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GRASWURZELREVOLUTION/1535: Bedrohliche Störfälle in Belgiens Schrottreaktoren


graswurzelrevolution 406, Februar 2016
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Bedrohliche Störfälle in Belgiens Schrottreaktoren
Tihange, Doel, Lingen: Profitmaximierung um jeden Preis

von Peter Bastian (Gruppe SofA)


Brennende Schalttafeln und Wasserlecks

Es ist kaum zu fassen, was sich zurzeit in Belgien atompolitisch abspielt.

Nachdem er fast zwei Jahre abgeschaltet war, wurde der skandalträchtige Atomreaktor Doel 3 am 21.12.2015 wieder angefahren. Trotz Tausender von Haarrissen im Herzstück des Reaktors, der Schutzhülle aus Spezialstahl. Keine vier Tage später musste er wegen eines Wasserlecks am Generator wieder abgeschaltet werden.

Davor, am 19.12.2015, schaltete sich Tihange 3 automatisch ab.

Ursache war ein Brand an einer Schalttafel. Das automatische Abschalten der Anlage wurde von der belgischen Regierung postwendend als Indiz für die Verlässlichkeit der Technik ausgegeben. Aber wie lange kommt sie damit noch durch? Immer mehr Menschen, nicht nur im Grenzgebiet haben Zweifel und bekommen schlicht Angst.

Sieben Reaktoren an zwei Standorten

In Belgien gibt es insgesamt sieben Reaktoren an zwei Standorten. In Doel bei Antwerpen, 150 km von der deutschen Grenze entfernt, stehen vier Reaktorblöcke, in Tihange, 70 km von der deutschen Grenze bei Aachen entfernt, die anderen drei Blöcke. Tihange 1 wurde vor 40 Jahren in Betrieb genommen. Er sollte 2015 für immer vom Netz gehen. Dann kam die Entscheidung der belgischen Regierung, vielleicht muss man eher sagen, die Entscheidung von Electrabel, die Laufzeit um zehn Jahre zu verlängern. Das vor dem Hintergrund der öffentlichen Diskussion um die vielen Störfälle und die Tausenden von Haarrissen in mehreren Reaktorhüllen. Greenpeace spricht von Materialermüdung und fordert ein weltweites Kontrollieren aller AKW.

Ein von Aachener AntiatomaktivistInnen veröffentlichtes Ranking der IAEO zur weltweiten Häufigkeit von Störfällen und Ausfällen in Reaktoren (2012 bis 2015) vergibt den ersten Platz an Belgien. Die belgischen Reaktoren hatten eine Ausfallzeit von 20%! Auch ein Zeichen von Sicherheit der Technik?

Diese Statistik kursiert seit kurzem in Belgien und sorgt für Aufregung. Das Energieunternehmen Electrabel S.A. ist der führende Energiedienstleister in Belgien und Benelux. Sitz von Electrabel S.A. ist Brüssel.

Das Unternehmen ist eine hundertprozentige Tochtergesellschaft des international tätigen französischen Energieversorgungskonzerns Engie (Sitz bei Paris). Electrabel gerät zunehmend in Erklärungsnot und reagiert in öffentlichen Statements aggressiver.

Die Stimmung in Belgien

Es gibt erste kritische und lauter werdende Stimmen von PolitikerInnen der belgischen Grünen, die sich auf Doel und Tihange beziehen. Eine Initiative von belgischen Antiatomaktivistinnen bereitet eine Klage, adressiert an das höchste Gericht in Belgien, vor.

Am 8. Dezember 2015 wurden dem belgischen Innenminister über 105.000 Unterschriften einer Petition aus dem Grenzgebiet gegen das Wiederanfahren von Tihange 2 und Doel 3 überreicht. Der aktuelle Stand am 12.1.2016 lag bei 165.000 Unterschriften.

Eine belgische Website mobilisierte für den 17.01.2016 zu einer Kundgebung in Doel. Ihr Ziel waren 1000 Besuche/likes. Am 08.01.2016 waren es über 5000 Besuche.

Proteste in Aachen

Die nicht abreißenden Meldungen über die jüngsten Störfalle in Belgien und das Nichtverhalten der dortigen politisch Verantwortlichen sorgten in Aachen schließlich dafür, dass ein breites Bündnis aus Vereinen, Politik und engagierten BürgerInnen am 22.12.2015 kurzentschlossen zu einer Kundgebung aufrief. "Stopp Tihange - es reicht!" war das Motto.

An die 4000 Menschen kamen um 18 Uhr in der "heißen Vorweihnachtskonsumzeit" zum Elisenbrunnen. Angesprochen waren der Oberbürgermeister der Stadt Aachen, die Ratsfraktionen und die Leitung der städtischen Feuerwehr. Sie alle hatten exakt vier Minuten Zeit, sich zu Tihange zu positionieren. Dann war das Mikro aus.

Allein der OB kam nicht. Er entsendete seine Stellvertreterin, die grüne Bürgermeisterin Hilde Scheidt. Bemerkenswert ist, dass es gelang, den Landrat der CDU, Helmut Etschenberg, als Redner zu gewinnen.

Dieser CDU-Landrat scheint jetzt rechtliche Schritte gegen den Weiterbetrieb von Tihange ernsthaft prüfen zu wollen.

Ein Landrat der CDU macht jetzt die Arbeit, die eigentlich die rot-grüne Landesregierung tun müsste? Aachener Verhältnisse!

Nachdem die Profitmaximierung der Atombranche als Herzensthema der Konservativen weggebrochen ist, entdeckt sie jetzt gerade ihr zweites Thema: die Sicherheit. Dies zeigt vor allem eins: Die Nerven der politisch Verantwortlichen scheinen zunehmend blank zu liegen.

Man versucht Handeln vorzutäuschen. Neben Johannes Remmel (grüner Umweltminister NRW), Stefan Wenzel (grüner Umweltminister Niedersachsen) und Barbara Hendricks (SPD-Bundesumweltministerin), um nur einige zu nennen, sind es viele prominente Stimmen, die sich jetzt zu Wort melden. Denn mit Tihange 2 und Doel 3 wird klar was passiert, wenn einer Atommafia freie Hand gelassen wird. Es wird Profit gemacht bis zum bitteren Ende. In Belgien sogar mit Vorspiel.

Frau Hendricks betonte, dass die Bundesregierung "speziell die Wiederinbetriebnahme der Reaktorblöcke Tihange 2 und Doel 3 aktiv und kritisch hinterfragen" werde. Die Bundesumweltministerin verschweigt in ihrer öffentlichen Erklärung allerdings, dass sie sehr wohl handeln könnte. Und das auch mit direkten Konsequenzen.

Offener Brief / phantasievolle Aktionen

Mit einem offenen Brief an die Bundesumweltministerin haben am 30.12.2015 Antiatombündnisse aus Aachen und dem Münsterland sowie der BBU darauf hingewiesen, dass alleine das belgische AKW Doel seit 2014 bereits zehnmal mit Brennstäben aus Deutschland versorgt wurde. Dies aus der einzigen Brennelemente Fabrik in Deutschland. Sie hat eine zeitlich unbegrenzte Betriebserlaubnis und steht im niedersächsischen Lingen. Besitzerin ist der größte Atomkonzern Frankreichs, die Areva.

Bis Januar 2017 sind weitere fünf Transporte von Brennelementen nach Doel durch das Bundesamt für Strahlenschutz genehmigt. Oberste Dienstherrin: Umweltministerin Barbara Hendricks.

Hier einige Forderungen aus dem offenen Brief an die Ministerin:

"Wir fordern der Brennelemente Fabrik in Lingen die Genehmigung zur Lieferung weiterer Brennstäbe an belgische AKW zu entziehen.

Der Brennelemente Fabrik in Lingen die Betriebsgenehmigung zu entziehen, damit diese nicht weiter den Betrieb im In- und Ausland ermöglicht.

Die belgische Atomaufsicht zur sofortigen Stilllegung von Doel 3 und Tihange 2 aufzufordern.

Weitere Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung zu ergreifen und alle Kosten Electrabel in Rechnung zu stellen."

Für den Fall, dass Transporte nach Belgien anlaufen, werden kreative Protestaktionen angekündigt.

Ein Weihnachtsgeschenk für Areva-Lingen

2015 forderten rund 130 Initiativen und Verbände das sofortige Aus der Atomanlage in Lingen. Die vorerst letzte Aktion gegen die ANF in Lingen hat am 24.12.2015 vor deren Haupttor stattgefunden. Pünktlich zu Heiligabend kündigten Antiatomaktivistlnnen auf Transparenten und mit gelben Atommüllfäsern weiteren Widerstand gegen die Atomfabrik an. Auch im kommenden Jahr werde es keine Ruhe geben.

Die ANF (Advanced Nuclear Fuels) gehört zu 100 % Areva. Und die ist mittlerweile wirtschaftlich schwer angeschlagen. Sie wird vom französischen Staat mit zwei Mrd. Euro Steuergeldern gestützt. Alleine 2014 wurden vier Mrd. Euro Schulden eingefahren. Auch die ANF mit ihren Kunden in Frankreich, Belgien, England und Deutschland hat Probleme. Nach Angaben der Bundesregierung war sie 2014 nur zu 45% ausgelastet. Auch gab es technische Probleme bei der Konversion von Uranhexafluorid zu Uranoxid. Sie konnten behoben werden. Der Riss in einer Konsole aus Stahlbeton nicht. Er wurde für unbedenklich erklärt.

"Keine Brennstäbe für belgische und französische AKW! Atomstandort Lingen nicht länger tolerieren!

Es kann nicht sein, dass untätig zugesehen wird, wie in Belgien die Gesundheit und das Leben von Hunderttausenden mutwillig für die Profitmaximierung der Atomkonzerne aufs Spiel gesetzt wird. PolitikerInnen beschwichtigen und lenken ab, manche Menschen sagen: Das ist ihr Job. Um mit den AktivistInnen der Aktion zu Heiligabend zu sprechen: Erfolge gegen die Atomlobby sind schon immer erkämpft worden! Und sie werden auch diesmal erkämpft werden müssen!

Doel, Tihange und auch die französischen AKW Cattenom und Fessenheim sind Zeitbomben. Doel wird aus Deutschland mit Brennstoff versorgt. Hier aus der Atomkraft aussteigen zu wollen, aber andere Länder mit atomarem Brennstoff zu versorgen, das nennen wir zynisch und verantwortungslos.

Nicht mit uns, dagegen wehren wir uns! Unter dem Eindruck der belgischen Ereignisse rief ein Bündnis von Antiatomgruppen, Umweltorganisationen und Einzelpersonen zu einer Demo am 31. Januar 2016 (nach GWR 406-Redaktionsschluss) gegen den Weiterbetrieb der Brennelemente Fabrik in Lingen auf.

Weitere Aktionen und Demonstrationen werden folgen. [1]

Atomausstieg ist Handarbeit!


Anmerkung:

[1] Weitere lnfos/Termine auf:
www.sofa-ms.de

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Quelle:
graswurzelrevolution, 45. Jahrgang, Nr. 405, Februar 2016, S. 13
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Februar 2016

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