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GRASWURZELREVOLUTION/1904: Stichworte zum Postanarchismus - Institutionen


graswurzelrevolution 441, September 2019
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Institutionen
Bremsklötze oder Behälter emanzipatorischer Entwicklungen?
Stichworte zum Postanarchismus 15

von Oskar Lubin


Eine wirklich demokratische Gesellschaftsordnung ist eine, die sich im permanenten Wandel befindet. Demokratie ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Sie ist, wie der Philosoph Jacques Rancière es formuliert hat, "nur der Konstanz ihrer eigenen Handlungen anvertraut".(1) Das soll heißen. nur wenn die Menschen konstant, also ständig demokratisch handeln, gibt es Demokratie.


Sie lässt sich nicht in Institutionen gießen und institutionell auf Dauer stellen, Demokratie ist Praxis.

Rancière formuliert damit letztlich auch eine anarchistische Haltung. Gegen die Bestehende Ordnung, gegen Institutionen wie den kapitalistischen Markt, die bürgerliche Kleinfamilie und den bürgerlichen Rechtsstaat gibt es nur radikale Praxis.

Ein sozialistischer Anarchismus wird, wie Gustav Landauer es 1909 als "Sozialistisches Beginnen" beschrieb, getragen von Leuten, "die auf Grund einer menschlich-guten, ehrenhaften, rücksichtsvollen Gesinnung vernünftig und zweckmäßig die gemeinsamen Angelegenheiten betreiben wollen".(2)

Selbst anarchistische Kritiker*innen der Demokratie - immerhin bedeutet das Griechische "demos" nicht nur Volk/Bevölkerung, sondern bedeutet "kratos" auch Herrschaft - halten ihr eine freie, gleiche und praktisch zu verwirklichende Grundausrichtung zugute. So definiert das CrimethInc-Kollektiv in seinem aktuellen Buch "From Democracy to Freedom" Demokratie als das "Streben nach einer egalitären, inklusiven und partizipativen Form der Politik".(3)

Dass das mit der Wirklichkeit in den sogenannten demokratischen Staaten der Gegenwart recht wenig zu tun hat, ist augenfällig.

Dieses Auseinanderklaffen von Behauptung und Realität ist von anarchistischer Seite auch immer wieder kritisiert worden.

Dennoch ist es an der Zeit, die Institutionskritik des Anarchismus" zu überdenken! Denn es gibt zwei fundamentale Einwände (aus postanarchistischer Sicht) gegen die anarchistische Verwerfung von Institutionen.

Der erste Einwand richtet sich gegen eine einseitige Interpretation dessen, was Institutionen sind und ausmacht. Institutionen sind in der anarchistischen Tradition immer nur als Bremsklötze und Verhinderungen emanzipatorischer Entwicklungen gedacht werden, nie als deren Aufbewahrungsorte und Verstetigungen.

Aber gerade jetzt, wo in Österreich der Zwölf-Stunden-Arbeitstag wieder eingeführt wurde, wo in Brasilien und der Türkei linke soziale Bewegungen zu Terrororganisationen erklärt werden, wo die USA unter Trump als eine der ersten Amtshandlungen die finanzielle Unterstützung von Organisationen aufgekündigt haben, die sexuelle Aufklärung betreiben (und damit Millionen von Frauen das Selbstbestimmungsrecht auf ihre Körper entziehen) usw. usf., wäre es an der Zeit, die - auch staatlich - institutionalisierten Errungenschaften sozialer Bewegungen wertzuschätzen. In Institutionen verstetigen sich Praktiken, sie nehmen darin eine relativ beständige Form an. Diese Form tendiert sicherlich zu Verkrustung und Stillstand, aber sie ermöglicht es auch, dass einmal Erkämpftes zumindest nicht jeden Tag neu erkämpft werden muss.

Der zweite postanarchistische Einwand gegen das traditionsanarchistische Verständnis von Institutionen betrifft die Praxis als Gegenmodell. Die Betonung der Praxis führt nämlich nicht selten zu voluntaristischen Politikmodellen: Es wird so getan, als sei Handeln bloß vom eigenen Willen abhängig und nicht auch von Sozialisation und aktuellen sozialen Einbindungen. Der freie Wille entscheidet dann über Gedeih und Verderb von individuellen Lebensläufen und kollektiven Anliegen. Institutionelle Förderungen werden als unnötig, gar hinderlich für die emanzipatorische Entwicklung angesehen.

Diese traditionsanarchistische (und Rancìere'sche) Position geht von einer grundsätzlichen Gleichheit aller aus und damit auch von grundsätzlicher Chancengleichheit, die unterstützende Institutionen letztlich überflüssig macht.

Rancière formuliert dieses Credo in seinem antipädagogischen Buch "Der unwissende Lehrmeister" mustergültig: "Die Methode der Gleichheit war zuallererst eine Methode des Willens. Man konnte, wenn man es wollte, allein und ohne erklärenden Lehrmeister durch die Spannung seines eigenen Begehrens oder durch den Zwang der Situation lernen."(4)

Der Duktus dieser anti-institutionellen Haltung Rancières ist vom neoliberalen "fordern statt fördern" schließlich kaum mehr zu unterscheiden.

Hätte es keine (oft staatlichen) Stipendien und Förderprogramme, keine institutionellen Quotenregelungen und keine affirmative action-Programme für benachteiligte Minderheiten gegeben, der Anteil von Frauen und Menschen aus Arbeiter*innenfamilien in Universitäten und öffentlichen Einrichtungen wäre um einiges geringer, als er es ohnehin ist; Diskriminierungen und Ungleichheiten wären heute um einiges größer als sie es eh schon sind.

Das libertäre Argument gegen solche Programme lautet meist: Sie binden die Leute ein, die sonst aufstehen und aufbegehren würden.

Aber das ist ein verelendungstheoretisches Argument und so historisch unerfüllt geblieben wie eben jede Verelendungstheorie. Die Elenden begehren nicht auf, nur weil es ihnen elendig ergeht! Sonst müsste es tagtäglich Revolutionen geben. (Aufstände und Revolten finden statt, wenn Erwartungen nicht erfüllt werden, nicht wegen objektiver Notlagen.)

Diese postanarchistische Position für Institutionalisierungen mag reformistisch erscheinen, aber sie reagiert vor allem auf eine fundamentale Illusion, die konstitutiv für den traditionellen Anarchismus ist:

Die Illusion besteht darin zu glauben, dass die Bevölkerung von sich aus und in ihrer großen Mehrheit schon für Freiheit und Gleichheit votieren und eintreten würde und nur Institutionen, allen voran der Staat, sie (im Dienste der herrschenden Klassen) davon abhalten. Angesichts des gegenwärtigen Aufstiegs des rechten Nationalismus in Europa und den Amerikas büßt diese - schon immer fragliche - Grundannahme endgültig ihre Plausibilität ein.

Auch nach der Kürzung der Mindestsicherung, der Streichung von Geldern für feministische Organisationen, der Verschärfung des Fremdenrechts und der Einführung des Zwölf-Stunden-Tages genießt die österreichische Rechtsregierung die Unterstützung weiter Teile der Bevölkerung (unverändert rund 60 Prozent).

Es gibt also, entgegen der traditionsanarchistischen Grundannahme, historische Situationen wie die gegenwärtige, in denen bestehende (auch staatliche) Institutionen emanzipatorische Errungenschaften vor der Mehrheit der Bevölkerung schützen und bewahren helfen.

Sicherlich hat das CrimethInc-Kollektiv auch Recht, wenn es auf den aktuellen Aufstieg des rechten Nationalismus reagierend schreibt, dass überall "der Aufbau repressiver Regime und fremdenfeindlicher Nationalismus durch die Sprache der Demokratie und durch demokratische Verfahren legitimiert wird".(5)

Es ist kaum von der Hand zu weisen, dass das Wort Demokratie ein relativ leerer Signifikant ist, also mit allem möglichen gefüllt werden kann und wenig Substanz hat - wie im Übrigen auch die Worte Freiheit, Menschenrechte, u.v.a.

Es lässt sich dann diskutieren, ob die Strategie sein muss, entweder die Demokratie mit neuem (radikalen) Inhalt zu füllen, wie Rancière es tut, oder sie als positiven Bezugspunkt fallen zu lassen, wie CrimethInc es vorschlagen.

In dieser Hinsicht scheint Rancières Vorschlag der plausiblere. Denn Begriffe sind schließlich immer umkämpft und müssen ständig mit Bedeutung aufgeladen werden. Warum sollte Demokratie diesbezüglich die weniger brauchbare Worthülse sein als Freiheit? Wer hat nicht alles den Begriff der Freiheit für sich in Anspruch genommen, den CrimethInc stark machen wollen?

Es gilt allerdings, Rancières Vorschlag der Neufüllung auch auf die Institution oder die Institutionalisierung selbst hin auszudehnen. Begriffe neu zu füllen heißt schließlich nicht unbedingt, bestehenden Institutionen neues Leben einzuhauchen. Es kann auch bedeuten, sich für neue, andere Institutionen stark zu machen.

Rancière will die Demokratie radikal auf Praxis gründen. Aber ohne funktionierende institutionelle Fixpunkte - seien es nun Bildungswerkstätten, feministische Archive oder Redaktionen alternativer Zeitschriften, Veranstaltungshäuser wie der Mehringhof in Berlin oder das Amerlinghaus in Wien -, wären auch soziale Bewegungen kaum dauerhaft zu etablieren. Und selbst eine libertär-sozialistische Demokratie ist ohne institutionelle Arrangements wie Versammlungen und ohne Institutionen wie Veranstaltungsorte nicht zu denken.

Bei aller Sympathie für die institutionskritischen, anti-institutionellen anarchistischen Praktiken von Dada bis Punk: Nicht zuletzt angesichts der Stärke der gegnerischen Netzwerke ist die radikale Ablehnung von Institutionen heutzutage der falsche Weg.


Anmerkungen:

1) Jacques Rancière: Der Hass der Demokratie. Berlin: August Verlag 2011, S. 115.

2) Gustav Landauer: "Sozialistisches Beginnen". [1909] In: Ders.: Auch die Vergangenheit ist Zukunft. Essays zum Anarchismus. Frankfurt am Main: Lichterhand Literaturverlag 1989, S. 104-409, hier S. 104.

3) CrimethInc.: From Democracy to Freedom. Der Unterschied zwischen Regierung und Selbstbestimmung. Münster: Unrast Verlag 2018, S. 9.

4) Jacques Rancière: Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation. Wien: Passagen Verlag 2007, S. 22.

5) CrimethInc. 2018, a.a.O, S. 196.

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Quelle:
graswurzelrevolution, 48. Jahrgang, Nr. 441, September 2019, S. 7-8
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Oktober 2019

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