeit Gilberts. Seine Differenzierung von Singularität, Individuum und Person ist nur zu verstehen vor dem Hintergrund der frühscholastischen Auseinandersetzungen über den Personenbegriff in der Trinität und vor den Fallstricken der diesbezüglichen Diskurse. Dieses Wahrheitsspiel umfasste fein ziselierte Formulierungen, die die Abgründe des "Dualismus" und des "Pantheismus" vermeiden sollten, die aktive Abgrenzung von ketzerischen Genealogien sowie die feine Kategorisierung häretischer Täuschungen.

Bevor ich zur zentralen Begrifflichkeit für unsere Frage des Mit für die Vielen vorstoße, muss ich im Folgenden einige Besonderheiten des Gilbertschen Wortschatzes und seines frühscholastischen Kontextes verständlich machen. Um seine theoretischen Positionen zu verstehen, ist zunächst eine grundsätzliche Entscheidung Gilberts zu betonen, nämlich die scharfe Trennung der Bereiche zweier Seinsformen, denen er unterschiedliche Betrachtungsweisen zuordnete: der methodischen Unterscheidung von theologicae rationes und naturalium rationes entspricht ein göttliches Sein und ein natürliches Sein. Gott und die Welt sozusagen. Die Betrachtungen der göttlichen Sphäre und der Natur sind nach Gilbert völlig unabhängig voneinander und lassen sich auch in keiner Weise durch Analogien verbinden. Die beiden rationes zu vermischen, zum Kommunizieren zu bringen, sei eine häretische Täuschung.

Auf der Basis dieser scharfen Trennung ist für Gilbert eine weitere Unterscheidung bedeutsam, nämlich die zwischen quo est, "wodurch etwas ist", und quod est, "was etwas ist". Diese Unterscheidung gilt im göttlichen wie im natürlichen Bereich, hat allerdings in den beiden Bereichen verschiedene Begriffe zur Folge. Für die naturalium rationes verwendet Gilbert eine in dieser Bedeutung neu eingesetzte Begrifflichkeit: das quo est benennt er als Subsistenz (subsistentia)[9], das quod est als Subsistierendes (subsistens). Im Gegensatz zum in der Theologie geläufigeren Paar von Substanz und Akzidentien ist das Verhältnis von Subsistenz und Subsistierendem nicht hierarchisch gerastert, sondern eine wechselseitige Austauschbeziehung. Das Subsistierende entfaltet sich nicht erst aus der Subsistenz, es ist ko-emergent. Es entsteht also weder durch Konkretion aus etwas Abstrakten, noch als Vervielfältigung aus einem Einen. Das Subsistierende ist zwar nur "durch etwas", es ist aber zugleich singulär, und "seine" Subsistenz (das, wodurch es ist) ist ebenfalls singulär. Jedes Subsistierende hat seine singuläre Subsistenz.

In den theologicae rationes stößt Gilbert allerdings auf erhebliche sprachliche wie auch auf theologische Schwierigkeiten. Das quo est heißt hier Essenz (essentia), für das quod est gebraucht Gilbert nur einmal die zu den Begriffen des natürlichen Bereichs analoge Begriffsbildung essens. Zumeist weicht Gilbert auf eine andere Begriffslinie aus und bezeichnet das quo est der göttlichen Essenz als divinitas (Gottheit), das quod est der Dreifaltigkeit als drei - numerisch unterschiedene - Personen des einen deus. Das quo est bleibt hier also absolute Einheit, während das quod est eine außergewöhnliche, nämlich göttliche Form der Vielheit annimmt. Gilbert experimentiert hier auf heiklem Boden: Die Differenzierung zwischen göttlicher Essenz und Gott allein ist genügend Anlass für Verdächtigungen, denn die göttliche Essenz muss als einzige, einfache, einzigartige Einheit gedacht werden, als unum, simplex, singulare. Die Vielheit gehört nach gängiger Interpretation in den natürlichen und kreatürlichen Bereich. Woran Gott und die Welt sich scheiden, ist der Gegensatz zwischen Einheit und Vielheit.

Noch verdächtiger dürfte den um Bernard de Clairvaux agierenden Wächtern des Dogmas (vor allem der augustinischen Linie der Trinitätsinterpretation) die grundsätzliche Trennung von göttlichem und natürlichem Bereich gewesen sein. Es kann für Gilbert keine Begegnung, keine Vermittlung zwischen den beiden Bereichen geben. Er denkt Trennung und Gegensatz zwar dialektisch und versucht an einigen Stellen - etwa in seiner Schöpfungslehre - exemplarische Ableitungen zu entwickeln und damit nicht dem Urteil des Dualismus zu verfallen. Dennoch bleibt die scharfe Betonung des Gegensatzes, der Unterschiedenheit der Seinsbereiche augenfällig. Da die beiden Bereiche auf keine Weise vermittelt sind, kann die Vielheit nicht aus der Einheit hervorgehen, sich entfalten, es kann auch keine Korrelation oder Analogie zwischen den beiden Bereichen geben.

Die radikale Vielheit von singulären Subsistenzen und Subsistierenden ist in sich selbst begründet, sie braucht keine göttliche Essenz. Gilberts Welt braucht weder Gott noch Dreifaltigkeit. Was für Bernard de Clairvaux ausreichendes Verdachtsmoment für eine Anklage war, gibt uns die Gelegenheit, den Bereich des Natürlichen streng immanent zu denken, Vielheit ohne die Last der Einheit, ohne Gott und auch ohne Dreifaltigkeit.

Die philosophiegeschichtlich folgenreichste Erfindung Gilberts war die Differenzierung von Singularität, Individualität und Personalität.[10] In der Entwicklung der Trinitätslehre war ein Dreischritt notwendig, der von Augustinus über Boethius zu Gilbert führt und sehr unterschiedliche Effekte auch auf die Anschauung des außer-theologischen natürlichen Bereichs hatte. Bei Augustinus steht noch der Begriff der Personalität, die drei personae der göttlichen Essenz, allein im Zentrum. Konsequenzen der Trinitätslehre für den natürlichen Bereich zieht Augustinus über die Analogie von Gott und Mensch und wirkt damit in anthropologische und psychologische Bereiche hinein. Bei Boethius kommt die Individualität mit ins Spiel, die Begriffe des Singulären und des Individuellen werden jedoch noch deckungsgleich verwendet. Erst in Gilberts Kommentaren zu Boethius bekommt der Begriff der Singularität einen anderen und weiteren Anwendungsbereich als jener der Individualität. In der vollen Ausdifferenzierung der drei Begriffe wird mit Gilbert Singularität jener begriffliche Ausgangspunkt, der das Einzelne in seiner weitesten Extension beschreibt. Gilbert schreibt in seinem Boethius-Kommentar:

"Wir wollen unterscheiden ...: Eine Eigenheit von etwas wird aus je anderer Betrachtungsweise 'singulär', 'individuell' oder 'persönlich' genannt. Denn zwar ist jedes Individuum singulär, und jede Person ist singulär und individuell, aber nicht jede Singularität ist ein Individuum, und nicht jede Singularität oder jedes Individuum ist eine Person." [11]

Mit dieser Differenzierung entsteht eine Unterscheidung entlang verschiedener Extensionen: Die kleinste Ausdehnung kommt der Personalität zu, die mittlere der Individualität, die größte der Singularität. Auch diese Differenzierung der Extensionen entspricht allerdings nicht unbedingt einer Hierarchisierung, und auch keineswegs einer Beziehung der Vereinheitlichung oder der Entfaltung des Einen aus dem Anderen. Es geht hier um eine Unterscheidung auf der Ebene der begrifflichen Ausdehnung: Das Individuum umfasst einen weiteren Bereich als die Person; die Singularität umfasst ihrerseits die Individualität und die Personalität, und mehr als das.

Eine interessante Voraussetzung für Gilberts Denken ist, dass keiner der drei Begriffe sich allein auf den Menschen beziehen muss. Gilbert folgt in seiner streng logischen Methode nicht der äußerst wirkungsmächtigen Engführung bei Boethius, wonach eine Person die unteilbare Substanz nur von verständiger Natur (natura rationabilis) sei, was auf Gott, auf Menschen und allenfalls noch auf Engel zutrifft. Gilbert grenzt mit seinem Begriff der persona weder die Menschen als Vernunftwesen von den Tieren oder den Dingen ab, noch differenziert der Begriff - wie in der antiken Bedeutung - die Menschen untereinander, in solche, die als Personen sui iuris sind, und andere (wie Frauen, Kinder, Sklaven, die nach patriarchalem römischem Recht auch dem Bereich der Dinge zugeordnet werden konnten). Ohne dieser spezifischen Linie des Ausschlusses zu folgen, ist Gilberts Personenbegriff dennoch in seiner Extension kleiner als jene der Individualität und der Singularität. persona ist bei Gilbert ganz allgemein der Name eines Teils von jenen Subsistierenden, die Individuen sind. Diese Linie der Personalität, so wichtig sie im göttlichen Bereich für die Erklärung der Dreifaltigkeit ist, verfolgt Gilbert im natürlichen Bereich nicht weiter; er konzentriert sich auf die Ausdifferenzierung der zwei weiteren Extensionen, die Individualität und die Singularität.

Die Individualität ordnet vertikal alle in oder am Einzelding befindlichen Subsistenzen zu einer Ganzheit an. Dieser "individuelle" Ordnungsmodus der Singularität hat seine Spezifik darin, alle singulären Subsistenzen eines Dinges nach genau der Formation zu vereinigen, in der es sich konkretisiert. Zugleich kappt die Individualität die Verbindung mit anderen konformen Singularitäten in anderen Dingen. Die maßgeblichen Komponenten der Individualität sind also der Ausschluss von Konformität, die Abkappung der Verbindung, damit das Unähnlich-Werden, schließlich die Ganzheit.

Es gibt aber auch einen anderen Ordnungsmodus der Singularität, einen horizontalen Modus, der die singulären Elemente horizontal sammelt, und ohne Rücksicht zu nehmen auf ihre Zugehörigkeit zu einer individuellen Formation. Diese Form der Sammlung ist keine Vereinigung, sie geht quer durch die Bereiche der einzelnen Dinge und sammelt alle nach ihrer Konformität zusammengehörigen Subsistenzen. Für diesen zweiten, horizontalen oder transversalen Modus findet sich schließlich auch ein Begriff, dem - wie mir scheint - ein erstaunliches Potenzial für die Weiterentwicklung unserer Frage nach der Verkettung der Singularitäten innewohnt. Nicht die Gemeinschaft, die Gesellschaft oder ein anderer Kollektiv-Begriff werden hier dem Individuum gegenübergesetzt, sondern - sprachlich eigentlich ganz nahe liegend - das Dividuum.

Mit dem Dividuum und der Dividualität wird eine nicht-individuelle Singularität beschrieben, die gerade nicht durch die Eigenschaften der Individualität, also totale Ganzheit und Unähnlichkeit, ausgezeichnet ist. Das lateinische Wort dividuum erscheint in den Bedeutungen "geteilt, getrennt, zerstreut" und "trennbar, teilbar" durch die römische Antike hindurch immer wieder, von Plautus über Cicero bis Horaz, allerdings nur als selten gebrauchter und schwacher Begriff. Ähnlich verhält es sich auch mit der Verwendung des Begriffs in Spätantike und Mittelalter, sodass die begrifflich prägnante "Erfindung" des Dividuums durchaus Gilbert zugeordnet werden kann. An der diesbezüglich zentralen Stelle schreibt Gilbert:

"Im Bereich der natürlichen Betrachtungsweisen ist, was immer ist, durch etwas anderes, als was es selbst ist. Und weil das, wodurch etwas ist [die Subsistenz], singulär ist, ist auch das, was dadurch etwas ist [das Subsistierende], singulär. Numerisch Mehrere können ebenso wenig, wie sie durch ein Singuläres sein können, etwas Eines sein ohne Zahl. Oft aber sind numerisch verschiedene Singularitäten gemäß ihrer Subsistenzen konform. Daher sind nicht nur die Subsistierenden, sondern auch die konformen Subsistenzen unum dividuum. Und daher ist keine konforme Subsistenz ein Individuum. Wenn das Dividuum Ähnlichkeit ausmacht, folgt daraus, dass das Individuum Unähnlichkeit ausmacht."[12]

Diese nicht ganz einfachen Sätze beinhalten eine ganze Lehre vom Dividuum in nuce. Als erstes lässt sich festhalten: Auch wenn das Individuum unseren Ausgangspunkt für Überlegungen über das Dividuum darstellte, steht das Dividuum logisch und ontologisch vor dem Individuum. Die Singularitäten sind an erster Stelle dividuell, das Individuum entwickelt sich als besondere, vertikale und Ganzheit erzeugende Differenzierung der Singularität. Insofern ist das Dividuum, wenn schon nicht chronologisch, so zumindest sprachlich und logisch als prä-individuell zu verstehen. Wahrscheinlich ist es also sinnvoller, unseren Weg von der Person über das Individuum zur Singularität umzukehren und das Dividuum auf der Ebene der weitesten Extension als in gewisser Weise parallel zum Begriff der Singularität zu verstehen.


Was sind die Begriffskomponenten des Dividuums?

1. Getrenntheit. Dividualität bedeutet zunächst im Wortsinn "Getrenntheit", "Geteiltsein" oder "Trennbarkeit" und "Teilbarkeit". Doch schon in diesem engeren Sinn des Wortes liegt auch eine Konnotation der "Zerstreutheit" und der "Zerstreuung". Das impliziert eine Ausdehnung, eine Bewegung, eine nomadische Verteilung, die sich durch verschiedene Einzeldinge hindurch bewegt. Diese Form der Zerstreuung, Ausdehnung und Verteilung soll nun nicht als Verallgemeinerung verstanden werden. Dividualität ist etwas, das weder individuell noch persönlich ist, und dennoch auch keine Universalie und kein Grund. Das Dividuum steht nicht einseitig als Allgemeines dem Individuum gegenüber, es ist eine jener Begrifflichkeiten Gilberts, welche die Dichotomie von Individuellem und Allgemeinem durchbrechen, eine neue Dimension einführen, in der das, was etwas ist, und das, wodurch es ist, ins Verhältnis gesetzt werden.

2. Ähnlichkeit. Wenn das Dividuum aber durch Getrenntheit bestimmt ist, wie kann man sich die nicht-universelle, transversale Funktion der Dividualität vorstellen? In einer spezifischen Form der Korrelation dieser scheinbaren Gegensätze, Getrenntheit und Transversalität, und im Verhältnis von Ähnlichkeiten und Konformitäten.[13] Das Individuum ist ein Ganzes, ein Eines, ein nicht beliebig Zusammengesetztes. Es ist etwas Eigenes, es hat - wie Gilbert betont - die Eigenschaft der dissimilitudo, es weist keine Ähnlichkeit auf. Dagegen ist das, was das Dividuum buchstäblich ausmacht, seine zweite Begriffskomponente: die Ähnlichkeit (similitudo). Während Individualität mit der Unähnlichkeit das je Anders-Sein betont, die Abgrenzung von allem anderen, ist die dividuelle Singularität immer je eine unter anderen. Das Dividuum hat also eine Komponente oder mehrere Komponenten, die es als Teilbares konstituieren und zugleich mit anderen, in ihren Komponenten ähnlichen Dividuen verbinden. Es geht hier um Ähnlichkeiten, nicht Identitäten, und zwar in Bezug auf nur einige Komponenten.

3. Mit-Förmigkeit. Wie das Gilbert-Zitat beschreibt, teilen Singuläritäten (als numerisch Verschiedene) ihre Formen mit anderen Singularitäten, sie werden damit erst dividuell. unum dividuum ist nun beides, Subsistenz und Subsistierendes: das, was ist, und das, wodurch dieses Subsistierende nicht nur etwas, sondern auch "konform" ist. Konformität ist nicht im heutigen Sprachgebrauch als moralischer Begriff der Angepasstheit zu verstehen, sondern als Mit-Förmigkeit, als Tatsache, dass sowohl Subsistenzen als auch Subsistierende ihre Form mit anderen teilen. Tendiert der Begriff der Individualität zur Konstruktion der Abgeschlossenheit des Selbst und der Anderen, betont die dividuelle Singularität die Pluralität und die Mit-Förmigkeit alles Seienden, damit auch die Offenheit für Verkehr und Verkettung. Das dividuum durchläuft verschiedene Einzeldinge oder -wesen nach ihren ähnlichen Eigenschaften. conformitas, Konformität impliziert nicht Gleichheit, totale Gleichförmigkeit oder Anpassung, sondern eher die spezifische Übereinstimmung in der Form, das Teilen von formalen Komponenten. Diese Mit-Förmigkeit, die zugleich Viel-Förmigkeit ist, konstituiert das Teilbare als unum dividuum.


Condivision, Condividualität, Condividuen

Das Dividuelle meint also die spezifische Form des singulär Vielen als Teilbares und Ähnlich/Mit-Förmiges. Damit sind wir der Frage nach dem Mit für die Vielen zwar etwas näher gerückt, aber noch nicht nahe genug. Um es in (post-)marxistischer Art auszudrücken: Wir befinden uns noch immer am Terrain der "technischen Zusammensetzung" der Multitude. Das Dividuelle bezeichnet einen Aspekt der sozialen Realität. Dieser Aspekt ist nicht als metahistorische Konstante zu verstehen. Vielleicht gibt es aber Anzeichen dafür, dass der in der Frühscholastik entwickelte Begriff heute in postfordistischen Produktionsweisen bestimmend wird für die technische Zusammensetzung, als durchaus ambivalentes Dividuell-Werden der sozialen Beziehungen.[14] Es ist eine Sache der Situativität, welche Perspektive man auf die gefährlichen Wucherungen des Dividuellen einnimmt - ob man den Begriff des Dividuellen einsetzt als Beschreibung der neuesten kapitalistischen Transformationen oder als Komponente sozialer Kämpfe, die - je nach politischen und theoretischen Vorlieben - den kapitalistischen Produktionsweisen vorausgehen oder sich mit ihnen im Handgemenge herumschlagen.

Gerade in diesem ambivalenten Hoch des Dividualismus zwischen neuen Formen der maschinischen (Selbst-)Unterwerfung und dem Suchen nach neuen Waffen erscheint die Frage nach einer offensiven Verkettung und ihren Begrifflichkeiten umso dringlicher. Während die Komponente von Vielheit und Singularität durch das Dividuelle ausreichend beschrieben sein mag, fehlt trotz dem Aspekt der Mit-Förmigkeit noch etwas auf der Seite des "Mit", der Verkettung, der politischen Artikulation und Organisation, der "politischen Zusammensetzung" der Multitude.[15] Erst wenn das Mit hinzutritt, entsteht ein Begriff für eine Verkettung von Singularitäten, die ihren Austausch, ihren Bezug aufeinander, ihren Verkehr miteinander nicht nur benennt, sondern auch betreibt. Das Wort dafür, das ich im Deutschen als Neologismus vorschlage, ist die Con-division. In der Condivision deutet die dividuelle Komponente, die Teilung nicht auf eine Abgabe, eine Reduktion, ein Opfer, sondern auf die Möglichkeit einer Addition, eines Plus. Es muss nicht erst eine Gemeinschaft entstehen, um die Neuzusammensetzung von vorher getrennten Individuen zu erreichen: Die Verkettung und die Dividualität der Singularitäten sind co-emergent, als Condividualität von Condividuen.


Dieser Text beruht auf Skizzen für ein Buch zum Dividuum und zur Condividualität, das Ende 2011 erscheinen soll. Für wesentliche Hinweise und Diskussion danke ich Nikolaus Linder und Isabell Lorey.

E-Mail: raunig@eipcp.net


Anmerkungen

[1] Vgl. vor allem Roberto Esposito, Communitas, Zürich/Berlin: Diaphanes 2004

[2] Jean-Luc Nancy, Die herausgeforderte Gemeinschaft, Zürich/Berlin: Diaphanes 2007, 30 f.

[3] Vgl. die ausführlichen Erörterungen in Isabell Lorey, Figuren des Immunen, Zürich/Berlin: Diaphanes 2011 (im Erscheinen).

[4] Als Antwort auf dieses Problem des munus als Minus könnte man - gleichsam gegen die etymologische Linie auch des common, des Gemeinsamen - Michael Hardts und Antonio Negris Ansätze in Common Wealth (Frankfurt/New York: Campus 2010) verstehen. Wie die beiden Autoren in der Einleitung schreiben, ist das Gemeinsame einerseits "der Name für den gemeinsamen Reichtum der materiellen Welt - die Luft, das Wasser, die Früchte der Erde und die Schätze der Natur -, also für etwas, von dem in klassischen politischen Texten der europäischen Tradition häufig gesagt wird, es gehöre zum Erbe der gesamten Menschheit" (9 f.). Andererseits, und diesen Aspekt betonen Negri und Hardt, umspannt das Gemeinsame auch "all jene Ergebnisse gesellschaftlicher Produktion, die für die soziale Interaktion ebenso wie für die weitergehende (Re-)Produktion erforderlich sind, also Wissensformen, Sprachen, Codes, Information, Affekte und so weiter" (10). In dieser zweiten Sicht meint das Gemeinsame also die Praxen der Interaktion, der (Für-)Sorge, des Zusammenlebens in einer gemeinsamen Welt, Praxen also, welche die Menschheit nicht als getrennt von der Natur verstehen lassen, weder in der Logik der Ausbeutung noch in jener des Schutzes. Und hier findet auch eine begriffliche Anknüpfung an die Linie der commons ihren Platz, welche das Teilen des Gemeinsamen nicht als Weniger-Werden, sondern als Exzess verstehen lässt. Begrifflich bleibt meine Skepsis allerdings auch in diesem Fall aufrecht: Auch im Gemeinsamen, im common, fehlt - wie in der gesamten Begriffsfamilie der communitas - der Aspekt der Vielheit, der Trennung und der Singularitäten. Es braucht begrifflich die Zusammenstellung und den Zusammenhang zwischen common und Multitude, um das Teilen und die Teilung auszudrücken, um die identitäre und reduktive Wendung des Communen zu subvertieren.

[5] Deutsch erschienen als Die kommende Gemeinschaft, Berlin: Merve 2003. Die im Text angeführten Seitenzahlen beziehen sich auf diese Ausgabe.

[6] Maurice Blanchot, Die uneingestehbare Gemeinschaft, Berlin: Mattes & Seitz 2007. Die im Text angeführten Seitenzahlen beziehen sich auf diese Ausgabe.

[7] Für die Bio-Bibliografie Gilberts vgl. Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie 1, 775; Lexikon des Mittelalters IV, 1449 f. Für eine ausführlichere Einführung in Gilberts Texte und Kontexte vgl. Lauge Olaf Nielsen, Theology and Philosophy in the Twelfth Century: A Study of Gilbert Porreta's Thinking and the Theological Expositions of the Doctrine of the Incarnation during the Period 1130-1180, Leiden: Brill 1982, vor allem 25 ff. Für die genauere Interpretation der Boethius-Kommentare Gilberts vgl. Martin Schmidt, Gottheit und Trinität, Basel: Verlag für Recht und Gesellschaft 1956.

[8] Seine kontroverse kirchenpolitische Position sowie seine komplexe, manchmal etwas dunkle Argumentation trugen Gilbert einen etwas anrüchigen Ruf ein, der bis ins 19. Jahrhundert (und darüber hinaus) vorherrscht: Die Allgemeine Geschichte der christlichen Religion und Kirche von August Neander führt ihn noch 1845 als einen "Mann von unklarer, verworrener, abstruser Darstellungsweise" (August Neander, Allgemeine Geschichte der christlichen Religion und Kirche, Band 10, Gotha: Perthes 1845, 899).

[9] Der Begriff der Subsistenz (spätlateinisch für "etwas, das Bestand hat") ist grundsätzlich derselbe wie etwa in "Subsistenzwirtschaft": etwas, das selbständig durch sich und für sich ist.

[10] Vgl. Dieter Teichert, Personen und Identitäten, Berlin / NewYork: Gruyter 2000, vor allem 117-119.

[11] DTrin I,5,22: distinguamus: scilicet quod alicuius proprietas alia ratione 'singularis', alia 'individua', alia 'personalis' vocatur. Quamvis enim quicquid est individuum, est singulare - et quicquid est persona, est singulare et individuum - non tamen omne singulare est individuum. Nec omne singulare vel individuum est persona.

[12] DTrin I,5,23-24: In naturalibus enim quicquid est, alio, quam ipsum sit, aliquid est. Et quoniam id, quo est aliquid, singulare est, id quoque, quod eo est aliquid, singulare est. Nam plura numero sicut uno singulari non sunt aliquid ita unum aliquid sine numero esse non possunt. Itaque singularitate eius, quo est, singulare est etiam id quod eo aliquid est. Sepe autem diversa numero singularia secundum aliqua eorum, quibus sunt, conformia sunt. Ideoque non modo illa, que sunt, verum etiam illa, quibus conformia sunt, unum dividuum sunt. Ac per hoc neutrum illorum, quibus conformia sunt illa que sunt, individuum est. Si enim dividuum facit similitudo, consequens est, ut individuum faciat dissimilitudo.

[13] Vgl. dazu auch DTrin I,1,12 zur gegenseitigen Bedingtheit von Verschiedenheit und Konformität.

[14] Vgl. als einen vorsichtigen Versuch in diese Richtung die ersten Seiten meines Textes "Das dividuelle Begehren",
http://www.skor.nl/artefact-4826-nl.html.

[15] In Hardt und Negris Common Wealth (vgl. Fussnote 4) soll der Begriff des Gemeinsamen auch dafür einstehen. Natürlich nicht einfach nur als eine Seite des Dualismus von naturhafter Entwicklung der Multitude und voluntaristischem Leninismus, wie manche KritikerInnen Negri/Hardt fälschlich unterstellen. Im Laufe des gesamten Buches lässt sich neben den geläufigen und in der Einleitung angeführten beiden Grundaspekten des Gemeinsamen noch ein dritter Aspekt erkennen, der genau unsere Frage der Verkettung der singulären Ströme thematisiert: das Gemeinsame als Selbstorganisation der sozialen Beziehungen (189 f.). Mit Selbstorganisation ist hier keineswegs eine einfache empirische Tatsache oder gar ein naturhafter Automatismus gemeint, sondern das politische Projekt der Instituierung des Gemeinsamen. Diese Instituierung des Gemeinsamen impliziert einerseits, dass das Gemeinsame nicht als ein Gemeinsam-Sein verstanden werden kann, sondern nur als ein Gemeinsam-Werden, als Produktion des Gemeinsamen. Und sie impliziert auch, dass das Gemeinsame und die Singularitäten ko-emergent sind, nicht nur kompatibel, sondern einander konstituierend.

Raute

Karl Reitter

Produktivität als Autonomie?

Zum Abschluss der Trilogie Empire, Multitude, Commonwealth von Antonio Negri und Michael Hardt

Dieser kleine Text stellt selbstverständlich keine umfassende Analyse und Einschätzung der im Jahre 2000 mit Empire begonnen und nun mit Commonwealth abgeschlossenen Trilogie dar. Ob ein derartiges Unterfangen angesichts der oftmals unscharfen und schillernden Begriffsbildung und Begriffsverwendung durch die beiden Autoren überhaupt sinnvoll möglich ist, sei dahingestellt. Ich begnüge mich mit der Diskussion einiger problematischer Aspekte. Mein Hauptkritikpunkt steht bereits im Titel. Hardt und Negri behaupten, in der aktuellen Phase des Kapitalismus müsse der Multitude (Menge) unabdingbar Autonomie und Selbstbestimmung zugestanden werden. Ich zitiere typische Passagen. Schon zu Beginn von Commonwealth wird behauptet: "In den nunmehr vorherrschenden Formen der Produktion, die unter anderem Information, Codes, Wissen, Bilder und Affekte einbeziehen, bedürfen die Produzenten eines hohen Grades an Freiheit und vor allem des freien Zugangs zu gemeinsamen Ressourcen, wie sie in gesellschaftlichen Formen etwa in Kommunikationsnetzwerken, Datenbanken oder kulturellen Zirkeln existieren." (Hardt, Negri 2009; 11) Diese These wird in immer euphorischeren Wendungen wiederholt. "Die Arbeit entwickelt sich zunehmend unabhängig vom Kommando des Kapitals, dessen Ausbeutungs- und Kontrollmechanismen werden zu Fesseln, zu Hindernissen für die Produktivität." (Hardt, Negri 2009; 187) Und, da dieses Thema von entscheidender Bedeutung ist, noch eine Passage: "Heute erleben wir die Krise auch innerhalb des Kapitalverhältnisses selbst, da das Kapital sich zunehmend mit autonomen, antagonistischen und nicht zu kontrollierenden Formen der gesellschaftlichen Arbeitskraft konfrontiert sieht." (Hardt, Negri 2009; 299) Getragen wird diese ultraobjektivistische Geschichtsthese durch den schillernden Begriff der immateriellen Arbeit. Die Logik des Arguments ist klar: Wenn immaterielle Arbeit (was immer dies auch sei) mit Notwendigkeit die fortgeschrittenste Form der Produktion darstellt, also nicht mehr zurückgenommen werden kann, wenn gleichzeitig immaterielle Arbeit unabdingbar Autonomie erfordert, dann ist die Ausbreitung und Durchsetzung der Selbstbestimmung kaum noch aufzuhalten. Kurz gesagt: Mit uns zieht die neue Zeit.

Ich habe soeben die letzte Version dieser These, wie sie in Commonwealth präsentiert wird, dargestellt. In Empire finden wir eine weitere, operaistische Version. In den 60er Jahren, kulminierend in der 68er Bewegung, hätte es ein massives Bedürfnis nach Autonomie und Selbstbestimmung angegeben. Dieses Bedürfnis hätte die fordistische, fließbandzentrierte Produktionsform zum Scheitern gebracht. So lesen wir in Empire in Kursivschrift: "Tatsächlich erfindet das Proletariat die gesellschaftlichen Formen und die Formen der Produktion, die das Kapital für die Zukunft übernehmen gezwungen ist." (Hardt, Negri; 2002; 279) Ich halte diese Auffassung für falsch. Wohl knüpfte das Projekt des Neoliberalismus äußerlich an bestimmten Emanzipationswünschen der 68er Bewegung an, aber von Haus aus in einer nur selektiven, verdrehenden Form. Im Grunde vertreten auch Hardt und Negri die These von Boltanski und Chiapello, die von einer Verwirklichung der Bedürfnisse der 68er Rebellion im Postfordismus ausgehen. Strategisch geschickt domestizieren Boltanski und Chiapello die 68er Revolte mit dem Begriff Künstlerkritik. Dadurch wird der Revolte der umfassende und materiell-existentielle Charakter abgesprochen. Stattdessen werden ihr ästhetisch-expressive Bedürfnisse unterstellt. Dass sich die Freiheitssehnsüchte der 68er Bewegung in den Lebenssituationen der neuen Selbständigen und postfordistischen Arbeitsformen verwirklicht hätten, kann nur ein bitterer Scherz sein. Aber immerhin, mit dieser Ableitung verbleiben Hardt und Negri noch im Paradigma des Operaismus, wonach es die Klassenkämpfe seien, die das Kapital vor sich her treiben würden. Bereits in Empire und klarer in Commonwealth verschiebt sich das Argument auf die objektive Seite der immateriellen Arbeit. Nun ist es nicht mehr der Klassenkampf, sondern der spezifische Charakter der immateriellen Arbeit, der schlicht und einfach Autonomie erfordere. Es bedarf nun keiner (oder fast keiner) Kämpfe mehr, sondern alles liegt in der Hand der historischen Tendenz, die auf die Hegemonie der immateriellen Arbeit hinausläuft.

Ich behaupte nun, dass die These von der Notwendigkeit der Autonomie Negri bereits weit vor jener Zeit gedacht hat, in einer Phase, in der von immaterieller Arbeit und biopolitischer Produktion noch keine Rede war. Im Grunde finden wir die Konstellation der Trilogie - auf der einen Seite die autonom produzierende Menge, auf der anderen die dieser Produktion äußerliche, hemmende und parasitär agierende Macht - bereits in seiner Spinoza-Rezeption Die wilde Anomalie vollständig ausgearbeitet. Damals hieß das Empirie und die Biomacht noch "Vermittlung". Vermittlung stand (und steht) für Wert, Staat und Kapital. Also für alle Faktoren, die die autonome Produktivität einem Maß und einer Ordnung unterwerfen wollen. Spinoza ist für Negri jener frühbürgerliche Denker, der Produktivität in einer Situation denkt, in der sich die Formen der bürgerlichen Herrschaft noch nicht gefestigt hätten. Es zeige sich die Produktivität, aber noch nicht die Vermittlung. "Und der reale Gedanke der potentia, des Vermögens, konstituiert die einzige Vermittlung." (Negri 1982; 61) "In Wirklichkeit fehlt der holländischen Konstitution ein formaler Zusammenhang; sie lebt in der - wenn auch sehr trägen - Aufrechterhaltung der institutionellen Dynamik des revolutionären Prozesses selbst." (Negri 1982; 31) "(...) der Markt ist Dialektik. Aber das gilt für das 17. Jahrhundert nicht." (Negri 1982; 32) Das sei der Kontext der Spinozistischen Philosophie. "Das reife Denken Spinozas ist Metaphysik der Produktivkraft, die das kritische Durchbrechen des Marktes als geheimnisvolle und transzendentale Episode ablehnt, die stattdessen - unmittelbar - das Verhältnis von aneignender Spannung und Produktivität als Stoff der Befreiung deutet. Materialistisch, sozial, kollektiv." (Negri 1982; 245) Hier finden wir bereits alle Stichworte, die auch seine späteren Texte prägen. Entscheidend ist die von Negri gesetzte Identität von Produktivität und Autonomie. Produktivität ist ihm per se autonom. Negri gelingt es umso leichter, die gesamte Formproblematik bei Marx zur Seite zu schieben, als es bei Spinoza keine Differenz zwischen Arbeit/Produktivität an sich und Arbeit/Produktivität in je spezifischer gesellschaftlicher Form geben kann. Produktivität/Arbeit können bei Spinoza und Negri keine substanziell unterscheidbaren historischen Verwirklichungen annehmen. Dass sich die Charaktere der Produktivität/Arbeit durch die kapitalistischen Formen verkehren, dass im Kapitalismus Arbeit/Produktivität statt Reichtum Armut, statt Universalität Reduktion, statt Freiheit Gezwungenheit zum Resultat hat, diesen Gedanken hat Negri nie akzeptiert. Im Grunde hat er die entscheidende Einsicht von Marx nie akzeptiert, dass das Kapital die Produktivität der Arbeit unter den Vorzeichen der Heteronomie und Entfremdung steigert.

Dies führt zu jenen höchst befremdlichen Befunden, Autonomie und Selbstbestimmung seinen längst verwirklicht. Wenn wir Selbstbestimmung nicht mit dem notwenigen Maß des denkenden und aktiven Mitvollzugs verwechseln, auf den das Kapital immer schon angewiesen war, (auch am Höhepunkt des Fließbandes und des Fordismus), wenn wir individuelle und kollektive Autonomie ernsthaft denken, dann kommt den diesbezüglichen Aussagen in Empire und Commonwealth etwas unfreiwillig Zynisches zu. "Gewöhnlich kooperieren kognitiv und affektiv Arbeitende unabhängig vom kapitalistischen Kommando, selbst unter sehr ausbeuterischen Bedingungen, die wenige Spielräume bieten, wie beispielsweise in Callcentern oder in der Gastronomie." (Hardt, Negri 2009; 154) Was sollen wir zu diesen Behauptungen noch sagen? Ja, die Menschen sind nirgendwo Automaten, sie kooperieren auch in der materiellen und formal bürokratischen Arbeit. Ja, auch Mac Donalds kann Arbeitende nicht zu Marionetten formen. Aber bitte, verarscht uns doch nicht!


Multitude oder Proletariat?

Hardt und Negri haben sich niemals vom Begriff des Proletariats distanziert. Die Abgrenzung der Multitude erfolgte zumeist vom Volksbegriff, der sich historisch und logisch nur durch zwanghafte Vereinheitlichung und Identitätsbildung bilden lässt. Die Multitude hingegen bringe die Vielgestalt und Unterschiedlichkeit der Menge auf den Begriff. So weit, so gut. Trotzdem müssen wir auf einem tiefgreifenden Unterschied beharren, der von den Autoren recht geschickt überspielt wird. Ich gebe gerne zu, dass mir diese Differenz lange Zeit nicht klar war, möglicherweise habe ich zu viel Marxismus in ihre Konzeption hineingedacht. Der Unterschied ist schlicht folgender: Das Proletariat muss, will es sich emanzipieren, seine gesellschaftliche Existenzweise - ich spreche lieber von Existenzweise statt von gesellschaftlichem Sein - aufheben, die Multitude hingegen ihr Sein bejahen. Das Proletariat muss sich zum Nicht-Proletariat transformieren, die Multitude prinzipiell in ihrem Sein verharren und ihre Identität endgültig durchsetzen. Aus diesem Unterschied folgt alles. Als Multitude ist das freie Gemeinwesen bereits konstituiert, es muss bloß noch hemmende Faktoren abschütteln. Das heißt zugleich: Die Multitude ist bereits vorhanden, trotz der gesellschaftlichen Geltung der spezifischen Formen des Kapitalverhältnisses. Das Proletariat existiert jedoch keineswegs heute schon als Nicht-Proletariat, genauer: wenn, dann nur in suchenden Ansätzen, in errungenen und immer wieder implodierenden Freiräumen. Dass Arbeit als Lohnarbeit, Produktionsmittel als Kapital, dass Grund und Boden als Eigentum existiert, dass das Arbeitsprodukt zur Ware wird, alle diese Formen tangieren die Multitude in ihrem produktiven Sein nicht substanziell, aber sie konstituieren das gesellschaftliche Sein des Proletariats. Aus der Perspektive des Proletariats gedacht sind die herrschenden Formen die materiellen Bedingungen seiner sozialen Existenzform. Emanzipation bedeutet grundlegend die Überwindung dieser Formen. Lohnarbeit, Eigentum, Ware, Geld (wir können hinzusetzen: der Staat), also alle geltenden und prägenden Formen sind zu überwinden. Die Multitude existiert bereits heute jenseits der historischen Formen der gesellschaftlichen Arbeit. Daher finden wir bei Negri keine Rezeption der Marxschen Formkritik. Sie hätte auch keinen theoretischen Ort. Dass das Arbeitsprodukt zur Ware wird, dass Produktionsmittel und Produktionsfaktoren Kapital sind, das hindert und beeinflusst das tätige Sein der Multitude nur äußerlich. "Die biopolitische Produktion [das ist die umfassende Produktivität der Multitude, K. R.] stellt das Kapital vor ein Problem und der Neoliberalismus kennt keine Antwort darauf." (Hardt, Negri 2009; 279) So einfach ist die Welt. Dass der zwanglose Zwang der Verhältnisse sich mittels der gesellschaftlichen Formen des Kapitalverhältnisses durchsetzt, diesen Gedanken werden wir bei Negri und Hardt nie finden. Marx unterscheidet zwischen der mittelbaren Produktion im Kapitalismus und einer möglichen zukünftigen unmittelbaren Produktion. Mittelbare gesellschaftliche Produktion bedeutet, dass das Arbeitsprodukt eben Ware wird und sich über den Markt vermittelt. Eine unmittelbare Produktion kann es im Kapitalismus nicht geben, da sie salopp gesagt weder Waren- noch Geldform annehmen kann. Trotzdem schreiben Hardt und Negri in einer Vorarbeit zu ihrer Trilogie ungerührt: "Diese neuen Formen von Arbeit sind unmittelbar gesellschaftlich [sic! K. R.]; sie determinieren direkt die Netzwerke der produktiven Kooperation, in denen die Gesellschaft produziert und reproduziert wird." (Hardt/Negri 1997; 15) Im Klartext: Der Kapitalismus ist überwunden. Er existiert, wenn überhaupt, nur noch als leere Hülle. Aber auch das leere Kommando finden wir bereits in Negris Spinoza-Rezeption gedacht: "Jegliche Unterwerfung und Einordnung der Produktivkraft, die selbst nicht in der selbständigen Bewegung seiner konstitutiven Kraft besteht, ist Negativität, Antagonismus, Leere." (Negri 1982; 250)

Dieser Irrwitz hat seinen Preis. Da der Kapitalismus weiter existiert, dominiert er die soziale Existenz von Milliarden Menschen. Nach wie vor bestimmt er die soziale Existenzweise der überwiegenden Mehrheit und zwingt sie, als Gebrauchswert Arbeitskraft dem Kapital als Tauschwert mehr oder minder willig zur Verfügung zu stehen und das Leben danach auszurichten. Diese soziale Existenzweise geht nicht ohne Beschädigung, ohne Verletzungen und ohne Entwürdigungen ab. John Holloway hat deshalb völlig zu Recht den Begriff der Würde in den Mittelpunkt gerückt. Der Begriff der Würde bringt diese Verletzungen zur Sprache, gibt uns eine Thematik, die sowohl die Beschädigungen als auch das Ringen um Würde sagbar macht. Mit dem Begriff der Würde verfügen wir auch über einen Ausdruck, der den qualitativen Aspekt des Klassenkampfes ausdrückt. Klassenkampf ist weit mehr als die Empörung über quantitative Ungleichheit. Ich gebe zehn und bekomme fünf; ja, das ist wohl ein Aspekt, aber nicht die ganze Sache. Es geht um ein neues gesellschaftliches Dasein. Zum Begriff der Würde gibt es bei Hardt und Negri kein Pendant. Wohl gibt es eingestreute Sätze, die etwas über die negative Situation der Menschen aussagen; eingestreute Bemerkungen, ohne jede theoretische und begriffliche Relevanz. Es ist exakt dieser Aspekt, der mich zu großer emotionaler Distanz veranlasst hat. Hier geht es für mich nicht mehr bloß um theoretische Fragen. Ob z. B. etwa die Autoren einen angemessen Begriff der Grundrente entwickelt oder nicht, darüber soll debattiert werden. Doch ihr Triumphalismus nimmt derart affirmative Züge an, dass er in Ignoranz kippt.


An die Stelle der Selbstaufhebung der Multitude: Überwindung der Identitäten

"Das Proletariat ist gemäß dieser Tradition die erste wahrhaft revolutionäre Klasse in der Menschheitsgeschichte, insofern sie darauf aus ist, sich als Klasse selbst abzuschaffen." (Hardt, Negri 2009; 340) Diese Definition von revolutionär gelte wohl für das Proletariat, nicht jedoch für die Multitude. Das Konzept der Multitude schließt ihre Selbstaufhebung aus. Der Prozess der Selbstaufhebung ginge nun auf die Identität über. "Das Projekt zur Abschaffung der Identität übernimmt somit die traditionelle Rolle der Abschaffung des Eigentums und des Staates." (Hardt, Negri 2009; 340) Ich will Negri und Hardt nun nicht unterstellen, sie würden die Abschaffung des Eigentums und des Staates aufgeben. So sind die Aussagen sicher nicht gemeint. Gemeint ist etwas anderes: Indem die Identitäten überwunden werden, wird zugleich dass Eigentum abgeschafft, da sie Identität eben nicht nur metaphorisch mit Eigentum gleichsetzen. Ich bin X, also ist mein X-Sein zugleich mein Eigentum. Klarerweise gestehen die Autoren zu, dass auch Identität einen befreienden und emanzipatorischen Index tragen kann. Ich kann allerdings nicht erkennen, dass sie den gordischen Knoten der Identitätsproblematik lösen. Die Frage der Identität wie Nichtidentität besitzt sozusagen die Würde einer Kantischen Antinomie. Beide Sätze sind unwiderlegbar, aber zugleich muss ihr Gegenteil als gültig angenommen werden: Aussage 1: Emanzipation schließt das Bejahen der eigenen Identität ein. Aussage 2: Emanzipation schließt die Überwindung der eigenen Identität ein. Es ist unmöglich, eine der beiden Sätze zu verwerfen. Ich kann diese Antinomie nicht lösen, aber auch die Autoren nicht. Allerdings suggerieren sie, nach einigem hin und her, folgende Lösung: Zum einen helfen sie sich durch Zuordnung von Worten über die Runden. "Während Emanzipation nach der Freiheit der Identität strebt, nach der Freiheit, der zu sein, der man wirklich ist [Aussage 1], zielt Befreiung auf die Freiheit der Selbstbestimmung und Selbsttransformation, auf die Freiheit, selbst zu bestimmen, wer und was man werden kann." [Aussage 2] (Hardt, Negri 2009; 339) Diese Wortzuordnung löst klarerweise diese Antinomie keineswegs, zumal Commonwealth den Unterschied Befreiung und Emanzipation nicht systematisch ausarbeitet. Zum anderen schlagen sie vor, alles unter dem Gesichtspunkt der Singularität zu betrachten. Singularität sei Element in einem Meer der Differenzen und Vielheiten. Sei Singularität, nicht Identität! So lautet nun der Imperativ. Ich kann es hier nicht begründen, aber es liegt in der Denklinie Nietzsche - Deleuze, die sie selbst an dieser Stelle anführen (die Hereinnahme von Spinoza ist diesem Zusammenhang frivol), immer auch etwas Ontologisch-Mystisches. Ich schlage meinen LeserInnen vor, nur versuchsweise die folgende Zitate jemanden anderen laut vorzulesen, ohne sogleich die Quelle zu verraten: "Versuche dich nicht selbst zu retten - tatsächlich muss dein Selbst geopfert werden!" (Hardt, Negri 2009; 346) "Du musst verlieren, was du bist, um zu erkennen, was du werden kannst." (Hardt, Negri 2009; 347)


Nochmals Formproblematik

Der Marxsche Arbeitsbegriff ist denkbar weit und umfassend. Arbeit produziert keineswegs bloß Waren und Dienstleistungen, sondern die Sinnlichkeit des Menschen (so in den Pariser Manuskripten), die sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Arbeit produziert die materiellen Bedingungen der Befreiung, Arbeit schafft das dynamisch veränderbare Wesen des Menschen. Allerdings, und das ist ja die Pointe der Marxschen Kapitalismuskritik, ist die eigentliche Potenz der Arbeit durch die Formen und Verhältnisse im Kapitalismus blockiert. Arbeit kann in dieser Gesellschaft nicht das erste Lebensbedürfnis werden, das die Menschen in Freiheit verbindet. Negri und Hardt greifen diesen emphatischen Arbeitsbegriff auf, was ich sehr begrüße, geben ihm aber eine spezifische Wendung. Erstens wird er modisch unbenannt. Nun heißt Arbeit biopolitische Produktion. Auch dagegen wäre erst einmal nichts einzuwenden. Allerdings präsentieren sie in epischer Breite die von Marx analysierten Charaktere der Arbeit als funkelnagelneue Erkenntnisse. "Die Produktivkraft der lebendigen Arbeit, wird zum Vermögen, gesellschaftliches Leben hervorzubringen." (Hardt, Negri 2009; 147). Wird? Oder: "Ökonomie und Produktion durchlaufen gegenwärtig eine Zeit des Übergangs und was die kapitalistische Produktion hervorbringt, sind in zunehmendem Maß soziale Beziehungen und Lebensformen." (Hardt, Negri 2009; 145) Schrieb Marx nicht im Kapital, das eigentliche Resultat der kapitalistischen Produktionsweise sei sie selbst? Hat uns nicht schon Engels darüber informiert, dass Arbeit sogar aus dem Affen den Menschen schuf, wenn ich das mit etwas Humor bemerken darf? Um es auf den Punkt zu bringen: Jene Qualitäten, die Hardt und Negri der biopolitischen Produktion zuordnen, sind im Marxschen Arbeitsbegriff selbstredend ausgesprochen. Dass Arbeit auch die Subjektivität des Menschen schafft, ist ebenfalls keine Entdeckung von Hardt und Negri. Da ist nichts Neues. Allerdings, und das macht den Unterschied ums Ganze, tritt für Marx die je spezifische Form der Arbeit in den Vordergrund. Die entfremdete Arbeit produziert nicht das freie Gemeinwesen, sondern die sachlichen Mittel sozialer Herrschaft. Erneut sehen wir, wie Hardt und Negri die gesellschaftlichen Formbestimmungen schlicht ignorieren und behaupten, Arbeit, nun in biopolitische Produktion umbenannt, könne ihre Potenzen unabhängig von diesen entfalten.


Zum historisch-zeitlichen Index

Lesen wir Commonwealth genau, so merken wir, dass jede Aussage zur immateriellen Arbeit, zur Informatisierung der Produktion usw. stets einen zeitlichen Index trägt. "Immer mehr", "tendenziell", "zunehmend", so oder ähnlich lauten die Wendungen, mit denen die vermehrte Hegemonie der immateriellen Arbeit formuliert wird. Das klingt auf den ersten Blick nach redlicher Vorsicht. Noch, so können wir vermuten, sei ja die Hegemonie der immateriellen Arbeit nicht ausgebildet, wir seien derzeit bloß Zeuge ihres Aufstiegs. Wenn wir aber über diesen permanent verwendeten zeitlichen Index nachdenken, erscheint er uns plötzlich sehr merkwürdig. Zwei Fragen drängen sich auf: 1. Warum ist der Prozess nicht schon lange abgeschlossen? 2. Gibt es eine notwenige Grenze der Tendenz und worin besteht sie oder kann letztlich jede Produktion immateriell werden?

Zu 1. Das Kapital ist schnell. Profitable Tendenzen werden so rasch wie möglich umgesetzt. Es wäre eine sehr skurrile Aussage, zu sagen, es gäbe eine Tendenz zum Einsatz von Computern in Produktion und Verwaltung. Dort, wo der Einsatz möglich und sinnvoll ist, ist er schon lange geschehen. Ebenso halt ich es für falsch, von einer Tendenz der Auslagerung der Produktion nach Südostasien oder China zu sprechen. Was profitabel ausgelagert werden kann, ist es schon und nicht erst seit gestern. Produktions- und Verwaltungsabläufe, die in den imperialen Metropolen verblieben sind, sind aus guten Gründen hier, insofern ist die Drohung mit der Verlagerung in der Regel eine leere. Wenn nun die immaterielle Produktion gegenwärtig die Quelle des Reichtums und des Profits ist, warum ist diese Tendenz nicht schon vollendet? Ein Argument wäre, dass die damit vorgeblich verknüpfte Autonomie die kapitalistische Herrschaft veranlasst, die Tendenz zur Immaterialität zu behindern. Wir hätten erneut einen Klassiker: Die Produktionsverhältnisse als Fessel der Produktivkräfte. Aber wird das Argument in Commonwealth systematisch entfaltet? Nein. Dafür besitzt die Multitude zu viel Unabhängigkeit von der Herrschaft.

Zu 2. Kann also jede Produktion immateriell werden? Oder muss sogar jede Produktion immateriell werden? Darauf finden wir keine Antwort. Und das ist kein Zufall. Wenn wir nämlich aus guten Gründen annehmen, dass zahlreiche Produktionsabläufe notwenig materiell bleiben, resultiert daraus eine Spaltung in der Multitude. Jene, die immateriell arbeiten, unterscheiden sich von jenen, die dies nicht tun können. Wir müssten also sagen, die immateriellen ArbeiterInnen beerben bei Negri und Hardt die klassische Industriearbeiterschaft. "Wir behaupten vielmehr, dass die biopolitische Produktion in der heutigen Ökonomie allmählich eine Hegemonialstellung einnimmt und die Rolle übernimmt, die die Industrie mehr als hundert Jahre lang gespielt hat." (Hardt, Negri 2010; 297) Stellten jene die produktive Avantgarde des Fordismus dar, so die heute immateriell arbeitenden Kreativen, die sich im Sinne der Autoren zu Recht einbilden können, die "Herren dieser Welt" zu sein, weil ihre Begehren und ihre "Arbeit sie fortwährend neu erschaffen". (Hardt, Negri 2002; 394) Ein Problem des Diskurses um den kognitiven Kapitalismus sehe ich nicht zuletzt in der Weigerung, konkrete Behauptungen auch empirisch oder illustrativ einzulösen. Die Arbeit würde immer immaterieller, wird behauptet. Welche? Die Arbeit der Postboten, der TransportarbeiterInnen, der Friseurinnen, der Bauarbeiter, der ErntehelferInnen, der KrankenpflegerInnen, der Handelsangestellten? Und wie steht es mit jenen Tätigkeiten (wer erinnert sich noch an die Diskussion um den Gegensatz von Kopf- und Handarbeit?), die als Kopfarbeit ausgeübt wurden und werden? Buchhaltung, Kostenrechnung, Sekretariatsarbeit, Planung von Arbeitsprozessen, Arbeit im Finanzsektor; alle diese Tätigkeiten hatten immer schon mit Information und Symbolen zu tun. Was unterscheidet also die ehrwürdige geistige Arbeit von der immateriellen Arbeit? Dort, wo tatsächlich Arbeitsverhältnisse exakt analysiert werden, wie etwa im Umkreis der Zeitschrift Wildcat oder auch in der Nachfolge von Bourdieu, sind alle jene mit Euphorie vorgestellten Kategorien seltsam absent. "Die biopolitische Arbeit bringt zunehmend ihre eigenen Formen gesellschaftlicher Kooperation hervor und produziert Wert selbständig." (Hardt, Negri 2009; 164) Auch hier sei naiv gefragt: wo bitte? Bei der Müllabfuhr, in der Filmproduktion, in der Landwirtschaft, bei den Handynetzbetreibern, an den Universitäten, in der Lebensmittelproduktion, in der Bauwirtschaft, bei den Eisenbahnen? Insbesondere werden die Universitäten derzeit in geradezu fordistischer Manier umgestaltet, so dass die Produktion von AbsolventInnen quasi einen Fließbandcharakter annimmt. Meine These lautet: Diese Kategorien, allen voran die immaterielle Arbeit, funktionieren nur in einer bestimmten Unschärfe. Sobald etwa die statistisch aufgegliederten Berufs- und Tätigkeitskategorien interpretiert werden sollen, aber auch exemplarisch bestimmte Unternehmen analysiert werden, schwinden diese Kategorien wie Schnee in der Sonne.


Ärgerliches und Unheimliches

Ärgerlich ist ihre Kritik am Wertgesetz. Ärgerlich deshalb, weil es in einer derart flapsigen und unscharfen Art rezipiert wird, so dass eine argumentative Auseinandersetzung kaum möglich erscheint. Ich gebe nur ein Beispiel: "Marxisten untersuchen, wie dieser qualitative Begriff [gemeint ist die abstrakte Arbeit, K. R.] sich verwandelt und in ein quantitatives Wertgesetz einfügt, das vor allem um das Problem kreist, wie sich der Wert der Arbeit messen lässt." (Hardt, Negri 2009; 322, herv. K. R.) Ist es Schlamperei, Unwissen, Ignoranz? Wir kehren zum Kapital zurück und lesen: "Die Arbeit ist die Substanz und das immanente Maß der Werte, aber sie selbst hat keinen Wert. Im Ausdruck: 'Wert der Arbeit' ist der Wertbegriff nicht nur völlig ausgelöscht, sondern in sein Gegenteil verkehrt. Es ist ein imaginärer Ausdruck, wie etwa Wert der Erde. Diese imaginären Ausdrücke entspringen jedoch aus den Produktionsverhältnissen selbst. Sie sind Kategorien für Erscheinungsformen wesentlicher Verhältnisse. Dass in der Erscheinung die Dinge sich oft verkehrt darstellen, ist ziemlich in allen Wissenschaften bekannt, außer in der politischen Ökonomie." (MEW 23; 559) Nun könnte gefordert werden, etwas großzügiger zu sein. Wahrscheinlich hätten die Autoren schon das Richtige gemeint, nämlich den Wert der Arbeitskraft. Wahrscheinlich. Es gehe zudem nicht um einen schrägen Satz, sondern um die gesamte Konzeption.

Ich kann aus Commonwealth keine präzise Begründung entnehmen, warum das Wertgesetz nicht mehr gelten könne. In den früheren Arbeiten von Negri hingegen erkenne ich eine durchaus konzise Begründung. Diese beruht auf einer sehr einseitigen Interpretation des Kapitalverhältnisses. Negri zeichnet zuerst vom Kapitalismus folgendes Bild: Wertgrößen hätten Wertgrößen zu Folge, das besage das Wertgesetz. Ich gebe ein Beispiel. Der Kostpreis resultiere aus den Wertgrößen für das konstante und das variable Kapital. Zur Wertgröße Kostpreis tritt die Durchschnittsprofitrate hinzu und ergibt den Produktionspreis. Aus Wertgrößen resultieren wiederum Wertgrößen. Wir hätten also einen geschlossenen Kreislauf von Werten, die, vom Proletariat produziert, verschiedene Zyklen und Metamorphosen durchlaufen. Auch der Arbeitslohn sei eine solche objektive Wertgröße. Und nun schlussfolgert Negri: Wenn ich aber zeigen kann, dass an bestimmten Punkten nicht Wertgrößen, sondern bloß die unmittelbare Klassenauseinandersetzungen relevant wird, dann sei das Wertgesetz aufgehoben. Anders gesagt, wenn z. B. das Proletariat den Lohn vom Wert der Ware Arbeitskraft entkoppelt, in dem es massive Lohnerhöhungen erkämpft, verliert das Wertgesetz seine gesellschaftliche Bedeutung, es "gilt" sozusagen nicht mehr.

Diese Schlussfolgerung ist falsch. Das Kapitalverhältnis ist keineswegs eine ununterbrochene Kette von Wertgrößen. Nur eine verzerrende Marxinterpretation schließt zuerst den Klassengegensatz aus dem eigentlichen Kapitalverhältnis aus, um nachträglich diesen nun als außerökonomischen Faktor hinzuzufügen. Diese Fehlinterpretation hat unter dem Label "Kritik des Ökonomismus" durchaus Karriere gemacht. Marx zeigt hingegen an vielen Stellen, wie und warum der Klassenkampf zum bestimmenden Faktor für Wertgrößen werden muss. Die Klassenauseinandersetzung ist selbst keine Wertgröße, hat aber Wertgrößen zur Folge. Wenn es zum Beispiel dem Proletariat gelingt, die Arbeitszeit - bei sonst gleich bleibenden Umständen - zu verkürzen, schmälert dies den Mehrwert und in Folge den Profit. Die Klassenauseinandersetzung hat sich in Wertgrößen ausgedrückt, ist aber dem Wert selbst vorgelagert. Das Klassenverhältnis selbst ist kein Wertverhältnis, sondern ein gesellschaftliches, soziales Verhältnis und als solches durch Kampf und Auseinandersetzung bestimmt. Es nimmt aber Wertform und Wertgröße an. Hätte Negri recht, wäre das Kapital selbst ein Text, in dem die gesellschaftliche Geltung des Wertgesetzes außer Kraft gesetzt wird. Dass der Wert der Ware Arbeitskraft eine contrafaktische, aber darstellungslogisch notwendige Bestimmung ist, führt Marx mehrfach klipp und klar aus. (Nur nebenbei: Nicht wenige Quatschköpfe vermeinen, Marx damit widerlegen zu können, indem sie den Lohn vom Wert entkoppeln.) Marx sagt ebenso: In der Realität ist der Lohn eine Resultante der Klassenauseinandersetzung. Solche im Kapital eindeutig dargelegten Analysen interpretiert Negri a) als Aufhebung des Wertgesetzes und b) verlegt die Aufhebung mehr oder minder willkürlich in die gegenwärtige Epoche. Diese in früheren Schriften dominierende Argumentation ist in Commonwealth kaum noch zu finden.

Statt dessen, und das ist ein weiter ärgerlicher Punkt, lassen es die Autoren elegant offen, ob denn nicht Wert bei Marx eine positive Konnotation hätte, was klarerweise nicht der Fall ist. Sie dementieren mit keinem Wort ein übliches, gern gesehenes Missverständnis, welches ungefähr so lautet: Marx hätte die industrielle Arbeit als positiv bewertet. Nur die Arbeiter in der Fabrik würden die Werte schaffen. Das sei aber nicht korrekt. Diese Geldwerte seien gar keine wahren Werte, im Gegenteil. Wirkliche Werte ... usw. usf. Es sage niemand, dies sei eine polemische Überzeichnung! Leider ist dieses Marxverständnis weit verbreitet. Und wie reagieren nun Hardt und Negri auf diese mitschwingende, aber nicht ausgeführte Rede? Sie affirmieren sie. Offen plädieren sie für einen Wertbegriff, in dem positive Wertschätzung, Bewertung und ethische Werte ineinander fließen und behaupten, dies sei die notwendige Alternative zum Marxschen Begriff: Es gelte den Wert des Lebens, den Wert der Liebe und der Freiheit in einem Wertbegriff zusammenzuführen. "An diesem Punkt brauchen wir eine neue Werttheorie. Aber wird es sich wirklich um eine Werttheorie handeln?" (Hardt, Negri 2009; 324) Die Frage ist rhetorisch: Die geforderte Werttheorie ist auf einer völlig anderen Ebene angesiedelt und hat mit den Marxschen Wertbegriffen so viel gemeinsam hat, wie das Sternbild des Großen Bären mit dem Tier Bär. "In der heutigen Situation muss sich Wert auf die Lebenstätigkeit insgesamt beziehen und deshalb sind die Unermesslichkeit und das Überfließende produktiver Arbeit ein Prozess, der das gesamte biopolitische Gewebe der Gesellschaft durchzieht." (Hardt, Negri 2009; 325) Was ist der Wert? Der Wert ist die Freiheit. "Freiheit ist nicht nur ein politischer Wert, sondern vor allem ein ökonomischer, oder besser gesagt, ein biopolitischer Wert." (Hardt, Negri 2009; 329) Das Ärgerliche an diesem Verfahren besteht in der Suggestion, bei ihrem Wertbegriff würde es sich um eine Alternative zum Marxschen Wertbegriff handeln. Dass der Wert des Leben und der Freiheit nicht messbar ist, dass Leben und Freiheit über kein Maß verfügten, das gestehe ich erstmals gerne zu. Aber ich nehme zur Kenntnis: Weil Freiheit und Leben nicht messbar sind, diese aber das Produkt der biopolitischen Arbeit darstellen, sei das Marxsche Wertgesetz obsolet.

Ein kleiner Nachtrag: Auch bei Marx misst der Wert nicht die konkrete Welt der Gegenstände und Tätigkeiten, er misst weder den Wert des Lebens noch den Wert der Dinge. In Marxscher Sprache ausgedrückt: Der Wert misst nicht den Gebrauchswert, sondern die zum aktuellen Zeitpunkt notwendige Arbeitsmenge zur Erzeugung dieses Gebrauchswert. Der abstrakte Wert ist also bei Marx nicht in der Lage, die Gebrauchswerte zumessen. Nichts anderes vertreten Antonio Negri und Michael Hardt. Der wirkliche Reichtum, so steht es im Kapital, wird vom (Tausch)Wert weder ausgedrückt noch gemessen.

Unheimlich hat auf mich eine Passage gewirkt, der ich eine Vorgeschichte voranstellen muss. Detlef Hartmann hat seinerzeit beim Erscheinen von Empire eine wilde Polemik veröffentlicht. In »Empire« - Linkes Ticket für die Reise nach rechts beschuldigte er Negri, er würde einer neuen Elite das Wort reden. Diese Elite würde unter dem Leitstern der schöpferischen Zerstörung Schumpeters einen Diskurs der Selbstermächtigung betreiben. Wobei es mehr eine kommende Möchtegernelite sei und weniger reale Machthaber, denen Negri und Hardt mit Empire ein theoretisches Fundament ihrer Selbst- und Weltsicht anbieten würden. Empire würde soziale Milieus abfeiern, die sich als Avantgarde postfordistischer Arbeits- und Machtstrukturen aufdrängten, aber zugleich mit klassischem, konservativem Denk-, Lebens- und Arbeitsstil nichts am Hut hätten. In meiner ersten Reaktion habe ich diese Kritik als absurd abgelehnt. Nach und nach habe ich eine Teilberechtigung dieser Kritik anerkannt. Mit dieser Haltung im Kopf las ich nun die Seiten 306 und folgende der deutschsprachigen Ausgabe. Es war wie ein Schlag. Negri und Hardt beziehen sich erstmals auf Schumpeter und stimmen mit seiner Diagnose bezüglich des "Niedergangs der unternehmerischen Fähigkeiten des Kapitals" (Hardt, Negri 2009; 306) überein. Und dann preisen sie die "Unternehmerschaft der Multitude" (Hardt, Negri 2009; 307), die sozusagen das Erbe der verbrauchten klassischen Unternehmenskultur antreten würde. "Hat das Kapital aber erst einmal seien Innovationskraft und seien unternehmerische Fähigkeit verloren, so Schumpeters Überzeugung, dann kann es nicht mehr lange überleben." (Hardt, Negri 2009; 307) Diese Innovationskraft und der Unternehmergeist würden nun auf die Multitude übergehen. "Schumpeter hatte Recht, als er den kapitalistischen Unternehmer als Quelle wirtschaftlicher Innovationen für obsolet erklärte, aber er konnte nicht erkennen, dass an dessen Stelle die vielköpfige Hydra der Multitude als biopolitischer Unternehmer treten würde." (Hardt, Negri 2009; 307) Um noch eins draufzusetzen werden kurz davor Bill Gates und Steve Jobs folgendermaßen charakterisiert: Sie seien "keine wirklichen Unternehmer im Schumpeterschen Sinne. Sie sind lediglich Geschäftsmänner und Spekulanten." Apple und Microsoft würden von den "innovativen Energien" zehren, die in den "rieseigen Netzwerken der Computerexperten und internetgestützten Produzenten" entstehen würden. (Hardt, Negri 2009; 307) So steigt das Bild einer zukünftig erfolgreichen, gegenwärtig noch zu kurz gekommen Elite auf, die rund um die Uhr tätig ist und sich zugleich als die Quelle der wahren Werte imaginiert. "Die treibende Kraft biopolitischer Produktion kommt dann auch von unten aus der Unternehmerschaft der Multitude." (Hardt, Negri 2009; 307) Dieser unheimlichen Passage geht noch dazu folgende Überlegung voran. Ob denn nicht das Geld in den Händen der Multitude eine andere Rolle als gegenwärtig spielen könnte? "Könnte die Fähigkeit des Geldes (und der Finanzwelt ganz allgemein), das gesellschaftliche Feld der Produktion zu repräsentieren, in den Händen der Multitude ein Instrument der Freiheit sein, mit dessen Hilfe sich Elend und Armut überwinden lassen?" (Hardt, Negri 2009; 305) Bei diesem Gedanken bekommen unsere Autoren doch kalte Füße und relativieren: "Wir können auf diese Fragen noch keine zufrieden stellende Antwort geben, aber wir haben den Eindruck, dass Bestrebungen, sich das Geld auf diese Weise wieder anzueignen, die Richtung weisen, wie revolutionäre Aktivität heute aussehen könnte." (Hardt, Negri 2009; 305) Auf jeden Fall ginge es nicht an, "davon zuträumen, in eine vorsintflutliche Welt der Gebrauchswerte zurückzukehren." (Hardt, Negri 2009; 305) Kein Kommunismus ohne Geld!


Zurück zum Leninismus? Oder: die Grenzen der biopolitischen Produktion

Abschließend möchte ich auf eine bemerkenswerte Verschiebung ihrer Positionen aufmerksam machen. In Empire, aber auch in der Wilden Anomalie scheint Negri der Auffassung zu sein, dass eine politische Organisation des Gemeinwesens bloß die bereits existierende Organisation in der biopolitischen Produktion und durch sie verdoppeln würde. Dieser Gedankengang ist leicht nachzuvollziehen. Wenn die Multitude durch ihre alles umfassende Produktivität sozusagen "alles" produziert - wozu noch eine zweite politische Ebene? Die spontane Organisation des Sozialen bedürfe doch keiner wie immer gearteten weiteren Instanz. In der Wilden Anomalie kritisiert Negri sehr konsequent Spinoza, der insbesondere im zweiten Teil des vierten Buches, ab dem Lehrsatz 37, um genau zu sein, für die Notwendigkeit der politischen Konstitution des Gemeinwesens plädiert. Wohl hebt Spinoza den "Naturzustand" niemals auf, aber dieser Naturzustand bedürfe doch einer politisch institutionalisierten Verfassung. Diese Wende in der Ethik des Spinoza wurde damals von Negri recht klar kritisiert: "Der Positivismus der Imagination hält vor dem Transzendentalismus der rechtsnaturalen Vernunft inne." (Negri 1982; 126) Allerdings war sich Negri auch nie zu hundert Prozent sicher, dass die spontane Produktivität der Multitude alle sozialen Fragen lösen könne. "But in the part available to us, even the PT [gemeint ist mit PT der Politische Traktat, das letzte Werk Spinozas, K. R.] does not succeed in resolving the problem of relationship between the ontological power of the collective and the freedom of individuals. The concept of the multitudo, as we have seen, poses the problem by leaving it open." (Negri 1997; 238) Dass das Konzept der Multitude also Probleme formuliert, sie aber nicht löst, diesen Gedanken finden wir nun erneut in Commonwealth. "Die Menschen sind von Natur aus nicht spontan in der Lage, aus freien Stücken miteinander zu kooperieren und das Gemeinsame zu lenken." (Hardt, Negri 2009; 369) Das ist wohl eine gewichtige Aussage, die im Grunde vieles an euphorischen Aussagen über die biopolitische Produktion wieder zurücknimmt. Daher bedürfe es einer politisch intervenierenden Kraft. Zuerst ist es eine Frage: "Der Übergangsprozess verläuft freilich, wie wir gesagt haben, nicht spontan. Wie lässt sich der Übergang steuern? Wer oder was zieht die politische Diagonale, die den Übergang leitet?" (Hardt, Negri 2009; 370) Dann eine Feststellung: "Und doch sind wir uns voll bewusst, dass der revolutionäre Prozess nicht spontan abläuft und dass er gesteuert werden muss." (Hardt, Negri 2009; 378)


E-Mail: k.reitter@gmx.net


Zitierte Literatur:

Hardt, Michael; Negri, Antonio, (1997) "Die Arbeit des Dionysos. Materialistische Staatskritik in der Postmoderne", Berlin

Hardt, Michael; Negri, Antonio, (2002) "Empire. Die neue Weltordnung", Frankfurt am Main, New York

Hardt, Michael; Negri Antonio, (2009) "Commonwealth. Das Ende des Eigentums", Frankfurt/New York

Hartmann, Detlev, (2002) "Empire - Linkes Ticket für die Reise nach rechts", Berlin

Marx, Karl, (MEW 23) "Das Kapital, Band 1" Berlin 1965

Negri, Antonio, (1982) "Die wilde Anomalie. Spinozas Entwurf einer freien Gesellschaft", Berlin

Negri, Antonio, (1997) "Reliqua desiderantur : A Conjecture for a Definition of the Concept of Democracy in the Final Spinoza", in: Montag, Warren; Stolze, Ted (Ed.) "The New Spinoza", Minneapolis

Raute

Carlo Vercellone

Die Krise des Wertgesetzes. Der Profit wird zur Rente

Bemerkungen zur systemischen Krise des kognitiven Kapitalismus

Vorbemerkung der Grundrisse-Redaktion: Wir freuen uns, diesen Text, der in einem von Sandro Mezzadra und Andrea Fumagalli herausgegebenen Sammelband mit dem Titel "Die Krise denken. Finanzmärkte, soziale Kämpfe und neue politische Szenarien" voraussichtlich im Oktober 2010 im Unrast-Verlag erscheinen wird, bereits jetzt vorab publizieren zu können.


Einleitung

Die Absicht dieses Artikels besteht darin, ausgehend von der These des "Rente-Werdens des Profits und der Krise des Wertgesetzes" einige Elemente einer theoretischen Lektüre der aktuellen Krise bereit zu stellen. Die auf die Krise des fordistischen Modells folgende aktuelle Transformation des Kapitalismus ist von einer übermächtigen Wiederkehr und einer Vervielfachung der Formen der Rente gekennzeichnet, die mit einer weit darüber hinausgehenden Umwälzung in den Verhältnissen zwischen Rente, Lohn und Profit einhergehen. Diese Entwicklung gab sowohl aus theoretischer Sicht als auch im Hinblick auf ihre politischen Implikationen bereits Anlass zu sehr unterschiedlichen Analysen.

Im Besonderen nach einem innerhalb der marxistischen Theorie weit verbreiteten Ansatz, der von der Politischen Ökonomie Ricardos ausgeht, wird die Rente als vorkapitalistisches Erbe und Hindernis für die progressive Dynamik der Kapitalakkumulation betrachtet. Unter dieser Voraussetzung wäre der echte, der reine, der effiziente Kapitalismus ein Kapitalismus ohne Rente.

Eine ähnliche Sichtweise, die die Schlüsselrolle der Grundrente durch jene der Geldrente ersetzt, wird heute zur Interpretation der systemischen Krise vorgeschlagen, die den Kapitalismus in Folge des Platzens der aufgrund von Subprime-Darlehen entstandenen spekulativen Blase erfasst hat, jedoch allgemeiner in der Verbriefung von Krediten in der Form von fiktivem Kapital begründet ist. Dieser Analyse zufolge würde sich der Kern der gegenwärtigen Krise im Konflikt zwischen der Tendenz des Finanzkapitalismus zur Rentenbildung auf der einen Seite und des "guten" produktiven Kapitalismus als Träger einer dem Wachstum der Produktion und der Beschäftigung dienenden Akkumulationslogik auf der anderen Seite finden lassen.


Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Den vollständigen Artikel finden Sie in der Printausgabe der grundrisse bzw. in dem folgendem Buch, welches voraussichtlich Ende Oktober im Unrast-Verlag erscheinen wird:

Sandro Mezzadra / Andrea Fumagalli (Hg.)
Die Krise denken
Finanzmärkte, soziale Kämpfe und neue politische Szenarien
ISBN: 978-3-89771-509-7
Ausstattung: br., ca. 176 Seiten
Preis: ca. 14 Euro

Raute

Jens Kastner

Delegation und politische Dilemmata

Mit Pierre Bourdieu auf zapatistischem Gebiet

"Wenn es in einem Land Parteien gibt, entsteht früher oder später eine Sachlage, in der es unmöglich ist, wirksam auf die öffentlichen Angelegenheiten Einfluss zu nehmen, ohne in eine Partei einzutreten und das Spiel mitzuspielen. Wer immer sich für die Sache der Allgemeinheit interessiert, möchte sich wirksam interessieren."
Simone Weil, 1943 (Weil 2009: 25)

"Will man jemanden nicht als politisches Wesen erkennen, beginnt man damit, ihn nicht als Träger von Zeichen politischen Seins [politicité] zu sehen, nicht zu verstehen, was er sagt, nicht zu hören, dass es eine Rede ist, die aus seinem Mund kommt."
Jacques Rancière, 2000 (Rancière 2008: 34)

"Zu sagen: Man muß etwas tun, gibt einem schon den touch des 18. Jahrhunderts. [...] Ich ziehe es vor, enttäuscht zu sein, als irreführend und betrügerisch."
Pierre Bourdieu, 1989 (Bourdieu 1991: 31)


In seinem Aufsatz "Delegation und politischer Fetischismus" - als Vortrag 1983 gehalten und auf Französisch erstmals 1984 veröffentlicht - analysiert Pierre Bourdieu die Durchsetzung einer, wie er es nennt, jakobinischen "Priestersicht der Politik" (Bourdieu 1992a: 192). Diese Sicht auf das Politische habe sich allgemein verbreitet und sei dermaßen verinnerlicht, so Bourdieu, "daß die letzte politische Revolution, die Revolution gegen die politische Klerikatur und gegen die in jedem Delegationsakt potentiell enthaltene Usurpation, noch immer aussteht." (Bourdieu 1992a: 192) Diese "Priestersicht der Politik" besteht also darin, dass sie die Delegation - auf die Politik angewiesen ist, um legitimer Weise als solche zu gelten - unsichtbar macht. Damit verschleiert die Priestersicht nicht nur den Blick auf die Konstitution eines kollektiven "mystischen Körpers" (Bourdieus 1992a: 180), nämlich politisch handelnde Gruppen. Sie trägt mit dieser Verschleierung auch dazu bei, dass jene Mystik der Politik sich fortsetzt. Sie ist, in einem Wort, antiaufklärerisch. Die Priestersicht ist von Bourdieu als solche in Anlehnung an die Funktionsweisen religiöser Autorität benannt worden. Sie ist u.a. auch diejenige Sichtweise auf die soziale Welt, der es gelingt, abweichende Blickwinkel moralisch ins Abseits zu stellen - schuldig und auch selbst schuld ist, wer nicht mitmacht - und institutionell zu entlegitimieren. Einerseits mystifizierend, ist die Priestersicht andererseits stets mit einem Interesse an Rationalisierung ausgestattet, aus der sie, zum theologischen Dogma gemacht, ihre Legitimität zieht. Mit der Übertragung auf das Feld der Politik, die Bourdieu (2000) in Folge seiner Analyse der Parallelen und gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen religiöser Autorität und weltlicher Macht (im Anschluss an die Religionssoziologie Max Webers) selbst vorgenommen hatte, wird ein Fokus auf die Denk- und Wahrnehmungsweisen des Politischen gelegt. Ein solch kulturtheoretischer, d.h. auf die symbolischen Grundlagen des Denkens und Handelns gerichteter Blick, geht davon aus, dass soziale Kämpfe immer auch Kämpfe um die Sichtweisen des Sozialen sind (vgl. auch Kastner/Waibel 2009).

Nun hat es seit der Veröffentlichung von Bourdieus Text (und auch vorher schon) nicht wenige Versuche gegeben, die "letzte Revolution" zu vollziehen oder zumindest doch an ihr zu arbeiten. Die AkteurInnen solcher Versuche, die darin bestanden und bestehen, das Delegationsprinzip auszuhebeln, zu umgehen, zu vermeiden oder zu verwandeln, werden gemeinhin soziale Bewegungen genannt. Sie ließen sich sogar noch genauer eingrenzen: Libertär inspirierte soziale Bewegungen haben es qua Anspruch darauf abgesehen, Prozesse der Delegation zu demokratisieren, Repräsentationsmechanismen - nicht selten in der ganzen inhaltlichen Bandbreite von Repräsentation als Darstellung, Vorstellung und Stellvertretung - nicht nur in den Konstitutionen der eigenen Kollektivität, sondern auch im Feld der Macht insgesamt zu hinterfragen. Aus der allgemeinen Repräsentationskritik werden daher konkrete Delegationsverfahren erdacht und praktiziert. Es ließe sich sogar als Spezifikum libertärer Bewegungen beschreiben, das eine als mobilisatorischen Kern oder gar Voraussetzung für das andere zu begreifen, also die Modifizierungen der Delegationsbeziehungen in den eigenen Reihen als einerseits praktische Vorstufe und andererseits theoretische Notwendigkeit für das Ziel der delegationslosen, schließlich herrschaftsfreien Gesellschaft auszugeben.

Ein Beispiel für eine solche Bewegung ist der Zapatismus in Chiapas/Mexiko. Als Guerilla-Organisation und soziale Bewegung haben die Zapatistas u.a. mit dem Prinzip des "mandar obediciendo" (gehorchend befehlen) den herkömmlichen Mandatsbeziehungen von Anfang an basisdemokratische Verfahrensweisen entgegengesetzt. Mit dem "caminar preguntando" (fragend voranschreiten) wird zudem ein anti-avantgardistischer und repräsentationskritischer Modus des Politischen für die eigene Bewegung formuliert. Diese und die davon inspirierten delegationskritischen Organisationsformen sind wiederum der Bewegungsforschung nicht verborgen geblieben und zum Teil mit Begeisterung aufgenommen worden. Die Analysen und Positionen des in Puebla/Mexiko lehrenden Politikwissenschaftlers John Holloway und die des uruguayischen Journalisten und Sozialwissenschaftlers Raúl Zibechi können als zwei der prominentesten Stimmen dieser Bewegungsforschung gelten, deren Beschreibungen selbst schon als Interventionen gegen die Priestersicht zu verstehen sind. Als neue Form der Politik wird dabei, kurz gesagt, genau das geschildert, was für andere aus dem Bereich des Politischen herausfällt.[1]

Allerdings geraten die Versuche, gegen Priestersicht und Delegation aktiv zu intervenieren, selbst in Dilemmata des Politischen. Zum einen tendieren die intellektuellen UnterstützerInnen der Bewegungen erstens dazu, die Priestersicht allein dadurch abschaffen zu wollen, dass bzw. indem sie ihr die Gültigkeit und Legitimität absprechen. Sicherlich muss der Erkenntnis Rechnung getragen werden, dass Diagnosen immer auch performative Aspekte aufweisen, ihren Gegenstand also selbst mit hervorbringen. Eine Bewegung oder eine Position ist insofern auch zu schwächen, indem man nicht bzw. "schlecht" von ihr redet. Aber mit einem solchen Sprechakt allein ist die Wirksamkeit der symbolischen Macht der auf Delegationsbeziehungen basierten Politik nicht entkräftet. Darüber hinaus legen zweitens die Beschreibungen der Produktions- und Reproduktionsbedingungen dieser Sicht, die zugleich intellektuelle Interventionen gegen sie sein wollen, häufig nahe, dass die Priestersicht schlicht nicht zu teilen bräuchte, wer selbst kein Priester ist. Zum anderen, und das ist letztlich das Entscheidende, sind die Bewegungen aber selbst in dem Dilemma verfangen, das der auf Delegation beruhende politische Fetischismus produziert: Das Dilemma besteht darin, dass im politischen Feld nicht als Politik anerkannt wird, was nicht auch Delegationsbeziehungen produziert. So wie der Delegations- und Mandatsbeziehung immer die Entfremdung der MandantInnen von denen innewohnt, die sie mit einem Mandat ausgestattet haben, so wird umgekehrt der Angriff auf die Mandatsbeziehungen als Entfremdung vom Politischen wahrgenommen und als Verletzung der Spielregeln des politischen Feldes interpretiert.

Soll die Delegationsbeziehung (theoretisch) bekämpft und schließlich (praktisch) abgeschafft werden, gilt es erstens, ihre zentralen Funktionsweisen zu begreifen und zweitens, nicht nur an alternativen Praktiken, sondern auch noch an den Denk- und Wahrnehmungsweisen zu arbeiten, die diesen Praktiken zu Legitimität verhelfen.

Mit der sozialen Bewegung der Zapatistas und den Ansätzen der Bewegungsforschung, die sie beschreiben und zugleich unterstützen, sind zwei Akteurinnen gewählt worden, anhand derer die Fallstricke des Kampfes um die Sichtweisen des Politischen durchgespielt werden. Inhaltlich wird dabei die These vertreten, dass die Anerkennung der Delegationsbeziehung schließlich nicht über die (sozialwissenschaftliche wie aktivistische) Wertschätzung alternativer Organisations- und Lebensmodelle allein zu durchbrechen ist. Denn wie jede Form sozialer Anerkennung beruht sie auf einer "Ökonomie des symbolischen Tausches" (Bourdieu), also nicht auf einer Unterdrückungs- und Ausschlussbeziehung, sondern einer gegenseitigen Relation (in der beispielsweise die Privilegien der einen mit den Posten der anderen vergolten werden). Eine Alternative zur Priestersicht kann schließlich nur durchgesetzt werden, wenn anerkannt wird, dass die Delegationsbeziehung keine repressionsbasierte, sondern eine konsensuale Form der Politik ist, die durch viele (auch flache) Hierarchiestufen gegenseitiger Begünstigung, Privilegierung, voneinander abhängiger Positionierungen und Profite abgesichert wird und deshalb auch nicht durch die Abschaffung der Priester allein zu beenden ist. Die Angriffe auf die Delegations- und Mandatsbeziehung müssen sich diesen Verflechtungen erstens deshalb stellen, weil schließlich auch sie selbst sowohl ursprünglich als auch in jeder neuen Mobilisierung mit der Frage konfrontiert sind und sein werden, wer wann auf welcher materiellen wie symbolischen Grundlage mit welcher Legitimation für wen spricht. Zweitens müssen die Kämpfe gegen die Delegationsbeziehung deren einbindende und partizipative Mechanismen begreifen, weil nicht zuletzt diese es sind, die auch die Sichtweisen auf die häretischen, alternativen Modelle des Politischen prägen, von denen schließlich die Möglichkeit ihrer Durchsetzung abhängt.


Worte und das Schweigen der Anderen (Delegation nach Bourdieu)

Laut Bourdieu ist die Delegation nicht einfach vertragsrechtlich die Ausstattung eines/einer Einzelnen oder einer kleinen Gruppe mit den Befugnissen einer größeren Gruppe. Vielmehr sieht Bourdieu umgekehrt die Delegation als ein Prinzip, mit Hilfe dessen sich diese größere Gruppe überhaupt erst konstituiert: "Delegation ist also der Akt, durch den sich eine Gruppe formiert, indem sie sich mit all dem ausstattet, was eine Gruppe zu einer solchen erst macht" (Bourdieu 1992a: 176) Der oder die Delegierte bringe als Signifikat nicht nur die bezeichnete Gruppe zum Ausdruck, er/sie repräsentiert sie nicht bloß, "vielmehr", so Bourdieu (1992a: 178), "bedeutet er sie zu existieren, verfügt er über die Macht, die von ihm bedeutete Gruppe vermittels Mobilisierung zu sichtbarer Existenz aufzurufen." Allein dadurch, dass zwischen der mit dem repräsentativen Mandat ausgestatteten Person und der potenziellen Rede dieser Person keine Einheit besteht, man also für etwas gewählt sein und dennoch gegen die, von denen man gewählt worden ist, handeln kann, sei die Abweichung in der Delegation immer schon enthalten, d.h. dass "die Entfremdung zwischen Mandanten und Mandatsträger der Delegationsbeziehung als Möglichkeit immer schon immanent ist." (Bourdieu 1992a: 177) Nicht alle sind allerdings gleichermaßen darauf angewiesen, eine Delegationsbeziehung einzugehen. Den Herrschenden kommen die nicht artikulierten Stimmen isolierter AkteurInnen tendenziell zugute, da diese Stimmen als solche die herrschende Ordnung nicht in Frage zu stellen vermögen. Die Beherrschten hingegen sind auf die Delegation angewiesen, denn nur die Mittel der Repräsentation bringen sie überhaupt zur (legitimen) Existenz. Demnach sind also vor allem ökonomisch und kulturell Arme, d.h. mit wenig Geld und Bildungskapital Ausgestattete nach Bourdieu davon abhängig, Delegationsbeziehungen einzugehen. Isolierte Individuen, ungeübt, ihre Stimme zu erheben und nicht vermögend genug, sich Gehör zu verschaffen, seien auf die Alternative angewiesen "zu schweigen oder andere für sich sprechen zu lassen." (Bourdieu 1992a: 178) Diese strukturelle Ausgangssituation der Unterprivilegierten macht Bourdieu selbst noch im Pariser Mai 1968 aus, der von anderen Intellektuellen als ermächtigendes Ereignis interpretiert wurde, in der die bis dahin Sprachlosen - d.h. auch die politisch Unorganisierten - ihre Stimme erhoben hätten. Bourdieu hingegen meint, es sei vergessen worden, dass "der Akt des Wortergreifens, von dem während und nach den Mai-Ereignissen so viel die Rede war, immer ein Ergreifen der Worte der anderen ist oder vielmehr: ihres Schweigens [...]." (Bourdieu 1998a: 300)[2] Es geht schließlich nicht nur um das Angewiesen-Sein auf Delegation, sondern darüber hinaus auch um die historisch-materiellen Möglichkeiten und die Befähigungen dazu. Bourdieu entwickelt hier bereits eine Figur fundamentaler Differenz in den Ausgangspositionen der artikulierten und gehörten Rede, die später von den Postcolonial Studies vertieft wurde: Gayatri Chakravorty Spivaks (2008 [1988]) berühmt gewordene Infragestellung "Can the subaltern speak?" wurde u.a. in Auseinandersetzung mit Michel Foucault und Gilles Deleuze entwickelt, die zu den Begeisterten der Ermächtigung von 1968 gehörten.


I. Die Dilemmata der zapatistischen Politik

Die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) hatte in ihrer "6. Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald" im Juni 2005 bekannt gegeben, fortan mit politischen Parteien, denen sie von Anfang ablehnend gegenüber stand, auch nicht mehr in strategischen Allianzen zusammenzuarbeiten.[3] Die Ablehnung der Parteiform hatte die Geschichte der 1983 gegründeten Guerilla-Bewegung geprägt. Seit Beginn ihres Aufstands am 01.01.1994 hatten die Zapatistas in den eigenen Reihen basisdemokratische Organisationsformen etabliert. So wird in den zapatistisch kontrollierten Gemeinden nach dem Prinzip des "mandar obediciendo", des "gehorchenden Befehlens" regiert. Delegierte werden mit einem imperativen Mandat ausgestattet und in ihrer Amtsführung zeitlich begrenzt, so dass einerseits Machtanhäufung kaum möglich ist und andererseits eine weit gestreute Beteiligung ermöglicht wird. Die zahlreichen Mobilisierungen, die die Zapatistas über die Verwaltung der regionalen Autonomie hinaus unternahmen, richteten sich von Beginn an explizit nicht an politische Parteien, sondern an die so genannte "Zivilgesellschaft" (zu der die Parteien explizit nicht gezählt wurden). (Vgl. Kerkeling 2006)

Die in der 6. Erklärung zum Ausdruck gebrachte Haltung wirkte sich vor allem auf die politischen Kämpfe während des mexikanischen Präsidentschaftswahlkampfes 2006 aus. Anstatt sich für den Kandidaten der sozialdemokratischen Partei der Demokratischen Revolution (PRD), Andrés Manuel López Obrador (AMLO), auszusprechen, wie es viele andere linke Gruppierungen taten, gingen EZLN und zapatistische Bewegung in offensive Opposition zum gesamten politischen Establishment und gründeten, in Abgrenzung zu den Wahlkampagnen der politischen Parteien, die "Andere Kampagne". Dieser Mobilisierung schlossen sich rund 1000 Organisationen und Gruppen aus ganz Mexiko an. Dennoch zogen sich die Zapatistas mit dieser Haltung nicht nur viel Unmut in weiten Teilen der Linken zu, in der AMLO als Hoffnungsträger für ein Ende des Neoliberalismus und einen demokratischen Wechsel in Mexiko gesehen wurde. Dieser Unmut steigerte sich freilich noch, als die regierende Partei der Nationalen Aktion (PAN) mit Felipe Calderón an der Spitze - wenn auch unter höchst zweifelhaften Umständen - die Präsidentschaftswahl knapp gewann. Den Zapatistas wurde nicht nur die Wahlenthaltung angekreidet, sondern von vielen intellektuellen KommentatorInnen das Politisch-Sein überhaupt aberkannt. Bezogen auf die Weigerung der Zapatistas, sich positiv auf die Kampagne des PRD-Kandidaten bezogen zu haben, erklärte der Lateinamerikanist Albert Sterr (2007: 26) die EZLN für "befangen in ihrer Strategie, die Autonomie geographisch abgelegener und militärisch umzingelter Widerstandsgemeinden zu verteidigen." Sterr kritisiert hier zwar die konkrete Strategie der Bewegung ab Sommer 2005. Bereits einige Jahre zuvor hatte er allerdings in seinem gemeinsam mit Dieter Boris verfassten Buch geurteilt, mit Ausnahme der Autonomiefrage sei "der Zapatismus als Bewegung weder inhaltlich noch von seinen Organisationskapazitäten her interventionsfähig." (Boris/Sterr 2002: 161) Erst recht gelänge es nicht mehr, ins tagespolitische Geschehen einzugreifen und dauerhaft zu mobilisieren, was Boris und Sterr schon 2002 als "strategische Niederlage" (Boris/Sterr 2002: 162) und als Scheitern der "gesamtgesellschaftlichen Konzeption" (ebd.: 170) der Bewegung bezeichneten. Subcomandante Marcos, der Sprecher der EZLN, und die Andere Kampagne hätten sich in eine Situation "gefährlicher Isolierung" gebracht, meint auch der mexikanische Politikwissenschaftler Guillermo Almeyra (2009). Zwar hebt Almeyra die "ernsthafte Arbeit" in den autonomen Gemeinden hervor, beklagt aber ähnlich wie Sterr, die Zapatistas hätten durch die ablehnende Haltung gegenüber der PRD im Jahr 2006 und indem sie ihre ehemaligen Verbündeten in der parlamentarischen Linken als "VerteidigerInnen des Systems" bezeichnet hätten, "antipolitische Propaganda" gemacht. (Und das ausgerechnet in einem Moment, so Almeyra, in dem die "Mehrheit der ArbeiterInnen" eine Veränderung durch die Wahlen erwartet hätte.)

Aber nicht nur die intellektuelle Anerkennung, auf die Bewegungen auch verzichten können, solange es gelingt, erfolgreich zu mobilisieren, sondern auch diese Mobilisierungskraft selbst wurde zum Problem. Auch wenn viele, gerade pro-zapatistische SoziologInnen eine anhaltende Popularität im In- und Ausland diagnostizieren (vgl. z.B. Kerkeling 2009, Leyva Solando 2009), so sind doch zumindest Brüche in der nationalen Mobilisierungsfähigkeit wie auch der internationalen Aufmerksamkeit gegenüber dem zapatistischen Aufstand nicht von der Hand zu weisen. Diese Brüche haben auch mit der Akzeptanz dessen zu tun, was legitimer Weise unter Politik verstanden wird. Die Bedingung der Möglichkeit für die breite Legitimierung eines anderen, nicht-delegationistischen Politikmodells ist, so ließe sich sagen, erneut in die Krise geraten.


Dilemmata libertärer Politik: Eingeschränkte Effektivität, Notwendigkeit permanenter Mobilisierung, Universalismus als Praxiseffekt

Wer die eigenen Anliegen gesellschaftlich durchsetzen will, muss, wie Simone Weil es ausgedrückt hat, "sich wirksam interessieren". Eine solch wirksame Interessendurchsetzung ist aber mit fundamental delegationskritischen Mitteln nur begrenzt möglich. Denn in puncto Wirksamkeit sind andere Organisationsformen als basisdemokratische oft effektiver, d.h. schneller in der praktischen Umsetzung gefasster Beschlüsse ebenso wie in der praktischen Reduktion von Komplexität vermittelbarer. Auch ohne so verstandene Effektivität - die selbstverständlich umstritten und kein Wert an sich ist - kann es gelingen, die eigenen partikularen Anliegen zeitweise zu allgemeinen zu machen, wenn deren Allgemeinheit von möglichst vielen Menschen als solche akzeptiert wird. Wenn dies gelingt, spricht man gemeinhin von Hegemonie. Auch wenn die Gründe für den zapatistischen Aufstand - die Armut im Süden des Landes, die rassistische Ausgrenzung der indigenen Bevölkerungsgruppen und die neoliberale Politik des Staates - kaum ausgeräumt sind, konnten sich die zapatistischen Vorschläge zu deren Abschaffung nicht auf Dauer als allgemein akzeptiert durchsetzen. Die zapatistische Interventionsfähigkeit ist deshalb nicht unbedingt verloren (wie Sterr meint), sondern sie hat sich eher verschoben: Von den nationalen Debatten hin zu Mikropolitiken von Gruppen und gesellschaftlichen Sektoren, die zapatistische Prinzipien verstärkt in den letzten Jahren zu ihren eigenen machen (Indigene in anderen Bundesstaaten als Chiapas, SexarbeiterInnen, Stadtteilgruppen, Menschenrechtsorganisationen u.a.).

Auch hinsichtlich der internationalen Aufmerksamkeit und der transnationalen Bezugspunkte hat es Brüche gegeben, die an die Frage von politischer Legitimität geknüpft sind. Basisdemokratische Mobilisierung, erst recht transnationale, kann sich nicht auf bestehende Institutionen verlassen, sondern muss dauerhaft mobilisieren (und instituieren). Das ist nur begrenzt möglich. Zwar existieren in den verschiedensten Teilen der Welt nach wie vor pro-zapatistische Gruppen, aber dennoch kann eine verringerte Resonanz verglichen mit den 1990er Jahren oder dem Beginn des Jahrtausends diagnostiziert werden. Dabei ist zum einen die Krise der globalisierungskritischen Bewegungen, die vom Zapatismus mit angestoßen wurden und in denen er lange als Stichwortgeber fungiert hat, als Krise der internationalen Aufmerksamkeit auf den Zapatismus selbst zurückgeschlagen. Wenn auch die UnterstützerInnen ihre Artikulationen kaum mehr in die öffentlichen Debatten einbringen können, steht es um die internationale Vermittlung der Radikalität des Zapatismus selbst erst recht schlecht. Darüber hinaus haben andere Modelle politischer Transformationsversuche, insbesondere die "Bolivarianische Revolution" in Venezuela und die "Bewegung zum Sozialismus" (MAS), deren Anführer Evo Morales 2005 zum Präsidenten Boliviens gewählt wurde, innerhalb und außerhalb der lateinamerikanischen Linken als Bezugspunkte an Bedeutung gewonnen. Gerade das Erstarken der staatlich orientierten Linken hat nicht wenig dazu beigetragen, die anti-staatliche Ausrichtung des Zapatismus (wieder) als anti-politische zu identifizieren. Auf den Staat ausgerichtetes Agieren wurde nicht nur als politisch effektiveres interpretiert, sondern als politisch schlechthin, womit die zapatistische "Politik" als letztlich unpolitische Nischenstrategie abgetan werden konnte.

Ein drittes Dilemma, dem die Zapatistas allerdings nicht mehr ganz so sehr verfangen sind wie andere libertäre Bewegungen, lässt sich als Praxiseffekt beschreiben: Aus der grundsätzlichen und praktischen Ablehnung der Delegationsbeziehungen wird auf deren theoretische Konzeptualisierung verzichtet. Auch wenn der Kampf um eine Politik ohne Delegation praktisch innerhalb der eigenen Strukturen konsequent und überzeugend geführt wird, bleibt die Frage zu klären, wie diese Strukturen sich im und zum sozialen Raum insgesamt verhalten. Wird in dieser Hinsicht nicht konzeptualisiert, wer wann für wen spricht, wird meist stillschweigend ein alle umfassender Delegationsanspruch vertreten. Vor allem in den bewegungstheoretischen Bezugnahmen auf den Zapatismus spiegelt sich das anarchistische Dilemma, in humanistisch-aufklärerischer Tradition im Namen aller ("der Menschheit") sprechen zu wollen, und damit konkrete und sehr differierende Ausgangspositionen zu negieren. Dieses Dilemma kennzeichnet die zapatistische Bewegung allerdings weniger als die von ihr inspirierten theoretischen Entwürfe.[4]

Die dilemmatische Situation, in der sich die fundamentale Delegationskritik befindet, sich selbst gerade wegen dieser Haltung zu Delegation immer wieder aus dem Bereich des Politischen ausgegrenzt zu sehen, obwohl es um die Erneuerung und Radikalisierung des Politischen (als einem nicht-delegationistischen Verhältnis) geht, lässt sich zwar am Zapatismus gut zeigen, ist aber keineswegs allein sein Problem.


Zapatismus als libertäre Bewegung (Exkurs)

Die hier skizzierten Dilemmata sollten trotz ihrer historischen und geografischen Spezifik nicht als Ausnahmefall innerhalb der Geschichte der Linken betrachtet werden. Vielmehr sind sie in deren Tradition zu sehen, in jener brüchigen und vielgestaltigen Linie jener Bewegungen, die, wie es Antonio Negri für die globalisierungskritische Mobilisierung von Genua wie auch für die Zapatistas beschreibt, für eine kollektive Aktion stehen, "die dem Vorgehen der Macht nicht homolog ist; [...]." (Negri/Scelsi 2009: 89) Die zapatistische Position, sich von staatlichen Institutionen fernzuhalten und die Arbeit im Parlament und mit parlamentarischen Gruppen abzulehnen, hat ihre Vorläufer bereits in der so genannten Antiautoritären Internationale.[5] Diese hatte sich im September 1872 im schweizerischen Saint Imier gegründet, nachdem sich innerhalb der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA), der Ersten Internationale, die Anhänger von Karl Marx durchsetzen konnten und diese sich auf ihrem Kongress in Den Haag 1872 spaltete. Der Antiautoritären Internationale gehörten die Föderationen von Italien, Spanien, Frankreich, Belgien, Holland, England, den USA und dem Schweizer Jura an. Diese lehnten die zentrale Führung als organisatorisches Mittel der Internationalen Arbeiterassoziation ebenso ab wie die Eroberung der Staatsmacht als deren politisches Ziel. Diese beiden Aspekte kennzeichnen libertäre Bewegungen vom 19. bis ins 21. Jahrhundert hinein. Noch im Buchtitel von John Holloways pro-zapatistischem Theorieentwurf "Die Welt erobern, ohne die Macht zu übernehmen", strahlt dieser anarchistische (bei Holloway allerdings nirgendwo als solcher ausgewiesene) Esprit der Antiautoritären nach. In dieser Bindung von Mittel und Zweck vollzieht sich auch die Verknüpfung der beiden Delegationsebenen, die (möglichst ausgeschaltete) Delegation in den eigenen Organisationen und die grundsätzliche Ablehnung des Delegationsprinzips als politisches Prinzip, d.h. als Prinzip der Politik. Die Kritik an der Delegationsbeziehung ist also weder eine theoretische Erfindung Bourdieus noch eine praktische der Zapatistas, sondern sie findet sich in den radikalen Strömungen der ArbeiterInnenbewegung seit dem 19. Jahrhundert.[6]

Während der Anarchismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch in vielen Ländern Massen mobilisieren konnte und über mitgliederstarke Organisationen verfügte, bedeutete das Scheitern der Spanischen Revolution zu Beginn des Bürgerkrieges 1936 einen tiefen Einschnitt für die anarchistischen Bewegungen. Zwar hatten die - vor allem internationalen - Bedingungen des Krieges dazu geführt, die AnarchistInnen auf verlorenem Posten stehen zu lassen. Allerdings hatten auch anarchistische Theorie wie Praxis kaum Strategien vorzuweisen, wie der eigene gesellschaftliche Einfluss ohne die Mitarbeit in (wie auch immer) regierenden Gremien sichergestellt und dauerhaft etabliert werden sollte. Walther L. Bernecker hatte diese fehlenden Konzepte des Übergangs (zur Revolution) für die AnarchistInnen im Spanischen Bürgerkrieg in "der anarchistischen Verachtung jeder systematischen Theorie" (Bernecker 1980: 43) ausgemacht, die gerade die Treue zur freiheitlichen Überzeugung zum Ausdruck bringen sollte. Auch andere, dem Anarchismus gegenüber (wie Bernecker) durchaus freundlich gesinnte KommentatorInnen und WissenschaftlerInnen haben genau diese Theoriefeindschaft und die konzeptuelle Offenheit immer, spätestens seit dem Scheitern der Spanischen Revolution, als Schwäche des Anarchismus interpretiert. "Aber der unbedingte moralische Anspruch", urteilt auch Hans Magnus Enzensberger (1977: 212f.) über die AnarchistInnen im Spanischen Bürgerkrieg, "den sie an sich selbst und an ihre Bewegung stellten, trug zu ihrem Verhängnis bei. Er wandte sich als nagender Zweifel, als skrupulöses Zögern gegen sie, sobald ihnen auch nur der erste taktische Schritt auf dem Weg zur Macht abverlangt wurde".[7] Im Zapatismus existiert - neben den räte- und basisdemokratischen Strukturen und der Ablehnung staatlicher Macht - zwar ebenso wie im Anarchismus eine (zumindest den Prinzipien nach) theoretische Offenheit und der programmatische Wille, sich nicht festzulegen ("preguntando caminamos"). Dennoch war die zapatistische Politik durchaus von taktischen und strategischen Überlegungen geprägt, ablesbar in den verschiedenen und zu sehr überlegten Zeitpunkten angestoßenen zivilgesellschaftlichen Initiativen wie auch an den demokratischen Umstrukturierungen innerhalb der autonomen Gemeinden. Eine dieser Umstrukturierungen fand 2003 statt und mündete in einer neuen, rätedemokratischen Verwaltungsstruktur - den so genannten "Räten der Guten Regierung" -, in der u.a. die Gemeinden gegenüber der militärischen Organisation mit mehr Macht ausgestattet wurden.[8]


II. Die Dilemmata der pro-zapatistischen Bewegungsforschung

Nun gibt es allerdings auch unter den politischen KommentatorInnen Positionen, die gegensätzliche Einschätzungen zu denen von Sterr, Almeyra etc. vertreten. So hebt beispielsweise Luis Hernández Navarro (2008) gerade angesichts der Anderen Kampagne den "enormen Bruch", den die Zapatistas "in der Art und Weise, Politik zu machen", herbeigeführt hätten, hervor und verteidigt ihn. Solche Einschätzungen existieren ebenfalls in der Forschung zu sozialen Bewegungen. (Vgl. z. B. Brand 1998, Mignolo 2002) Diese Ansätze der Bewegungsforschung versuchen nun gerade, die zapatistische Politik als das darzustellen, was sie selbst für sich beansprucht, nämlich Politik zu sein, und dieses Politisch-Sein als solches einzuklagen und zu verteidigen. Sie führen also einen Kampf um Kategorien. Kategorien sind nach Bourdieu (1993: 26) keine neutralen Klassifizierungsmodelle, sondern "Kampfkonzepte", Akte des Bezeichnens und Benennens, die gegenüber anderen Akten und wie diese mit dem Anspruch auf universelle Gültigkeit auftreten.

Damit offenbaren die emphatischen BewegungsforscherInnen aber immer auch ihr doppeltes Interesse an der Sache: Sie schreiben zugleich aus Interesse für die und im Interesse der Sache. Das Interesse ist, so Bourdieu (1992b: 225) "ein Unterschiede setzendes Urteil, das nicht nur durch Erkenntnisinteressen gelenkt wird." Ein solches "doppelte Interesse" läuft immer Gefahr, eine Art von "Erbauungswissenschaft" (Bourdieu 1992b: 229) hervorzubringen. Diese verknüpft wissenschaftliche Klarsicht mit politischer Treue und dies vor allem zugunsten der eigenen (intellektuellen) Akkumulation symbolischen Kapitals. Glaubt man Bourdieu, äußert sich in einer solchen Erbauungswissenschaft vor allem die Glaubensvorstellungen der Forschenden.


Sozialwissenschaftlicher Kampf um Worte und/oder Erbauungswissenschaft: John Holloway und Raúl Zibechi

Der Politikwissenschaftler John Holloway hat sich in verschiedenen Publikationen dem zapatistischen Aufstand gewidmet (vgl. z. B. Holloway 1997, 2001, 2002, 2006) und gehört international zu den meist diskutierten, pro-zapatistischen Intellektuellen (zur Rezeption vgl. z.B. Birkner/Foltin 2006: 108ff., Kastner 2006). In seinem Buch "Die Welt erobern, ohne die Macht zu übernehmen" (2002) interpretiert er das "Ya Basta! Es reicht!", mit dem die Zapatistas ihren Aufstand 1994 begannen, als "Schrei der Verweigerung" gegen die "Verstümmelung des menschlichen Lebens durch den Kapitalismus" (Holloway 2002: 10). Dieser Schrei ist aber nicht bloß Negation, sondern "praktische Negation" (Holloway 2002: 35), d.h. er ist ein Tun, das einen gegebenen Zustand angreift und überwindet. Im Anschluss an die Marx'schen Frühschriften fasst Holloway das Tun als Gegensatz zur (entfremdeten) Arbeit. (Vgl. Holloway 2002: 47) Der Kapitalismus trennt, kurz gesagt, das Tun vom Getanen, um das Getane aneignen und akkumulieren zu können. Produkte der Arbeit nehmen Warenform an und negieren damit die Gesellschaftlichkeit des Tuns. Damit trennt der Kapitalismus durch (entfremdete) Arbeit nicht nur Tun von Getanem, sondern durch die Negation der Gesellschaftlichkeit des Tuns fragmentiert er auch das Soziale. Das Tun hingegen ist "die materielle Konstitution des "Wir'" (Holloway 2002: 40), das gegen die Trennung von Tun und Getanem aufbegehrt, die der Kapitalismus vollzieht. Dieses schreiende, revoltierende "Wir" besteht also keinesfalls nur aus einer Gruppe von Menschen im Süden Mexikos und ihren UnterstützerInnen in aller Welt und nicht einmal aus einer anderen, identifizierbaren sozialen Einheit (beispielsweise einer empirischen Arbeiterklasse). Es ist verallgemeinerbar. Das "Ya Basta" existiere, so Holloway (2006: 50) "in uns allen", und zwar "ganz einfach weil es ein untrennbarer Teil des Lebens in einer unterdrückerischen Gesellschaft" (ebd.) sei.

Die repressionstheoretische Zeitdiagnose einer "unterdrückerischen Gesellschaft", in der das Kapital der Zwang ist, "der sich als fremde Kontrolle über unsere Aktivitäten legt" (Holloway 2006: 62), ist voraussetzend für die Wertschätzung der Brüche in den Konzeptionen von Politik, die die Zapatistas herbeigeführt haben. Sie ermöglicht die Vorstellung einer "eigenen", vom Kapital unabhängigen Gestaltung des kollektiven Lebens. Eine solche alternative Organisation kollektiven Lebens deute sich beispielsweise im zapatistischen Prinzip des "gehorchenden Befehlens" (mandar obedeciendo) an, einem Verfahren zur Entscheidungsfindung, das die Handlungsspielräume der Delegierten an die Entscheidungen der Basisversammlungen knüpft und damit extrem einschränkt. Die langsamen, weil basisdemokratischen Entscheidungsprozesse in den zapatistischen Gemeinden waren zwar nicht der Grund, aber ein Auslöser für das Scheitern der Verhandlungen zwischen den Zapatistas und der mexikanischen Regierung 1996. Der EZLN-Delegierte Comandante Tacho sprach hinsichtlich der "eigenen" Zeitlichkeit die schönen Worte: "Wir gebrauchen die Zeit, nicht die Uhr." (La Jornada, 18.05.1995, zit n. Holloway 2007: 16) Dies ist ein aus der Sicht Holloways paradigmatisches Statement, da jede Rebellion, die auf Selbstbestimmung aus sei, "sich notwendiger Weise der Uhr mit einer ganz anderen Zeit entgegenstellen muss." (Holloway 2007: 16) Selbstbestimmung, d.h. Autonomie ist nach Holloway "die andere Seite der Aussage, die Welt zu verändern, ohne die Macht ergreifen zu wollen." (Holloway 2006: 61) Die gesellschaftlichen Kämpfe würden demnach auch weniger konfrontativ gegen andere bzw. gegen das Kapital geführt, sondern verstärkt für die eigene Gruppe bzw. die eigene Autonomie bzw. die "Schaffung unserer eigenen Welt" (Holloway 2006: 62).

Auch Raúl Zibechi, Sozialwissenschaftler und Journalist aus Uruguay, hat vielfach zum Zapatismus publiziert und die Bewegung mit seinen Schriften unterstützt (vgl. z.B. Zibechi 1995, 1999). In seinem aktuellen Buch über "Bolivien - Die Zersplitterung der Macht" (2009) beschreibt er den Zapatismus als Ausgangspunkt für eine ganze Reihe von sozialen Bewegungen, denen es nicht mehr um die Übernahme der Staatsmacht, sondern um "den Aufbau einer neuen Welt" (Zibechi 2009: 12) ginge. Die dörfliche, kommunale und regionale Autonomie, insbesondere in Form der "Juntas de Buen Gobierno" - seit 2003 werden die zapatistisch kontrollierten autonomen Landkreise von den so genannten "Räten der Guten Regierung" verwaltet - habe gezeigt, dass es möglich ist, nicht-bürokratische Machtformen aufzubauen, "die auf der Rotation der Repräsentanten basieren und nichts mit den staatlichen Herrschaftspraktiken gemein haben." (ebd.) Zibechi nennt noch weitere, ähnlich organisierte soziale Bewegungen in Lateinamerika (die Piqueteros in Argentinien, die Landlosenbewegung in Brasilien und eben die der Aymara in Bolivien), die mit dem Zapatismus gemein hätten, dass sie im Alltag verankert seien. Diese Bewegungen existierten nicht nur als politische Organisationen, sondern gleichsam als Organisatorinnen des Alltagslebens.[9] Damit schüfen sie neue Formen von sozialen Beziehungen. Diese neuen Beziehungen münden laut Zibechi einerseits in der Schaffung neuer Gemeinschaften[10], sind andererseits aber nicht als abschließende und eingrenzende Gruppenprozesse zu verstehen, sondern als Teil einer Entwicklung, die Marx als das "in Freiheit setzen" von Elementen einer neuen Gesellschaft in der alten verstanden hat. Der Kommunismus, so Marx im Kommunistischen Manifest, sei potenziell in der kapitalistischen Gesellschaft enthalten. Zibechi greift diese Potenzialität auf und proklamiert sie zum Kennzeichen der von ihm beschriebenen, aktuellen Bewegungen (vgl. Zibechi 2009: 14ff.). Auch Zibechi bezieht sich auf die vom Zapatismus angemahnte Notwendigkeit für diese Bewegungen, "einen Zeitbegriff zu entwickeln, der von den internen Rhythmen abhängt und nicht von den Rhythmen des Systems." (Zibechi 2009: 19) Ähnlich wie Holloway - der auch das Vorwort zu Zibechis Buch verfasst hat (vgl. Holloway 2009) - geht Zibechi von einer vielfältigen Handlungskapazität "von unten" aus, die das gesellschaftlich Instituierte zersetzt. Zudem ist seine Analyse von der Prämisse geprägt, dass die "Mobilisierung der Armen" einen "aufständischen Charakter" (Zibechi 2009: 25) habe.

Die Positionen Holloways und Zibechis überschneiden sich in wesentlichen Punkten: Erstens beschreiben sie beide die delegations- und repräsentationskritischen Praktiken gerade nicht als Abkehr von der Politik, sondern als neue Form des Politischen. Diese Form der Politik ist zweitens in beider Beschreibung im doppelten Sinne keine Parteienpolitik, sie richten sich gegen die parlamentarisch-demokratischen Parteien mit ihrer Vertretungslogik in personeller Hinsicht, indem sie Räte bzw. Versammlungen an die Stelle von Parteihierarchien und -funktionärstum setzt, und in zeitlicher Hinsicht, in dem Politik und Alltag so nahe wie möglichst zusammen gebracht und nicht als zwei getrennte Sphären existieren sollen. Und sie sind zwar gemeinschaftlich, aber doch nicht als Gruppen mit partikularen Interessen formiert und beanspruchen insofern mehr als ein Teil (Lat.: pars, partis) zu sein: Wir alle, die Armen. Beider Schriften sind somit geprägt von einem stillen Vertrauen in die schlummernde Revolte der "Volksmassen" (Zibechi 2009: 161), die nur geweckt werden müsste.[11] Sie verknüpfen damit in libertärer Tradition die beiden Ebenen der Delegation und vollziehen zugleich das, was oben als Praxiseffekt bezeichnet wurde: Da man sie politisch ablehnt, diese Ablehnung in den eigenen Reihen praktiziert - im Falle der BewegungsforscherInnen: praktiziert sieht -, und damit die Delegationskritik auch für das gesamte politische Feld meint praktisch werden zu lassen (bzw. zu sehen), geraten analytisch die mannigfaltigen Gründe, Motivationen und Funktionsweisen der Delegationsbeziehungen aus dem Blick. Deren Funktionieren, das auf symbolischer Gewalt, d.h. unterhinterfragten Denk- und Wahrnehmungsschemata beruht, und dennoch bzw. deshalb konsensual aktualisiert wird, kann auf diese Weise kaum mehr untersucht, geschweige denn verstanden werden. Demgegenüber kann das theoretische Augenmerk Bourdieus auf die radikal verschiedenen Dispositionen und Positionen der AkteurInnen innerhalb des sozialen Raums für die Forschung zu sozialen Bewegungen gewinnbringend in Anschlag gebracht werden. Denn mit der differenztheoretischen Prämisse Bourdieus lässt sich - zwar illusionsloser, aber deshalb nicht notwendiger Weise weniger engagiert - untersuchen, warum und inwiefern gegen die Delegationsbeziehung aufbegehrt wird, aber eben auch, warum nicht.


III. Zusammenführung: (Praxis-)Theorie der sozialen Kämpfe und die habituelle Trägheit der Verhältnisse

Dass die Wertschätzung der Delegationskritik auch die Glaubensvorstellung der Wertschätzer zum Ausdruck bringt, wie Bourdieu meint, dürfte bei Zibechis und Holloways Lesweise des Zapatismus offensichtlich sein. Diese intellektuelle Positionsbestimmung jedoch scheint weniger problematisch als die erbauungswissenschaftlichen Aspekte der mit ihnen einher gehenden, theoretischen Herangehensweise, die wichtige Gründe dafür nicht sehen und benennen kann, warum sich der repräsentations- und delegationskritische Anspruch politisch und als Politik so selten und wenn, dann nur so partiell verwirklicht. Eine Praxistheorie der sozialen Kämpfe darf aber die habituelle Trägheit der Verhältnisse nicht ausblenden.

Zum einen muss mit Bourdieu festgehalten werden, dass eine neue Welt jenseits der ausschließenden Repräsentationen, mystifizierenden Delegationsbeziehungen und Klassen reproduzierenden Sprechakte gegenwärtiger Politik nicht einfach dadurch entsteht, dass bestimmte Praktiken als das Schaffen einer neuen Welt beschrieben werden. Die Welten, die Holloway und Zibechi beschreiben, sind doch faktisch relativ klein und nichts garantiert ihre Ausbreitung - auch und schon gar nicht die Beteuerung der Universalität der Anliegen und der universellen Mobilisierbarkeit der Armen. Der auf diesen beiden Momenten ruhende Fortschrittsoptimismus innerhalb der Linken und der sozialen Bewegungen ist bereits derart oft enttäuscht worden, dass eine sozialwissenschaftliche Perspektive allein als "Lehre aus der Geschichte" auf die Unterstellung verzichten sollte. Darüber hinaus kann die Vorstellung einer prinzipiell in allen schlummernden Revolte ebenso wie die des aufständischen Charakters der Armen die vielfältigen Verhältnisse des Einverständnisses und der ökonomischen wie kulturellen Rendite nicht fassen. Die Frage, die Bourdieu so sehr beschäftigt hat, warum Menschen gegen entwürdigende Situationen nicht aufbegehren, wird bei Holloway und Zibechi mit den Verweisen auf die Revolte "in uns allen" und der Widerständigkeit der Armen ausgeklammert.

Zum anderen aber beteuert gerade auch Bourdieu die Bedeutung performativer Sprechakte in der und für die Politik. Er schreibt: "In der Politik ist nichts realistischer als der Streit um Worte. Ein Wort an die Stelle eines anderen setzen heißt, die Sicht der sozialen Welt zu verändern und dadurch zu deren Veränderung beitragen." (Bourdieu 2005: 84) Die entscheidende Frage ist schließlich, wann diese Sicht der sozialen Welt auf allgemeine Gültigkeit trifft und welche hegemonialen Schwankungen sie auf dem Weg dorthin durchmacht. Denn - und Bourdieu selbst hat immer wieder darauf hingewiesen - längst nicht alle Sprechakte, die einen solchen Beitrag zur Veränderung der Welt leisten wollen, gelingen auch. Ihr Gelingen ist extrem voraussetzungsreich und hängt von der gesellschaftlichen Verteilung aller Kapitalsorten ab. Klassen und andere gesellschaftliche Ungleichheiten werden zwar u.a. durch Sprechakte, also diskursiv reproduziert, aber die schlichte Nicht-Benennung macht diese Reproduktion nicht rückgängig. Sie ist verknüpft mit materiellen Praktiken, Macht- und Besitzverhältnissen, in diese eingelagert und insofern immer relativ langlebig.

Dass die Delegationsbeziehung überhaupt funktioniert, hat Bourdieu - im Anschluss an Èmile Durkheim und Marcel Mauss - als Form sozialer Magie beschrieben. "Die Logik der Politik ist die der Magie oder, wenn man das vorzieht, die des Fetischismus." (Bourdieu 2005: 85) Es erscheint magisch, dass die Delegation, die eine Entrechtung, eine Art Raub der Stimme und damit schließlich eine Entwürdigung ist, auf Einverständnis stößt, das nicht einmal mehr als solches formuliert werden muss, sondern als selbstverständlich gilt. Das ist das zentrale Kennzeichen des Fetischismus: den Prozess (hier des Stimmenraubs / der Entwürdigung) unsichtbar zu machen, um sein Ergebnis "unverständlich, als Wunder" (Lefèbvre 1968: 66) erscheinen zu lassen. Bourdieu selbst hat in seiner späten Schaffensphase die Aufgabe der Intellektuellen darin gesehen, diese Art von Magie zu entkräften. Um die Möglichkeit einer solchen Entkräftung zu denken, bedarf es eines Begriffes von sozialer Magie oder Fetischismus, der dynamisch und historisch, d.h. veränderlich ist. Einen solchen verwendet gerade John Holloway in seiner ausführlichen Beschäftigung mit der gesellschaftstheoretischen Bedeutung der Fetischisierung. Er unterscheidet zwei Formen des Fetischismus, eine "starre" und eine prozesshafte, und plädiert dafür, Fetischismus nicht als unveränderlichen Tatbestand, sondern als einen ständigen Kampf um Fetischisierung aufzufassen (vgl. Holloway 2002: 97). Fetischismus müsse als Fetischisierung und die Formen gesellschaftlicher Verhältnis als deren Formung verstanden werden. Dann sei klar, dass "Kategorien als offene Kategorien verstanden werden müssen." (Holloway 2002: 118)[12] Er kommt damit Bourdieu an dieser Stelle erstaunlich nahe: "Sobald die Denkkategorien nicht als Ausdrücke objektivierter gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern als Kampf um deren Objektivierung verstanden werden, bläst ein ganz anderer Sturm der Unvorhersagbarkeit durch sie hindurch." (Holloway 2002: 118) Auch Bourdieu hat sich diesem Kampf um Objektivierung gewidmet und die Kategorien der Wahrnehmung als Teile und Produkte dieses Kampfes beschrieben. Allerdings hat er im Unterschied zu Holloway auch die Stabilität objektivierter Verhältnisse, deren Ausdruck sie zugleich sind, betont. Deshalb bestünde der Sturm der Unvorhersagbarkeit aus Bourdieu'scher Perspektive immer nur in einer Reihe von leichten Brisen.

Die Position Holloways und Zibechis unterschätzt die symbolische Macht, die die Delegationsbeziehung als originär politische Beziehung und Beziehung des Politischen ausweist und stabil hält. Denn das "Wunder" (Lefèbvre), das der Fetischismus schafft, ist nicht nur vernebelnd und keinesfalls bloß unterdrückend, sondern - was an der Delegation so deutlich sichtbar wird wie kaum sonst - ermöglicht auch Partizipation und Prestige. (Die Delegationsbeziehung ist dementsprechend auch eher eine Be- als eine als Verzauberung, also keine manipulative Täuschung sondern eine - mehr oder weniger - begeisterte Teilhabe.) Es gilt also, das Problem der Teilhabe zu konzeptualisieren, das euphorische und widerwillige Mitmachen ebenso wie das geduldige Ertragen, die Trägheit des Sozialen zu begreifen. Dies ist aber im repressionshypothetisch fundierten, auf die potenzielle Mobilisierung "aller" vertrauenden Entwurf Holloways nicht möglich. Dass die Zeit des Kapitals durchaus auch auf Gegenliebe stößt, gerne ausgefüllt wird und nicht nur als "fremder Zwang" erscheint, ist im Holloway´schen Modell nicht denkbar. Darin gibt es nur Unterdrückung, bis die Magie durchschaut ist.

Soziale Bewegungen wie den Zapatismus als "Gemeinschaften" zu beschreiben, die jenseits kapitalistischer Form(ier)ung als deren Anderes gedacht werden, wie Holloway und Zibechi es tun, ist einer sozialwissenschaftlich ermöglichten Durchschaubarkeit fetischisierter Beziehungen eher hinderlich. Um ein Verständnis von Fetischismus als Prozess auch in der Bewegungsforschung ernst zu nehmen und in Anschlag zu bringen, müsste erstens den konsensuellen Praktiken Aufmerksamkeit geschenkt werden, mit denen auch BewegungsakteurInnen immer wieder partiell in hegemoniale Projekte eingebunden werden (können), und deshalb dürften zweitens auch nicht bestimmte gesellschaftliche Bereiche, Sektoren oder Milieus als gewissermaßen frei von Fetischismen konzipiert werden. Die "gemeinschaftlichen" Praktiken können zwar einerseits dazu beitragen, alternativen Modellen des Politischen Plausibilität und letztlich Legitimität zu verleihen. Dass solche Plausibilitäten auch praktisch erzeugt werden müssen, betont auch Bourdieu, wenn er auf die körperliche Dimension von Hinnahme und Beteiligung, die in der Delegationsbeziehung eingelassenen sind, hinweist. Diese beruhen auf einem "praktischen Glauben", der Gewohnheiten körperlich (und nicht nur im Kopf) verankert und gleichsam adressiert. Daher ist der Delegationsbeziehung schließlich nicht allein durch intellektuelle Anstrengung, durch klassische Aufklärungsarbeit zu begegnen. Es bedarf zu emanzipatorischer Veränderung nach Bourdieu (2001a: 220) einer wahren "Arbeit der Gegendressur, die ähnlich dem athletischen Training wiederholte Übungen einschließt, eine dauerhafte Transformation der Habitus zu erreichen." Auch wenn der Zapatismus durchaus politische Praktiken entwickelt hat, die in wiederholten "Übungen" überkommene Muster politischer Mobilisierung durchbrochen haben, darf solche Praxis andererseits nicht theoretisch verabsolutiert werden. Sie ist weder ein stabiles, absolutes Anderes noch Garant für dessen Möglichkeit.[13]

Die grundsätzliche Frage allerdings bleibt weithin umstritten, woran man die Effektivität der Effekte (auf die symbolische Ordnung) von sozialen Bewegungen überhaupt misst - eine Frage, die unweigerlich in die weiter gehende Diskussion darüber münden muss, wer legitimer Weise über die als legitim anerkannten Messinstrumente und Maßeinheiten verfügt.[14] Wie Bourdieu es für die Diskussionen um Begriffe wie "Volk", "volkstümlich" und "populär" konstatiert, deren legitimer Gebrauch im politischen Feld stets umstritten ist, bleiben die Sichtweisen auf den Zapatismus zwischen Nischenpolitik und Revolution zunächst vor allem "Streitobjekte zwischen Intellektuellen" (Bourdieu 1992c: 167). Dieser Streit jedoch müsste nicht unbedingt antagonistisch geführt werden. Man könnte es schließlich mit der mexikanischen Ökonomin Ana Esther Ceceña halten, die davon ausgeht, dass einerseits Konkurrenzverhältnisse durch Solidarität nur praktisch ersetzt werden können, indem, wie im Zapatismus, "das Politische als alltägliche Praxis der Vermittlung zurückgewonnen wird" (Ceceña 2009: 21) - wohl wissend, dass andererseits der Kapitalismus damit keinesfalls abgeschafft ist, denn er "steckt uns in den Knochen." (ebd.: 20) In diesem Sinne wäre sozialwissenschaftlich wie politisch für einen aufgeklärten Dilemmatismus zu plädieren, der die politischen Fallstricke der Delegation und Repräsentation nicht leugnet (oder vertuscht), sondern offensiv benennt.

Die Priestersicht der Politik hat schließlich dazu geführt, die (auf Delegation gegründeten politischen) Apparate mit einer Selbstkonsekration auszustatten, die zur Folge hat, dass nicht als politisch gilt (und sich deshalb schuldig fühlt), wer nicht mitmacht. Um die Priestersicht der Politik zu verändern, muss es schließlich darum gehen, nicht nur die Sichtweise anzugreifen, sondern auch die Apparate. Theorien der Praxis und der sozialen Kämpfe - unter dieser Kennzeichnung ließen sich der Holloway'sche Marxismus und der Bourdieu'sche Ansatz gleichermaßen rubrizieren - können einen Beitrag zu solchen Angriffen leisten (indem sie andere Praktiken beschreiben und/ oder als schreibende Praxis selbst intervenieren). Sie decken aber mit den von ihnen produzierten Sichtweisen niemals das ganze Schlachtfeld ab - geschweige denn die Gesamtheit der Kämpfe.


E-Mail: petzos@yahoo.de


Literatur

Almeyra, Guillermo (2009): "A 15 años del levantamiento zapatista". In: La Jornada, Mexiko-Stadt, 11. Januar 2009
http://www.jornada.unam.mx/2009/01/11/index.php?section=opinion&article=018a2pol (06.07.2009)

Bernecker, Walther L. (Hg.) (1980): Kollektivismus und Freiheit. Quellen zur Geschichte der Sozialen Revolution in Spanien 1936-1939. München (dtv).

Bewernitz, Torsten (2002): Global X. Kritik, Stand und Perspektiven der Antiglobalisierungsbewegung. Münster (Unrast Verlag).

Boris, Dieter und Albert Sterr (2002): FOXtrott in Mexiko. Demokratisierung oder Neopopulismus? Köln (Neuer ISP Verlag).

Bourdieu, Pierre (1991): "Ich bin dazu da, die Intellektuellen nicht in Ruhe zu lassen. Jeanne Pachnicke im Gespräch mit Pierre Bourdieu". In: ders.: Die Intellektuellen und die Macht, hg. von Irene Dölling. Hamburg (VSA-Verlag), S. 13-41.

Bourdieu, Pierre (1992a): "Delegation und politischer Fetischismus". In: ders: Rede und Antwort. Frankfurt a. M. (Suhrkamp Verlag), S. 174-192.

Bourdieu, Pierre (1992b): "Soziologen des Glaubens und der Glaube des Soziologen". In: ders: Rede und Antwort. Frankfurt a. M. (Suhrkamp Verlag), S. 224-230.

Bourdieu, Pierre (1992c): "Der Begriff 'Volk' und sein Gebrauch". In: ders: Rede und Antwort. Frankfurt a. M. (Suhrkamp Verlag), S. 167-173.

Bourdieu, Pierre (1993): "Die historische Genese der reinen Ästhetik". In: Gebauer, Gunter und Christoph Wulf (Hg.): Praxis und Ästhetik. Neue Perspektiven im Denken Pierre Bourdieus. Frankfurt a. M. (Suhrkamp Verlag), S. 14-32.

Bourdieu, Pierre (1998a): Homo academicus. Frankfurt a. M. (Suhrkamp Verlag), 2. Aufl.

Bourdieu, Pierre (1998b): "Der Beruf der Wissenschaft und die soziale Bewegung". In: ders.: Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion. Konstanz (UVK), S. 60-67.

Bourdieu, Pierre (2000): Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens. Konstanz (UVK).

Bourdieu, Pierre (2001a): Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Frankfurt a. M. (Suhrkamp Verlag).

Bourdieu, Pierre (2001b): "Für eine europäische soziale Bewegung". In: ders.: Gegenfeuer 2. Für eine europäische soziale Bewegung. Konstanz (UVK), S. 14-26.

Bourdieu, Pierre (2005): "Die verborgenen Mechanismen der Macht enthüllen". In: ders.: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zu Politik & Kultur 1. Hamburg (VSA), S. 81-86.

Birkner, Martin und Robert Foltin (2006): (Post-)Operaismus. Von der Arbeiterautonomie zur Multitude. Geschichte und Gegenwart, Theorie und Praxis. Stuttgart (Schmetterling Verlag).

Brand, Ulrich (1998): "Die demokratische Frage, gestellt 'aus den Bergen im mexikanischen Südosten'". In: Görg, Christoph und Roland Roth (Hg.): Kein Staat zu machen. Zur Kritik der Sozialwissenschaften. Münster (Verlag Westfälisches Dampfboot), S. 462-483.

Ceceña, Ana Esther (2009): "Gesellschaftliche Gabelungen". In: Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis, Heft 1, Berlin, Jg. 1/2009, S. 18-21.

Enzensberger, Hans Magnus (1977): Der kurze Sommer der Anarchie. Frankfurt a. M. (Suhrkamp Verlag).

Gilroy, Paul (2001): Against Race. Imagining Political Culture Beyond the Color Line. Cambridge, Ma. (Belknap Press of Harvard University Press).

Hernández Navarro, Luis (2008): "El horizonte zapatista". In: La Jornada, Mexiko-Stadt, 18. November 2008,
http://www.jornada.unam.mx/2008/11/18/index.php?section=opinion&article=019a1pol (06.07.2009)

Holloway, John (1997): "Mit Wahrheit bewaffnet. Der Begriff der Macht und die Zapatistas". In: REDaktion (Hg.): Chiapas und die Internationale der Hoffnung. Köln (ISP Verlag), S. 147-153.

Holloway, John (2001): "El zapatismo y las ciencias sociales en América Latina". In: Observatorio Social de América Latina, Buenos Aires, Juni 2001, Heft 4, S. 171-176.

Holloway, John (2002): Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen. Münster (Verlag Westfälisches Dampfboot).

Holloway, John (2006): Die Zwei Zeiten der Revolution. Würde, Macht und die Politik der Zapatistas. Wien (Verlag Turia + Kant).

Holloway, John (2007): "Thompson und die Zersetzung der abstrakten Zeit". In: ders. und Edward P. Thompson: Blauer Montag. Über Zeit und Arbeitsdisziplin. Hamburg (Edition Nautilus), S. 5-17.

Holloway, John (2009): "Vorwort". In: Zibechi, Raúl: Bolivien - Die Zersplitterung der Macht. Mit einem Vorwort von John Holloway. Hamburg (Edition Nautilus), S. 5-9.

Kastner, Jens (2004): "Zapatismus und Transnationalisierung. Anmerkungen zur Relevanz zapatistischer Politik für die Bewegungsforschung". In: Kaltmeier, Olaf, Jens Kastner und Elisabeth Tuider (Hg.): Neoliberalismus - Autonomie - Widerstand. Soziale Bewegungen in Lateinamerika. Münster (Verlag Westfälisches Dampfboot), S. 251-275.

Kastner, Jens (2006): "Rebellion, Revolte und Revolution überdenken. Kritische Einleitung in die zapatistisch inspirierte Theorie John Holloways". In: Holloway, John: Die Zwei Zeiten der Revolution. Würde Macht und die Politik der Zapatistas. Wien (Verlag Turia + Kant), S. 7-35.

Kastner, Jens 2007: "'Alles für alle!' Kulturelle Differenz, soziale Gleichheit und die Politik der Zapatistas". In: transform, multilingual webjournal, Wien, 2/2007, http://translate.eipcp.net/transversal/0607/kastner/de#redir (01.10.2009)

Kastner, Jens (2009): "Ist der Zapatismus ein Anarchismus?" In: Degen, Hans-Jürgen und Jochen Knoblauch (Hg.): Anarchismus 2.0. Bestandsaufnahmen. Perspektiven. Stuttgart (Schmetterling Verlag), S. 122-138.

Kastner, Jens und Tom Waibel (2009): "Politik und die Hilfe der Zeichen. Cultural Turn und soziale Bewegungen in Lateinamerika". In: dies. (Hg.): ...mit Hilfe der Zeichen / por medio de signos... Transnationalismus, soziale Bewegungen und kulturelle Praktiken in Lateinamerika. Atención! Jahrbuch des Österreichischen Lateinamerika-Instituts, Bd. 13, Wien/Münster (LIT Verlag), S. 11-34.

Kerkeling, Luz (2006): La Lucha Sigue! Der Kampf geht weiter! EZLN - Ursachen und Entwicklungen des zapatistischen Aufstands. Münster (Unrast Verlag), 2. erw. & akt. Aufl.

Kerkeling, Luz (2009): "Wie weiter mit der 'würdigen Wut'?" In: Tierra y Libertad, 14. Jg., Nr. 65, Hamburg, S. 3-6.

Lefèbvre, Henri (1968): Probleme des Marxismus, heute. Frankfurt a. M. (Suhrkamp Verlag).

Leyva Solano, Xochitl (2009): "Nuevos Procesos Sociales y Políticos en América Latina: Las Redes Zapatistas". In: Hoetmer, Raphael (Hg.): Repensar la Política desde América Latina. Lima (UNMsM), S. 109-130.

Marx, Karl (1989): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, MEW 23, Berlin (Dietz Verlag), 33. Aufl.

Mignolo, Walter D. (2002): "The Zapatista's Theoretical Revolution (Its Historical, Ethical, and Political Consequences)". In: Review Fernand Braudel Center, 25 (3), S. 245-275.

Negri, Antonio und Raf Valvola Scelsi (2009): Goodby Mr. Socialism. Das Ungeheuer und die globale Linke. Berlin (Edition Tiamat).

Rancière, Jacques (2008): Zehn Thesen zur Politik. Zürich / Berlin (Diaphanes Verlag).

Sterr, Albert (2007): "Die Linke in Mexiko. Massenwirksame Bewegungen und Parteien - ein Überblick". In: analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis, Hamburg, Nr. 514, 16.02.2007, S. 26-27.

Spivak, Gayatri Chakravorty (2008): Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien (Verlag Turia + Kant).

Subcomandante Marcos (2009): Kassensturz. Interviews mit Laura Castellanos. Hamburg (Edition Nautilus).

Vester, Michael (2007): "Weder materialistisch noch idealistisch. Für eine praxeologische Bewegungsanalyse". In: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, Jg. 20, Stuttgart, 1/2007, S. 22-33.

Weil, Simone (2009): Anmerkungen zur generellen Abschaffung der politischen Parteien. Zürich/Berlin (diaphanes Verlag).

Zibechi, Raúl (1995): Los Arroyos Cuando Bajan. Los desafíos del zapatismo. Montevideo (Editorial Nordan).

Zibechi, Raúl (1999): La Mirada Horizontal. Movimientos sociales y emancipación. Montevideo (Editorial Nordan).

Zibechi, Raúl (2009): Bolivien - Die Zersplitterung der Macht. Hamburg (Edition Nautilus).


Anmerkungen

[1] Die in einigen, vor allem poststrukturalistischen philosophischen Entwürfen gemachte Unterscheidung zwischen "Politik" und dem "Politischen" wird hier nicht mit vollzogen, da sie das hier behandelte Problem eher zu verschleiern oder zumindest zu verschieben scheint: Die Politik als institutionalisiertes und rationalisiertes Konglomerat von Verfahrensweisen dem instituierenden und affektiven Politischen entgegenzusetzen, verhindert tendenziell den Blick auf die Prozesse der Legitimierung, Anerkennung und des Konsenses, die in der Delegationsbeziehung zur Debatte stehen, weil sie sie für irrelevant erklärt (und im Zweifel die Legitimität "der Politik" und die Delegations- und Repräsentationskritik "dem Politischen" zuschlägt). Die Delegationsbeziehung wäre der Bereich, in dem sich das "Politische" und die "Politik" bis zur Ununterscheidbarkeit überkreuzen.

[2] Erstaunen kann, dass Bourdieu selbst in seiner Agitation für soziale Bewegungen in den 1990er Jahren diese Dilemmata nicht thematisiert. Dem Autoritätseffekt beispielsweise, auf den der Neoliberalismus durch die Einsetzung von Expertenkommissionen etc. setzt, sei ein anderer "Autoritätseffekt entgegenzusetzen" (Bourdieu 1998b: 62), der durch kritische WissenschaftlerInnen etabliert werden könne, die mit den Bewegungen solidarisch verbunden seien. Dass Autoritätseffekte - letztlich auch Ausdruck und Effekt von Delegationsbeziehungen - überhaupt in Frage zu stellen sind, klingt hier gerade noch in der Forderung an, die Gewerkschaften hätten, um sich als anti-neoliberale Kraft zu formieren, einen grundsätzlichen "Sinneswandel" (Bourdieu 2001b: 19) zu durchlaufen. Die "Wiedereingliederung der Immigranten in die soziale Bewegung" (Bourdieu 2001b: 22), die Bourdieu als ersten Schritt zu deren Transnationalisierung fordert, legt hingegen nahe, als seien die MigrantInnen bereits integriert gewesen in gewerkschaftliche Kämpfe und als gebe es in diesen Integrationsprozessen kein Delegationsdilemma. Darüber hinaus unterschätzt Bourdieu damit implizit auch die vielen anderen Schritte, die jenseits von gewerkschaftlichen Kämpfen und völlig unabhängig von ihnen zu Transnationalisierungen von sozialen Bewegungen geführt haben.

[3] Wenn im Folgenden von Zapatismus und Delegation die Rede ist, muss nicht in erster Linie von Subcomandante Marcos gesprochen werden. Der charismatische Sprecher der Guerilla-Bewegung ist in den 1990er Jahren zu einem Medienstar avanciert - eine Entwicklung, die für die Außenwirkung des Zapatismus zwar bedeutend war (und ist), aber für die Bewegung selbst nicht überschätzt und daher auch durch die sozialwissenschaftliche Forschung nicht verdoppelt werden sollte. Denn nach Bourdieu funktioniert die Usurpation des Mandatsträgers (oder der Mandatsträgerin) als Person, die glauben macht, dass "hinter ihr" eine Gruppe steht, in deren Namen sie spricht, insbesondere dadurch, dass einerseits diesem Sprechen niemand widerspricht und andererseits die sprechende Person als SprecherIn angesprochen wird. Marcos ist nicht, d.h. verkörpert weder die EZLN, noch ist er ein typischer Delegierter. Bourdieu beschreibt, dass und inwiefern in dem Prozess des Glauben-Machens, dass hinter der Person die Gruppe steht, den Medien eine besondere Bedeutung zukommt, die diesen Glauben produzieren, weil sie selbst auf die Produkte, also die autorisierten SprecherInnen, angewiesen sind, die der Glaube produziert. Die Presse, "die nur Wortführer, Sprecher kennt und anerkennt, [verdammt] alle übrigen in die Rubrik 'freie Meinung' [...]" (Bourdieu 1992a: 179), spielte auch in der Rezeption zapatistischer Politik eine große Rolle, als beispielsweise die "Enttarnung" von Subcomandante Marcos 1996 als Regierungserfolg gefeiert oder die zapatistische Kampagne zur Durchsetzung der Verträge von San Andrés 2001 als eine Art Duell zwischen dem Sprecher der EZLN und dem mexikanischen Präsidenten Vicente Fox inszeniert wurde. Die Zapatistas und Marcos selber haben die Rolle von Marcos zwar einerseits stets geschickt zu nutzen gewusst, aber immer kritisch hinterfragt. Nicht zuletzt in seiner aktuellen (Subcomandante Marcos 2009) Veröffentlichung sagt Marcos auf die Frage danach, was im Rückblick auf 14 Jahre zapatistischen Aufstand hätte anders gemacht werden müssen, dass auf seine Person hätte verzichtet werden müssen. Auch innerhalb der pro-zapatistischen Bewegung ist dem Kult um den Sprecher nicht immer mit Distanz begegnet worden, wenn beispielsweise jedes Schweigen der Kommandantur oder die eingeschränkte schriftstellerische Tätigkeit des EZLN-Sprechers als Krise der Bewegung interpretiert wurde. Eine angemessene Repräsentation stellt in diesem Sinne beispielsweise der Film "Der Aufstand der Würde. Die zapatistische Bewegung in Chiapas/Mexiko" (Luz Kerkeling / Dorit Siemers / Heiko Thiele, 65. Min., D/Mex 2007) dar, in dem Subcomandante Marcos als sprechende Person das erste Mal nach etwa 45 Minuten auftaucht.

[4] Die Zapatistas selbst vertreten eine Haltung, die sowohl identitätspolitische Aspekte enthält als auch strategisch-universalistisch vorgeht: So beginnt einerseits die Erste Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald 1994 mit den Worten "Wir sind das Ergebnis von 500 Jahren Kampf" und spielt damit auf eine gemeinsame, Identität stiftende Geschichte an, die immer wieder auch in den konkreten politischen Auseinandersetzungen, beispielsweise um die Durchsetzung der kollektiven Rechte, zur Mobilisierung der Anhängerschaft und zur Plausibilisierung der eigenen Anliegen genutzt wurde. Andererseits lautet eine der paradox wirkenden Parolen der Zapatistas "Hinter unseren Masken sind wir ihr", die sowohl eine alle umfassende als auch eine konkretere Lesweise zulässt, die sich nicht auf "die Menschheit", sondern speziell auf die in den Kampagnen immer wieder adressierten anti-neoliberalen Kräfte bezieht. Zum "strategischen Universalismus" sozialer Bewegungen vgl. Gilroy 2001, in Bezug auf den Zapatismus vgl. Kastner 2007.

[5] Auch Antonio Negri ordnet den Zapatismus jenen Strömungen der Linken zu, "die man die 'andere' Arbeiterbewegung nennt, die humanistischen und libertären Bewegungen, die produktiven Utopien, die den Bruch mit jeglicher Vorstellung eines linearen und notwendigen Fortschritts vollziehen." (Negri/Scelsi 2009: 71) Zum Zapatismus als libertäre Bewegung vgl. auch Kastner 2006 und Kastner 2009.

[6] Diese gleichermaßen die eigene Organisierung und die Organisationen des sozialen Ganzen betreffende Ausrichtung des Agierens und Agitierens scheint mir ein Spezifikum derjenigen Strömungen zu sein, die unter dem Begriff Anarchismus zusammenzufassen sind, wohl wissend, dass insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg auch innerhalb der kommunistischen Bewegung im Kontext der Diskussion um die Räte auch Modelle alternativer Mandate, Delegationen und Repräsentationen diskutiert wurden.

[7] Über die Bekräftigung der Prinzipien der Ersten Internationale - die Emanzipation der Arbeiterklasse könne nur das Werk der Arbeiter selbst sein - auf dem Gründungskongress der CNT von 1910 bemerkt Bernecker (1980: 44): "Charakteristisch für diese - sowie für alle späteren - Beschlüsse der CNT ist das Fehlen jeglicher Analyse der revolutionären Situation. Die Delegierten beschäftigten sich nicht mit den für den Erfolg einer Revolution erforderlichen sozialen und ökonomischen Voraussetzungen, sie diskutierten nicht die von exogenen Dispositionen abhängige Revolutionsstrategie; es ging nicht um eine Untersuchung der gesellschaftlichen Realität als Grundvoraussetzung des weiteren Vorgehens."

[8] Sowohl die zivilgesellschaftlichen Initiativen als auch die Entwicklungen innerhalb der Autonomen Gemeinden sind dermaßen breit rezipiert und oft kommentiert worden, dass ich mich damit begnügen möchte, hier lediglich auf die allgemeine Literatur zum Zapatismus zu verweisen. Zu den "Räten der Guten Regierung" besonders interessant erscheint mir die Reflexion von Subcomandante Marcos, die 2004 anlässlich ihre einjährigen Bestehens in der Tageszeitung La Jornada unter dem Titel "Ein Video lesen" als achtteilige Serie erschienen ist. Dieses wie nahezu alle Dokumente von Subcomandate Marcos und der EZLN finden sich auf Deutsch auf der Homepage www.chiapas98.de

[9] Michael Vester (2007: 29) hat darauf hingewiesen, dass Bourdieu das Feld des Alltagslebens von jenem der Politik durch einen "epistemologischen Bruch" gekennzeichnet durch verschiedene Logiken geprägt sieht. Die Analyse sozialer Bewegungen im Anschluss an Bourdieu wäre am Beispiel außereuropäischer Bewegungen gefordert, ihre eigenen feldanalytischen Grundlagen zu hinterfragen.

[10] Zibechi betont ausdrücklich - ganz im Gegensatz zum Gros der Analysen der von Indigenen geführten Kämpfe -, dass es sich konkret bei den Bewegungen der Aymara in El Alto/Bolivien nicht um das Aufleben traditioneller Gemeinschaften handelt, sondern dass hier neue Formen von Gemeinschaft entstanden sind, die von den Beteiligten "neu erfunden" (Zibechi 2009: 35) wurden. Dies lege bereits die Sozialstruktur der Stadt nahe: 90 Prozent der heutigen BewohnerInnen von El Alto leben dort noch nicht viel länger als 30 Jahre.

[11] Im Sinne des einführenden Bourdieu-Zitats müsste es fast schon als irreführend bezeichnet werden, wenn Holloway (2007) als Beispiel für das Aufständische gegen die "abstrakte Arbeit" die Riots in französischen Vorstädten nennt, ohne zu erwähnen, dass zur gleichen Zeit mit Nicolas Sarkozy ein Präsident mit enormer und vor allem auch Milieu übergreifender Wahlbeteiligung gewählt wurde, der mit dem individualistisch-neoliberalen und gezielt anti-gewerkschaftlichen Slogan "Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen" angetreten war. Bei Zibechi (2009) hingegen muss verwundern, wie aus der detailreichen Schilderung der besonderen Situation der Aymara in Bolivien, die die sehr spezifisch konstituierte gemeinschaftliche Macht gegen die Macht des Staates setzen, eine Konzeption von gemeinschaftlicher Politik entstehen kann, die gerade die spezifische Genese - ländliche Gemeinden ziehen innerhalb weniger Jahre fast geschlossen in dieselbe Stadt und siedeln sich dort nach Berufsgruppen orientiert an - ausblendet und "Gemeinschaft" zu einem allgemein gültigen, antihegemonialen Modell erklärt.

[12] Die gewissermaßen praxistheoretische Herangehensweise an den Fetischismus ist sicherlich nicht das alleinige Verdienst Holloways, sondern Teil der undogmatischen und akteurszentrierten Lesweisen des Marx'schen Werkes. Schon Marx selbst betont in seinen Ausführungen zum Fetischcharakter der Ware die tätige Herstellung des Fetischismus und verweist gerade in diesem Zusammenhang auf religiöse Mechanismen - ein Zusammenhang, den schließlich auch Bourdieu vielmehr betont und präzisiert als entdeckt: "Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt. Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregionen der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eigenem Leben begabte, untereinander und mit dem Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten." (Marx 1989: 86)

[13] Auch wenn analytisch zu berücksichtigen (und politisch wertzuschätzen) ist, dass diese teils gelungenen Versuche, alternative Strukturen zu entwickeln, unter Bedingungen extremer Armut und vor allem permanenter militärischer Belagerung, drohender Repression und gelegentlicher paramilitärischer Angriffe im Rahmen eines "Krieges niederer Intensität" nicht nur stattfanden und stattfinden, sondern sich auch in Form politischen und organisatorischen Anleihen weltweit in diversen globalisierungskritischen Netzwerken und Basisgruppen, anarchosyndikalistischen Gewerkschaften, selbstverwalteten Betrieben und Kooperativen etc. niederschlugen, scheint mir eine dauerhafte Transformation der Habitus - außer in den autonomen Gebieten und den Kreisen der globalisierungskritischen, pro-zapatistischen Gruppen, aber selbst da nur bedingt - eher fraglich.

[14] Der Zapatismus bzw. Neozapatismus kann mit seinen globalen sozialen Netzwerken und seinem über mehr als anderthalb Jahrzehnte langen Bestehen insofern durchaus mithalten mit den in der sozialwissenschaftlichen und politaktivistischen Literatur immer wieder herangezogenen Beispielen selbstermächtigender, sozialrevolutionärer Projekte wie der Paris Commune 1871 oder der Spanischen Revolution 1936, die nach wenigen Monaten gewaltsam beendet wurden. Zu den transnationalen Effekten des Zapatismus vgl. Bewernitz 2002, Kastner 2004, Kerkeling 2006, Leyva Solano 2009.

Raute

Max Henninger

Nach dem Operaismus?

In den 1950er Jahren setzte in Italien ein Industrialisierungsschub ein, der die Sozialstruktur des Landes nachhaltig veränderte. Waren 1951 noch 83 Prozent der aktiven Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt, so sollten es zwei Jahrzehnte später nur noch 18 Prozent sein. Allein zwischen 1951 und 1967 zogen mehr als vier Millionen Menschen vom Land in die Stadt. Insbesondere die Landarbeiter aus dem Süden, dem mezzogiorno, fungierten als frische Arbeitskraft für das industrielle Dreieck Mailand-Turin-Genua. Die extrem gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen, denen die Arbeiter ausgesetzt waren, verschlechterten sich ab 1963 mit dem Ende des ersten Nachkriegsbooms weiter. Die Unternehmer nutzten die Rezession nicht nur, um Entlassungen durchzusetzen, sondern auch, um die noch verbliebenen "Poren des Arbeitstages" zu schließen (Marx 1962b, S. 361). Folge der gesteigerten Arbeitsintensität war eine wachsende Zahl sogenannter morti bianche, d. h. tödlicher Arbeitsunfälle. Anlässlich der Tarifverträge von 1966, vor allem aber des neuerlichen Aufschwungs der Wirtschaft 1967, kam es zu einer Welle von Streiks, die 1969 im sogenannten heißen Herbst einen von Straßenschlachten, Mietstreiks und großen Demonstrationen gekennzeichneten Höhepunkt erreichte.

Diese Kämpfe wurden nicht von Parteien oder Gewerkschaften getragen, sondern die Arbeiter schufen sich neue, autonome Organisationsformen wie die einheitlichen Basiskomitees (comitati unitari di base, CUBs). Der erste CUB entstand im Frühjahr 1968 in einem Mailänder Werk der Firma Pirelli, wo die Belegschaft den Abschluss eines neuen Tarifvertrags im Gummisektor zum Anlass nahm, ihre Feindschaft gegenüber der Betriebsleitung - aber auch gegenüber der Gewerkschaft - durch Bummelstreiks, spontane Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen deutlich zu machen. Weitere CUBs entstanden in der Folgezeit auch in Trient, Porto Marghera, Bologna, Florenz, Pisa, Rom und Porto Torres (Sardinien). Sie waren nur eine Facette eines vielfältigen Drangs zur Selbstorganisation, der neben den Arbeitern auch die Angestellten und die Studierenden erfasste.

Spätestens Ende der 1960er Jahre hatten die Arbeitskämpfe den Rahmen herkömmlicher tariflicher Auseinandersetzungen gesprengt. Es ging nicht mehr um eine 'angemessene' Beteiligung am erwirtschafteten Überschuss, sondern die Lohnforderungen nahmen einen politischen Charakter an. Die Unternehmer sollten weit genug in die Enge getrieben werden, um die Verlängerung des Akkumulationsmodells der Nachkriegszeit in die Zukunft zu verunmöglichen. Damit verband sich auch die Hoffnung auf eine endgültige Zerschlagung des Kapital-Arbeit-Verhältnisses selbst. Auf nichts geringeres zielte die Praxis der massenhaften und militanten Arbeitsverweigerung (rifiuto del lavoro) in den radikalsten Kämpfen des Zyklus ab.

Dieser Praxis entsprachen theoretische Analysen, die seit den frühen 1960er Jahren von den heterodoxen Marxisten einer bald als 'Operaismus' bezeichneten Strömung unter unmittelbarer Einbeziehung der in den Großbetrieben beschäftigten Arbeiter entwickelt wurden, um dann in Periodika wie den Quaderni rossi (1961-63) und Classe operaia (1963-66) veröffentlicht zu werden. Die Formel rifiuto del lavoro geht auf einen der Gründer dieser Strömung, Mario Tronti, zurück. Tronti erkannte in der Arbeitsverweigerung das effektivste Mittel zum Aufbrechen der auf dem physischen und psychischen Elend der Lohnabhängigen gründenden Verwertungskreisläufe des Kapitals und das Geheimnis dessen, was Steve Wright die "Konstitution des ökonomischen Inputfaktors Arbeitskraft als das politische Subjekt Arbeiterklasse" genannt hat (Wright 2009, S. 433).


Die drei Phasen des Operaismus

Die Geschichte des Operaismus, um deren Erbe es im vorliegenden Aufsatz gehen soll, ist mittlerweile in einigen solide recherchierten Buchveröffentlichungen nachzulesen (vgl. vor allem Wright 2005). Der Kürze halber soll sie hier anhand einer auf Karl Heinz Roth zurückgehenden Periodisierung als in drei Phasen verlaufend zusammengefasst werden (Roth 2009a, S. 13-14). Die erste Phase umfasst den Zeitraum von der Gründung der Quaderni rossi bis zum Ausbruch der landesweiten Revolte jenes tayloristischer Arbeitsdiziplin unterworfenen Fabrikarbeiters, den die Operaisten als operaio massa (Massenarbeiter) bezeichneten, also die Jahre zwischen 1961 und 1968. Roth spricht von der "Inkubationsphase" des Operaismus (Roth 2009a, S. 14), denn dies war der Zeitraum, in dem die Operaisten ihre inchieste (Arbeiteruntersuchungen) durchführten und deren Ergebnisse in Analysen zusammenfassten, die heute zu Recht als Klassiker des heterodoxen Marxismus gelten. 1961 veröffentlichte Romano Alquati im ersten Heft der Quaderni rossi seinen Aufsatz Documenti sulla lotta di classe alla FIAT ("Der Klassenkampf bei FIAT"). Dort erschien auch Sull'uso capitalistico delle macchine nel neocapitalismo ("Über den kapitalistischen Gebrauch der Maschinen") von Raniero Panzieri, der bereits 1958 für die Zeitschrift Mondo Operaio einen Questionario per l'inchiesta di massa nelle fabbriche ("Fragebogen für die Massenuntersuchung in den Fabriken") erarbeitet hatte. Im zweiten und dritten Heft der Quaderni rossi (1962 bzw. 1963) reichte Alquati weitere Untersuchungsergebnisse nach, diesmal zu den Arbeitsverhältnissen bei OLIVETTI. In den gleichen zwei Heften erschienen auch Trontis Aufsätze La fabbrica e la società ("Fabrik und Gesellschaft") und Il piano del capitale ("Der Plan des Kapitals") sowie Panzieris Spontaneità e organizzazione ("Spontaneität und Organisation"). 1964 erschienen dann, nach einer Kontroverse im Redaktionskollektiv der Quaderni rossi, die zum Austritt mehrerer Redakteure führte, in der neugegründeten Zeitschrift Classe operaia Trontis Aufsätze Lenin in Inghilterra ("Lenin in England"), Vecchia tattica per una nuova strategia ("Eine alte Taktik für eine neue Strategie") und Classe e partito ("Klasse und Partei"). 1966 brachte der Turiner Einaudi-Verlag Trontis Arbeiten zusammen mit einem bis dahin unveröffentlichen Text, Marx, forza-lavoro, classe operaia ("Marx, Arbeitskraft, Arbeiterklasse"), als Buch heraus (Tronti 1966, Tronti 1974; die genannten Texte Alquatis und Panzieris sind nachzulesen in Alquati 1974, Alquati 1975, Panzieri 1994 und Pozzoli 1972).

Grundlage all dieser Texte war wie gesagt die Methode der inchiesta operaia (Arbeiteruntersuchung) bzw. der conricerca (Mit-Untersuchung im Sinne einer gemeinsam mit den Arbeitern vorgenommenen Recherche). Sie griff eine Idee auf, die Marx bereits 1880 durch die Formulierung eines "Fragebogens für Arbeiter" umzusetzen begonnen hatte (Marx 1962a), knüpfte aber auch, woran Sergio Bologna jüngst erinnert hat (Bologna 2009, S. 159-161), an der Untersuchungspraxis an, die der italienische Marxist Danilo Montaldi im Laufe der 1950er Jahre in seinen Büchern über das Leben der Einwanderer in den norditalienischen Städten sowie über die Lebensgeschichten von Gaunern, Prostituierten und Vagabunden angewandt hatte (Alasia u. Montaldi 1960, Montaldi 1961; vgl. auch Montaldi 1971). Einer der Mitbegründer der Quaderni rossi, Antonio Negri, hat die conricerca aus der historischen Rückschau heraus folgendermaßen zusammengefasst: "Mit-Untersuchung hieß, die Untersuchung der Arbeitsorganisation in umittelbarer Zusammenarbeit mit den Arbeitern vorzunehmen, genauer: die Arbeiter selbst die Untersuchung vornehmen zu lassen. Die von externen Militanten ausgeübte politische Analyse begann in den Hintergrund zu rücken. In den Betrieben entstanden neue Arten von Arbeiterkadern: Sie waren nicht einfach Gewerkschafter, auch keine Intellektuellen mit Vertreterfunktion oder karrierepolitischen Avantgarden, sondern - ganz so, wie man es uns zu Beginn des Sozialismus erzählt hatte - Arbeiterpolitiker (politici operai)" (Negri 2008, S. 179).

Was unter der mittels inchiesta untersuchten "Arbeitsorganisation" zu verstehen ist, hat Sergio Bologna erläutert: "In jener kollektiven Arbeit des operaistischen Forschungsteams, die seine unmittelbare Auseinandersetzung mit der Welt der Fabrikproduktion war, wurde versucht, den verschiedenen Ebenen, aus denen sich das System der Produktionsverhältnisse zusammensetzt, auf den Grund zu gehen: der sequenzartigen Organisation des Produktionszyklus, den Hierarchiemechanismen, die dieser Produktionszyklus spontan hervorbringt, den Disziplinierungs- und Integrationstechniken, die ausgearbeitet werden, der Entwicklung der Technologien und der Verarbeitungsverfahren, den Reaktionen auf die spontanen Verhaltensweisen der Arbeitskraft, den zwischenmenschlichen Dynamiken innerhalb der Fabrikabteilungen, den Kommunikationsverfahren, derer sich die Arbeiter während des Arbeitstags bedienen, der Weitergabe der Kenntnisse von den älteren an die jüngeren Arbeiter, der Entstehung einer Kultur des Konflikts, den Spaltungen innerhalb der Arbeitskraft, dem Gebrauch der Zwischen- und Kantinenpausen, den Zahlungssystemen und ihrer differenzierten Anwendung, der Anwesenheit der Gewerkschaft und den Formen politischer Propaganda, dem Risikobewusstsein und den Mitteln, die eigene körperliche Unversehrtheit und Gesundheit zu schützen, den Beziehungen zu den externen Militanten, der Kontrolle der Arbeitsrhythmen, dem Verhältnis zum Akkord, dem Arbeitsumfeld usw. Es ließen sich noch viele Ebenen anführen, auf denen sich das, was wir 'Fabrikarbeit' nennen, artikuliert. Wenn sich die 'Operaisten' eindeutig vom politischen Personal einer Linkspartei unterschieden, dann, weil sie sich über die Komplexität der Fabrikarbeit vollends im Klaren waren" (Bologna 2009, S. 156).

Es ging freilich nicht um Recherche allein, sondern auch um Organisierung. Das vielleicht deutlichste Beispiel dafür, wie beides ineinander übergehen konnte, war die nach einem Massenstreik gegen die Kürzung des Urlaubs 1963 erfolgte Gründung des comitato operaio (Arbeiterkomitees) im Industriegebiet I von Porto Marghera bei Venedig. Dazu nochmals Negri: "Das Komitee trifft sich mindestens einmal die Woche zu einer Versammlung, in der Praxis aber kommen die Genossen aus den Fabriken und die aus Padua oder Venedig angereisten Studenten so gut wie jeden Tag vorbei. [...] Es ist die Zeit, in der die Arbeiterautonomie ihren eigenen Diskurs entwickelt. Ein Diskurs, der in der internen Diskussion in den Abteilungen systematisch überprüft wird, wie auch in der Konfrontation mit den gewerkschaftlichen Instanzen in der Fabrik und, wenn sich dies ergibt, mit den verschiedenen auf Provinzebene vertretenen Organisationen der kommunistischen und/oder der sozialistischen Partei. [...] Die gewerkschaftlichen und politischen Autoritäten verhängen bereits sehr bald ihren Bannfluch über die Kräfte der Autonomie. [...] Erst als das Komitee beginnt, den Kampf direkt zu organisieren und also die gewerkschaftlichen und politischen Instanzen von der Kampfführung auszuschließen, erst dann suchen diese den Kontakt und streben eine Diskussion an - doch wir befinden uns bereits an der Schwelle zu '68" (Negri 2008, S. 181).

Die zweite Phase des Operaismus - die der entfalteten Kämpfe - datiert Roth von 1968 bis 1973. Der egalitäre Charakter dieser Kämpfe trat in Porto Marghera besonders deutlich hervor. 1968 wurde dort eine 5000-Lire-Prämie für alle gefordert, im Jahr darauf die Verkürzung der Schichtarbeit auf 36 Wochenstunden bei vollem Lohnausgleich. 1970 wurde gegen die Auslagerung einzelner Fertigungsschritte an Subunternehmen gekämpft. Die gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen, vor allem in den petrochemischen Betrieben des Industriegebiets I, wurden immer stärker thematisiert. Parallel dazu kam es in der Region zu Hausbesetzungen, Mietstreiks und autoriduzioni (selbstbestimmten Herabsetzungen der Strom- und Gasrechnungen) (Roth 2009b, S. 7-8; Sacchetto u. Sbrogiò 2009). Vergleichbare Kämpfe fanden auch in den übrigen norditalienischen Ballungszentren statt. Aber auch im Süden konnte von Ruhe nicht die Rede sein. Dort kam es 1968 zu einem Aufstand der Bauarbeiter in Cosenza, dem sich Tagelöhner und Bauern anschlossen. Im April 1969 wurde Battipaglia, eine Kleinstadt mit etwa 25.000 Einwohnern, von einem heftigen Aufstand erfasst, der freilich bereits im Juli 1970 durch eine in Reggio Calabria ausgebrochene Revolte in den Schatten gestellt werden sollte. Höhepunkt all dieser Kämpfe war der bereits erwähnte heiße Herbst von 1969. Im November 1969 streikten landesweit annähernd 20 Millionen Menschen. Das wirtschaftliche Leben Italiens kam für 24 Stunden nahezu vollends zum Stillstand.

Die Jahre zwischen 1968 und 1973 waren auch diejenigen, in denen der Operaismus - teilweise vermittelt über die 1967 aus dem Umfeld des Redaktionskollektivs von Classe operaia heraus gegründete Gruppe Potere operaio - erstmals eine internationale Ausstrahlung entfaltete. Roth berichtet als Zeitzeuge über die im Umfeld der Zeitschriften Wir wollen Alles und Autonomie erfolgte westdeutsche Rezeption: "Auf die Arbeiterautonomie von Porto Marghera wurden wir zum ersten Mal gegen Ende des Jahrs 1970 aufmerksam. Wir - das war eine Gruppe junger Lehrer, Ärzte, Ingenieure, Juristen, Naturwissenschafter, Psychologen, Soziologen und Historiker, die an der Studentenbewegung der 1960er Jahre teilgenommen hatten und jetzt am Beginn ihrer weit gefächerten Berufspraxis stand. [...] In den folgenden Jahren entstand eine enge Kooperation zwischen Potop [d. i. Potere operaio, M. H.] und uns. Sie wurde zusätzlich zu vielfältigen persönlichen Kontakten durch das internationale Potop-Büro in Zürich koordiniert und hatte vor allem die Homogenisierung der Kämpfe der multinationalen Massenarbeiter - zunächst in der europäischen Automobilindustrie - zum Ziel. Das erschien uns als unumgängliche Bezugnahme auf die Kampfzyklen in den untersten Segmenten der Klasse - der süd- und südosteuropäischen Migrationsarbeiter, der Proletarierinnen der unteren Lohngruppen und der deutschen Jugendlichen und Lehrlinge -, die in Westdeutschland schließlich Ende August 1973 von den Unternehmensleitungen, den Betriebsräten, den Gewerkschaften und der Polizei in einer gemeinsam organisierten Knüppelaktion niedergeschlagen wurden" (Roth 2009b, S. 7).

Ein Wendepunkt war das Jahr 1973 nicht nur für die Arbeiter bei Ford Köln, auf deren Niederlage Roth anspielt (vgl. Betriebszelle Ford der Gruppe Arbeiterkampf 1973). Im Sommer 1973 kam es nach einem Kongress von Potero operaio in Rosolina auch zur Abspaltung der paduanischen Fraktion um Antonio Negri von der römischen um Franco Piperno und damit zum Zusammenbruch der Gruppe. Derweil gingen die italienischen Unternehmer spätestens mit dem im November 1973 verkündeten absoluten Einstellungsstopp bei FIAT zu einem Gegenangriff über, der sich die gesamte Dekade hindurch fortsetzen und die italienische Klassenzusammensetzung nachhaltig transformieren sollte (Autonomie 1982).

Die 1973 beginnende dritte Phase des Operaismus zeichnet sich, wie die erste, durch eine rege theoretische Arbeit aus. Insbesondere das Redaktionskollektiv der 1973 von Sergio Bologna, Cesare Bermani und anderen gegründeten, bis 1988 erscheinenden Zeitschrift Primo maggio bemühte sich um einen analytischen Zugang zu den Veränderungen jener Jahre, von der Wiederherstellung des kapitalistischen Kommandos in den Großbetrieben, wie sie vor dem Hintergrund von Entlassungen und maschinengestützter Neuorganisation des Produktionsprozesses vollzogen wurde, über eine auf Diversifizierung, Prekarisierung und Informalisierung der Beschäftigungsformen gegründete Neuordnung des Arbeitsmarktes bis hin zur Politik der Inflation und Austerität. Mit der Aufarbeitung der theoretischen Leistungen des Redaktionskollektivs von Primo maggio ist gerade erst begonnen worden (Roth 2009a, Wright 2009). Soviel lässt sich aber jetzt bereits sagen: Die für die erste Phase des Operaismus zu verzeichnende enge Verflechtung mit Kämpfen, die durch ihre Intensität und Ausbreitung die Aufhebung des Kapital-Arbeit-Verhältnisses in greifbare Nähe rückten, lässt sich für die dritte Phase nicht mehr konstatieren. Die theoretische Arbeit sowohl Primo maggios als auch der zahlreichen anderen operaistischen Zeitschriftenprojekte der 1970er und 1980er Jahre fand vor dem Hintergrund proletarischer Niederlagen statt. Die von Jungarbeitern, Jobbern und Arbeitslosen getragene Märzrevolte von 1977 versprach zwar kurzzeitig den Beginn eines neuen Kampfzyklus, doch sie blieb auf wenige Zentren wie Rom, Mailand und Bologna beschränkt. Im Frühjahr 1979 gelang es dem italienischen Staat, die in diesen Jahren besonders offensiv agierenden bewaffneten Untergrundgruppen zum Vorwand zu nehmen, um gleich mehrere Generationen politischer Militanter, von den Gründern der operaistischen Strömung bis zu den jüngeren Trägern der Märzrevolte, zu inhaftieren oder ins Exil zu treiben (Bocca 1980). Das Redaktionskollektiv von Primo maggio setzte seine Arbeit zwar beinahe ein weiteres Jahrzehnt lang fort, doch den in diesem Zeitraum veröffentlichten Arbeiten liegt kein aus der Beteiligung an Massenkämpfen hervorgegangener oder auch nur einigermaßen einheitlicher theoretischer Rahmen mehr zugrunde. Einige Autoren verloren das Vertrauen in die Marxsche Theorie, die zu hinterfragen in den 1960er Jahren noch keinem Operaisten eingefallen wäre. So war etwa von Lapo Berti 1981 zu vernehmen: "Der Marxismus ist heute nicht mehr das, was er in diesen bewegten anderthalb Jahrzehnten in Italien vielleicht zum letzten Mal war: die von den Subjekten der Veränderung gesprochene Sprache. Er sorgt nicht mehr für Bewegung, Identifikation, Reibung. Er ist nur noch das ferne Echo einer Niederlage, ein Übungsplatz für Schreiberlinge, die das grüne Feld der Praxis unter ihren belanglosen Papieren begraben" (zit. n. Wright 2009, S. 460).


Neue Ansätze

Einige Operaisten konnten der Repression der späten 1970er und frühen 1980er Jahre entgehen und ihre Arbeit unter vergleichsweise vorteilhaften Bedingungen fortsetzen. Ferruccio Gambino, der sich am Höhepunkt der Verhaftungs- und Prozesswelle in den USA befand, konnte nach seiner Rückkehr nach Italien an der Universität von Padua, wo in den 1960er und 1970er Jahren viele Operaisten gearbeitet hatten, weiterforschen. Nachdem er sich intensiv mit der Geschichte der afro-amerikanischen Arbeiter und ihrer Bewegungen befasst hatte, widmete er sich in der Folge zunehmend den Zusammenhängen von Migration und Industriearbeit in Europa und den Golfstaaten, wobei er 2003 eine eindrucksvolle Synthese seiner Forschungsergebnisse vorlegen konnte (Gambino 2003). Vor allem war es Gambino aufgrund seiner Lehrtätigkeit möglich, jüngere Forscher und Aktivisten an die von ihm behandelten Problemfelder heranzuführen. Gemeinsam mit Devi Sacchetto hat Gambino die in den 1990er Jahren entstandenen Migrationsströme zwischen Rumänien und Italien sowie die Wechselwirkung zwischen diesen Migrationsströmen und den Auslandsinvestitionen italienischer Kleinunternehmer untersucht (Gambino u. Sacchetto 2007). Gambino und Sacchetto haben darüber hinaus im Rahmen einer kritischen Auseinandersetzung mit Marx eine ehrgeizig angelegte Untersuchung der Entwicklung freier und unfreier Arbeitsverhältnisse seit dem transatlantischen Sklavenhandel und bis zur aktuellen Vernutzung der Migrationsarbeit an den EU-Außengrenzen vorgelegt (Gambino u. Sacchetto 2009). Schließlich hat Sacchetto die Methode der Arbeiteruntersuchung angewandt, um die aktuellen Arbeitsverhältnisse in der kommerziellen Seefahrt zu analysieren (Sacchetto 2009).

Auch Sergio Bologna entging dem Schicksal vieler seiner Mitstreiter. Zwar verlor er seine Hochschulstelle, doch eine Haftstrafe blieb ihm erspart. In Teilen der deutschen Linken werden aktuell die Diskussionen neu entdeckt, die - weitgehend auf Bolognas Initiative hin - ab 1973 in der Zeitschrift Primo maggio geführt wurden, wobei insbesondere ein längerer Aufsatz Bolognas zu Marxens Zeitungsartikeln aus der Zeit der ersten Weltwirtschaftskrise auf Interesse stößt (Bologna 1973, 2009b). Bolognas anlässlich der Märzunruhen von 1977 angestellte Überlegungen über die veränderte Zusammensetzung und Subjektivität der italienischen Arbeiterklasse wurden bereits kurz nach ihrem Erscheinen in Italien auch im deutschen und englischen Sprachraum rezipiert (Bologna 1978, 1980a, 1980b). Auch Bolognas spätere historische Arbeiten zum Nationalsozialismus, hervorgegangen aus seiner Zusammenarbeit mit der von Angelika Ebbinghaus und Karl Heinz Roth Mitte der 1980er Jahre gegründeten Stiftung für Sozialgeschichte, sind außerhalb Italiens rezipiert worden, wenn auch eher von professionellen Historikern und Historikerinnen als von der sich auf den Operaismus beziehenden Linken (Bologna 1997a, 1997b).

Der eigentliche Schwerpunkt der von Bologna seit den 1990er Jahren vorgelegten Thesenpapiere, Aufsätze und Bücher sind die Arbeitsverhältnisse der neuen Selbständigen in Italien und anderen OECD-Ländern (Bologna 1997c, 2006, 2007). Bologna selbst betont die Kontinuitäten zwischen seinen Studien über die Selbständigkeit und den Fragestellungen und Methoden des Operaismus: "Meine neue Lebenssituation [nach dem Verlust der Hochschulstelle, M. H.] erlaubte es mir, die Reflexion über einige Themen, die ich 1977 nur gestreift hatte, wieder aufzunehmen. Dazu gehörten in erster Linie die Themen der selbständigen Arbeit und jener Flucht vor der Lohnarbeit, deren Kontext eine Organisationsweise des Kapitals ist, die mittlerweile in Italien und anderswo die Eigenschaften eines entwickelten Postfordismus aufwies. Nach fünf oder sechs Jahren als Selbständiger war ich in der Lage, anderen die Ergebnisse meiner Reflexionen mitzuteilen [...]. Der typischen Vorgehensweise des Operaismus folgend, stellte ich meine Thesen zunächst 1991 in der von mir mitbegründeten Zeitschrift Altre ragioni zur Diskussion. Ich ließ meine Überlegungen heranreifen, indem ich mich mit den Diskussionsbeiträgen anderer auseinandersetzte und über neue, von mir bis dahin vernachlässigte Probleme nachdachte. Erst zehn Jahre später veröffentlichte ich meine 'Zehn Thesen' in einem bei Feltrinelli erschienenen Sammelband, den ich gemeinsam mit Andrea Fumagalli herausgab" (Bologna 2009, S. 175-176; bei den 'Zehn Thesen' handelt es sich um Bologna 1997c). Bologna betont aber auch, wie weit er sich durch seine Auseinandersetzung mit der selbständigen Arbeit vom Marxismus entfernt hat: "Bei der Niederschrift der 'Zehn Thesen' bot mir der Marxismus keinerlei historischen oder theoretischen Bezugspunkt. Es gab keinen Abschnitt des Kapitals, der Theorien über den Mehrwert, der Grundrisse oder anderer Schriften, an dem ich mich hätte orientieren können. [...] Die technologische Revolution des Kapitalismus hatte mit der Informatik ein neues Zeitalter eingeläutet, und es hatte keinen Sinn, dem Marx'schen Denken Gewalt anzutun, um so doch noch einen Zusammenhang herzustellen. Marx ist eine historische Gestalt, und seine Fähigkeit, die Dynamiken des Kapitalismus vorwegzunehmen, hat ihre Grenzen" (Bologna 2009, S. 177-178).

Auch andere aus dem Operaismus hervorgegangene Theoretiker beschäftigten sich mit dem, was Bologna die technologische Revolution des Kapitalismus nennt, also mit der Entwicklung der neueren Informations- und Kommunikationstechnologien (IuK-Technologien) und ihren Auswirkungen auf die Arbeitsverhältnisse. Anders als Bologna glaubten besagte Theoretiker diesen Umbruch aber sehr wohl mit Marx - nämlich mit dessen Ausführungen über das entwickelte Maschinensystem in den Grundrissen - erklären zu können (Marx 1983, S. 590-605; vgl. Tomba u. Bellofiore 2009). Es war vor allem der 1979 inhaftierte Vordenker der paduanischen Fraktion von Potere operaio, Antonio Negri, der diese als Postoperaismus bekannt gewordene Strömung begründete. Negri kam 1983 als Wahlkandidat der Linkspartei Partito radicale frei und setzte sich kurz nach dem Beginn einer Debatte über die Aufhebung seiner parlamentarischen Immunität nach Frankreich ab, wo er bis zu seiner Rückkehr nach Italien 1997 im Pariser Exil lebte. Negri wurde nach seiner Rückkehr erneut inhaftiert und setzte bis zu seiner endgültigen Freilassung im Frühjahr 2003 seine in den späten 1970er Jahren im Umfeld der römischen Autonomia-Bewegung und der Zeitschrift Rosso begonnenen Bemühungen um eine Weiterentwicklung des operaistischen Ansatzes aus dem Gefängnis Rebibbia heraus fort. Heute ist er nicht nur wegen seiner bewegten Lebensgeschichte, sondern vor allem auch wegen der breiten Rezeption seiner Positionen sowohl in akademischen Kreisen als auch in Teilen der Linken der mit Abstand bekannteste der hier erwähnten Theoretiker.

Der besondere Reiz, den Negris Arbeiten in den letzten Jahren auf viele Linke ausgeübt haben, erklärt sich nicht allein aus der Tatsache, dass sich Negri und seine Anhänger bereits früh an die Konzeptualisierung jener von ihnen als 'immateriell' bezeichneten Arbeitsverhältnisse gemacht haben, die aus der stoßweisen Entwicklung der IuK-Technologien seit den 1990er Jahren hervorgegangenen sind (Corsani, Lazzarato u. Negri 1996). Denn das wurde auch von anderen geleistet, freilich mit dem Unterschied, dass sie sich dabei systematischer um eine Einordnung in das Gesamtspektrum der damaligen Arbeitsverhältnisse - die weitgehend auch die heutigen sind - bemüht haben und nie an der Zentralität der Industrieproduktion für die Verwertungskreisläufe des Kapitals gezweifelt oder die Zumutungen einer tayloristisch-fordistischen Arbeitszdisziplin für überwunden gehalten haben (vgl. etwa Roth 1994). Faszinierend an der von Negri lancierten Strömung war - zwischenzeitlich auch für den Verfasser dieses Aufsatzes - deren Fähigkeit, einerseits an Grundbegriffen der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie festzuhalten, andererseits aber den theoretischen Rahmen durch Einbeziehung der Analysen und der Begrifflichkeit einer Vielzahl nicht-marxistischer Theoretiker zu erweitern. Zu diesen von Negri vor allem während seines französischen Exils rezipierten Theoretikern (Michel Foucault, Gilles Deleuze, Félix Guattari) kamen noch Gestalten aus der europäischen Philosophiegeschichte hinzu, allen voran jener Baruch Spinoza, über den Negri bereits während seines ersten Gefängnisaufenthalts eine umfangreiche Studie verfasst hatte (Negri 1981, 1982). Diese neuen Bezüge, die nach und nach in eine umfassende Theorie des 'postmodernen' Kapitalismus einflossen, stießen unter den studentischen Segmenten der Linken nicht nur des italienischen, sondern auch des französischen, englischen und deutschen Sprachraums auf beträchtliches Interesse. Dass bei der Ausarbeitung des neuen Theorieansatzes die Auseinandersetzung mit der Lebensrealität der arbeitenden Klassen oftmals zu kurz kam und von Untersuchungsarbeit, wie sie die Operaisten in den 1960er Jahren geleistet hatten, nicht mehr die Rede sein konnte, wurde zwar hier und dort kritisiert, doch bremste das die weitgehend affirmative Rezeption von Negris neuem Ansatz nicht. Für diejenigen, deren Sprachkenntnisse ihnen den Nachvollzug der in Zeitschriften wie DeriveApprodi (Rom) und Multitudes (Paris) geführten Diskussionen erlaubten, kam noch der Eindruck hinzu, dass dort wieder so etwas wie eine rege politische Kultur aufblühte, wie sie die erste Phase des Operaismus gekennzeichnet hatte. Dieser Eindruck war allerdings eine Illusion, denn wo die Zeitschriftenprojekte nicht ganz eingestellt worden und ihre Redaktionsmitglieder vollends zerstritten sind, dort finden die Diskussionen heute - nach der Anerkennung von Negris Theorie durch die scientific community der europäischen und US-amerikanischen Universitäten - nur noch in sehr engen Bahnen statt.

Was schließlich aus Mario Tronti geworden ist, fragt heute merkwürdigerweise kaum jemand, obwohl dessen Buch von 1966, Operai e capitale, häufig als 'Bibel' des Operaismus bezeichnet wird und obwohl Tronti nicht aufgehört hat, theoretisch zu arbeiten und die Ergebnisse zu veröffentlichen. Deutschsprachige Leser und Leserinnen wurden zuletzt im Dezember 2008 auf Trontis jüngere Tätigkeit gestoßen: durch die Übersetzung eines Vortrags, den dieser einige Monate zuvor auf einem vom italienischen Zentrum für Staatsreform (Centro per la riforma dello Stato, CRS) mitorganisierten Kongress in Brescia gehalten hat (Tronti 2008). Der Vortrag war allerdings nicht geeignet, viel Licht auf die Entwicklung zu werfen, die Trontis Denken seit der Hochphase des Operaismus durchlaufen hat, und die Buchveröffentlichungen Trontis, in denen sich diese Entwicklung sehr viel deutlicher niedergeschlagen hat, sind bis heute unübersetzt geblieben.

Tronti war stets der besondere Fall eines Operaisten, der eine gewisse Nähe zur Kommunistischen Partei Italiens (Partito comunista italiano, PCI) pflegte. In den 1980er Jahren, nachdem eine bereits seit der zweiten Phase des Operaismus schwelende Polemik zwischen Tronti und Negri noch einmal kurzzeitig aufgeflammt war (vgl. Negri 1981, S. 282-292), näherte sich Tronti wieder deutlich den Positionen der Führungsgruppe des PCI und insbesondere des Vorsitzenden Enrico Berlinguer. Zu Trontis Arbeit als Professor für politische Philosophie an der Universität von Siena und seiner redaktionellen Tätigkeit für die von ihm gegründete Zeitschrift Laboratorio politico kam denn auch bald die Mitgliedschaft im Zentralkomitee des PCI hinzu. Anfang der 1990er Jahre zog sich Tronti aufgrund seiner kritischen Einschätzung der damaligen Transformation der italienischen Linksparteien wieder weitgehend aus der Parteipolitik zurück. Seit 2004 leitet er das oben erwähnte Centro per la riforma dello Stato, eine 1972 aus dem PCI heraus gegründete Stiftung.

Gegen Trontis langjährige Auseinandersetzung mit dem politischen Denken der Neuzeit, die sich in zahlreichen Buchveröffentlichungen niedergeschlagen hat (Tronti 1975, 1977a, 1977b, 1980, 1992, 1998), lässt sich derselbe Einwand formulieren, den sich auch Negri gefallen lassen muss: Beide Autoren neigen stark dazu, politische Geschichte als Ideengeschichte zu verhandeln. Jenes Konzept einer Geschichte von unten, für das der englische Historiker Edward P. Thompson in den 1960er Jahren eintrat (Thompson 1963, 1967; vgl. Linebaugh u. Rediker 2009) und das insbesondere in den operaistischen Gruppen der BRD intensiv rezipiert wurde, scheint an Tronti ebenso wie an Negri spurlos vorüber gegangen zu sein. Schwerer wiegt, dass sich Tronti bei der Weiterenwicklung seines eigenen politischen Denkens auffallend häufig auf die Konzepte der konservativen Revolution in Deutschland bezieht, wobei er außer auf Ernst Jünger immer wieder auch auf den nationalsozialistischen Juristen Carl Schmitt zurückgreift.

Merkwürdige Blüten treibt diese Auseinandersetzung mit der Weimarer Rechten u. a. in einer Aufsatzsammlung, die Tronti 1998 veröffentlicht hat. Darin findet sich ein Aufsatz mit dem Titel Karl e Carl ("Karl und Carl"), in dem Tronti eine Synthese aus Marxens Kritik der politischen Ökonomie und den Konzepten Schmitts propagiert (Tronti 1998, S. 151-164). Bei der Lektüre dieses, aber auch der anderen in dem Buch abgedruckten Aufsätze wird schnell deutlich, dass Trontis Interesse an Schmitt gegenüber dem an Marx deutlich überwiegt. Durch den gesamten Band zieht sich eine Dichotomie von "Politik" und "Geschichte", wobei "Politik" als "Kontingenz, Gelegenheit, courte durée, das Hier und Jetzt", "Geschichte" hingegen als "Dauer, Regelmäßigkeit, Wiederholbarkeit, longue durée, Notwendigkeit, Schicksal und Bestimmung" definiert wird (Tronti 1998, S. 7). Tronti wendet diese Dichotomie auf das 20. Jahrhundert an und erklärt, seit dem Zeitraum 1914-1956 sei es der "Politik" nicht mehr gelungen, die "Geschichte" und ihre "ewige Wiederkehr des Gleichen" aufzubrechen und einen "Ausnahmezustand" herbeizuführen (Tronti 1998, S. 15). Tronti projiziert also das Schmittsche Konzept des Ausnahmezustands als einer "Kraft des wirklichen Lebens", durch welche die "Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik" aufgebrochen werde (Schmitt 1963, S. 21), auf das 20. Jahrhundert. Kurz darauf werden die zwei Weltkriege und die sie begleitenden Revolutionen mit dem theologischen Begriff des Wunders in Verbindung gebracht (Tronti 1998, S. 20; vgl. Schmitt 1934, S. 43). Der Zeitraum seit 1956 wird als der eines "Niedergangs der Politik" (so der Titel von Trontis Aufsatzsammlung) bestimmt. Tronti begreift sich selbst als im "Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen" lebend und spielt damit gleich noch einmal auf Schmitt an (Tronti 1998, S. 134; Schmitt 1963, S. 79-95). Wer etwas über Marx erfahren wollte, sieht sich bei der Lektüre von Karl e Carl enttäuscht.

Vor einigen Jahren scheint Tronti aufgefallen zu sein, dass es außer Vordenkern des Nationalsozialismus auch solche des Faschismus gegeben hat. In einem im Januar 2005 an der Universität Padua abgehaltenen Seminar über "Krieg und Demokratie", an dessen Vorbereitung auch Antonio Negri und Personen aus dessen Umfeld beteiligt waren, empfahl Tronti seinem Publikum die Lektüre der Elitensoziologie von Gaetano Mosca, Vilfredo Pareto und Robert Michels (Tronti 2005). Die Faszination Trontis für den Elitenbegriff, die auch in der oben erwähnten Aufsatzsammlung durchscheint, lässt seine frühen, in der ersten Phase des Operaismus formulierten Überlegungen zur Partei als Organisationsform des Proletariats in einem neuen Licht erscheinen. Davon, dass es "ohne Partei" auch "keine Politik" geben könne, ist Tronti heute noch fest überzeugt (Tronti 1998, S. 115). Was die "lange Geschichte der subalternen Klassen" angeht, so hat sich Tronti zwar dahingehend geäußert, dass diese Geschichte "alles andere als abgeschlossen" sei, gleich darauf aber auch klargestellt, dass sie ihn nicht sonderlich interessiere, da es sich in Ermangelung einer starken "Partei" eben bloß um "Geschichte" und nicht um "Politik" handle (Tronti 1998, S. 76-77).


Der Operaismus und das Erbe der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie

Die oben skizzierten Werdegänge verdeutlichen, welch unterschiedliche Wege die Operaisten seit den 1970er Jahren eingeschlagen haben. Einige haben sich gänzlich von Marx abgewandt, oder aber ihre Marx-Interpretation derart weiterentwickelt, dass diese mit der Vorlage - der Kritik der politischen Ökonomie, wie sie im Kapital und in den Grundrissen vorliegt - nur noch sehr oberflächliche Gemeinsamkeiten aufweist. Von der Praxis der Arbeiteruntersuchung haben sich die meisten abgewandt. Am konsequentesten vertreten wird die Methode der Arbeiteruntersuchung heute durch die Gruppe Wildcat, die aus der Rezeption des operaistischen Ansatzes durch Karlsruher Jobber-Initiativen hervorgegangen ist.

Besagte Jobber-Initiativen propagierten Anfang der 1980er Jahre über die von ihnen produzierte Karlsruher Stadtzeitung ein Aufgreifen der operaistischen Methode der Arbeiteruntersuchung und orientierten sich dabei vor allem an den Untersuchungen Alquatis. Ausgangspunkt war eine Analyse der Kapital- und Klassendynamik in der BRD, die sich gegen den auch in linken Kreisen gepflegten Mythos richtete, Automatisierungstendenzen in der Produktion würden den kapitalistischen Bedarf an Arbeitskräften verringern. Die Autoren der Stadtzeitung erinnerten daran, dass in der BRD außer dem viel beschworenen Anstieg der Erwerbslosenzahlen auch eine Ausweitung des Arbeitsvolumens zu verzeichnen war, dass also weniger von einem dauerhaften Ausscheiden großer Teile der Arbeiterklasse aus der Erwerbsarbeit als vielmehr von einer beschleunigten, durch Instrumente wie Leiharbeit erzwungenen Mobilität der Arbeiter und Arbeiterinnen die Rede sein musste: Langfristige Beschäftigungsverhältnisse wichen einem ständigen Wechsel von Erwerbsarbeit, Erwerbslosigkeit und neuerlicher Erwerbslosigkeit ('Prekarisierung'). Entsprechend dieser Analyse sollte die vorgeschlagene Arbeiteruntersuchung zunächst einmal bei der Leiharbeit ansetzen ('Sklavenhändlerkampagne'). Der Vorschlag stieß in der BRD-Linken zwar auf wenig Resonanz, doch konstituierte sich 1983 anlässlich eines für das Folgejahr in Hamburg angesetzten Workshops immerhin ein Arbeitskreis Militante Untersuchung (AKMU), der bis zu seiner Auflösung 1986 Erfahrungen mit der Praxis der Arbeitsuntersuchung sammelte, die in die heutige Arbeit der Gruppe Wildcat eingegangen sind (vgl. TheKla 8).

Versuche einer kritischen Weiterentwicklung der Marxschen Theorie finden sich in den Veröffentlichungen der Gruppe Wildcat kaum, auch wenn es im AKMU Mitte der 1980er Jahre immer wieder Ansätze zu einer systematischen Auseinandersetzung mit Kernbegriffen dieser Theorie gab (TheKla 8, S. 61-73). Dagegen ist es in den Strömungen, die unmittelbar aus dem italienischen Operaismus hervorgegangen sind, die Methode der Arbeiteruntersuchung aber aufgegeben haben, zu einer sehr regen Auseinandersetzung mit Marx gekommen. Der vielleicht eigenwilligste Umgang mit dem alten Mohr findet sich wohl bei Negri und den Theoretikern aus seinem Umfeld. Es fällt auf, dass Negri und seine Mitstreiter oft gerade die fragwürdigsten Momente der Marxschen Kritik aufgegriffen und weiterentwickelt haben, etwa Marxens Stufentheorie der ökonomischen und sozialen Entwicklung, seine Neigung zur theoretischen und politischen Privilegierung eines bestimmten Segments der arbeitenden Klassen, das als hegemonial und zukunftsweisend ausgegeben wird, oder seinen Begriff der abstrakten Arbeit, der bei Negri bis zur völligen Auflösung der Unterscheidung zwischen Arbeit und anderen Tätigkeiten weitergedacht worden ist (vgl. Vercellone 2009 sowie kritisch Tomba u. Bellofiore 2009). Die in den 1970er Jahren von Negri vertretene Theorie des 'gesellschaftlichen Arbeiters' (Negri 1979), in der sich viele dieser Tendenzen bereits abzeichneten, wurde bereits früh als Abkehr von der Lebensrealität der Arbeiterklasse kritisiert (Autonomie 1982), doch Negri hat sich dadurch nicht beirren lassen. Im Zuge der Weiterentwicklung seines Ansatzes hat er u. a. die Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit zurückgewiesen, die bei Adam Smith noch Teil einer Polemik gegen den Adel war (Smith 1974, S. 272-288) und von Marx unter Abstreifung dieser polemischen Komponente für seine eigene Theorie übernommen wurde. Begründet hat Negri seine Entscheidung damit, dass die Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit zu politischen Spaltungen führe (persönliche Mitteilung, 1. Oktober 2006). Ein solcher eklektischer Umgang mit der Marxschen Theorie, der die analytische Stringenz zugunsten eines politischen Pragmatismus zurückstellt, ist für Negris theoretischen Ansatz charakteristisch. Zu kritisieren ist auch nicht so sehr dieser Pragmatismus selbst als vielmehr die Kurzsichtigkeit, mit der er immer wieder einhergeht. Denn es ist offenkundig, dass sich Negri mehrfach gezwungen gesehen hat, allzu optimistische Prognosen zu korrigieren bzw. anders zu begründen, wobei er nicht selten das von ihm erarbeitete Theoriegebäude grundlegend revidieren musste (so etwa, als ihm die zu Beginn des Jahrtausends einsetzenden Angriffskriege der USA im Nahen und Mittleren Osten eine gründlichere Auseinandersetzung mit Fragen des Krieges aufnötigten, als er bis dahin geleistet hatte). Damit hat Negri auch viel von der Sympathie und dem Vertrauen, die ihm bis vor kurzem noch von einem nicht unbedeutenden Teil der Linken entgegegengebracht wurden, verspielt. Vielen ist klar geworden, dass Negris Ansatz zwischen einer durchaus beeindruckenden Fähigkeit zur theoretischen Synthese und einer Neigung zu Revisionen und Neugewichtungen schwankt, die im ungünstigsten Fall sehr opportunistisch wirkt.

Es muss aber gerechterweise auch festgehalten werden, dass die von Negri entwickelte Theorie immerhin den Versuch darstellt, die Postulate der Marxschen Arbeitswerttheorie kritisch zu reflektieren und mit den Arbeitsverhältnissen der Gegenwart zu konfrontieren. So problematisch Negris These bezüglich einer unmessbar gewordenen gesamtgesellschaftlichen Wertschöpfung auch ist, es fällt auf, dass die an dieser und anderen Thesen Negris geübte Kritik nur selten mit der Präsentation theoretischer Alternativen einhergeht, die mehr wären als ein bloßes Wiederholen Marxscher Axiome. Gerade die noch aktiven, auf die operaistische Untersuchspraxis sich beziehenden Zusammenschlüsse haben heftig gegen Negri polemisiert, ohne sich selbst sonderlich um eine kritische Auseinandersetzung mit der Arbeitswerttheorie zu bemühen. So hat der Operaismus zunächst einmal zweierlei hinterlassen: einerseits eine ausufernde, eklektizistische und in ihren Ergebnissen oft fragwürdige Theorieproduktion, andererseits Strömungen, deren Festhalten an der Untersuchungspraxis weitgehend der Grundlage einer eigenständig geleisteten kritischen Auseinandersetzung mit dem Marxschen Ansatz entbehrt.

Immerhin gibt es Anzeichen dafür, dass sich dies ändern könnte oder bereits zu ändern begonnen hat. Oben wurde bereits die in Teilen der deutschen Linken zu verzeichnende Auseinandersetzung mit den in Primo maggio geführten Debatten erwähnt. Bemühungen, die Geschichte des Operaismus kritisch aufzuarbeiten und dabei zugleich das Verhältnis zur Marxschen Theorie zu klären, sind auch in dem von Marcel van der Linden und Karl Heinz Roth herausgegebenen Sammelband Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts dokumentiert (vgl. etwa Tomba u. Bellofiore 2009, Wright 2009). Karl Heinz Roth spricht mittlerweile von einer begonnenen vierten Phase des Operaismus, die u. a. von dem in den 1990er Jahren erfolgten global turn der Arbeitsgeschichte geprägt sei und maßgeblich von einer neuen Generation von Theoretikern vorangetrieben werde (persönliche Mitteilung, 13. November 2009). Inwiefern sich aber die Bemühungen dieser Theoretiker in neuen Arbeiteruntersuchungen oder auch in anders gearteter umwälzender Praxis niederschlagen werden, lässt sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen.


Schluss

In Porto Marghera, wo in der zweiten Phase des Operaismus einige der heftigsten Arbeitskämpfe ausgetragen wurden, hat nach einer partiellen Deindustrialisierung auch eine Gentrifizierung eingesetzt, so dass dort abends junge und modisch gekleidete Menschen aus Venedig zu sehen sind, die in neu eröffneten Restaurants zu Abend essen. Im Industriegebiet wird durchaus noch produziert, allerdings in einem drastisch reduziertem Ausmaß; zudem prangt neben den noch in Betrieb befindlichen petrochemischen Anlagen seit 1996 ein futuristisch anmutender Wissenschaftspark namens VEGA. Mit seiner Fläche von mehr als 15 Hektar gilt VEGA als eines der ehrgeizigsten Stadterneuerungsprojekte Italiens. Die Bio- und Nanotechnologien sind Schwerpunkt der dort betriebenen Forschungsprojekte, an denen zahlreiche Konzerne und zwei Universitäten beteiligt sind. Eine unweit des Geländes gelegene ehemalige Düngemittelfabrik wird gegenwärtig in einen Freizeitkomplex mit Restaurants, Geschäften, einem Fitnessstudio und einem Theater umgewandelt. Geplant sind darüber hinaus ein Hotel mit 400 Zimmern, ein Restaurant mit Kapazitäten für 600 Gäste sowie ein Film- und ein Tonstudio.

Im November 2007 fand im nahegelegenen Mestre ein vom Förderkomitee des Arbeiterarchivs Augusto Finzi und der Gemeinde Marghera organisierter Kongress statt, auf dem die an den Arbeiterkämpfen der 1960er Jahre Beteiligten ihre damaligen Erfahrungen Revue passieren ließen (Sacchetto u. Sbrogiò 2009). Zwischen zwei Vorträgen wurde das Podium einem bei Dow Chemical beschäftigten Arbeiter aus dem Industriegebiet überlassen, der auf einen Streik zum Erhalt der dort bedrohten 600 Arbeitsplätze aufmerksam machte. War es bis dahin um den Kampf gegen gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen und um die Arbeitsverweigerung gegangen, so war nun plötzlich ein Plädoyer für die Verteidigung von Arbeitsplätzen zu hören, die nach wie vor Verletzte und Tote produzieren. Beantwortet wurde dieses Plädoyer mit scharfer Kritik, u. a. von einem Kongressteilnehmer, der sich in den 1960er Jahren als Mitglied des Arbeiterkomitees von Porto Marghera an den damaligen Kämpfen beteiligt hatte. Er und seine Kollegen hätten es im Porto Marghera der 1960er Jahre nicht mit posti di lavoro (Arbeitsplätzen), sondern mit posti di morte (Todesplätzen) zu tun gehabt. Zu einer Diskussion kam es anschließend nicht, sondern es wurde zur Tagesordnung übergegangen. Es war eine grotesk anmutende Situation - in der sich einige der Widersprüche und Konflikte andeuteten, mit denen sich zweifelsohne konfrontieren muss, wer die im Operaismus entwickelten Ansätze heute zur Anwendung bringen will.


E-Mail: 1978@inventati.org


Literatur

Alasia, Franco u. Montaldi, Danilo (1960). Milano, Corea. Inchiesta sugli immigrati. Mailand: Feltrinelli.

Alquati, Romano (1974). Klassenanalyse als Klassenkampf. Arbeiteruntersuchungen bei FIAT und OLIVETTI. Frankfurt am Main: Athenäum Fischer.

Alquati, Romano (1975). Sulla FIAT e altri scritti. Mailand: Feltrinelli.

Autonomie. Materialien gegen die Fabrikgesellschaft. Neue Folge (1982). Fabrik und neue Klassenzusammensetzung. Das Beispiel FIAT 1974-81. Hamburg: Autonomie e. V.

Betriebszelle Ford der Gruppe Arbeiterkampf (1973). Streik bei Ford Köln. Köln: Rosa Luxemburg Verlagskollektiv.

Bocca, Giorgio (1980). Il caso 7 aprile. Mailand: Feltrinelli.

Bologna, Sergio (1973). Moneta e crisi: Marx corrispondente della New York Daily Tribune, 1856-1857, in: Primo maggio 1, S. 1-15.

Bologna, Sergio (1978). La tribú delle talpe, in: Collettivo di Primo Maggio, La tribú delle talpe, a cura di Sergio Bologna, Mailand: Feltrinelli, S. 7-40.

Bologna, Sergio (1980a). Der Stamm der Maulwürfe, in: Mai-Gruppe u. Theoriefraktion, Wissenschaft kaputt, Münster, S. 251-301.

Bologna, Sergio (1980b). The Tribe of Moles, in: Italy: Autonomia. Post-Political Politics, Semiotext[e], Jg. 3, H. 3, S. 36-61.

Bologna, Sergio (1997a). Nazismo e classe operaia 1933-1993. Rom: Manifestolibri.

Bologna, Sergio (1997b). Proletarier der "Achse": Sozialgeschichte der italienischen Fremdarbeit in NS-Deutschland 1937 bis 1943. Berlin: Akademie Verlag.

Bologna, Sergio (1997c). Dieci tesi per uno statuto del lavoro autonomo, in: Sergia Bologna u. Andrea Fumagalli, Il lavoro autonomo di seconda generazione. Scenari del postfordismo in Italia, Mailand: Feltrinelli, S. 13-42.

Bologna, Sergio (2006). Die Zerstörung der Mittelschichten. Thesen zur neuen Selbständigkeit. Graz: Nausner & Nausner.

Bologna, Sergio (2007). Selbstorganisation...: Transformationsprozesse von Arbeit und sozialem Widerstand im neoliberalen Kapitalismus. Berlin: Die Buchmacherei.

Bologna, Sergio (2009a). Der Operaismus: Eine Innenansicht. Von der Massenarbeit zur selbständigen Arbeit, in: Marcel van der Linden u. Karl Heinz Roth, Hg., unter Mitarbeit von Max Henninger, Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts, Berlin u. Hamburg: Assoziation A, S. 155-181.

Bologna, Sergio (2009b). Karl Marx als Korrespondent der New York Daily Tribune, in: Marx, Weltkrise, Arbeiterklasse, Beilage zu Heft 85 der Zeitschrift Wildcat, S. 11-63.

Borio, Guido; Pozzi, Francesca; Roggero, Gigi (2002). Futuro anteriore. Dai «Quaderni rossi» ai movimenti globali: ricchezze e limiti dell'operaismo italiano. Rom: DeriveApprodi.

Borio, Guido; Pozzi, Francesca; Roggero, Gigi (2006). Gli operaisti. Rom: DeriveApprodi.

Corsani, Antonella, Lazzarato, Maurizio u. Negri, Antonio (1996). Le bassin du travail immateriel (BTI) dans la metropole parisienne. Paris: L'Harmattan.

Gambino, Ferruccio (2003). Migranti nella tempesta. Avvistamenti per l'inizio del nuovo millenio. Verona: Ombre corte.

Gambino, Ferruccio u. Sacchetto, Devi (2007). Un arcipelago produttivo. Migranti e imprenditori tra Italia e Romania. Rom: Carocci.

Gambino, Ferruccio u. Sacchetto, Devi (2009). Die Formen des Mahlstrohms. Von den Plantagen zu den Fließbändern, in: Marcel van der Linden u. Karl Heinz Roth, Hg., unter Mitarbeit von Max Henninger, Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts, Berlin u. Hamburg: Assoziation A, S. 115-153.

Linebaugh, Peter u. Rediker, Marcus. Die vielköpfige Hydra. Reflexionen über Geschichte von unten, in: Marcel van der Linden u. Karl Heinz Roth, Hg., unter Mitarbeit von Max Henninger, Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts, Berlin u. Hamburg: Assoziation A, S. 31-53.

Marx, Karl (1962a). Fragebogen für Arbeiter, in: Marx Engels Werke, Bd. 19, Berlin: Dietz, S. 230-237.

Marx, Karl (1962b). Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1, in: Marx Engels Werke, Bd. 23. Berlin: Dietz.

Marx, Karl (1983). Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: Marx Engels Werke, Bd. 42. Berlin: Dietz.

Montaldi, Danilo (1961). Autobiografie della leggera. Turin: Einaudi.

Montaldi, Danilo (1971). Militanti politici di base. Turin: Einaudi.

Negri, Antonio (1979). Dall'operaio masso all'operaio sociale. Mailand: Multipla Edizioni.

Negri, Antonio (1981). L'anomalia selvaggia. Saggio su potere e potenza in Baruch Spinoza. Mailand: Feltrinelli.

Negri, Antonio (1982). Die wilde Anomalie. Baruch Spinozas Entwurf einer freien Gesellschaft. Berlin: Wagenbach.

Negri, Antonio (2008). Bericht über die Arbeiterkämpfe in Porto Marghera, 1960-1969, in: Angelika Ebbinghaus (Hg.), unter Mitarbeit von Max Henninger, Die 68er. Schlüsseltexte der globalen Revolte. Wien: Promedia.

Panzieri, Raniero (1994). Spontaneità e organizzazione. Gli anni dei Quaderni rossi, 1959-1964. Scritti scelti a cura di Stefano Merli. Pisa: Biblioteca Franco Serantini.

Pozzoli, Claudio (1972). Spätkapitalismus und Klassenkampf. Eine Auswahl aus den Quaderni Rossi. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt.

Roth, Karl Heinz (1994). Die Wiederkehr der Proletarität und die Angst der Linken, in: Karl Heinz Roth (Hg.), Die Wiederkehr der Proletarität. Dokumentation der Debatte, Karlsruhe 1994, S. 11-36.

Roth, Karl Heinz (2009a). Benedetta sconfitta? Die Zeitschrift Primo Maggio in der dritten Phase des Operaismus, in: Ausgrabungen. Hochaktuelle Fundstücke aus der Zeitschrift Primo Maggio, Beilage zu Heft 83 der Zeitschrift Wildcat, S. 13-30.

Roth, Karl Heinz (2009b). Externe und Interne: Die Arbeiterautonomie von Porto Marghera in der westdeutschen Wahrnehmung, in: Ausgrabungen. Hochaktuelle Fundstücke aus der Zeitschrift Primo Maggio, Beilage zu Heft 83 der Zeitschrift Wildcat, S. 6-12.

Sacchetto, Devi (2009). Fabbriche galleggianti. Solitudine e sfruttamento dei nuovi marinai. Rom: Jaca Book.

Sacchetto, Devi u. Sbrogiò, Gianni (2009). Quando il potere è operaio. Rom: Manifestolibri.

Schmitt, Carl (1934). Politische Theologie. Berlin: Duncker & Humblot.

Schmitt, Carl (1963). Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien. Berlin: Duncker & Humblot.

Smith, Adam (1974). Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen. München: Beck.

TheKla 8 (1987). Militante Untersuchung 1983-86. Berlin: Sisina.

Thompson, Edward P. (1963). The Making of the English Working Class. London: Victor Gollancz.

Thompson, Edward P. (1987). Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Zwei Bände.

Tomba, Massimiliano u. Bellofiore, Riccardo (2009). Lesarten des Maschinenfragments. Perspektiven und Grenzen des operaistischen Ansatzes und der operaistischen Auseinandersetzung mit Marx, in: Marcel van der Linden u. Karl Heinz Roth, Hg., unter Mitarbeit von Max Henninger, Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts, Berlin u. Hamburg: Assoziation A, S. 407-431.

Tronti, Mario (1966). Operai e capitale. Turin: Einaudi.

Tronti, Mario (1974). Arbeiter und Kapital. Frankfurt am Main: Verlag Neue Kritik.

Tronti, Mario (1975). Hegel politico. Rom: Istituto dell'enciclopedia italiana.

Tronti, Mario (1977a). Stato e rivoluzione in Inghilterra. Mailand: Il Saggiatore.

Tronti, Mario (1977b). Sull'autonomia del politico. Mailand: Feltrinelli.

Tronti, Mario (1980). Il tempo della politica. Rom: Editori Riuniti.

Tronti, Mario (1992). Con le spalle al futuro. Per un altro dizionario politico. Rom: Editori Riuniti.

Tronti, Mario (1998). La politica al tramonto. Turin: Einaudi.

Tronti, Mario (2005). Per la critica della democrazia politica, in: Marcello Tari, Guerra e democrazia, Rom: Manifestolibri, S. 15-24.

Tronti, Mario (2008). An die Arbeit! Für eine Linke, die sich auf die "Welt der Arbeiten" konzentriert, in: analyse + kritik (ak) 534, S. 3.

Vercellone, Carlo (2009). Vom Massenarbeiter zur kognitiven Arbeit. Eine historische und theoretische Betrachtung, in: Marcel van der Linden u. Karl Heinz Roth, Hg., unter Mitarbeit von Max Henninger, Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts, Berlin u. Hamburg: Assoziation A, S. 527-555.

Wright, Steve (2005). Den Himmel stürmen. Eine Theoriegeschichte des Operaismus. Berlin u. Hamburg: Assoziation A.

Wright, Steve (2009). Revolution von oben? Geld und Klassenzusammensetzung im italienischen Operaismus, in: Marcel van der Linden u. Karl Heinz Roth, Hg., unter Mitarbeit von Max Henninger, Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts, Berlin u. Hamburg: Assoziation A, S. 433-465.

Raute

Rezensionsessay von Anton Pam

Joel Andreas: Rise of the Red Engineers: The Cultural Revolution and the Origins of China's New Class

Stanford University Press 2009, 28 Euro


Elitenbildung und Hochschulen im chinesischen Sozialismus: Überlegungen zu "Rise of the Red Engineers" und darüber hinaus

Die Studierendenproteste in Österreich und Deutschland im Herbst 2009 haben die Fragen aufgeworfen, was der Sinn und Zweck von Hochschulbildung ist: Wer soll studieren können, wem gehört die Uni, wie kann soziale Selektion und Eliten-Bildung verhindert werden? In diesem Zusammenhang lohnt es, sich mit den gewonnenen und verlorenen Kämpfen in der Vergangenheit auseinandersetzen.

Joel Andreas versucht in seinem Buch "The Rise of the Red Enineers" zu erklären, wie Elitenbildung im sozialistischen China funktioniert hat. Andreas ist "Assistant Professor" für Soziologie an der John Hopkins Universität in Baltimore. Am Beispiel der Top-Eliteuniversität Qinghua in Beijing erklärt er, wie die "roten Ingenieure" zur neuen Klasse aufsteigen konnten, die heute in China eine technokratische Herrschaft ausüben würden. Dabei knüpft er an die Thesen von György Konrád und Iván Szelényi an, die in den 70er Jahren die These aufstellen, der Sozialismus in Osteuropa stelle eine Klassenherrschaft der Intellektuellen dar. Allerdings geht Andreas darüber hinaus, indem er, an Pierre Bourdieu angelehnt, die Begriffe des kulturelles und politisches Kapitals entwickelt. Über politisches Kapital verfügten in erster Linie die revolutionären Kader, die schon vor 1949 Aktivisten der KPCh wurden, und über kulturelles Kapital verfügte die alte Elite der Intellektuellen und ihre Kinder. Da das Privateigentum an Produktionsmitteln nach 1956 weitgehend abgeschafft wurde, glaubt Andreas, dass politisches und kulturelles Kapital die Grundlage für Klassenmacht im Sozialismus seien.

Andreas argumentiert, dass es in der kommunistischen Bewegung zwei Traditionen bezüglich der Verteilung von politischem und kulturellem Kapital gebe: 1. Die egalitäre Tradition, die sich auf Karl Marx' "Kritik des Gothaer Programms" bezieht und auf eine Abschaffung der drei Unterschiede (zwischen körperlicher und geistiger Arbeit, Arbeiter und Bauern sowie Stadt und Land) abzielt. Diese Tradition hatte großen Einfluss auf die Politik der Bolschewiki von der Oktoberrevolution bis zum "großen Rückzug" Mitte der 30er Jahre. 2. Damals wurde das sowjetische Hochschulsystem auf Elitenselektion umgestellt und alte Privilegien von Intellektuellen, Experten und Professoren wiederhergestellt. Das Ziel, die drei Unterschiede aufzuheben, wurde in die ferne kommunistische Zukunft vertagt. Spätestens nach dem 2. Weltkrieg wurde die Sowjetunion von einer technokratischen Elite von roten Ingenieuren regiert. Parteiführer wie Brezhnev, Kosygin, Gromyko, Andropov und Gorbachev hatten alle Abschlüsse in Ingenieurswissenschaften oder Agronomie (S.1). Diese Tradition bezeichnet Andreas als Utopie im Sinne des französischen utopischen Sozialisten Saint-Simon (1760-1825), dem eine Herrschaft der Wissenschaftler auf Basis öffentlichen Eigentums vorschwebte.


Die Wiege der roten Ingenieure

Die Qinghua-Universität wurde 1904 unter starkem US-amerikanischen Einfluss gegründet. Der erste Teil des Buches zeigt, wie die KPCh nach 1952 die Qinghua zur "Wiege der roten Ingenieure" nach sowjetischem-(technokratischen) Vorbild umbaute. Die neue politische Elite, kommunistische Kader, die zumeist aus einfachen Familien kamen und über wenig formale Bildung verfügten, übernahmen zunächst die Kontrolle über die alten intellektuellen Eliten des Lehrkörpers. In diesem Jahr wurde in China eine zentralisierte, landesweite Aufnahmeprüfung (gaokao) eingeführt, durch die nur eine kleine Minderheit mit den besten Ereignissen an den Hochschulen studieren konnte. Das Gaokao-System führte dazu, dass Kinder der alten intellektuellen Elite die Mehrheit der Studierenden stellten, da sie in den schriftlichen Tests besser abschnitten. 1952 kamen nur 14 Prozent aller Studierenden von Qinghua aus Arbeiter- und Bauernfamilien, was schon viel ist, angesichts der Tatsache, dass nur 1 Prozent eines Jahrganges die höhere Mittelschule abschloß (S.43). In den Jahren vor der Kulturrevolution gelang es auch vielen Kaderkindern aufgenommen zu werden und der Anteil der Arbeiter- und Bauernkindern bei den neuaufgenommenen Studierenden stieg bis 1964 auf 44 Prozent (S.69). Der Rektor von Qinghua, Jiang Nanxiang, der 1960 auch zum chinesischen Bildungsminister ernannt wurde, versuchte, eine neue "rot- und fachkundige Elite" auf Grund eines Auswahlsystem auf allen Ebenen der Schulbildung zu schaffen und auch die alten Professoren in die Partei zu integrieren. Jiang trat für eine klare Trennung zwischen der Bildung für die Massen der Bevölkerung und für die Elite der besten Studierenden ein. Andreas glaubt, dass bis 1966 die Konflikte in der Bildungspolitik in erste Linie zwischen der neuen politischen Elite und der alten kulturellen Elite verlaufen seien. Während Kader-Kinder von der stärkeren Politisierung profitierten, nutzte den Kindern der alten intellektuellen Elite der Gaokao, um bis zur Kulturrevolution die Mehrheit an den Elite-Hochschulen zu stellen.


Der Angriff auf Partei und Hochschulen

In der Kulturrevolution von 1966 eskalierten diese Konflikte. Mao Zedong, der Anfang der 50er Jahre die Einführung des sowjetischen Systems unterstützt hatte, sah durch das Entstehen einer neuen bürokratischen Elite die Gefahr einer "Restauration des Kapitalismus". Zu Beginn der Kulturrevolution hoffte er, die städtische Jugend gegen die die Parteibürokratie sowie die technokratischen Hochschulleitungen mobilisieren zu können. Die frühe Bewegungen der Roten Garden im Herbst 1966 rekrutierte sich besonders an den Mittelschulen, die an die Universitäten angegliedert waren. Die frühen Roten Garden waren überwiegend Kader-Kinder, die Lehrer, Professoren und Mitschüler aus der alte Elite angriffen. Besonders populär wurde die so genannte "Blutslinientheorie", die besagte, dass die Kinder von Revolutionären "rot geboren" würden. Die Kulturrevolution nahm jedoch eine radikale Wendung, als die neu entstehenden Rebellen-Gruppen an der Qinghua die Universitätsleitung angriffen und sich Mao auf ihre Seiten gegen den Parteiapparat der Uni stellte. Nachdem die Rebellen die Kontrolle über die Universität gewinnen konnten, wurde Qinghua zum Wallfahrtsort für radikale Jugendliche aus ganz China. Die Rebellengruppe "Jianggangshan" konnte Demonstrationen mit bis zu 100.000 Teilnehmern in Beijing auf die Beine stellen. Die Rebellen griffen die neue und die alte Elite an. Sie lehnten die "Blutslinientheorie" ab und stellten das Auswahlsystem in Frage. Gegen die Rebellen formierten sich moderatere Gruppen, die zwar auch mit der militanten Rhetorik der Kulturrevolution auftraten, aber im Prinzip den Parteiapparat und die Universitätsleitung verteidigten. Unterricht fand in den ersten Jahren der Kulturrevolution nicht mehr statt. Alle Fraktionen waren mit Speeren und teilweise Gewehren bewaffnet und lieferten sich bis zum Sommer 1968 blutige Auseinandersetzungen, um die Kontrolle der Gebäude der Universität. Bis dahin waren 12 Studenten umgekommen und Dutzende wurden verletzt. Auch wenn die Mitglieder und Führer aller Fraktionen Kinder von Kadern, Intellektuellen oder aus dem einfachen Volk stammten, so argumentiert Andreas, dass sich der Anhang der moderateren Fraktionen zu einem deutlichen höheren Anteil aus Kadern und Kader-Kindern zusammensetzte. Der Konflikt sei ein Kampf um Klassenmacht, sprich um die Neuverteilung von politischen und kulturellen Kapital gewesen.

Im Juli 1968 schickte Mao 30.000 Arbeiter auf den Campus der Qinghua, um die Fraktionskämpfe zu beenden. Die proletarischen Truppen übernahmen faktisch die Leitung der Universität. Professoren und Fabriksleiter wurden unter die "Aufsicht der Massen" gestellt. Das gesamte Universitätspersonal wurde politischen Untersuchungen unterzogen.


"Affirmative Aktion" für Arbeiter und Bauern

Im weiteren Verlauf des Buches beschreibt Andreas die Bildungsreformen, die während der Kulturrevolution durchgeführt wurden. Der Unterricht begann an der Qinghua 1970; an den meisten anderen Unis erst wieder 1972. Während dessen wurde das gesamte Bildungsystem in China radikal umgestaltet: Wie während des "Großen Sprungs nach vorne" (1958-1961) integrierten die Universitäten Fabriken und Agrarbetriebe im großen Maß im Campus. Studierende wie Professoren mussten an körperlicher Arbeit teilnehmen. Das Gaokao-System wurde abgeschafft und die Studierenden nun auf Grundlage der "Empfehlungen der Massen" in den Volkskommunen und Betrieben ausgesucht. Im August 1970 marschierten die neuen "Arbeiter, Bauern und Soldaten-Studierenden" unter roten Fahnen auf dem Campus der Qinghua ein. Die soziale Zusammensetzung der Studierenden hatte sich radikal verändert. 81 Prozent der neuen Studierenden sollen aus Familien der Arbeiter oder armen- und unteren Mittelbauern gekommen sein. Fast 70 Prozent von ihnen hatten nur die untere Mittelschule besucht und 9 Prozent sogar nur die Grundschule (S.203). 80 Prozent der neuen Studierenden waren männlich. Andreas räumt jedoch ein, dass zum ersten Mal eine größere Anzahl von Bauerntöchtern auf der Qinghua aufgenommen wurde. Auf dem Campus wurden viele Privilegien der Professoren und Kader bei Gesundheitsversorgung, Gehältern und Wohnungen abgeschafft. Professoren und Studierende wurden in gemeinsamen Gruppen organisiert. Die Reformen brachten eine Verkürzung der Ausbildung, Abschaffung unangekündigter Prüfungen sowie eine Abwertung des "Bücherwissens". Den Professoren saß der Schrecken ohnehin noch in den Knochen, so dass sie kaum wagten, die Studierenden zu kritisieren oder schlecht zu benoten.

Leicht zu erraten ist, dass das System der "Empfehlung durch die Massen" große Probleme mit sich brachte, da viele Kader versuchten, ihre "Günstlinge" auf die Unis zu bringen und die Diskussionen der Massen zu manipulieren. Schon 1973 drängten deshalb die konservativeren Kräfte in der Partei auf die Wiedereinführung der Aufnahmeprüfungen, "um das Eintreten durch die Hintertür" zu verhindern. Die Parteilinke pries in der Presse hingegen einen Studenten als Helden, der bei einer Prüfung ein leeres Blatt mit der Begründung abgab, dass diese Form der Prüfung "Bücherwürmer" bevorzugen würde, die nicht an der kollektiven Arbeit teilnehmen. Die Linken forderten, die Massen erneut gegen die Kader zu mobilisieren. Nur die Einschränkung der Macht der Kader würde eine gerechte Auswahl der Studenten durch die Massen möglich machen. Mao unterstützte eine "zweite Kulturrevolution" jedoch nicht, da er glaubte, nur ein Gleichgewicht zwischen beiden Parteiflügeln könnte ein Zusammenbruch des Systems verhindern.


Die neue Klasse: Eine Synthese aus der alten und neuen Elite

Der letzte Teil des Buches beschreibt, wie nach Maos Tod 1976 die technokratische Elite der "roten Ingenieure" die Macht übernimmt. Eine der zentrale Thesen des Buches ist, dass die alte und neue Elite zusammenfinden, als der Status Quo von den Rebellen und den radikalen Bildungsreformen der Kulturrevolution bedroht wurde (S.125). Schon 1977 wurde der Gaokao wiedereingeführt und die Idee der Abschaffung der "drei Unterschiede" aufgegeben. Die große Mehrheit der "Arbeiter, Bauern und Soldaten-Studierenden" wurde wieder in die Betriebe und Volkskommunen zurückgeschickt. Negativ wirkte sich der neue Kurs vor allem in den Jahren 1977-1983 auf die ländliche Schulbildung aus. Die Zahl der Schüler an den Mittelschulen sank landesweit von über 67,7 Millionen auf 43,9 Million (S.227). "Affirmative Aktion" für Arbeiter und Bauern wurde abgeschafft, da laut Andreas die Voraussetzung dafür die ständige Thematisierung der Klassenherkunft der Studierenden war. Anfang der 80er Jahr gab die KPCh das "class labeling" auf. Menschen aus den unteren Schichten konnten keine bevorzugte Behandlung mehr erwarten, aber Angehörige der alten Elite, Intellektuelle und ihre Kinder wurden wieder in das System integriert. Angriffe auf die Parteibürokratie sollte es nicht mehr geben und Deng Xiaoping erklärte, dass die Intellektuellen Teil der Arbeiterklasse seien. Dank der neuen Politik konnte die Parteielite ihr politisches Kapital retten und die Bildungselite ihr kulturelles Kapital sowie durch die Auswahlsysteme in Partei und Hochschulen dieses kulturelle Kapital auch für ihre Kinder immer wieder neu reproduzieren. In Folge wurde die KPCh aus einer Bauern- und Arbeiterpartei eine Partei von Technokraten und Intellektuellen, wenn man die soziale Zusammensetzung der Mitglieder als Maßstab nimmt. Die Führung unter Deng machte klar, dass wer rot sein will, auch fachkundig sein muss (S.233). In den 80er Jahren triumphierte die Klasse der "roten Ingenieure", die laut Andreas eine Synthese aus der alten kulturellen und neuen politischen Elite ist. Für symptomatisch hält Andreas die Zusammensetzung der Parteiführung: 2002 waren alle neun Mitglieder des Ständigen Ausschusses des Politikbüros, des mächtigsten Organ des Landes, Ingenieure. Darunter waren vier Männer wie Hu Jintao Absolventen der Qinghua-Universität. An der Qinghua kommen in den letzten Jahren nur noch 20 Prozent der Studierenden aus dem ländlichen China. Die "drei Unterschiede" sind heute größer denn je. Noch in den späten 80er Jahren lag ein Monatsgehalt eines Professors an der Qinghua bei 160 Yuan, Angestellte in den Kantinen bekamen 40 Yuan. Heute bekommen die Kantinenangestellten hingegen den Mindestlohn von 580 Yuan pro Monat und Top-Wissenschaftler können ein Jahresgehalt bis zu 1 Million Yuan beziehen (S.256). Der Sieg über Maos "Egalitarismus" hat sich für die technokratischen Eliten voll ausgezahlt.


Wie soll die Restauration des Kapitalismus erklärt werden

Ich bespreche hier das Buch von Andreas in einer solchen Ausführlichkeit, da es seit Jahren der erste ernstzunehmende Versuch von links ist, die Restauration des Kapitalismus in China zu erklären. Andreas stützt sich dabei auf neue Materialen und hat über 90 Interviews mit Studierenden, Professoren und ehemaligen Mitgliedern aller Fraktionen der Kulturrevolution an der Qinghua geführt. Erfrischend ist auch die Einbeziehung Bourdieus, die stringent im gesamten Buch verfolgt wird. Die These, dass die Schrecken der Kulturrevolution, sprich die Forderung der Rebellen und Maos nach einer radikalen Bildungsreform, die politischen und kulturellen Eliten des Landes zu einer technokratischen Konterrevolution zusammenführten, ist absolut überzeugend.

Allerdings hat der Ansatz auch seine Mängel. Wie es in der angloamerikanischen Wissenschaft heute üblich ist, sollen sich Bücher an ein breites studentisches Publikum richten, um profitabel zu sein. Theorie soll dabei nicht zu kompliziert werden. Der Schwachpunkt des Buches ist vor allem der letzte Teil, in dem Andreas versucht, die Herrschaft der neuen Klasse an Hand von einigen Statistiken zu belegen. Der Verweis auf die soziale Herkunft der Mitglieder in der Parteiführung ist unzureichend, um eine Klasse im marxistischen Sinn zu definieren. Auch die Parteilinke, die so genannte "Vierer-Bande", hatte die Gefahr einer Restauration des Kapitalismus eher im Gefühl und konnte die sozialen Ursprünge der "Machthaber des kapitalistisches Weges" nie überzeugend erklären. Charles Bettelheim versuchte, die noch existierende Warenproduktion als Grundlage für die Verwandlung einer sozialistischen in eine kapitalistische Produktionsweise zu erforschen. Wenn Arbeiter aus der Verwaltung der Produktion ausgeschlossen würden und Effizienz statt Partizipation im Vordergrund stünde, könnte sich auch eine staatliche Fabrik in eine kapitalistische verwandeln, da sie nach den Kriterien der Warenproduktion agiere. Nur permanenter Klassenkampf könne eine Restauration des Kapitalismus unter sozialistischem Schleier verhindern. Andreas hat diese hochkomplexen Fragen der Rolle von Eigentum und Warenproduktion komplett ausgeklammert und sich ganz auf das System der Selektion an den Hochschulen konzentriert. Die Gleichsetzung von technokratischen Eliten mit einer herrschenden Klasse ignoriert die Sphäre der Produktion. Die Entstehung einer Wirtschaft mit kapitalistischen Produktionsverhältnissen seit Anfang der 90er Jahre spielt in dem Buch keine Rolle.

Die Politik von Deng konnte sich nicht nur auf die alten und neuen Eliten stützen, sondern hatte eine wesentlich breitere Basis in der Bevölkerung. Die Auflösung der Volkskommune verbesserte das Leben der großen Mehrheit der Bauern in den 80er Jahren. Das Familienverantwortlichkeitssystem schuf eine Kleinbauernwirtschaft, in der das Land relativ gleich an Familien verteilt wird. Andreas thematisiert auch nicht, dass trotz selektiver Auswahlverfahren die Hochschulbildung radikal expandiert ist. 1976 gab es in China 564.000 Studierenden an regulären Hochschulen und 2.6 Millionen an "Universitäten", die an Fabriken oder Volkskommunen angegliedert waren. 2007 waren hingegen 20 Millionen Studenten in China eingeschrieben! Selbst wenn Studierende aus den ländlichen Gebieten und unteren Schichten nur den kleineren Teil ausmachen, so sind sie in absoluten Zahlen stärker als zu Maos Zeiten vertreten. Die chinesische Regierung entschied während der Asien-Krise 1997, dass eine hohe Jugendarbeitslosigkeit verhindert werden soll und baute die Universitäten aus. Allein von 2000 bis 2007 nahm die Zahl der Studierenden um 7 Millionen zu. Die KPCh stützt sich zwar auf eine technokratische Elite, sie kann sich aber Unterstützung in breiten Teilen der Bevölkerung sichern.


Interessenkonflikte und Terror

Andreas hat sicher Recht, dass auf dem Campus der Qinghua eine der wichtigsten Schlachten der Kulturrevolution geschlagen wurde. Dankenswerterweise stellt er die Kulturrevolution nicht als sinnloses Morden armer Irrer dar, sondern versucht, die Interessenkonflikte zwischen den einzelnen Gruppen herauszuarbeiten. Terror wird aber nur am Rande erwähnt. Andreas konnte auch den landesweit bekannten Führer der Jinggangshan-Rebellen, Kuai Dafu, interviewen. Kuai leitete unter anderem die Kampfsitzungen gegen die Frau von Staatspräsidenten Liu Shaoqi, Wang Guangmei, die zu Beginn als Leiterin der vom ZK gesandten Arbeitsgruppen versucht hatte, die Rebellen zu unterdrücken. Wang wurde gezwungen, ein traditionelles Kleid anzuziehen und ihr wurde eine Kette aus Tischtennisbällen umgehängt, um ihre bürgerliche Dekadenz zu symbolisieren. Aus dem Buch ist nicht ersichtlich, ob Andreas ihn nach seiner heutigen Haltung dazu befragt hat. Keine Details finden sich im Buch über die Arbeitslager und Folterkeller, die Rotgardisten und Rebellen auf dem Campus errichteten. Interessant wäre es doch zu fragen, ob die Konflikte um politisches und kulturelles Kapital eskalierten oder ob es andere Erklärungen für das Ausmaß der Gewalt gibt. Es erscheint jedenfalls nicht als notwendig, Professoren Augen auszustechen, Nieren zu zertreten oder in den Selbstmord zu treiben, um Unis für Bauern- und Arbeiterkinder zu öffnen. Die Aktivisten von einst haben oft sehr unterschiedliche Erinnerungen an die Kulturrevolution. Es scheint jedoch, als ob Andreas den besonders schwierigen und schmerzhaften Fragen aus dem Weg gegangen ist.


Fragen, die heute offen bleiben

Das Buch wirft viele Fragen auf, die auch für die Gegenwart wichtig sind. Arbeitsteilung ist immer noch eine zentrale Grundlage für Hierarchien und Klassenbildung. Die Unterschiede zwischen Stadt und Land sind heute in den entwickelten kapitalistischen Ländern im Vergleich zu China in den 60er Jahren unbedeutend gering. Dank moderner Transport- und Kommunikationsmittel ist heute in Österreich niemand mehr vom Geschehen der Welt abgeschnitten, weil er auf einem Dorf wohnt. Die Anzahl der Menschen, die harte körperliche Arbeit leisten müssen, nimmt in Mitteleuropa ab. Trotzdem spielen Herkunft im Bildungsytem von Deutschland und Österreich eine zentrale Rolle. Nach einer Studie hätte Lisa Simpson (ein Mädchen aus einem bildungsfernen Haushalt aus einer Kleinstadt) in Österreich eine Chance von 6 bis 8 Prozent einen Hochschulabschluss zu erreichen und zwar trotz absolvierter Matura. In Deutschland wird durch das dreigliedrige Schulsystem (Hauptschule, Realschule, Gymnasium) für die meisten Kinder im Alter von 10 Jahren vorprogramminiert, ob sie Arbeiter im Billiglohnsektor werden oder vielleicht eine Chance haben, eine besser bezahlte "geistige Arbeit" zu verrichten. Studien zeigen, dass auch ohne Studiengebühren Kinder aus "bildungsfernen" Haushalten deutlich benachteiligt sind.

Eliten müssen sich immer wieder selbst reproduzieren. Um in den Worten von Andreas zu sprechen, gelingt es den Inhabern des kulturellen und politischen Kapitals trotz scheinbar freien Zugangs zu Universitäten, das System so einzurichten, dass ihre Kinder besonders hoch aufsteigen. Das wird von vielen Aktivisten übersehen, die glauben, ein gebührenfreies Studium würde eine soziale Selektion generell verhindern. Die Selektion findet nur später im Laufe des Studiums statt. Studierende aus "bildungsfernen" Schichten können in der Regel nur dann erfolgreich Karriere machen, wenn sie extreme soziale Anpassungsleistungen vollziehen und den Habitus des Bildungsbürgertums übernehmen. Bei der Diskussion dieses Artikel in der "Grundrisse"-Redaktion entbrannte eine Debatte, ob es heute ein klassisches Bildungsbürgertum überhaupt noch gibt. Mit dem Begriff meine ich einen Teil des Bürgertums, der auf Grund von Bildungskarrieren gutbezahlte und sichere Arbeitsplätze hat sowie sich über einen Wissenskanon aus Literatur, Kunst, Musik, Geschichte, Politik usw. definiert und den eigenen Standards von gutem Geschmack und Manieren universelle Geltung zuschreibt. Ein Argument in der Debatte war, dass sich heute das Proletariat so verallgemeinert habe, dass es als eigenes Milieu damit in der Gesellschaft aufgelöst wurde. Die technische Entwicklung (Ipod, Facebook usw.) würde den klassischen Wissenskanon entwerten und von einem Bildungsbürgertum könne nicht mehr gesprochen werden. Ich denke hingegen, dass gerade die Berufe des Lehrers und Professors noch sehr stark vom bildungsbürgerlichen Habitus geprägt sind und der Umgang mit den neuesten technischen Entwicklungen eher delegiert wird. Um die Frage zu beantworten, bedarf es sicher noch weiterer Forschung.

Wie könnte heute eine Politik aussehen, die versucht, die auf Arbeitsteilung beruhenden Hierarchien zu überwinden? Wohl kaum darin, Studierende und Lehrende auf das Land zu verschicken und auf dem Campus Fabriken zu bauen. Diese Frage sollte jedoch von einer radikalen Studentenbewegung gestellt werden. Die Gesellschaften sind heute in Europa reich genug, um allen, die es wollen, einen Studienplatz zu gewährleisten. In China standen die Partei und die Rebellen jedoch vor der Frage, welche ein bis zwei Prozent der Bevölkerung studieren sollen. "Affirmative Aktion" für Kinder aus Gruppe der Bevölkerung, die bisher benachteiligt sind, würde ein ständiges Thematisieren von Klassenzugehörigkeit voraussetzen. Das Wort "Klasse" wurde jedoch vom Mainstream an der Universität fast verbannt. Ein Problem in diesem Zusammenhang ist, dass das Einkommen der Eltern allein noch nicht alles über das kulturelle und politische Kapital der Familien aussagt. Bürgerliche Statistiken über Arbeiterkinder oder "bildungsferne Schichten" an Universitäten haben mit einem marxistischen Klassenbegriff, der Lohnarbeit und Ausbeutung in den Vordergrund stellt, nicht viel gemein. Zentral an einer marxistischen Kritik der Klassengesellschaft ist der Gedanke von Marx aus der "Kritik des Gothaer Programms", das gleiche "Rechte", die auf ungleiche Menschen angewandt werden, neue Ungleichheiten reproduzieren.

Heute gibt es für den Zusammenhang zwischen Klasse und Bildung bei fast allen Beteiligungen an den Unis kein Bewusstsein. Als Folge der sozialen Bewegungen der 80er Jahren liegt der Fokus auf Quoten für Frauen. Solange Studierende nicht als Teil der Klasse Forderungen aufstellen, wirken Forderung nach einer Einführung einer "Affirmativen Aktion" für "bildungsferne Schichten" von oben aufoktroyiert. In den USA wird seit der Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre "Rasse" ununterbrochen bei der Frage des Hochschulzugangs thematisiert. "Affirmative Aktion" für Schwarze und andere Minderheiten wurde nicht zuletzt von sozialen Bewegungen erkämpft. In den letzten Jahren mehren sich die Stimmen, die darauf hinweisen, dass Menschen aus den unteren Einkommensschichten nur geringe Chancen haben, an den Topuniversitäten zu studieren. Seit einigen Jahren können Kinder aus Elternhäusern mit einem Jahreseinkommen von unter 60.000 Dollar in Harvard umsonst studieren, wenn sie aufgenommen werden. Nur 1/5 der Studierenden kommen jedoch aus solchen "armen" Familien.

Soziale Selektion findet schon im Kindergarten und in der Schule statt. Jede Form von "Affirmativer Aktion" an den Universitäten könnte nur einen geringen Ausgleich leisten. Kostenlose Kindergärten-Plätze und ein Schulsystem, das nicht die Kinder im zarten Alter von 10 Jahren in verschiedene Schultypen einteilt, sind wichtig, werden jedoch nicht ausreichen, um das soziale Kapital dem Bildungsbürgertum zu entreißen. Das Buch von Andreas zeigt, dass nicht nur der Zugang zur Bildung entscheidend ist, sondern auch die Definitionshohheit über die Frage, welche Form des Wissens wissenswert ist und wie Leistung und Qualität definiert werden. Solange die Mächtigen und "Gebildeten" stark genug sind, ihr Wissen als Norm der Qualität zu definieren, gelten Menschen, die auf Grund ihrer sozialen Herkunft den bürgerlichen Bildungskanon und seine adäquate sprachliche Präsentation nicht verinnerlicht haben, als dumm. Die Arbeitertochter aus Simmering, die "Snoop Doggy Dog" kennt, aber nicht Gustav Mahler, verfügt über keine "Allgemeinbildung". Der Migrant aus Nigeria, der weiß, wie man der Abschiebung entkommt, nicht jedoch welchen Wein man zum Shrimps-Risotto bestellt, fehlen die richtigen "Manieren". Dem bildungsbürgerlichen Habitus positiv einen proletarischen Habitus entgegen zu stellen, werden vor allem "linke" Akademiker problematisch finden, da (nicht ganz zu Unrecht) befürchtet wird, dass die hart erkämpfte politische Korrektheit an den Universitäten in Frage gestellt werden könnte. Was könnte dem bürgerlichen Habitus jedoch entgegen gesetzt werden?

Wie man soziale Selektion auf Grundlage des kulturellen Kapitals verhindern soll, ist mir unklar. Neben Klasse sollten auch die subtilen und unbewussten Selektionsmechanischem immer wieder thematisiert werden, besonders wenn es um die Definition von "Leistung" und "Qualität" bei Bildung gibt. Abschließend bleibt zu sagen, dass Bildungssyteme wichtig für die Reproduktion von Eliten sind, jedoch als Teil einer Klassengesellschaft wirken. Jede Studierendenbewegung, die ihre Forderungen auf die Uni beschränkt, wird mit dem Kopf gegen die "Mauern" des Campus laufen. Dass die herrschende Klasse freiwillig bereit sein könnte, ihr kulturelles Kapital und ihre Bedeutungshoheit über Bildung aufzugeben, ist ebenso unwahrscheinlich wie eine wohlwollende Übergabe der Produktionsmittel an die Produzenten.


Literatur:

György Konrád und Iván Szelényi, "Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht", Frankfurt (M), Suhrkamp 1978.

Ingolf Erler (Hg.): "Keine Chance für Lisa Simpson?: Soziale Ungleichheit im Bildungssystem" Mandelbaum Wien, 2007, S.12.

Felix Wemheuer: "Maoismus" Pro Media, Wien, 2009.

Raute

Rezensionsessay von Elmar Flatschart

Tobias ten Brink: Geopolitik. Geschichte und Gegenwart kapitalistischer Staatenkonkurrenz

Münster, Westfälisches Dampfboot, 2008, 307 Seiten, 27,90 EUR


Tobias ten Brink versucht sich mit seinem Buch "Geopolitik" an einem mehr als schwierigen Thema. Es geht um nichts weniger, als einen "analytischen Rahmen zur Erklärung von Geopolitik" (S. 49) zu finden. Diesem komplexen Vorhaben folgt ein ebenso umfassendes Buch, das von der profunden Sachkenntnis des Autors zeugt. Besonders gut gelungen ist die Darstellung und Verbindung der vielen Ansätze, die sich meist auf einer intermediären, analytischen Ebene bewegen, dabei aber keiner reduktionistischen Weltsicht, etwa im Sinne der einseitig ökonomischen Imperialismustheorien, anhängen. Mit und Fug und Recht kann "Geopolitik" diesbezüglich den Titel eines Überblicks- und Einführungsbuches beanspruchen - wenn auch die Präsentation und Methodik sicherlich alles andere als voraussetzungslos ist. Vor allem geeignet ist die deskriptive wie auch umfangreiche Darstellung der verschiedenen linken Positionen für LeserInnen, die sich bereits mit dem Thema beschäftigt haben. Der (gesellschafts-)theoretische Zugang ten Brinks tritt im Aufbau des Buches nicht umfassend bzw. explizit hervor: Anders als die meisten Überlegungen, die sich "analytisch" nennen, ist das Werk tatsächlich in einer relativ "unentschiedenen" Diskursform gehalten, die es verschiedenen Standpunkten leichter macht, die präsentierten Fakten und mesotheoretischen Ansätze als solche zu akzeptieren. Gleichwohl lässt diese Herangehensweise aber auch viel Platz für weiter führende Diskussionen, ist aber umgekehrt betrachtet hinsichtlich ihres Anspruches, auch eine umfassende "Erklärung" zu liefern, nur beschränkt dienlich: Es drängt sich nicht nur generell die Frage nach dem Warum auf, auch wirkt die eher analytische Haltung oft bodenlos, da die theoretische Positionierung ausbleibt bzw. ungenügend auf metatheoretische Prämissen verweist. Dies beeinträchtigt schlussendlich auch die Abgeschlossenheit des Elaborats, mithin den Gesamteindruck, der nach der Lektüre bleibt. In der Folge möchte ich die inhaltlichen Schwerpunkte des Buches vorstellen. Ich werde dabei besonderes Gewicht auf die Darstellung der ungefähren Gestalt des Analyserahmens legen - was ob der gebotenen Breite bereits ein längeres Unterfangen ist -, dabei aber auch auf theoretische Probleme hinweisen. Am Schluss werde ich mögliche Kritikpunkte nochmals kurz resümieren.


Imperialismus und Geopolitik

Am Anfang der Ausführungen werden das Thema Imperialismus und die damit verbundenen marxistischen Theorien behandelt. Dies ist ideengeschichtlich sinnvoll, da viele frühere Überlegungen sich bei ihrer Einordnung der diskutierten Problemstellungen auf das Konzept eines imperialistischen Kapitalismus verließen. Ten Brink definiert Imperialismus als vornehmlich gewaltsame Praxis, die der Festigung und Expansion staatlicher Macht im internationalen Rahmen dient (S. 16). Er distanziert sich mit dieser engeren Definition klar von früheren Vorstellungen, die jenen als zentralen kausalen Faktor (einer Stufe) des Kapitalismus betrachteten. Der Autor bettet seine Vorstellung von Imperialismus vielmehr ein in das weitere Konzept der Geopolitik, welches für ihn nicht nur gewaltsame Aspekte umfasst, sondern generell von "horizontalen" Konkurrenzverhältnissen zwischen den Staaten ausgeht, darüber hinaus jedoch auch "vertikale" Klassenverhältnisse, Geldverhältnisse und die Besonderung des Staatlichen berücksichtigt (S. 17). Damit wird eine monokausale Erklärungsperspektive zu Gunsten eines vielschichtigen Erklärungshorizonts aufgegeben. Dies wird auch raumtheoretisch argumentiert, mit einem Plädoyer gegen "glatte Räume" wie Hardt/Negris "Empire", in dem von einem unilokalen Machtzentrum ausgegangen wird (S. 35). Ten Brink arbeitet sich vor allem darstellend an marxistischen, liberalen und neo-weberianischen Ansätzen zum Thema ab und behandelt gesondert auch den Neorealismus im universitären Diskurs der Fachrichtung Internationale Beziehungen. Allen diesen Ansätzen ist gemein, dass sie sich gegen ein harmonisierendes Bild des Internationalen wenden, welches normativ-idealistische Vorstellungen einer "geglückten Globalisierung" - z.B. im Rahmen der internationalen Organisationen - zum Ausgangspunkt weiterer Überlegungen macht. Der Neorealismus tut dies als affirmative und auch machtpolitisch missbrauchte Theorie freilich nur beschreibend und spiegelt so eher unmittelbar den real existierenden Raum der Außenpolitik(en) wider, als ihn kritisch zu erklären (S. 44). Die verschiedenen kritischen Ansätze sind allerdings ebenfalls in einigen Hinsichten defizient. Sie betonen den Kapitalexport und somit die externen Faktoren quasi-kolonialistischer Bestrebungen in einem analytisch nicht haltbaren Maß; die Vorstellung des Monopolkapitalismus geistert (z. B. in Gestalt der transnationalen Konzerne) immer noch allzu stark durch die Erklärungsmuster; damit verbunden wäre eine Überbewertung des Finanzkapitals, das als eigenständiger Agent erscheint; Staatlichkeit kommt - wie in den orthodoxen marxistischen Theorien - eine eher instrumentalistische Rolle zu; und letztlich meint der Autor auch, dass Krisentendenzen nicht mehr im Sinne des Realisierungsproblems (der produzierten Waren) erklärt werden sollten, sondern Klassenverhältnissen ein größerer Wert beigemessen werden sollte. En gros werden die Ansätze vor allem für ihre Einseitigkeit kritisiert, die "ableitungschoreographisch" (S. 47) komplexe Verhältnisse vereinfacht, um sie in den eigenen Theorierahmen zu pressen.

Dem Abhilfe zu schaffen, ist das Ziel von "Geopolitik" - Tobias ten Brink plädiert für eine differenzierte Analyse des Kapitalismus bzw. seiner Geopolitik, die empirische Faktoren bzw. mesotheoretische Ergebnisse dementsprechend mehr berücksichtigt und zu einem Ensemble zusammenführt. Am Anfang dieser - v. a. synthetischen - Aufgabe steht die Abklärung der Basics dessen, was eigentlich Kapitalismus ausmacht.


Grundlagen der Kapitalismusanalyse

Eine wichtige Grundbestimmung - deren tatsächliche Umsetzung in den weiteren Argumentationen des Werks noch zur Debatte stehen wird - ist die Unterscheidung zwischen kapitalistischer Gesellschaft und kapitalistischer Produktionsweise (S. 52). Während die zweite Bezeichnung die ökonomischen Aspekte im engeren Sinn umfasst, ist mit "kapitalistischer Gesellschaft" der viel umfassendere Rahmen gemeint, der aus einer anderen Perspektive auch als "kapitalistische Totalität" verstanden werden könnte - also soziokulturelle, soziopsychologische und soziopolitische Aspekte ebenso berücksichtigt. Grundsätzlich schließt sich Tobias ten Brink bei der Analyse der Warenproduktion Michael Heinrichs Lesart der Kritik der Politischen Ökonomie an (S. 53). Diese gerät jedoch in Folge mit seiner eigenen Positionierung bezüglich der Klassenfrage in Konflikt, so bleibt z. B. der Widerspruch zwischen Kapital als prozessierendem Geld und sozialem Verhältnis zwischen den Klassen einfach unaufgelöst stehen. Die verschiedenen Abstraktionsebenen treten nicht klar hervor und überhaupt hält sich der Autor ungenügend lange mit diesen Fragen auf. Es bleibt so etwas unklar, wie er in der Folge die grundlegenden Strukturmerkmale fundieren will. Auch auf dieser Ebene geht er zuerst von "sozialen Formen" aus, die bestimmend sein sollen, will diese jedoch dann nicht als etwas Abgeleitetes gelten lassen, sondern meint, sie könnten auch als Institutionen verstanden werden (S. 57). Wie und wieso es zu dieser Gleichsetzung kommen mag, bleibt schleierhaft. Warum also die politische Form nicht einfach dasselbe wie der Staat ist und jener selbst der Ökonomie gegenüber steht, geht hieraus ebenfalls nicht hervor - dennoch wird diese Frontstellung (richtigerweise) postuliert und teilweise über die Rechtsform (Eigentum etc.) erklärt. Etwas mehr Beschäftigung mit der "Ableiterei" wäre hier mehr als nur von Vorteil gewesen, nicht zu letzt da ten Brink offensichtlich über diese Fragen nachgedacht hat.

Von einer dergestalt recht verwirrenden Behandlung der Formen geht es unvermittelt weiter zu vier "Strukturmerkmalen", die in der Folge der bestimmende Analyserahmen sein werden. Zuerst stehen hier die beiden Seiten der Sozialkonflikte, die "vertikale" Achse der Lohnverhältnisse und die "horizontale" Achse der kapitalistischen Konkurrenzverhältnisse. Daneben sitzen die Geldverhältnisse und die Besonderung des Politischen. Abgesehen von grundsätzlich Bekanntem zu den ersten drei Strukturmerkmalen bietet Letzteres eine interessante Synthese aus der an Paschukanis angelehnten Ableitung des Staates aus der Rechtsform und einer institutionellen Argumentation: So sei der Staat nicht nur "formell", als Garant der Gleichheit der Marktsubjekte, von Nöten, sondern auch "materiell", als Agent der rechtlichen, ökonomischen und politischen Stabilität überhaupt (S. 70ff). So wird der Staat als conditio sine qua non des Kapitalismus positioniert und mit einer Eigenlogik versehen, die jener des Kapitals zu Gunsten der (national-)staatlichen Raison durchaus entgegenwirken kann. Gewissermaßen liest sich dieser Abschnitt wie eine poulantzistische Überlegung zur "Verdichtung der Kräfteverhältnisse", ist jedoch anders als diese nicht (ausschließlich) auf das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen fixiert. Dieser interessante Teil bleibt leider sehr kurz gehalten und hängt letztlich ebenfalls etwas in der Luft. Als Konsequenz bleibt jedoch die Notwendigkeit eines inter-nationalen Staatensystems und dies ist wiederum Anschlusspunkt für geopolitische Überlegungen.


Raum und Zeit - Kapitalismus

Der folgende Abschnitt ist Raum und Zeit gewidmet, setzt sich jedoch nicht - wie im vorigen Kapitel geschehen - zuerst allgemein mit dem Thema auseinander. Obwohl "Raumtheorie", verbreitet durch die "Radical Geography", gerade en vogue ist, bleibt der Fokus hier eher ein angewandter. Ten Brink will vermitteln, dass es ein disparates räumliches System konkurrierender kapitalistischen Staaten gibt, in dem einzelne einen bevorzugten Entwicklungsstatus haben. Die ökonomische Perspektive ist strikt transnational, es wird also von der einen Weltwirtschaft unter dem Primat der Kapitalakkumulation ausgegangen (S. 78), dem jedoch politisch ein Vielstaatensystem gegenüber steht. Bei dieser Trennung belässt es der Autor allerdings nicht, denn die spezifische Dynamik der Geopolitik erschließe sich in der Sphäre des "Inter-Gesellschaftlichen" (ebd.). Wichtig hierfür ist das Konzept der "ungleichen und kombinierten Entwicklung" (S. 81), welches nicht nur die Ungleichheit (zeitliche Achse) der Entwicklung, sondern auch die Interaktion verschieden entwickelter Gesellschaften (räumliche Achse) berücksichtigt. Hier wirken also die gesellschaftliche und inter-gesellschaftliche Ebene ineinander. Zur Frage steht an dieser Stelle freilich der Gesellschaftsbegriff selbst, denn rein logisch, im Sinne der ihm inhärenten Abgeschlossenheit, ist er so nicht mehr haltbar. Dies erkennt der Autor zwar, akzeptiert es aber hinsichtlich des Internationalen auf wissenschaftstheoretisch fragwürdige Art und Weise: "Das Internationale ist nicht einfach nur die größtmögliche 'Analyse-Einheit', sondern eine 'differenzierte Totalität', die die dynamischen Prozesse der Artikulation von Konkurrenz und Kooperation zwischen Gesellschaften umfasst." (S. 85) Jene Ausführung löst nicht das Problem der Bestimmung von "Gesellschaft" (im Verhältnis zu "[National-]Staat"). Sie schafft mit der althusserianischen Figur der "Artikulation" im Gegenteil neue Fragen rund um den Nexus "Analyse-Kritik, Totalität-strukturiertes Ganzes, Gesellschaft-Staat". Allerdings muss gesagt werden, dass diese Fragestellungen - wie wichtig ihre Klärung auch wäre - im weiteren Argumentationsgang durch dessen vornehmlich inhaltlich-analytische Ausrichtung wieder etwas an Dringlichkeit einbüßen.

Als nächstes geht es vorerst um die Raumproduktion im Kapitalismus. Im Rekurs auf David Harvey wird der Widerspruch zwischen Raum-Zeit-Vernichtung des "maß- und ziellosen" Kapitalregimes und der Notwendigkeit, diesen "flüssigen" Prozess der Wertverwertung physisch-infrastrukturell zu fixieren, benannt. Hier kommt erneut der Nationalstaat als notwendiger Akteur ins Spiel, was nicht zuletzt auch dessen Rolle in nachholenden Modernisierungen unterstreicht. Analog lässt sich - mit Harvey - auch die internationale Tendenz der Kapitalakkumulation verstehen: Ihre expansive, transnationale Dynamik steht im Widerspruch zur Notwendigkeit der räumlichen Fixierung, insbesondere auch des fixen Kapitals. Im Kontext der Theorie des tendenziellen Falls der Profitrate ist dieser Widerspruch als Krisenfaktor eine interessante Perspektive, weil er über die "räumlich-empirische Fixierung" des Kapitals verschiedene Bewältigungsstrategien nach "innen" und "außen" impliziert bzw. diese theoretisch fundiert (S. 97).


Zwischenstaatlichkeit und Konkurrenz

Quasi angewandt wird diese etwas abstrakter gefasste Passage nun auf die empirische Realität der Vielstaatlichkeit. Nochmals und genauer beschäftigt sich der Autor mit der Notwendigkeit des Nationalen. Die hier lancierten ideologietheoretischen Ausführungen lenken vor allem in die Richtung einer klassenzentrierten Perspektive, die soziale Kohäsionen (bzw. die Funktionen von nationalen Ideologien) rein diesbezüglich betrachtet (S. 101). Der hier bemühte Joachim Hirsch zeigt sich dabei von seiner schwächeren Seite und stellt eigentlich auch einen Bruch in der bisherigen Argumentation dar, heißt es doch mit ihm plötzlich, dass "das Staatensystem (...) ein struktureller Ausdruck der kapitalistischen Klassen- und Konkurrenzverhältnisse" ist (ebd.). Diese starke Klassenperspektive wirkt unverhofft und aufgezwungen, wie ten Brink auch implizit zugibt, da er meint, Harveys eher "horizontale" machttheoretische Positionierung mit Hirschs "vertikaler" vermitteln zu müssen (S. 102) - was er allerdings nicht wirklich tut. Er schreitet dennoch wacker voran und verhandelt das Verhältnis von ungesteuerter Globalisierung im Sinne der "internationalen Anarchie" und institutioneller Verdichtung in den internationalen Organisationen. Während dies bei der ersten Seite rechtstheoretisch, mit der Gleichheit der souveränen Staaten, geschieht, wird für die Institutionen das Theorem der "Verdichtung von Kräfteverhältnissen zweiter Ordnung" (Ulrich Brand) bedient. Im Wesentlichen ist dieses allerdings eine wenig kreative Weiterführung des poulantzistischen klassentheoretischen Reduktionismus, der den Staat als "bourgeoisen" definieren will, aber sich des Problems seiner relativen Unabhängigkeit von Klassenstrategien bewusst ist. Die angeblich strategische Rolle der Klasse (prinzipiell geht es hier ohnehin nur um die Bourgeoisie) wirkt hier mehr als aufgesetzt. Im Übrigen trägt dieser kurze und wenig passende Einwurf der Klassenfrage eben auch kaum zu den folgenden machtstrategischen und regulationstheoretischen Analysen auf internationaler Ebene bei, die aufschlussreich bleiben (S. 108ff). Ähnliches kann auch für die Konkurrenz gesagt werden, denn hier entscheidet sich ten Brink wieder für einen Rahmen, der Kapitalismus als Totalität zu fassen versucht (S. 113). Als solchen grenzt er dessen geopolitische Spezifika klar von vorkapitalistischen Imperialismen ab, die höchstens von einer "politischen Akkumulation" (Robert Brenner) zur Stabilisierung der eigenen (direkten) Herrschaftsverhältnisse getrieben wurden. Der kapitalistische Imperialismus ist demgegenüber von geopolitischer wie auch ökonomischer Konkurrenz geprägt und die politische Seite ist nicht mehr den unmittelbaren Herrschaftsinteressen, sondern der "subjektlosen Gewalt" der wettbewerbsgetriebenen Akkumulation des Kapitals unterworfen (S. 121). Dies heißt u. a. auch, dass politisch-militärische Konfliktaustragung direkt mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktivkräfte vermittelt ist. Zur geopolitischen und ökonomischen Konkurrenz gesellt sich also noch eine, auf den "militärisch-industriellen Komplex" bezogene, Rüstungskonkurrenz (S. 134). Die Geopolitik ist aber umgekehrt nicht einfach von "Kapitalinteressen" getrieben, sondern verschiedenartig begründet. Folgende Dimensionen wären zu berücksichtigen: eine geo-ökonomische, auf die Weltwirtschaft bezogene; eine ideologische (hier verkürzt ungefähr im Sinne der Gramsci'schen Hegemoniekonzeption); eine militärische; eine der politischen Institutionen und Allianzen; und schließlich eine der Notwendigkeiten der politischen Führerschaft und Entscheidungslogik. Zudem kann von einer mehr oder weniger "harten" bzw. "weichen" Geopolitik gesprochen werden, deren empirische Gestalt vielfältig sein kann. Ihr grundlegendes Merkmal bleibt jedoch der Fokus auf (politische) Macht, der dem reinen Kapitalinteresse gegenübersteht.


Phasen und Periodisierungen ...

Nach diesem Abriss der vielfältigen Dimensionen der Konkurrenz bleibt also das binäre Analysepaar "Wirtschaft" und "Geo-Politik" in seiner Grundgestalt unangetastet. Für eine rein analytische Betrachtung ist dies auch nicht unbedingt schädlich, allerdings kann auch nicht davon gesprochen werden, dass das Problem der Vermittlung bisher gelöst worden wäre. Ansatzweise bemerkt dies der Autor wohl, denn bevor er zur eigentlichen historischen Empirie kommt, mit welcher er sich in der Folge vor allem einteilend beschäftigt, versucht er, nochmals allgemein das Verhältnis von kapitalistischen Strukturmerkmalen und historischer Empirie, mithin von (notwendiger) Struktur und den Möglichkeiten von Handeln aufzugreifen (S. 137ff). Dies geschieht jedoch bloß mit einem Verweis auf den Bedarf historischer Aktualisierung allgemeiner Strukturmerkmale und einer erneuten Absage an "Ableitungen" von einer vorgegebenen Logik. Des Widerspruchs, der hierin liegt, ist er sich trotz der eben noch klar formulierten Strukturmerkmale scheinbar nicht bewusst - in der diffizilen Struktur-Handlung-Problematik ist sein Fokus letztlich eher akteurszentriert und verbleibt auf einer intermediären Ebene. Die diesbezüglich erste Analyseachse zielt auf die Hegemonialität einer Weltordnung, also ob und wie sich eine hegemoniale Macht durchsetzen konnte. Die Phase von 1870-1945 ist demnach als jene des klassischen Imperialismus eine der Erosion (britischer) Hegemonie; von 1945-1989 herrschte ein "Supermacht-Imperialismus" vor, der von den beiden Hegemonialreichen USA und UdSSR beherrscht wurde; seit 1989 ist die Welt erneut mit einer nichthegemonialen Phase der "neuen Weltunordnung" konfrontiert. Dabei wird Hegemonie mit Robert Cox vor allem als gefestigtes und "berechenbares" Herrschaftsverhältnis verstanden, welches im internationalen Kapitalismus nicht notwendigerweise vorherrschend ist (S. 145). Dieser Frage im eigentlichen Zusammenhang des Imperialismuskonzepts folgt nun eine spezifischere Untersuchung getreu dem binären Analyseraster.


... sozio-ökonomischer Kräfteverhältnisse ...

Mit einer methodisch an die Regulationstheorie angelehnten Herangehensweise wird nun versucht, verschiedene Akkumulationsrhythmen auszumachen. Die grobe Periodisierung ähnelt dabei jener der Hegemonialphasen, mit dem Unterschied, dass für die Zeit zwischen den Weltkriegen eine eigene Phase eingeführt wird und die letzte bereits 1973 endet. Dabei wechseln Aufschwung (1870-1914; 1945-1973) und Krise (1914-1945; 1973-) einander ab. Inwieweit diese Einteilung eine sinnvolle ist, kann hier nicht erörtert werden, allerdings steht die Vermittlung mit der Regulationstheorie auf eher wackeligen Beinen bzw. wird durch die im Buch stattfindende Argumentation alleine kaum einsichtig. Empirisch abgesichert präsentiert sich demgegenüber die analoge Untersuchung der Transnationalisierung, die von einer Tendenz zur Globalisierung ausgeht, welche nur in der zweiten (1914-1945) Phase absolut rückläufig war. Gleichwohl will der Autor allzu umfassende Globalisierungsthesen nicht gelten lassen, sondern geht eher von einer Internationalisierung des Ökonomischen aus, die auch eine "Makro-Regionalisierung" ist (S. 155), sich innerhalb der "Triadenstruktur" Nordamerika-Westeuropa-Ostasien entwickelt. Dabei wird allerdings nicht von einer "einfachen" Beziehung zwischen mikroökonomischen Akteuren (Unternehmen) und der volkswirtschaftlichen Makroebene ausgegangen (S. 164): Als wiederkehrendes Motiv erscheint erneut das Insistieren auf eine bleibende Wichtigkeit der Nationalstaatlichkeit. In diesem komplexen Zusammenhang werden zahlreiche empirische Daten geliefert und Subtheoreme eingeführt. Es wird allerdings vom Finanzkapital abgesehen, was wohl eine der relevantesten Auslassungen im analytisch sonst so inklusiven Werk markiert. Dafür wird die Frage nach der Transnationalisierung der Klassen gestellt. Ten Brink erteilt hier den allzu vereinfachten (und nur auf eine Klasse bezogenen) Vorstellungen einer "transnationalen Managerklasse" (Robert Cox) eine Absage und verweist auf die empirische Realität einer vielschichtigen und durchaus fragmentierten internationalen Landschaft der Machteliten (S. 166). Ebenfalls zu bedenken gibt er treffenderweise, dass die Vorstellung einer transnationalen Bourgeoisie auch klassentheoretisch kaum haltbar ist, da zu einem Klassenverhältnis immer auch eine andere Seite gehört, welche jedoch räumlich vergleichsmäßig immobil ist (S. 167) und somit nicht als international gelten kann. Schließlich macht er auch den Unterschied zwischen "Kapitalfraktion" und "politischer Klasse" klar (S. 169). Zu guter letzt wird noch eine Periodisierung der Währungsregime als "monetärer Arm der Hegemonie" (S. 175) vorgenommen. Die erste Phase in der nun bereits vertrauten Einteilung ist hinsichtlich der Geldpolitik von einem Monopol des Goldstandards und des britischen Pfunds geprägt gewesen, die zweite von einer Oligopolkonstellation, während nach dem zweiten Weltkrieg der US-Dollar zur hegemonialen Währung wurde. Seit den 1970ern existiert nun erneut ein Oligopol, wobei die konkurrierenden "Währungsräume" bzw. die dahinterstehenden Nationalstaaten durchaus weiterhin zu umfassenden (angebotsseitigen) geldpolitischen Eingriffen im Stande sind (S. 177).


... und geopolitischer Kräfteverhältnisse

Nach der Abarbeitung an der ökonomischen Seite steht nun die Geopolitik im eigentlichen Sinn im Fokus der Analyse, wobei dieser Teil unter "Phasen der Staatlichkeit" firmiert. Dies beweist noch mal den großen Wert, den der Autor auf die Rolle des Staates und der Politik legt. Folglich werden zuerst die verschiedenen Einflussmöglichkeiten des Staates auf die Ökonomie sondiert, wobei der eigendynamische "Selbsterhaltungstrieb" der Staatsapparate skizziert wird (S. 183). Richtig streicht ten Brink hier hervor, dass "Staatsintervention" mitnichten dem Kapitalismus entgegenläuft, sondern zu einem gewissen Grad stets Teil der Ökonomie ist, die ihrerseits umgekehrt natürlich auch auf den Staat einwirkt. Trotzdem lässt sich der Grad des Eingreifens tendenziell periodisieren, wobei hier von 1870-1929 eine Ausweitung, von 1929-1973 eine Hochphase "staatskapitalistischer" Regulierung und seit 1973 eine Phase des veränderten "marktliberalen Etatismus" konstatiert wird. Auch beim rezenten, oft mit dem "Neoliberalismus" in Verbindung gebrachten Regulationsregime interveniert der Staat weiterhin, erodiert also nicht, wie viele andere Positionen vermeinen. Er reorganisiert sich bloß hin zu einem "schumpeterianischen Wettbewerbsstaat" (Bob Jessop), indem sich u. a. Staatlichkeit selbst dem Wettbewerbsdispositiv unterwirft, Sicherheitspolitik (nach innen und außen) mehr Gewicht bekommt und sich nationale immer mehr hin zu supranationalen Regulierungssystemen entwickeln (S. 188f). Dies würde zu einer Art "Supra-Staatskapitalismus" führen, dessen Fähigkeit zur Herstellung der gesellschaftlichen Integration der Autor jedoch bezweifelt (S. 187). An diesem Punkt stellt sich die Frage, ob eine derartige Integration (hinter dem regulationistischen Konzept geistert wohl immer noch das "Idealbild" der fordistisch-wohlfahrtsstaatlichen Regulation herum) überhaupt zum "idealen Durchschnitt" des Kapitalismus gehört bzw. nicht ein historisches Unikum darstellt, das schlicht überholt ist. Die krisentheoretischen Überlegungen gehen allerdings nicht so weit, denn nach einer relativ banalen Einteilung der Staaten gemäß ihrer Durchsetzungsstärke wird nach Phasen der harten und weichen Geopolitik gefragt. Hier kommt erneut die schon zuvor bei der Hegemonialität verwendete Periodisierung zum Einsatz. Die Zeit von 1870-1945 ist so von harter Geopolitik einer "formellen imperialistischen Expansion" geprägt; ab 1945 und bis 1989 hätten eher weiche Formen vorgeherrscht, während nach dem Systemzusammenbruch die harte Geopolitik wieder am Vormarsch wäre (S. 192). Spätestens an diesem Punkt stellt sich die Frage, inwiefern hier nicht Probleme, die eigentlich eher auf der Mikroebene angesiedelt sind, durch einen zu weit reichenden, intermediären Analyserahmen betrachtet werden. Die historischen Ausführungen des Autors legen dies teilweise selbst nahe (S. 193ff), da sie die multikausalen Beweggründe strategischer Entscheidungen hervorstreichen. Die "Anwendung" des Analyserasters auf die Rüstungskonkurrenz und genereller auf die "Systemkonkurrenz" zwischen Ostblock und Westen ist innovativ, da sie von der These der Konkurrenz zweier Weltordnungsmodelle innerhalb des kapitalistischen Weltsystems ausgeht. Dabei vertritt er (abgesehen vom ewig wiedergekauten aber - auch immanent-klassentheoretisch - nicht richtiger werdenden Theorem der ausbeutenden "Bürokratenklasse") Positionen, die in vieler Hinsicht stark an jene von Robert Kurz in Kollaps der Modernisierung erinnern bzw. produktiv an diese anschließen könnten. So wird von einer "nachholenden Modernisierung" (S. 207), dem "Zwang zur Akkumulation" (S. 205) und einer "Art Kriegswirtschaft" (S. 206) gesprochen. Weiters wird die Rüstungskonkurrenz als eine Art sekundäre Bewältigungsstrategie der (mangelnden) Marktkonkurrenz (S. 208) verstanden. Als Schranke der staatskapitalistischen nachholenden Modernisierung im Osten wie auch des "Supermachtsimperialismus" auf globaler Ebene wird schließlich die "mikrotechnologische Revolution" (S. 209) und die mangelnde Adaptionsfähigkeit in Zeiten der Globalisierung (S. 210) genannt.


Markliberaler Etatismus

Die letzten 50 Seiten des Buches sind nochmals genauer der gegenwärtigen geopolitischen Situation gewidmet. Wie bereits erwähnt geht ten Brink hier von einer Mischung harter und weicher geopolitischer Durchsetzungsmodi bzw. modi operandi aus. Der Hintergrund ist die Rolle der letzten Weltmacht USA, die um ihre Vorherrschaft kämpft. Ihr "hegemonistisches", bereits mehr auf Zwang als auf Konsens beruhendes Vorgehen wäre Zeichen für die Krise der US-Hegemonie (S. 223). Dazu passt auch die fragliche Weltsicherheitslage mit "asymmetrischen Kriegen" und dem permanenten Ausnahmezustand des "Kriegs gegen den Terror" (S. 227). Abgesehen von diesen recht landläufigen Feststellungen geht Tobias ten Brink auf das Phänomen der "demokratischen Kriege" im Allgemeinen ein (S. 230ff) und fasst kurz einige Basics des Völkerrechts zusammen (S. 232ff). Hierbei liefert er allerdings - auch schematisch - wenig Neues. Die geopolitischen und ökonomischen Konkurrenzverhältnisse des "marktliberalen Etatismus" werden an Hand des Machtanspruchs der USA und hinsichtlich der Beziehungen dieser zur EU und zu China erörtert. Dieser Teil ist zwar informativ, geht jedoch analytisch kaum über ähnliche Erörterungen im Mainstream des Fachs Internationale Beziehungen hinaus.


Fazit und Kritik

Im Fazit des Werks werden schließlich drei (Selbst-)Ansprüche an das Buch gestellt, anhand derer auch ich es nochmals bewerten möchte. Tobias ten Brink beansprucht geleistet zu haben: erstens die Untersuchung der "horizontalen" Dimensionen der Geopolitik im Rahmen einer breit gefassten Kapitalismusanalyse, zweitens die Periodisierung kapitalistischer Entwicklung in Raum und Zeit und schließlich die Pluralität der geopolitischen Zusammenhänge aufzuzeigen.

Den letzten beiden Punkten wird das Buch über weite Strecken gerecht. Periodisierungen sind zwar, wie auch ten Brink weiß, stets relativ und hängen von der jeweiligen Fragestellung ab; hier könnte sicher einiges an den gewählten Umsetzungen bemängelt werden. Dennoch konnte die Vielschichtigkeit historischer Entwicklungen angesprochen und dabei durchaus auch ein gewisser Erkenntnisgewinn gegenüber anderen Schemata erzielt werden. Die räumliche Dimension wurde dabei weniger umfassend abgedeckt als die zeitliche, bei diesen Fragen handelt es sich jedoch auch um eine ungleich schwierigere Thematik. Auf jeden Fall gut gelungen ist die Darlegung der Pluralität und Komplexität geopolitischer Zusammenhänge. Hier unterscheidet sich das Werk spürbar von den meisten anderen und wird dem breiten analytischen Ansatz umfassend gerecht. "Geopolitik" liefert schlicht eine ungemein tief gehende und vielschichtige Darstellung verschiedener intermediärer Ansätze, Erkenntnisse und Perspektiven. Diese sind zwar nicht immer leicht zugänglich, aber nichts desto weniger erhellend - auch wenn eins mit anderen theoretischen Schwerpunkten arbeitet.

Der einzige gravierende Kritikpunkt bleibt also die Frage der "theoretischen Kapitalismusanalyse", des ursprünglichen Anspruchs der Erklärung kapitalistischer Geopolitik, mit welcher ten Brink seine aufschlussreiche Darstellung "horizontaler" Kräfteverhältnisse untermauert haben will. Der Autor kann sich hier offensichtlich nicht für einen konsistenten Zugang entscheiden, macht einen solchen jedenfalls in seinen einführenden theoretischen Erörterungen auch nicht deutlich genug kenntlich. Diesbezüglich wirkt das Werk eklektisch bis unentschieden und schwankt im Wesentlichen zwischen der Offenheit für eine weiter gehende gesellschaftstheoretische Metatheorie, welche den Kitt für seine oft elaborierten Überlegungen liefern könnte, und einer "intermediären" Perspektive, die mit dem vermeintlichen Anspruch, bloß Analyse zu betreiben, allzu oft die Rückständigkeit der eigenen kritischen Theorie kaschiert, welche voll ist von klassentheoretischen und anderen wissenschaftstheoretisch verflachenden Reduktionismen. Deutlich wird dies insbesondere, wenn es um die Behandlung von Gesellschaft als solcher geht. Eine rein analytische Ausrichtung stößt hier an ihre Grenzen und so bleibt das Verhältnis von "Staat", "Gesellschaft", "kapitalistischer Gesellschaft" und "kapitalistischer Produktion" ungeklärt - es kann nicht zwischen "Form" und (hier v. a. institutionellem) "Inhalt" differenziert werden. Auf dieser Basis lässt sich die "Geopolitik" gar nicht sinnvoll erörtern. Es müsste hier das (normative) Telos einer Kapitalismuskritik eingeführt werden, welches die notwendige Syntheseleistung zwischen den widersprüchlichen, real-abstrakten Kategorien des warenproduzierenden Systems bewerkstelligen könnte. Ten Brinks theoretische Einordnung steht dem entgegen: Die neuere staatstheoretische Schule (Bob Jessop, Joachim Hirsch, Ulrich Brand, u. a. m.), die stark vom strikt anti-dialektischen Zugang Poulantzas und Gramscis geprägt ist, stößt hier an ihre eigenen Grenzen, die wissenschaftstheoretisch mit dem "strukturalen Marxismus" Althussers abgesteckt sind. Das Denken im letztlich kontingenten "strukturierten Ganzen" verbaut den Weg zur synthetischen Erfassung der kapitalistischen Totalität und der ihr immanenten (analytischen) Widerspruchspaare.

Raute

Buchbesprechung von Andreas Exner

Mattersburger Kreis für Entwicklungspolitik an den österreichischen Universitäten (Hg.): Journal für Entwicklungspolitik 2009/3, "Solidarische Ökonomie zwischen Markt und Staat. Gesellschaftsveränderung oder Selbsthilfe?"

Wien: Mandelbaum Verlag, 2009, 120 Seiten, 9,80 Euro

Die Krise des Kapitals lässt die Linke merkwürdig kalt. Nicht viel mehr als Altbekanntes wird da ventiliert: wir zahlen nicht, wir wollen Arbeit, der Staat soll sozial sein. So wichtig Abwehrkämpfe sind, eine Perspektive ergibt sich daraus nicht. Bis dato hält der beklagenswerte Zustand der gesellschaftlichen Opposition - letzter Grund der scheinbaren Alternativlosigkeit der herrschenden Zustände - leider an.


Kontext

Dass die gegenwärtige Krise nicht nur das Ende eines systemischen Akkumulationszyklus darstellt, sondern dieser unter den Vorzeichen einer historisch beispiellosen Energie- und Klimakrise eine völlig neue Zerstörungsqualität gewinnt, die sich in massenhaftem Hunger, Zwangsmigration und einer weiteren Verhärtung staatlichen Autoritarismus andeutet und weiter verdeutlichen wird, bleibt zumeist ausgeblendet. Was dabei auf dem Spiel steht, ist die Möglichkeit und existenzielle Notwendigkeit der Emanzipation. Eine Gesellschaft des Kapitals, die keine Wachstumsräume mehr aufmacht, ist hegemonieunfähig. Sie wird einer neuen, vermutlich brutalen Herrschaftsweise, mit untergeordneten kapitalistischen Elementen, weichen - oder aber durch soziale Bewegungen, die eine kooperative, bedarfsorientierte und egalitäre Produktions- und Lebensweise entwickeln, überwunden.

Vor diesem Hintergrund sind Debatten um eine Solidarische Ökonomie als Alternative zum Kapitalismus ebenso notwendig wie seltsam blass. Das lesenswerte Heft des Journals für Entwicklungspolitik, herausgegeben vom Mattersburger Kreis für Entwicklungspolitik, bleibt deshalb - im größeren Problemzusammenhang gesehen - zwiespältig.


Solidarische Ökonomie - "was Bessres haben wir nicht"

Um die Bedeutung der Solidarischen Ökonomie einzuordnen, ist ein Blick auf die linke Diskurslandschaft von Nutzen. Momentan gibt es dort vier perspektivisch ausgerichtete Debatten mit einer gewissen Breitenwirkung. Sie gruppieren sich um folgende Ansätze: bedingungsloses Grundeinkommen, "Commons", "Green New Deal" und "radikaler Keynesianismus", Solidarische Ökonomie. Die Debatten um den (illusionären) Green New Deal und der (interessanteren) Variante eines "radikalen Keynesianismus" (Heinz Steinert) haben mit der Diskussion des bedingungslosen Grundeinkommens gemein, dass sie keine sozialen Kämpfe oder Experimente anstoßen. Das teilt mit ihnen der Diskurs der Commons. Dieser bezieht sich zwar auf eine Vielfalt widerständig-konstruktiver Praxen, verbleibt bisher jedoch zum Großteil auf einer akademischen oder bewegungsintellektuellen Ebene.

Die Solidarische Ökonomie vereint im Unterschied dazu zwei vorteilhafte Elemente: Sie entspringt der popularen Praxis einer "anderen Ökonomie" und entwickelt sich zugleich als weitgespanntes Diskursfeld, das von Lateinamerika ausstrahlt. Das neue JEP-Heft "Solidarische Ökonomie zwischen Markt und Staat. Gesellschaftsveränderung oder Selbsthilfe?" macht dies sichtbar. So skizzieren zwei Mitarbeiter_innen des brasilianischen Staatssekretariats für Solidarische Ökonomie, Maurício Sardá de Faria und Gabriela Cavalcanti Cunha die Herausforderungen der besetzen Betriebe in Brasilien; Astrid Hafner beschreibt die Organisationsweise und Entwicklung des baskischen Kooperativen-Komplexes Mondragón; Andreia Lemaître analysiert die Institutionalisierung der "sozialen Ökonomie" in Belgien und Manfred Moldaschl und Wolfgang Weber nähern sich einer Antwort auf die Frage, ob organisationale Partizipation zur gesellschaftlichen Demokratisierung beiträgt.

Dieser Palette an Beiträgen geht ein mit Gewinn zu lesender Überblicksartikel von Markus Auinger voran, der Solidarische Ökonomie zwischen emanzipatorischem sozialen Wandel und Selbsthilfe verortet. Auinger verknüpft darin die Theorie der langen Wellen kapitalistischer Akkumulation mit den Konjunkturen systemverändernder Bewegungen. Er verweist in seiner Diskussion der Chancen und Limitierungen Solidarischer Ökonomie auf das "Transformationsgesetz" von Franz Oppenheimer (1896), wonach Genossenschaften - als ein Beispiel Solidarischer Ökonomie - entweder in einer kapitalistischen Umwelt reüssieren und ihren systemverändernden Charakter verlieren, oder aber diesen aufrecht erhalten und aber über Selbsthilfe auf Armutsniveau nicht hinauskommen.

Diesem Dilemma stellt Auinger ein Konzept des Brasilianers Euclides André Mance gegenüber, der den Aufbau solidarischer Produktionsketten, als Schutz gegen die Konkurrenz des kapitalistischen Sektors, propagiert. Die starke Vernetzung Solidarischer Ökonomie mit Teilen von Gewerkschaften und Universitäten, die in Brasilien besteht, noch verstärkt durch das Staatssekretariat für Solidarische Ökonomie, lässt eine solche Perspektive zumindest in den Bereich des Denkbaren rücken. Eine solche Entwicklung, so Auinger, könnte auch ein Mittel gegen die Tendenzen eines "Neoliberalismus von unten" darstellen, der im Modell der Kooperative seinen Ausdruck finden kann.

Ohne Zweifel bleibt keiner Bemühung, Auswege aus der Herrschaft des Kapitals zu finden, erspart, sich der Widersprüchlichkeit eines jeden solchen Versuchs zu stellen. Das tun die Beiträge zur Solidarischen Ökonomie im neuen JEP-Heft ohne Scheu. Was dabei jedoch auf der Strecke zu bleiben droht, ist erstens die Frage nach den notwendigen Elementen einer nicht-kapitalistischen Produktionsweise und zweitens jene nach den Ansatzpunkten, solche Elemente gegen die kapitalistische Umwelt zu stärken und sukzessive auszuweiten.

"Die Kooperativfabriken der Arbeiter selbst sind, innerhalb der alten Form, das erste Durchbrechen der alten Form, obgleich sie natürlich überall, in ihrer wirklichen Organisation, alle Mängel des bestehenden Systems reproduzieren und reproduzieren müssen. Aber der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit ist innerhalb derselben aufgehoben, wenn auch zuerst nur in der Form, daß die Arbeiter als Assoziation ihr eigener Kapitalist sind, d. h. die Produktionsmittel zur Verwertung ihrer eignen Arbeit verwenden." (MEW 25, S. 456) Dieser Analyse von Marx aus dem 3. Band des Kapital ist kaum etwas hinzuzufügen; der Klassenantagonismus wird in der Solidarischen Ökonomie internalisiert. Faria und Cunha nennen das Kind beim Namen: häufig werde die "absolute Mehrwertproduktion" ausgeweitet (S. 35). Die Rede von der "Selbstausbeutung" trifft diesen Punkt.

Genau hierin liegt jedoch der Haken, weshalb, wie Marx festhält, "...das Kapital notwendig zugleich Kapitalist" ist - "...und der Gedanke von einigen Sozialisten, wir brauchten das Kapital, aber nicht die Kapitalisten, ist durchaus falsch. Im Begriff des Kapitals ist gesetzt, daß die objektiven Bedingungen der Arbeit - und diese sind ihr eigenes Produkt - ihr gegenüber Persönlichkeit annehmen, oder was dasselbe ist, daß sie als Eigentum einer dem Arbeiter fremden Persönlichkeit gesetzt sind." (Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Heft V, S. 417, Ausgabe 1974) Das Kapital jedoch existiert zugleich und in innerem Zusammenhang mit der allgemein gewordenen Waren- und Geldform: "Marktwirtschaft" ohne kapitalistische Produktionsweise ist nicht möglich. Unternehmensintern lässt diese Produktionsweise Spielräume durchaus zu; allein durch unternehmensinterne Veränderungen ist diese jedoch nicht außer Kraft zu setzen. Beides ist an der Solidarischen Ökonomie zu sehen, wie das JEP-Heft auf instruktive Weise zeigt.

Solidarische Ökonomie wird demnach ihre eigentliche Bedeutung erst im Zusammenspiel mehrerer Momente realisieren können - und zwar von anwachsenden sozialen Auseinandersetzungen in den kapitalistischen Sektoren im engeren Sinn und gegen die Lohnarbeit, Widerstand gegen staatliche Einhegungen und weiteren Sozialabbau, Kämpfen für den kostenlosen Zugang zu Infrastrukturen und Ressourcen, der Popularisierung egalitärer Ordnungsvorstellungen und, was entscheidend ist, der Entwicklung eines gesellschaftlichen Stoffwechsels, der die Formen von Markt, Kapital und Staat überschreitet.

Raute

Buchbesprechung von minimol

Jens Erik Ambacher & Romin Khan (Hg.): Südafrika. Die Grenzen der Befreiung

Berlin/Hamburg: Assoziation A, 2010, 263 Seiten, Euro 16,00


"Die Lösung lautet immer 'educate the poor'. Wenn wir Cholera kriegen, dann erklären sie uns, dass wir unsere Hände waschen sollen, statt uns sauberes Wasser zu geben. Wenn unsere Baracken abbrennen, erklärt man uns die Gefahr von offenem Feuer, statt die Stromversorgung zu verbessern. Es ist eine Form, die Armen selber für ihre Probleme verantwortlich zu machen. Wir wollen Häuser und Boden in den Städten, wir wollen zur Universität gehen können, wir wollen Wasser und Strom. Wir wollen nicht dazu erzogen werden, wie wir unsere Armut besser ertragen können." (Abahlali base Mjondo, Seite 247/48)

Die Fußballweltmeisterschaften sind vorbei, Südafrika aus den Schlagzeilen der deutschsprachigen Gazetten weitgehend verschwunden. Doch findet sich z.B. in der Frankfurter Rundschau von 21.8.2010 ein Artikel, der über den zu diesem Zeitpunkt seit drei Tagen andauernden Streik von mehr als einer Million im Öffentlichen Dienst Beschäftigter für höhere Löhne berichtet und im Schlusssatz auch auf den in der Woche zuvor stattgefundenen Streik von 16.000 Beschäftigten in der Autoindustrie verweist, der eine zehnprozentige Lohnerhöhung als Ergebnis nach sich zog. Dass dieser Streik in den südafrikanischen Werken von Daimler, BMW und VW - wie auch von Toyota, Nissan, Ford und GM - zum völligen Stopp der Produktion geführt hatte, erfahren wir nicht aus dem Artikel, dafür aber, dass die Gehaltsforderungen der Streikenden im Öffentlichen Dienst "unvernünftig" seien, da sich der südafrikanische Staat in diesem Jahr bereits jetzt vor allem wegen der Investitionen im Zusammenhang mit der Fußball-WM mit 6,7 Prozent des Bruttosozialproduktes neu verschulden werden müsse. So viel zur Frage der positiven Auswirkungen der Fußballweltmeisterschaften auf die Bevölkerung des diesmaligen GastgeberInnenlandes.

Diese Frage war bereits im Vorfeld des Mega-Spektakels heftig umstritten. Romin Khan, einer der beiden Herausgeber des im April 2010 rechtzeitig vor den Fußballweltmeisterschaften erschienenen Buches "Südafrika. Die Grenzen der Befreiung", widmet ihr einen Beitrag, in dem auch Achilles Mbembe, Professor für Geschichte und Politik an der Witwatersrand-Universität in Johannesburg, sowie Gaby Bikombo, mobiler Straßenfriseur und Organizer einer Vereinigung von Straßenfriseuren in Durban, ihre Erwartungen und Befürchtungen artikulieren.

Gerne hätte die Rezensentin mehr über SWEAT (Sex Worker Education and Advocacy Taskforce) erfahren, eine Organisation, die von Gaby Bikombo am Rande erwähnt wird und für die Legalisierung der Prostitution in Südafrika eintritt, die noch heute mit dem 1957 von der Apartheidregierung erlassenen Prostitutionsverbot belegt ist. Und fand dazu einen Artikel von Rita Schäfer, der die Debatte über eine etwaige Legalisierung der Prostitution im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaften zum Inhalt hat (http://www.fairunterwegs.org/aktuell/news/article/wm-2010-feierlaune-fuer-manche-prostitution-und-zwangsprostitution-in-suedafrika.html?cHash=ef416b6908). Im vorliegenden Sammelband hat Rita Schäfer einen der beiden Beiträge zu Frauenbewegungen in Südafrika verfasst.

Insgesamt liegt der Schwerpunkt in den Texten des Buches auf sozialen Bewegungen und Kämpfen im heutigen Post-Apartheid-Staat sowie in der Analyse des sozio-ökonomischen Kontextes, in dem diese agieren und der durch die spätestens seit 1996 neoliberale Ausrichtung der Politik der an der Regierung befindliche Drei-Parteien-Allianz unter Führung des ANC bestimmt wird. Während sich das "Reconstruction and Development Programme" (RDP), mit dem der ANC die ersten freien Wahlen 1994 gewann, noch den Ausbau der sozialen Infrastruktur und die Bekämpfung der Armut zum Ziel setzte, verunmöglicht der "Growth, Employment and Redistribution Plan" (GEAR), der 1996 unter Beteiligung von Vertretern der Weltbank und der Entwicklungsbank des südlichen Afrikas hinter verschlossenen Türen ausgehandelt wurde, die Umsetzung dieser Zielsetzungen. Mit diesem Programm "schrieb die neue Regierung ihr Bekenntnis zu restriktiver Haushaltspolitik, geringer Unternehmensbesteuerung, Privatisierung, einem flexiblen Arbeitsmarkt sowie exportorientiertem Wachstum und bedingungsloser Integration in den kapitalistischen Weltmarkt fest." (Dale T. McKinley, Seite 29)

Auf der sozio-ökonomischen Ebene hat kein wirklicher Bruch mit der Apartheid stattgefunden, da zwar durch Affirmative-Action-Maßnahmen wie "Black Economic Empowerment" eine schwarze Elite entstanden ist, die Armut weiter Teile der Bevölkerung sich jedoch zum Teil sogar noch verschärft hat. Die tiefe soziale Spaltung des Landes entlang rassifizierter Grenzen bestimmt das Leben der SüdafrikanerInnen immer noch. Und so sind viele Bewegungen im Kampf um verschiedene Aspekte der Grundversorgung (Land, Wohnen, Strom, Wasser, Gesundheitswesen) entstanden. In "Südafrika. Die Grenzen der Befreiung" ist dem Landless People's Movement (LPM) - eine Vereinigung, die aus einem Treffen verschiedener Gruppen und VertreterInnen von Landlosen aus allen Teilen Südafrikas 2001 in Durban hervorgegangen ist -, der Treatment Action Campaign (TAC) und der Geschichte des südafrikanischen Aids-Aktivismus ebenso wie dem Anti Privatisation Forum (APF), das seine Rolle darin sieht, Kämpfe gegen Privatisierungen in den Communities und an den Arbeitsplätzen zusammen zu bringen, jeweils mindestens ein eigener Beitrag gewidmet.

"Es sind die Kämpfe der 'Überflüssigen', die gesellschaftlich als 'Eaters and Sleepers' stigmatisiert werden, wie es Ashraf Cassiem von der Kampagne gegen Zwangsräumungen beschreibt. Der Großteil muss sich heute in der informellen Ökonomie mit unregelmäßigen und prekären Jobs durchschlagen. Vor dem Hintergrund der Abnahme regulärer Arbeitsverhältnisse und des Versäumnisses, ihre Strukturen auf prekäre und informelle Arbeitsverhältnisse auszuweiten, werden diese Gruppen nicht mehr von den Gewerkschaften erreicht." (Einleitung, Seite 13)

Doch auch das Erbe des Widerstands wirkt nach und wird von den Bewegungen kreativ weiterentwickelt. So schreibt Prishani Naidoo, Aktivistin des Anti Privatisation Forum (APF): "Der Gedanke, der Staat solle allen SüdafrikanerInnen einen 'angemessenen' Lebensstandard garantieren, wurde schon durch die Anti-Apartheid-Bewegung artikuliert - in Dokumenten wie der Freedom Charter und in Kämpfen wie den Mietboykotten der 1980er und 1990er Jahre. Es ist genau diese in der Befreiungsbewegung propagierte Praxis des 'Nicht-Bezahlens', die die heutige Regierung vor eines der größten Hindernisse bei der Einführung einer marktkonformen 'Kultur des Bezahlens' stellt, denn der Widerstand gegen die Kommodifizierung der Grundversorgung ebbte auch nach 1994 nicht ab. Während die ANC-Regierung einerseits versucht, die Sprache der historischen Kämpfe in Schlagworte vom 'verantwortungsbewussten Bürger' und der 'nationalen Pflicht' zu transformieren, um der mangelnden Akzeptanz der Tauschlogik von Geld gegen Waren / Dienstleistungen etwas entgegen zu setzen, sehen wir in den heutigen sozialen Bewegungen gleichzeitig auch erneute Mobilisierungen entlang der Motive und Taktiken der vergangenen Kämpfe." (Prishani Naidoo, Seite 144/45)

Teil der Strategie zur Durchsetzung der Individualisierung gegen kollektives Nicht-Bezahlen ist die Einführung von Prepaid-Zählern sowohl bei Wasser als auch bei Strom: "Als Antwort auf das Abkoppeln von der kostenlosen Wasserversorgung, waren aus der individuellen Praxis, Wasseranschlüsse illegal wieder in Betrieb zu setzen, neue Bewegungen entstanden. Als in Gegenden wie Soweto immer mehr Haushalte von der Wasserversorgung abgeschnitten wurden, führte die Tatsache, dass viele BewohnerInnen sich wieder an die Wasserversorgung anschlossen und sich bei Versammlungen über ihre Probleme austauschten, zu einer Kollektivierung dieser Widerstandshandlung. Doch die Einführung der Prepaid-Wasserzähler führte eher zu einem entgegengesetzten Effekt bei Organisationen und Bewegungen. Der Einsatz der Zähler beschneidet effektvoll Widerstandsmöglichkeiten wie beispielsweise die eines Zahlungsboykottes. Mit dem Prepaid-Zähler wird der Zugang zu Wasser - über die kostenlosen 'lebenserhaltenden' sechs Kubikmeter pro Monat hinaus - nur noch nach Bezahlung möglich. Bei Nicht-Bezahlung gibt es für den Wasserversorger keinerlei Notwendigkeit mehr, mit den KundInnen zu verhandeln. Stattdessen wird die Versorgungsleistung bis zur Zahlung einfach eingestellt." (Prishani Naidoo, Seite 145/46). Allerdings wird z.B. in dem 2010 fertig gestellten Film "Im Schatten des Tafelberges", der die Lebensverhältnisse der BewohnerInnen von Armenvierteln am Rande Kapstadts zum Inhalt hat, sichtbar, dass mittlerweile widerständige Praxen zur Verbreitung des Wissens über das Umgehen dieser Vorrichtungen entwickelt worden sind.

Weniger erfreulich ist, dass die zutiefst gewalttätige Struktur des ehemaligen Apartheidstaates ebenfalls Spuren hinterlassen hat, was sich nicht zuletzt in der weit verbreiteten Gewalt gegen Frauen niederschlägt. Im Besonderen im Kampf gegen Aids wirken sich sowohl die mangelnde Grundversorgung mit Wasser und im Gesundheitswesen als auch die Gewalt gegen Frauen verheerend aus. Zackie Achmat, einer der Mitbegründer der Treatment Action Campaign (TAC), die durch ihren Kampf um bezahlbare Medikamente für HIV-positive Menschen weltweite Bekanntheit erreicht hat, erzählt im Gespräch, dass 70 Prozent der Mitglieder der TAC Frauen sind. "Arme Menschen sind besonders von der Pandemie betroffen und hier vor allem Frauen, die in den informellen Siedlungen leben. Dies steht in Zusammenhang mit der hohen Arbeitslosigkeit, der geringen sozialen Sicherheit und den daraus resultierenden Abhängigkeiten von Männern, in denen sich die vom Land in die Stadt migrierten Frauen befinden. Die Lebensbedingungen der Frauen in den informellen Siedlungen gehören zu den wesentlichen Triebkräften für die Ausbreitung der Pandemie. Dazu zählt auch die häusliche und sexuelle Gewalt gegen Frauen. Bis zu 50.000 Vergewaltigungen werden pro Jahr bei der Polizei angezeigt, manchmal mehr. Aber nur eine von neun Vergewaltigungen wird überhaupt angezeigt." (Zackie Achmat, Seite 117/18)

Heidi Grunebaum, Yazir Henri und Usche Merk kritisieren in ihrem Beitrag über die Rolle der Wahrheits- und Versöhnungskommission, Truth and Reconciliation Commission (TRC), "normativ-juristische Menschenrechtskonzepte, die aus individualisierenden Vorstellungen des menschlichen Subjekts, dessen Handlungen und seiner Verantwortung abgeleitet sind. Dieser Aspekt, Konflikte nicht in ihrem kollektiven Charakter wahrzunehmen, ist für Wahrheitskommissionen konstituierend. [...] Dieser Ansatz trennt die Frage nach den Ursachen der Konflikte von strukturellen Dimensionen ab. [...] Die Entkopplung des Leids von seinen Ursachen sowie die Abtrennung der Entbehrungen von den damit verbundenen Profiten ermöglichte es, die materielle Dimension von Versöhnung zu ignorieren. [...] Aufgrund der gesellschaftlichen Leugnung kolonialer Gewaltherrschaft und der fehlenden Aufarbeitung der Apartheid als rassistischem Kapitalismus, kam es in den letzten Jahren zu einer Vermischung gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und institutioneller Rassismen. Damit geht die gesellschaftliche Normalisierung des Erbes aus der Zeit der Apartheid einher, wie die systemisch bedingte ökonomische Vormachtstellung der weißen Minderheit und die bittere Armut und Marginalisierung der schwarzen Bevölkerung." (Grunebaum/Henri/Merk, Seite 205/06) Und so sei schließlich Erinnerung "zu einem Objekt geworden, einem Gegenstand, einem Produkt, das in den Wirkungsbereich von Museen und der 'Heritage-Industrie' eingegliedert wurde." (Seite 2010) Daran anknüpfend stellen die AutorInnen zwei sehr unterschiedliche Community-Initiativen vor, die der offiziellen Umdeutung der Geschichte, dem Zur-Ware-Verkommen von Erinnerung und dem silencing entgegen arbeiten. Zum Einen das Direct Action Center for Peace and Memory (DACPM), das 1998 von jungen ehemaligen Befreiungskämpfern gegründet wurde, von denen sich viele "nach der Befreiung völlig völlig mittellos und ohne gesellschaftliche Anerkennung und Unterstützung wieder[fanden]." (Seite 211) Und zum Anderen das sehr beeindruckende Sinani-Programm für Überlebende von Gewalt in KwaZulu-Ntatal, wo alleine für den Zeitraum der 1980er und 1990er Jahre 20.000 Tote und 500.000 Vertriebene zu verzeichnen waren.

In einem weiteren Beitrag lotet Achilles Mbembe die Frage aus, ob eine Politik der Affirmative Action entlang rassifizierter Kriterien nicht die Gefahr in sich birgt, rassistische Strukturen festzuschreiben. Neville Alexander, der während der Apartheid-Zeit zehn Jahre lang auf Robben Island interniert war und heute Direktor des Project for the Study of Alternative Education in South Africa (PRAESA) an der Universität von Kapstadt ist, spricht sich für Affirmative-Action-Maßnahmen aus, die Klassenkategorien zum alleinigen Maßstab machen und so den Fallstricken des "Rassendiskurses" entgehen.

Die drei letzten Texte analysieren die aufkeimende fremdenfeindliche Gewalt gegen afrikanische MigrantInnen im Mai 2008. Michael Neocosmos, Professor für Soziologie an der Universität von Pretoria, denkt mit Frantz Fanon, dass "die Wandlung des Nationalismus in einen Chauvinismus [...] im Auftauchen neuer Eliten nach der Unabhängigkeit begründet [liegt], die sich die Posten und das Kapital der abziehenden Europäer unter den Nagel rissen. Die unteren Klassen folgten ihrem Beispiel, indem sie sich gegen ausländische AfrikanerInnen wandten. Diese Beobachtung verweist darauf, wie die postkoloniale Fremdenfeindlichkeit in einer nationalistischen, die Indigenität betonenden Politik angelegt ist." (Michael Neocosmos, Seite 222) Und so sieht Neocosmos die Ursachen für die fremdenfeindlichen Pogrome in Südafrika in erster Linie in verschiedenen Aspekten des staatlichen Diskurses. In der Vorstellung der Sonderstellung Südafrikas werde der Rest des Kontinents als Ort des Anderen imaginiert: "Afrika erscheint den neuen Eliten als eine Peinlichkeit, es erinnert sie an das, was sie vergessen möchten, an die armen Verwandten. Gleichzeitig jedoch wird Afrika als Ort gesehen, an dem man, wie etwa bei der Rohstoffförderung, sein Glück machen kann. So bleibt der vorherrschende südafrikanische Diskurs über Afrika seinem Wesen nach neo-kolonial." (Michael Neocosmos, Seite 227) Diese Vorstellung korrespondiert mit der Verknüpfung der StaatsbürgerInnenschaft mit dem Konzept der Indigenität.

Der Ökonom Oupa Lehulere nähert sich der Frage nach den Ursachen der fremdenfeindlichen Gewaltausbrüche von einer anderen Seite her. Er denkt über den Zusammenhang zwischen Organisationsgrad der ArbeiterInnenklasse und Fremdenfeindlichkeit sowie über Möglichkeiten und Problemstellungen gemeinsamer und/oder getrennter Organisierung nach. Den Abschluss des Buches bildet jene Erklärung der Basisbewegung Abahlali base Mjondo von Mai 2008 unter dem Titel: "There is only one human race", der das Zitat entstammt, das dieser Buchbesprechung als Motto vorangestellt ist.

Zuletzt noch ein kleiner praktischer Hinweis: Nicht nur die Rezensentin fand die zweiten zwei Drittel des Buches weitaus spannender als das erste. Also besser weiter hinten zu lesen beginnen!

Raute

Buchbesprechung von Paul Pop

Walden Bello: Politik des Hungers

Berlin: Assoziation A, 2010, 199 Seiten, 16 Euro


Walden Bellos Verteidigung des Kleinbauerntums

Der Titel der deutschen Übersetzung "Politik des Hungers" täuscht etwas über den Inhalt des Buches hinweg. In Walden Bellos "The Food Wars" geht es eigentlich weniger um Hunger, als um die Verhältnisse in der Landwirtschaft. Nur in der Einleitung, die sich auf die Lebensmittelpreise-Krise (2007-2008) bezieht, wird vermerkt, dass die Anzahl der Hungernden weltweit um ca. 125 Millionen Menschen gestiegen ist. 2007 litten laut den Vereinten Nationen 923 Millionen Menschen an Unterernährung. Die zentrale Aussage des Buches des alternativen Nobelpreisträgers und Professors für Soziologie an der Universität der Philippinen ist schnell zusammengefasst: Das Kleinbauerntum, das in erster Linie auf Subsistenz ausgerichtet ist, würde eine alternative Wirtschaftsform zum globalen Kapitalismus darstellen. Als Klasse erwiesen die Bauern eine außerordentliche Beharrlichkeit und wären bisher trotz aller Voraussagen von Marxisten und Weltbank noch nicht untergegangen (21). Sie würden sich nun sogar in Organisationen wie dem internationalen Bauernverband "La Via Campesina" ("http://viacampesina.org/en/") zusammenschließen und als "Klasse für sich" für ihre Rechte kämpfen.

In den weiteren Kapiteln wird die Landwirtschaftspolitik in Mexiko, auf den Philippinen, in Afrika und China behandelt. Bello stellt die 60er und 70er Jahre den späteren neo-liberalen Strukturprogrammen positiv gegenüber. Damals strebten viele Regierungen in der 3. Welt eine Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln an, schützten die eigenen Märkte vor Exporten und subventionierten Landwirtschaft oder auch Lebensmittel. Als Teil der Strategie gegen den Kommunismus unterstützten die USA in Taiwan, Südkorea, Japan moderate Bodenreformen, damit sich Bauern keinen linken Bewegungen anschlossen. Seit den 80er Jahren vollzog sich ein Politikwechsel. Die Strukturprogramme der Weltbank und des Internationalen Währungsfond (IWF) zwangen die nationalen Regierungen zur Öffnung der Märkte. Diese Maßnahme hätte die Landwirtschaft teilweise ruiniert, Flüchtlingsströme ausgelöst und die Nahrungssicherheit der Bevölkerung von Importen aus dem Ausland abhängig gemacht. In "Politik des Hungers" erscheinen dagegen die 70er Jahre als goldene Zeiten für Kleinbauern. Bello attestiert sogar dem philippinischen Diktator Marcos, dass er wenigstens die Landwirtschaft unterstützt habe. Mit der Kommunistischen Partei Chinas geht Bello vergleichsweise milde ins Gericht, macht sich aber Sorgen, dass China im Zuge des Beitritts zur Welthandelsorganisation (WTO) das Ziel der Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln aufgeben könnte (140). "Politik des Hungers" ist mehr eine politische Kampfschrift, als eine fundierte akademische Abhandlung. Es scheint, als wollte Bello aus aktuellem Anlass schnell ein Buch veröffentlichen. Das Kapitel zu China stützt sich nicht unwesentlich auf die Reportage "Zur Lage der chinesischen Bauern" der Journalisten Chen Guidi und Wu Juntao. Die akademischen Standardwerke zum Verhältnis von Partei und Bauern werden hingegen nicht zitiert.

Abschließend beschäftigt sich Bello mit Wegen des kleinbäuerlichen Widerstandes. Als Beispiele nennt er Selbstmorde südkoreanischer Bauern, den französischen Bauern Jose Bove (Interview in http://www.newleftreview.org/?view=2358), der eine noch nicht eröffnete MacDonalds-Finale zerstörte und Mitgründer von "Confédération Paysanne" ist, die brasilianische Landlosenbewegung MTS und den Verband "La Via Campesina". Landwirtschaftliche Produktion sollte in erster Linie von Kleinbauern, Kooperativen und Staatsbetrieben übernommen werden. Als sinnvolle Forderungen listet Bello auf: Ernährungssouveränität (Selbstversorgung und Schutz vor Importen durch "Deglobalisierung"), Ablehnung von international standardisierten "Junk Food"-Produkten, ein neues Gleichgewicht zwischen Landwirtschaft und Industrie sowie Bodenreformen, die eine gleichmäßige Verteilung des Bodens garantieren (181-183). Diese Vorstellungen hätten sich im "Kampf gegen den zentralisierten Sozialismus und den Neo-Liberalismus" entwickelt. Sicher kann es für manche Länder sinnvoll sein, sich weniger von Lebensmittelimporten abhängig zu machen. Wenn man schon reformistische Forderungen aufstellt, erscheint mir die Abschaffung der hohen Agrarsubventionen in den USA und der EU ein besserer Schutz der Kleinbauern in der 3. Welt zu sein, als dass sich jedes Land mit einer Schutzzoll-Politik einigelt.

Bellos Buch ist die bäuerliche Variante der Nostalgie für eine Zeit vor dem Neo-Liberalismus, in der Märkte stärker reguliert und abgeschottet waren. Vereinfacht stellt er eine bäuerliche Produktionsweise dem Kapitalverhältnis gegenüber. Auch Kleinbauern sind in der Regel in Märkte und Lohnarbeitsverhältnisse eingebunden. Das Kapitalverhältniss braucht auch nicht-commodifizierte Bereiche der Gesellschaft (wie zum Beispiel unbezahlte Hausarbeit), um sich reproduzieren zu können. Bello schreibt: "Die Eigenschaften der kleinbäuerlichen Landwirtschaft - die Nähe zum Boden, die organische Verbindung von Familie und Hof, der Fokus auf den lokalen Markt, die arbeitsintensive Produktion und eine Haltung zur Natur, die weniger auf deren Beherrschung als vielmehr auf die Kooperation mit ihr abzielt - haben sich sämtlich entwickelt, um den Bedürfnissen nach ökologischer Stabilität, Gemeinschaft und guter Regierung gerecht zu werden" (183-184). In dieser naiven Romantisierung des Dorflebens kommen persönliche Abhängigkeitsverhältnisse nicht vor. Der familiäre Kleinbetrieb ist eine traditionelle Wirtschaftsform des Patriarchats. Da hilft es auch wenig, wenn Bello in einem Halbsatz den Verband "La Via Campensina" dafür lobt, dass er Genderfragen in den Mittelpunkt seines politischen Programms gestellt habe. In China ziehen viele Söhne und Töchter von Bauern heute die Fabrik dem Landleben vor, weil sie unter anderem der sozialen Kontrolle (der "organischen Verbindung von Familie und Hof"), lokaler Heiratsvermittlung und der Herrschaft der Alten entkommen wollen. Mit ökologischer Nachhaltigkeit von kleinbäuerlicher Wirtschaft ist es oft nicht weit her. In einigen Dörfern, die ich in China besucht habe, landet der gesamte Müll im Dorffluss.

Ähnliches kann auch über Supermärkte gesagt werden, in denen Bello nur ein Mittel zur Auspressung der Bauern zum Wohle der zahlungskräftigen Mittelschichten zieht. Sicher sind die Arbeitsbedingungen in den Supermarktketten vergleichsweise schlecht. Ohne Massentierhaltung und die riesigen Gemüseplantagen in Südeuropa, auf denen Migranten oft unter brutalen Bedingungen arbeiten, ist das heutige System der Nahrungsmittelversorgung nicht denkbar. Dennoch gibt es kein Grund zu Nostalgie für "Tante Emma"-Läden. Dort müssen Kinder und Frauen in der Regel umsonst mitarbeiten. Die Konsumenten, vor allen aus den unteren Schichten der Gesellschaft in den USA, Europa und den Schwellenländern, die durch die Supermärkte Zugang zu billigeren Lebensmitteln haben, spielen in Bellos Buch keine Rolle. Billige Preise sind nicht nur Folge der niedrigen Lohnkosten, sondern auch der geringen Gewinnspanne für ein Produkt, das durch die große Anzahl der Filialen trotzdem zu hohen Gewinnen insgesamt führt. Natürlich müssen die sozialen und ökologischen Folgen der heutigen "Nahrungsketten" kritisiert werden. Supermarktketten könnten jedoch auch von den Arbeiter und Arbeiterinnen selbst verwaltet werden. Die schon vorhandene Zentralisierung würde gesellschaftliche Planung leichter machen. Die Frage, ob sich Massentierhaltung auch ökologischer und weniger brutal für die Tiere organisieren lässt, ist hingegen schwieriger zu beantworten.

Bello hat sicher recht, dass Marx und andere Theoretiker die Zählebigkeit der Kleinbauern unterschätzt haben. Die kommunistische Bewegung hatte jedoch ein viel komplizierteres und ambivalenteres Verhältnis zu Bauern als Bello unterstellt. Das müsste der Herausgeber eines Readers mit Texten von Ho Chi Minh eigentlich besser wissen. In Ländern wie Russland, China und Vietnam spielten die Bauern eine wichtige Rolle in den Revolutionen. Sicher machten die Kommunistischen Parteien viele Fehler im Zug der Kollektivierung der Landwirtschaft. Trotzdem muss gesagt werden, dass das Scheitern des Versuchs, die Kleinbauernwirtschaft abzuschaffen, den weiteren Weg zum Kommunismus (Abschaffung von Warenproduktion und Privateigentum an Produktionsmitteln) blockierte. In der Sowjetunion und China herrschte nach den Hungersnöten ein Patt zwischen Staat und Bauern, das zur Stagnation führte. In vielen anderen Ländern, vor allen in Europa in der Zwischenkriegsperiode, stellten Kleinbauern oft das Fußvolk für reaktionäre Bewegungen unter dem Banner von "Eigentum, Familie, Vaterland". Die NSDAP konnte sich z.B. Ende der 20er Jahre an die Spitze der Landvolkbewegung in Schleswig-Holstein stellen. Die protestantischen und agrarischen Regionen in Norddeutschland wurden zu den Hochburgen der Partei, lange bevor sie an die Macht kam. "Reichsbauernführer" Walter Darre verherrlichte die Kleinbauern auf eigener Scholle als "Blutsquelle des deutschen Volkes". In Österreich formierte sich vom Land aus die rechte Heimwehr gegen das "rote" Wien. Landwirtschaftsminister Engelbert Dollfuss errichtete schließlich als Kanzler die austrofaschistische Diktatur. Die Forderungen nach dem Schutz der heimischen Märkte, Autarkie und moderater Bodenreform wurden und werden auch von rechten Bewegungen erhoben. Bellos Forderung nach einer gleichen Verteilung des Bodens wird allerdings von den rechten Bauernfreunden nicht geteilt.

Heute lebt weltweit die Mehrheit der Menschheit in Städten. Die Menschen, die während der Preiskrise in über 30 Ländern rebellierten, waren in erster Linie die städtischen Armen und nicht Kleinbauern. Bei aller Kritik an den internationalen Agrarkonzernen, ist es fraglich, ob Kleinbauern die Welt ernähren können. Laut Bello soll das auch gar nicht das Ziel sein, sondern sie sollen das Überleben ihrer lokalen Communities sichern (195). In China, wo der Boden immer noch relativ gleich verteilt ist, können über 600 Millionen Zwergbauern das eigene Land nicht ernähren und Getreide muss immer wieder importiert werden. Trotzdem hat China in den letzten 30 Jahren einen großen Beitrag zur Reduzierung des weltweiten Hungers geleistet. Laut Angaben der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO sank der Anteil von unterernährten Menschen in den Entwicklungsländern von 37 Prozent (1970) auf 16 Prozent (2005). Im Zug der Preiskrise stieg der Anteil auf 17 Prozent an (2007). Wie steht diese Entwicklung im Verhältnis zu Bellos düsterem Bild von der Entwicklung der Landwirtschaft seit den 80er Jahren?

Bellos Buch ist sicher eine gute Einführung, um die Argumente der modernen "Volkstümler" und Globalisierungsgegner kennenzulernen. In der kommunistischen Bewegung gab es die extreme Haltung, den Bauern als einem "Sack voll Kartoffeln" jede eigenständige politische Rolle abzusprechen. Außerdem hat sich die Kollektivierung der Landwirtschaft im Rahmen einer zentralistischen Planwirtschaft in vielen Ländern nicht als effiziert oder emanzipatorisch erwiesen. Aus dieser Erfahrung sollte allerdings nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass Kleinbauerntum und Landleben zu verherrlichen.

Website von Walden Bello: http://www.waldenbello.org/

Raute

IMPRESSUM

Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 10.9.2010,

Ein Jahresabo kostet für 4 Nummern Euro 20,-, das 2-Jahres-Abo nur 35,- Euro!
Bestellungen entweder an grundrisse@gmx.net oder an K. Reitter, Antonigasse 100/8, A-1180 Wien

Bankverbindung: Österreich: BAWAG Konto Nr. 03010 324 172 (K. Reitter), Bankleitzahl 14000.
International: BIC = BAWAATWW, IBAN = AT641400003010324172, Empfänger = K. Reitter

Die Redaktionstreffen der Grundrisse finden jeden 2. und 4. Montag im Monat um 19 Uhr im
"Amerlinghaus", 1070 Wien, Stiftgasse 8 statt. Interessierte LeserInnen sind herzlich eingeladen.

Weitere Infos unter: www.grundrisse.net und unter
redaktion@grundrisse.net

Medieninhaberin: Partei "grundrisse" Antonigasse 100/8, 1180 Wien
Herausgeberin: Redaktion "grundrisse"

MitarbeiterInnen dieser Nummer: Martin Birkner, Robert Foltin, Birgit Mennel,
Minimol, Wolfgang Neulinger, Karl Reitter, Gerold Wallner

Layoutkonzept & Layout: Lisa Bolyos

Erscheinungsort: Wien. Herstellerin: Digidruck, 1030 Wien

Offenlegung: Die Partei "grundrisse" ist zu 100% Eigentümerin der Zeitschrift "grundrisse".

Grundlegende Richtung: Förderung gesellschaftskritischer Diskussionen und Debatten.

Copyleft: Der Inhalt der "grundrisse" steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, außer wenn anders angegeben.

ISSN: 1814-3156, Key title: Grundrisse (Wien, Print)


*


Quelle:
grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
sommer 2010, nr. 35
Herausgeberin: Redaktion "grundrisse"
Antonigasse 100/8, 1180 Wien
E-Mail: grundrisse@gmx.net
Internet: www.grundrisse.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Oktober 2010